Der Talisman - Sam Lewis - E-Book

Der Talisman E-Book

Sam Lewis

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Zur Zeit der Erdendämmerung war die Magie allgegenwärtig und jedermann zugänglich. Doch dann drangen Dämonen in diese Welt und verwüsteten Länder und Meere. Die Erdbewohner schufen unterirdische Höhlen, Kaers genannt, versiegelten und schützten sie mittels Magie. Während die Dämonen brandschatzend umherstreiften, warteten die Menschen auf jenen Tag, da sich die Tore zu ihrer geliebten Erde öffnen und sie das Tageslicht wiedersehen würden.

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Sam Lewis

Der Talisman

Fünfter Roman desEarthdawn™-Zyklus

Impressum

Feder & SchwertBand 5

Übersetzung: Christian JentzschIllustrationen: Jeff LaubensteinRedaktion & Lektorat: Catherine BeckE-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993 - 2015 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623834

Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
PROLOG
DAS STEINERNE GEFÄNGNIS
ALLES HAT SEINEN PREIS
BEVOR DAS LEBEN ENDET
AUSWEGLOS
IN DUNKLEM BERNSTEIN
AUS BLUT UND ZEIT

PROLOG

Vor der Wissenschaft und vor der Geschichte gab es ein Zeitalter der Magie und der Legende, ein Zeitalter der Heldentaten und des Schreckens, das Zeitalter der Erddämmerung. In dieser mystischen Zeit war die Magie allgegenwärtig. Zauberer, Schwertmeister, Troubadoure und Schmiede veränderten mit ihren geheimnisvollen Kräften die Strukturen des Lebens.

Doch das Heraufziehen der Magie schwächte auch das Gefüge der Meta-Ebenen. Schreckliche Wesen aus der Astral-Ebene drangen in die Welt ein und verwüsteten Länder und Meere. Zuerst waren diese sogenannten Dämonen nur wenige und schwach, doch mit der Zeit wurden sie zahlreicher, stärker und tödlicher. Sie waren wie eine Seuche, eine Plage, die nicht abgewendet werden konnte.

Die großen Zauberer des Theranischen Reiches sahen die Vergeblichkeit des Kampfes gegen diese Plage ein, und so bereiteten sich Menschen, Dörfer und Städte auf den Tag der Versiegelung vor. Die Erdenbewohner bauten große unterirdische Kaers, die durch Magie versiegelt und geschützt wurden und in denen sie jahrhundertelang warteten, während die Dämonen das Land über der Erde ungehindert durchstreiften und verwüsteten.

Fünfhundert Jahre lang lebte die Menschheit tief unter der Erde und wartete in der Dunkelheit, wartete auf den Tag, an dem die Tore zur Oberfläche der geliebten Erde wieder geöffnet werden konnten, wartete auf den Tag, an dem sie endlich wieder das Tageslicht sehen würde.

DAS STEINERNE GEFÄNGNIS

Louis J. Prosperi

»Was ist denn?« rief der Magier ärgerlich, als das Klopfen an der Tür nicht aufhören wollte. Lynthis hatte Noraim noch nie so erlebt, hatte ihn in den zwei Jahren, die sie jetzt Magie bei ihm studierte, nie die Stimme erheben hören. Gewiss, manchmal konnte er schon sehr streng sein, aber niemals laut oder grob. Andererseits wurde Noraim auch nicht oft bei der Arbeit gestört.

»Brela Tonnen schickt mich«, erscholl eine durch die dicke Tür zum Arbeitszimmer des Magiers gedämpfte Stimme. »Er sagt, es sei dringend.«

Noraim erhob sich so schwungvoll, dass der dicke Wälzer auf dem Tisch zu Boden gestoßen wurde. Tatsächlich wirkte der Magier so aufgebracht, dass Lynthis halb damit rechnete, er würde vor Erregung den Tisch umwerfen.

»Schon gut, Mann, ich komme«, bellte er, wobei er sich noch nicht einmal dazu herabließ, die Tür zu öffnen.

Dann wandte er sich an Lynthis. »Wir müssen den Unterricht für heute beenden«, sagte er zu ihr, mittlerweile wieder in seinem normalen höflichen Tonfall. »Wie es scheint, will der Brela mich sprechen. Wir werden das Studium der Erweiterten Matrizen morgen fortsetzen.«

Während Noraim rasch seine Vorbereitungen traf, richtete sich Lynthis auf dem Tisch auf, breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft. Während des Fluges zu ihren Sachen sah sie, wie sich der Magier hastig den weißen Bart glättete und die schütteren Haarsträhnen auf dem Kopf mit den Fingern durchkämmte. Die weiten Ärmel seiner Robe schleiften über den Fußboden, als er sich bückte, um das heruntergefallene Buch aufzuheben, wobei die Robe ein wenig aufklaffte und die mattbraune Tunika darunter enthüllte, die für einen Theraner zur Standardbekleidung zählte. Das Blau von Noraims Magierrobe stand dazu in scharfem Kontrast. Die Farbe war so leuchtend wie ein klarer Himmel an einem Sommertag, und der feine Stoff war mit vielen wunderbaren farbigen Mustern bestickt, manche davon geometrische Figuren, andere lebensechte Darstellungen großer und kleiner Lebewesen.

Wer die Bedeutung dieser Muster und Farben nicht kannte, hätte Noraim fälschlicherweise für nichts anderes als einen bärtigen, weißhaarigen alten Mann halten können, aber Lynthis wusste, dass er in Wahrheit ein mächtiger Magier war. Trotzdem war ihr Noraims Art immer ein wenig zurückhaltend vorgekommen, als habe er sich in trauriger Resignation damit abgefunden, bis ans Ende seiner Tage Anfängern und Lehrlingen die Rätsel und Geheimnisse seiner Kunst beizubringen. Jetzt entdeckte Lynthis plötzlich eine ganz neue Seite an ihm. Er schien fast ein wenig größer zu werden, und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen wies die beinahe arroganten, edlen Züge des typischen Theraners auf.

Lynthis, die sich ebenfalls zum Gehen bereitmachte, reckte und streckte ihren kleinen Windlingskörper und vertrieb damit die Steifheit, die mit den langen Stunden des Lernens und Diskutierens einherging. Ihre winzige Gestalt verlor sich beinahe auf der weiten, dunklen Tischoberfläche, aber für einen Windling war dies ein Bestandteil des Lebens, eine Tatsache, an die sich jeder Angehörige ihrer Rasse rasch gewöhnte. Die Welt mit ihrem ganzen Drum und Dran entsprach mehr den Maßstäben der anderen, größeren Namensgebenden Rassen. Doch Lynthis hatte ihre kleine Gestalt nie als Nachteil angesehen. Was spielte es für eine Rolle, dass sie nur eine und eine halbe Elle groß war? Glich ein Windling die fehlende Größe nicht durch seine geflügelte Schnelligkeit und die Anpassungsfähigkeit seines Geistes aus?

Ihr schlanker Körper erhob sich in die Luft, da Noraim die Tür öffnete, um zu gehen, und Lynthis damit ermöglichte, das Arbeitszimmer ebenfalls zu verlassen. Wie ein Kolibri in der Luft schwebend, hielt sie kurz inne, um ihrem Lehrer nachzusehen, der eiligen Schrittes durch den Flur ging, gefolgt von der Wache, die man geschickt hatte, um ihn zu einer Audienz beim Brela zu eskortieren. Was mochte Brela Tonnen von Noraim wollen? Warum sollte er der Dienste eines Magielehrers bedürfen? Vielleicht war einer der Sprösslinge oder Proteges des Brela ein aussichtsreicher Schüler der Magie. Das musste es sein, denn es gab kaum bessere Lehrer in Vivane. Tatsächlich war Noraim, soviel sie wusste, einer der bedeutendsten Magier, die von Thera nach Barsaive gekommen waren.

Und was für ein Glück, dass er ihr Lehrer war. Man hätte ihr auch einen anderen Lehrer zuweisen können, aber Lynthis hatte das Glück gehabt, Lehrling bei Noraim Immerschlau zu werden. Sie hatte bei ihm schon weit mehr gelernt als bei jedem anderen ihrer ehemaligen Lehrer, noch dazu in einem viel kürzeren Zeitraum. Sie hoffte nur, dass sie ihre Sache ebenso gut machen würde wie Noraim, wenn die Reihe an ihr war, ihr Wissen an andere weiterzugeben.

Als sie am nächsten Tag zum Unterricht zurückkehrte, erwartete Lynthis eine Überraschung. Sie hatte damit gerechnet, dass Noraim bereits wie üblich auf sie warten und sie wegen ihrer chronischen Unpünktlichkeit tadeln würde. Statt dessen begegnete ihr eine Wache des Brela.

»Noraim befiehlt, dass du auf ihn wartest. Er wird in Kürze hier sein.«

Trotz Noraims Abwesenheit fand Lynthis diese Botschaft recht eigentümlich. Wann hatte ihr der Magier jemals etwas ›befohlen‹? Zwar waren sie beide Bürger des Theranischen Reiches und Angehörige seiner stark gegliederten Gesellschaft, aber Noraim hatte sie immer als mehr oder weniger gleichgestellte Person behandelt – zumindest hinsichtlich des gesellschaftlichen Ranges, wenn auch nicht hinsichtlich ihrer Meisterschaft in den magischen Künsten.

Sie ließ sich auf ihrer üblichen Stelle auf dem Tisch nieder und holte das Buch heraus, das sie als Tagebuch, als Notizbuch in den Unterrichtsstunden und manchmal sogar als Zauberbuch benutzte. Noraim hatte ihr immer die Bedeutung des Führens einer ordentlichen Formelsammlung einzutrichtern versucht, aber Lynthis behalf sich manchmal trotzdem mit ihrem Notizbuch. Während sie auf ihren Lehrer wartete, wollte sie die Zeit nutzen, indem sie sich ihre Notizen der vergangenen Unterrichtsstunden noch einmal ansah. Dass die Wache blieb, überraschte sie.

»Du kannst gehen«, sagte sie.

Die Wache drehte sich zu ihr um und schnauzte sie förmlich an: »Brela Tonnen hat befohlen, dass Noraim ständig zu begleiten sei.«

Da war dieses Wort schon wieder. Da sie unter Theranern aufwuchs, hatte Lynthis nur einen kleinen Teil ihrer Kindheit in den Wäldern verbracht, die normalerweise von Windlingen bevorzugt werden, aber das hatte gereicht, um sie mit den Sitten und Gebräuchen ihrer Rasse vertraut zu machen. Die an hierarchischer Autorität orientierte Mentalität der theranischen Gesellschaft stand oft in völligem Widerspruch zu dem, was sie als die natürliche Freiheitsliebe des Windlings kennengelernt hatte.

Auch kam es Lynthis merkwürdig vor, dass der Brela verlangt hatte, Noraim sei ständig zu begleiten. Tatsächlich war dies in ihren zwei Jahren bei Noraim das erste und einzige Mal, dass der Brela überhaupt Notiz von ihrem Lehrer genommen hatte.

Diese Gedanken gingen ihr immer noch im Kopf herum, als Noraim plötzlich in sein Arbeitszimmer gerauscht kam, der Wache zurief, sie solle verschwinden, und dann den Protest des Mannes einfach dadurch hinwegwischte, dass er die Tür hinter sich zuschlug.

»Ach, Lynthis, entschuldige die Verspätung, aber seit meiner Unterredung mit dem Brela gestern geht es ziemlich hektisch zu. Aufgrund dieser Besprechung habe ich unseren Lehrplan geändert.« Er hob die Hand, um einer Unterbrechung zuvorzukommen. »Ja, ich weiß, wir hatten vor, unsere Arbeit mit Erweiterten Zaubermatrizen fortzusetzen, aber statt dessen brauche ich jetzt deine Hilfe bei einem neuen Projekt.«

Lynthis konnte sich kein Projekt vorstellen, mit dem der Brela Noraim beauftragen und bei dem Noraim Hilfe von ihr benötigen würde, aber er fuhr rasch mit seiner Erklärung fort.

»Der Brela ist auf einen wichtigen Posten in die große Stadt Parlainth versetzt worden, von wo aus er ganz Barsaive bereisen wird, um den Zehnten für das Reich einzutreiben. Das ist eine große Ehre, nach der sich der Brela schon lange sehnt, aber er fürchtet sich auch davor. Er ist davon überzeugt, dass hinter jeder Person, hinter jedem Baum und jedem Felsen in Barsaive ein Dämon lauert, der nur darauf wartet, ihn anzugreifen und zu töten. Seine Angst vor den Dämonen ist unvorstellbar groß. Er hat mir befohlen, ihm eine magische Vorrichtung zu konstruieren, die ihn vor der Anwesenheit und Annäherung jedes Dämons oder dämonenbefleckten Wesens warnt. Und er hat mir dafür eine Frist von zwei Wochen gesetzt.

Ich habe versucht, ihm die Schwierigkeiten solch einer Aufgabe zu erklären, selbst wenn ich zwei Jahre anstatt zwei Wochen Zeit hätte, aber er hat sich nicht umstimmen lassen. Ich habe ihm erklärt, dass die Plage nicht einmal zu Lebzeiten unserer Enkel kommen wird, aber das beruhigt den Brela nicht. Er verlangt einen Schutz vor den Dämonen, und zwar ungeachtet der Kosten, der Logik und der Durchführbarkeit.

Und deswegen habe ich seit gestern praktisch jede Stunde in der Bibliothek verbracht und gelesen. Ich habe bereits die Lieferung einer Reihe alter Texte in mein Labor angeordnet, wo ich mich der Sache in angemessener Umgebung widmen kann – und mit deiner Hilfe.«

»Aber ist dies nicht Euer Labor?« fragte Lynthis.

»Bei allen guten Geistern, nein. Dies ist nur ein Arbeitszimmer, in dem ich Schülern Unterricht erteile. Mein Labor befindet sich in einem ganz anderen Stadtteil in der Nähe meines Hauses. Pack deine Sachen zusammen, Lynthis. Wir machen uns sofort auf den Weg.«

Lynthis verstaute Notizbuch, Feder und Tinte wieder in ihrer Tasche, die sie sich über die Schulter warf, während sie aufflog, um Auge in Auge mit Noraim zu reden.

»Ist diese Aufgabe überhaupt durchführbar, Meister? Alles, was Ihr mich bis jetzt gelehrt habt, steht im Widerspruch zu dem, was der Brela verlangt.«

»Ja, ich weiß, aber wir müssen es versuchen«, sagte Noraim ungeduldig. »Der Brela hat es befohlen, und niemand kann sich seinem Befehl widersetzen oder entziehen.«

Lynthis wusste, das Noraim recht hatte, denn die Macht eines so hochrangigen Beamten wie des Brelas war groß und weitreichend. Das musste wohl auch der Grund dafür sein, warum jetzt zwei Wachen anstatt einer vor der Tür von Noraims Arbeitszimmer postiert waren.

»Du bleibst hier«, befahl der neue Wächter seinem Kameraden, als der Magier und sein Lehrling auf den Flur traten. »Ich werde den Magier begleiten.«

Keiner der beiden Wächter trug irgendein Abzeichen, das auf einen unterschiedlichen Rang der beiden hingedeutet hätte, doch Lynthis war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass ihr Wissen über das theranische Militär äußerst begrenzt war. Der Wächter, der den Befehl erteilt hatte, heftete sich sogleich an die Fersen des Magiers und des neben diesem fliegenden Windlings. In sehr steifer, förmlicher Haltung folgte er den beiden aus dem Haus und auf die Straßen Vivanes, während sein Kamerad die Aufgabe der Bewachung eines leeren Arbeitszimmers übernommen hatte.

Zwanzig Minuten später trafen Noraim, Lynthis und ihre Eskorte im Reichsviertel der Stadt ein, dem Stadtteil, in dem die bedeutenderen einheimischen Theraner ansässig waren. Dies war ein weiterer Schock für Lynthis. Sie hätte nie gedacht, dass Noraim so weit oben in der theranischen Hierarchie rangierte. Andererseits war er natürlich wirklich der beste Lehrer in ganz Vivane.

Sie begaben sich in den nördlichsten Teil des Stadtviertels, und nach kurzer Zeit führte Noraim Lynthis zum Eingang eines kleinen, unauffälligen alten Hauses. An der Tür äußerte der Magier einen Befehl, und die Tür öffnete sich quietschend.

»Hier ist es?« fragte Lynthis ungläubig.

Noraim lächelte über ihre Reaktion. »Überrascht, wie? Ja, weißt du, ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Mein Vater hat es vor hundertzwanzig Jahren gebaut, nachdem er und meine Mutter von Thera übergesiedelt waren. Ich kenne jeden Winkel, jede Ritze und jeden Ziegel des Hauses. Hier habe ich die Kunst der Magie gelernt, und hier verrichte ich immer noch meine wichtigsten Arbeiten.«

Dies war ebenfalls eine Überraschung für Lynthis, und Noraim musste sie ihr wohl ansehen.

»Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass sich meine Arbeit darauf beschränkt, dich und andere zu unterrichten? Ich habe meine eigenen Forschungs- und Studienprojekte, und das hier ist der Ort, an dem ich an ihnen arbeite.«

Angesichts Noraims Verärgerung wurde Lynthis wieder einmal klar, dass sie noch lernen musste, ihre Zunge im Zaum zu halten. Ein weniger geduldiger Meister hätte sie für einen derartigen Ausbruch vielleicht zurechtgewiesen oder gar bestraft.

»Ich bitte um Verzeihung, Meister«, sagte sie zerknirscht, »aber alles, was ich heute erfahren habe, hat mich zutiefst überrascht.«

Noraim warf ihr einen seltsamen Blick zu, sagte jedoch nichts. Dann, als habe er sich plötzlich irgend etwas anders überlegt: »Ich akzeptiere deine Entschuldigung, Lynthis. Es stimmt schon, ich habe nicht den Wunsch, die Aufmerksamkeit auf meine Arbeit zu lenken. Wenn ich als Magier erfolgreich bin, dann aufgrund meiner Resultate, nicht weil ich mich meines Könnens rühme.«

Lynthis war es irgendwie peinlich, ihren Lehrer so unterschätzt oder verkannt zu haben, aber der Anblick von Noraims Labor verwirrte sie noch mehr. Es sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich den Arbeitsraum eines Meistermagiers vorgestellt hatte, sondern es war muffig und mit Spinnweben verhangen. Der Boden war uneben und bestand aus roh behauenen Steinblöcken. Die Wände wurden von Regalen gesäumt, die mit alten Büchern, Schriftrollen und Texten vollgestopft waren, und auf einem großen Tisch standen Krüge und Phiolen in allen möglichen Formen und Größen. Lynthis begaffte alles voller Verwunderung, aber diesmal äußerte sich Noraim weder zu ihrer Überraschung noch zu ihrer Miene.

Statt dessen räumte er die Unordnung auf dem Tisch auf. Lynthis half ihm dabei, wobei ihr immer noch der Kopf von dem Wissen schwirrte, dass viel mehr hinter Noraim steckte, als sie ursprünglich angenommen hatte. Die Wache, die sie begleitet hatte, postierte sich vor der Tür, als sei die Aufgabe, diese mit Spinnweben und Büchern angefüllte Kammer zu bewachen die natürlichste Pflicht der Welt.

Ein paar Minuten später klopfte es an der Tür, als ein Bote von der Bibliothek eintraf und einen Stapel dicker Bücher und gebundener Schriftrollen abliefern wollte. Auf ein Nicken Noraims hin gestattete die Wache dem Boten den Eintritt und führte ihn dann zum Tisch. Der Bote lud seinen Armvoll Bücher und Schriftrollen ab, die geräuschvoll auf den Tisch polterten, und wandte sich dann wortlos zum Gehen.

»Wir wollen damit beginnen, dass wir über die anstehende Herausforderung nachdenken«, sagte Noraim, als sich die Tür hinter dem Boten geschlossen hatte.

Obwohl nicht darauf vorbereitet, so schnell mit der Arbeit zu beginnen, gelang es ihr mühelos, sich rasch zu sammeln. Sie stellte ihre Tasche ab, hockte sich auf die Lehne eines Stuhls und sah erwartungsvoll zu, wie der Magier ein Stück Kreide nahm und auf die einzige Wand, die nicht vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen vollgestellt war, zu schreiben begann.

»Unser Ziel ist es, einen Zauber zu ersinnen – oder einen bestehenden Zauber zu verändern –, der in der Lage ist, Dämonen aufzuspüren, wenn er mit der Struktur eines Gegenstands verwoben wird. Also, Lynthis, auf welche Weise können wir astrale Wesenheiten entdecken?«

»Es gibt den Astralsinn«, antwortete sie, »dann das Magie-Aufspüren und die Astralsicht, die durch die Kunst der Magie erworben werden kann...«

»Ja, genau, das stimmt«, sagte Noraim abwesend, indem er Symbole für die drei genannten Möglichkeiten an die Wand kritzelte.

Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Gekritzel, wobei er offenbar über jede einzelne Formel nachdachte. Währenddessen flog Lynthis zu ihm und hielt sich flügelschlagend auf Schulterhöhe neben ihrem Meister in der Luft.

Noraim schenkte ihr keine Beachtung, sondern zeichnete ein Symbol für die Dämonen und die grundlegenden Zeichen für einen astralen Spürzauber. »Also muss der Zauber alle astralen Eindrücke filtern und nur auf jene reagieren, die dämonenbefleckt sind«, sagte er, um dann ein prägnantes »Hmmmm« hinzuzufügen.

»Ist das möglich?« fragte Lynthis, doch Noraim schien ihre Anwesenheit völlig vergessen zu haben.

Immer noch in Nachdenken versunken, verschränkte der Magier die Arme, während er auf einen Punkt starrte, der weit jenseits der Wand zu liegen schien. »Nun, da wir unser Ziel kennen, können wir fortfahren. Und wir werden die Regeln brechen müssen...«

»Die Regeln brechen müssen?« wiederholte Lynthis.

Wiederum schien Noraim ihre Unterbrechung gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Das, was der Brela verlangt, verstößt gegen jede magische Theorie, die ich kenne, und widerspricht all meinem magischen Wissen.« Er verfiel wieder in Schweigen, während er sich in die Symbole vertiefte, die er soeben an die Wand gekritzelt hatte.

»Ja«, sagte er schließlich, »wir müssen etwas ganz Neues schaffen, etwas, das die Anwesenheit von Dämonen und ihrer Schöpfungen entdecken kann, und zwar in einem so großen Umkreis, dass die Warnung früh genug erfolgt, um eine Verteidigung vorbereiten zu können. Das andere Problem besteht darin, dass der Brela nicht geübt in der Anwendung von Magie ist. Er ist ein Diplomat und kein Adept, der einen Zauber wirken kann.« Lynthis schwebte immer noch neben Noraim, der sich plötzlich zu ihr umdrehte und sie ansah.

»Ich würde sagen, dass wir es grundsätzlich mit zwei verschiedenen Herausforderungen zu tun haben«, sagte er. »Zunächst müssen wir einen astralen Spürzauber verändern und so präzise abstimmen, dass er viel mehr Einzelheiten an einer Zielstruktur erkennt, als dies normalerweise der Fall ist. Und zweitens muss der Zauber nicht nur in der Lage sein, Dämonen zu entdecken, sondern auch winzige Spuren von Dämonenbefleckung an einer Person. Ich möchte, dass du mit der Arbeit an diesem zweiten Problem beginnst, während ich das erste angehe. Unter den Texten, die ich mir habe kommen lassen, befindet sich auch eine ganze Reihe von Schriften, die der Aufspürmagie und der Magie der Dämonen gewidmet sind. Nimm sie mit zu dir nach Hause und studiere sie. Du wirst mindestens zwei Tage brauchen, um alle zu lesen, ganz zu schweigen davon, daraus Schlüsse zu ziehen. Komm in drei Tagen wieder.«

Noraim ging zum Tisch zurück, wo er drei Schriftrollen aus dem Stapel zog, den der Bote abgeliefert hatte.

»Diese drei Schriften sollten dir helfen. Und vergiss bitte nicht, dir Notizen zu machen. Betrachte dieses Projekt als Teil deines Unterrichts, den wir übrigens in den nächsten Wochen hier abhalten werden. Du wirst also nicht in mein Arbeitszimmer, sondern hierher kommen. Ich werde den Wachen Anweisungen geben, dich einzulassen, aber nur an den Tagen, an denen wir verabredet sind. Solltest du an einem anderen Tag kommen, werden dir die Wachen den Zutritt verweigern.«

Lynthis nahm gehorsam die Schriftrollen und fand einen Sack, der groß genug war, um sie darin zu verstauen. Dann warf sie sich ihren Beutel über die Schulter und flog zur Tür hinaus und zu sich nach Hause.

Drei Tage später kehrte sie in Noraims Labor zurück. In der Zwischenzeit hatte Lynthis mehr über die Magie des Aufspürens erfahren, als sie je für möglich gehalten hätte, und sogar noch mehr über die Magie der Dämonen. Denn dieser letztere Aspekt der Forschung war es, der sie faszinierte. Wie alle anderen Theraner – und auch alle Bewohner Barsaives – hatte man sie vor den furchtbaren Kräften der Dämonen und den unbeschreiblichen Taten, zu denen sie fähig waren, gewarnt. War es möglich, durch das Studium der Magie der Dämonen eine Schwäche zu finden, die es den Theranern gestatten würde, diese niederträchtigen Kreaturen noch vor dem Ausbruch der Plage zu besiegen? Sicher hatten schon andere denselben Gedanken gehabt. Waren die Riten des Schutzes und des Übergangs nicht durch das Studium der Bücher von Harrow geschaffen worden? Als Lynthis das Labor betrat, ruckte Noraims Kopf hoch, um sie durchdringend zu mustern. Der Magier war offenbar mehr als nur ein wenig über ihre Unpünktlichkeit verärgert.

»Du kommst zu spät!« schnauzte er.

»Aber nur ein paar Minuten, Meister. Ich wusste nicht genau, wieviel Zeit ich für den Herflug einkalkulieren ...«

»Ich dulde keine Ausflüchte. Ich habe dich angewiesen, hierher zum Unterricht zu kommen, und du hast dich verspätet!«

»Bitte verzeiht mir, Meister. Der Weg hierher war länger, als ich dachte. Ich hatte mich so in meine Studien vertieft, dass ich zuwenig Zeit für den Flug hierher veranschlagt habe. Es wird nicht wieder Vorkommen.«

»Darum will ich auch gebeten haben! Und jetzt erzähl mir, was du bei deinen eifrigen Studien herausgefunden hast.«

Lynthis packte ihre Sachen aus und nahm ihr Notizbuch zur Hand, das ihre Aufzeichnungen und Anmerkungen der letzten drei Tage enthielt. Sie war immer noch ein wenig erschüttert über Noraims Schärfe. Sie war schon so oft zu spät gekommen, aber noch nie hatte er sie so zornig gescholten. Und noch nie hatte er ihr befohlen, irgend etwas zu tun!

Als Lynthis mit dem Notizbuch in der Hand zu Noraim flog, fiel ihr Blick auf die Wand, auf die der Magier vor drei Tagen die Ziele und Herausforderungen ihrer Aufgabe gekritzelt hatte. An die Stelle dieses Gekritzels waren mittlerweile die Zeichen für irgendeine Art von Zauberstruktur getreten. Dem Aussehen nach handelte es sich um einen Aufspürzauber, jedoch um keinen, den Lynthis kannte.

Sie schlug ihr Notizbuch auf, und sie und Noraim begannen mit einer Diskussion über die Theorie der Aufspürmagie, wobei sie mit den Grundlagen der Strukturerkennung begannen und schließlich bei den komplexeren Theorien der Strukturvariationen anlangten.

»Beruht die Aufspürmagie nicht größtenteils auf einer Variation des Astralsinn, wenn es gilt, die Struktur eines Gegenstandes oder Wesens zu betrachten?« fragte Lynthis. »Wenn die betrachtete Struktur in die Kategorie fällt, die der Zauber aufspüren soll, wird irgendeine Warnung ausgelöst.«

Noraim nickte zustimmend. »Ja, das stimmt, aber diese Zauber sind zu plump und können nur die gröbsten Strukturen durchdringen. Es gibt eine zweite, viel höher entwickelte Methode, Strukturen zu betrachten, eine natürliche Fähigkeit, die ausschließlich deiner Rasse vorbehalten ist.«

»Ihr meint die Astralsicht der Windlinge. Ja, die gibt es, aber keine andere Namensgebende Rasse besitzt sie. Und niemandem ist es je gelungen, sie mittels eines Talentes oder eines Zaubers zu kopieren, nicht wahr, Meister?«

»Nicht, dass ich wüsste. Dennoch müssen wir sie als real existierende Methode berücksichtigen.«

»Aber sie kann nicht nutzbar gemacht werden«, beharrte Lynthis. »Sollten wir uns nicht auf das Mögliche konzentrieren, anstatt auf das Unmögliche?« Sie hatte die Worte noch gar nicht ganz ausgesprochen, als sie auch schon mit einer scharfen Zurechtweisung rechnete. Ihre Angewohnheit, alles zu sagen, was sie gerade dachte, brachte sie in letzter Zeit zunehmend in Schwierigkeiten. Es war jedoch schwierig, mit dieser Angewohnheit zu brechen, und sie machte sich auf einen Tadel gefasst. Es kam jedoch keiner.

»Du hast recht«, sagte Noraim nur. »Wir sollten uns tatsächlich auf das Mögliche konzentrieren. Aber bedenke folgendes: Das, was gestern noch unmöglich war, ist heute bereits wahrscheinlich. Die Forschung hinsichtlich der Wirkungsweise der Magie bringt uns jeden Tag neue Erkenntnisse. Wir sollten unsere Augen nicht vor dem Unmöglichen verschließen, denn wir können jederzeit neue Geheimnisse enträtseln.«

»Jawohl, Meister«, murmelte Lynthis, doch Noraim hielt kaum inne, um Atem zu holen.

»Ich denke, wir stimmen beide darin überein, dass es relativ leicht ist, einen Zauber zu entwickeln, der Dämonen aufspürt. Ihre Strukturen sind so rau und körnig, dass ein Aufspürzauber genügen würde, der auf dem Astralsinn beruht. Die Schwierigkeit besteht darin, einen Zauber zu entwickeln, der jene Dinge und Wesen aufspürt, die lediglich von den Dämonen befleckt sind. Wir befinden uns in derselben Lage wie ein Waffenschmied, der die Struktur eines Schwerts erforscht, um dessen wahre Natur zu bestimmen. Er registriert die kleinsten Einzelheiten in der Struktur der Waffe, und es sind eben jene Einzelheiten, aus denen die Waffe ihre Einzigartigkeit bezieht. Theoretisch sollten wir in der Lage sein, dasselbe zu tun, um die Einzigartigkeit« zu entdecken, die das Ergebnis einer Dämonenbefleckung ist«, sagte Noraim.

»Was meint Ihr mit ›theoretisch‹, Meister? Die Schriften, die ich studiert habe, legen nahe, dass solch ein Ansatz auch praktisch funktionieren müsste.«

»Nun, ich glaube, die Variationen zwischen einer natürlichen und einer befleckten Struktur könnten zu subtil für einen Aufspürzauber auf der Basis des Astralsinns sein. Außerdem gibt es vielleicht keine für alle Dämonenbefleckungen charakteristische Eigenart. Nein, wenn dieser Zauber tatsächlich wirksam sein soll, müssen wir astrales, physikalisches und historisches Wissen über Dämonen in ihn einfließen lassen. Wir brauchen einen Zauber, der die feinsten Variationen erkennt und dann bestimmt, ob diese Variationen das Ergebnis einer Dämonenbefleckung sind.

Uns bleibt also nichts anderes übrig«, fuhr Noraim fort, »als einige Experimente durchzuführen. Komme in zwei Tagen wieder, während ich mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lasse. Und sei pünktlich.«

Lynthis war zufrieden, aber auch verwirrt.

»Wollt Ihr damit sagen, dass wir uns mit dem Problem des Einsatzes von Aufspürmagie noch weiter beschäftigen werden?«

»Nein, nicht wir. Ich werde mich diesem Problem auch weiterhin widmen. Du wirst dich auf andere Bereiche konzentrieren. In der Zwischenzeit werde ich versuchen, die Struktur für einen Zauber zu ersinnen, der unseren Anforderungen entspricht. Und jetzt mach dich auf den Weg. Und, Lynthis ...«

»Ja, Meister?«

»Sei pünktlich.«

»Ja, Meister Noraim. Habt Ihr noch andere Schriften für mich, die ich studieren soll?«

»Nein, aber wenn du noch etwas lesen willst, nimm eine von diesen hier mit.« Noraim deutete auf einen kleinen Stapel auf dem Tisch. »Die brauche ich noch nicht.«

Nach flüchtiger Durchsicht des Stapels wählte Lynthis eine weitere Schrift zum Thema Dämonenmagie. Dann verstaute sie Notizbuch, Feder und Tinte in ihrem Beutel.

»In zwei Tagen«, sagte sie, während sie sich in die Luft erhob. »Pünktlich.«

Zwei Tage später, als Lynthis sich Noraims Labor näherte, dachte sie noch einmal über all das nach, was sich kürzlich ereignet hatte. Vor ein paar Tagen war sie noch eine Schülerin des Magiers Noraim gewesen, und mittlerweile war sie das Dienstmädchen eines jähzornigen, anmaßenden Tyrannen. Was war geschehen? Noraim hatte zuvor niemals die Arroganz und das Gehabe der Überlegenheit an den Tag gelegt, die die meisten Theraner stolz vor sich her trugen wie eine Fahne. Vielleicht stimmte die barsaivische Redensart: »Einmal Theraner, immer Theraner.«

Die Schriften, mit denen sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte, handelten alle von Geisterbeschwörung – speziell der dämonenverwandten Geisterbeschwörung. Mittlerweile war sie von der Dämonenmagie und dem Wesen der Dämonen derart fasziniert, dass Lynthis sich schon mehr als einmal gefragt hatte, warum sie nicht die Disziplin des Geisterbeschwörers anstelle des Magiers gewählt hatte. Doch wenn ihr dieser Gedanke kam, tat sie ihn ebenso rasch wieder ab, da sie sich klar machte, dass die Disziplin Magier die oberste magische Disziplin war. Die Disziplin, die sich mit dem Wesen der Magie beschäftigte, nicht mit den Geistern, den Elementen oder mit Illusionen, sondern mit der Magie an sich. Plötzlich ging ihr auf, dass dies nicht ihre eigene Überzeugung, sondern die ihrer Eltern war, die sie ermutigt (oder vielleicht gezwungen) hatten, den Pfad des Magiers zu beschreiten. So oder so, dies war gewiss nicht der geeignete Zeitpunkt, über einen Wechsel nachzudenken.

Als sie sich Noraims Haus näherte, sah Lynthis mehr Wachen vor der Tür auf Posten stehen. Sie hatte sich schon bei der einen etwas unwohl gefühlt, und mittlerweile waren es sogar drei. Entweder hatte der Brela mehr Sicherheit angeordnet, oder es hatte einen bedeutenden Zwischenfall gegeben. Sie flog zur Tür und wurde von der bekannten Wache eingelassen. Die beiden anderen schienen nicht auf die Tür zu achten, sondern auf etwas zu warten.

Im Vorbeiflug fiel Lynthis auf, dass die beiden Männer die Uniform der Wachen des Sklavenlagers von Vivane trugen. Warum sollten Wachen aus dem Sklavenlager zu Noraims Labor kommen?, fragte sie sich, doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Als sie das Labor betrat, sah sie eine Zwergin, deren Hände und Füße in Handschellen steckten, auf einer langen Holzbank sitzen. Sie trug zerlumpte, schmutzige Kleidung und hatte das abgezehrte Aussehen der Unterernährten. Neben dieser Sklavin lagen zwei weitere Paar Handschellen, beide unbenutzt. Lynthis fragte sich, warum das so war, als sie in den Raum flog.

Dies war natürlich nicht Lynthis' erste Begegnung mit der Sklaverei. Da sie als Theranerin aufgewachsen war, hatte sie immer Sklaven im Haus gesehen. Gewiss, ihre Eltern hatten sie immer als Bedienstete bezeichnet, doch jeder wusste, dass sie Sklaven waren. Vielleicht war dabei eine Windling-Saite tief in ihrer Seele angeklungen, aber sie war instinktiv immer vor der Vorstellung zurückgeschreckt, dass sich ein Lebewesen im Besitz eines anderen befinden könnte. Wenn das Universum wahrhaftig die Namensgebenden Rassen erschaffen hatte, wie man es sie gelehrt hatte, musste die Idee von der Überlegenheit einer über eine andere falsch sein. Lynthis hatte diese Gedanken jedoch immer für sich behalten, denn solch ein Standpunkt war für einen Theraner unakzeptabel. Statt dessen hatte sie so getan, als finde diese Praxis ihre Zustimmung.

Als sie an der Sklavin vorbeiflog, zuckte sie angesichts des Zustands der bedauernswerten Zwergin unwillkürlich zusammen. Hatte Noraim ihre Reaktion bemerkt? Vielleicht nicht, denn der Magier enthielt sich jeglicher Bemerkung, während Lynthis zum Tisch flog, um ihre Sachen auszupacken.

Sie sah, dass er wieder etwas an die Wand gekritzelt hatte. Zum einen hatte die Zauberstruktur, die ihr bereits vor zwei Tagen aufgefallen war, an Umfang und Komplexität gewonnen. Die andere Veränderung bestand darin, dass ein Teil der Wand mit zahlreichen Symbolen vollgeschrieben war, deren Bedeutung sie in den wenigsten Fällen kannte.

Lynthis blieb keine Zeit, über Sinn und Zweck all dessen nachzudenken. Kaum waren ihre winzigen Füße weich auf dem Tisch gelandet, als Noraim sie ansprach.

»Schön, dass du heute pünktlich bist«, sagte der Magier. »Ich wollte gerade mit einem wichtigen Experiment beginnen.«

Lynthis antwortete nicht sofort, da sie plötzlich das Symbol an der Wand wiedererkannte, das sie zunächst verwirrt hatte. Es war eines, das oft in Verbindung mit Blutmagie benutzt wurde.

Sie flog auf, so dass sie sich Noraim in Augenhöhe gegenübersah, als sie antwortete. »Worum geht es bei diesem Experiment, Meister?«

»Ich überprüfe eine Theorie«, sagte Noraim, indem er auf einen schlichten Ring zeigte, der auf der Werkbank lag. »Ich habe eine Erweiterte Matrix in diesen Ring eingearbeitet und sie auf den Astralsinn eingestimmt. Aber die Struktur der Matrix ist etwas ungewöhnlich. Sieh selbst.«

Lynthis betrachtete den Ring. Unter Benutzung ihrer Astralsicht sah sie in den Ring hinein, dann in seine Struktur. Und dann immer tiefer in seine Struktur, bis sie die astrale Darstellung der Matrix erblickte. Sie war tatsächlich anders als alle, die sie bisher gesehen hatte. Die Matrix besaß eine mächtigere Struktur als die meisten, aber das war noch nicht alles. Ein von der Hauptstruktur getrennter Abschnitt war besonders mächtig. Dort muss der Faden des Zaubers eingewoben sein, dachte Lynthis. Doch das erklärte nicht, warum ein einzelner Faden, der nirgendwohin führte, lose aus diesem Abschnitt baumelte. Als Lynthis dem Faden folgte, stellte sie fest, dass er direkt mit dem Herzen der Matrix verknüpft war.

Sie schaltete wieder auf normale Sicht um und wandte sich an den Magier.

»Eine hochinteressante Arbeit, Meister, aber welchem Zweck soll sie dienen?« fragte Lynthis.

»Ich versuche einen Weg zu finden, den Astralsinn so zu verstärken, dass er sich hinsichtlich Klarheit und Präzision mit deiner Astralsicht messen kann.«

»Aber wie?« plapperte Lynthis aufgeregt dazwischen.

Noraim sah sie scharf an, fuhr aber lediglich an der Stelle fort, wo er unterbrochen worden war. »Ich dachte, dieses Ziel ließe sich möglicherweise dadurch erreichen, dass man den Zauber durch die Macht der Blutmagie verstärkt.«

»Blutmagie?« hauchte Lynthis, während die Sklavin scharf einatmete.

»Ja, Blutmagie. Weißt du, das ist nichts Böses. Sie ist nur ein wenig... wie soll ich sagen?... grässlicher... als andere Magieformen. Mir ist der Gedanke gekommen, dass das, was der Astralsicht der Windlinge diese außerordentliche Präzision verleiht, die Tatsache sein könnte, dass sie von der Lebenskraft geleitet wird. Dadurch, dass ich den Astralsinn-Zauber durch Blutmagie leiten lasse, hoffe ich, eine ähnliche Wirkung zu erzielen.

Und jetzt wirst du Nereana ein wenig Blut abzapfen, während ich den Zauber in dem Ring aktiviere. Beobachte alles mit deiner Astralsicht, und sag mir, was du siehst.«

Noraim drehte sich zu der Zwergenfrau auf der Bank um und bedeutete Lynthis zu ihr. Als sie Angst auf dem Gesicht der Sklavin sah, versuchte Lynthis sie zu beruhigen, während sie ihr den Ring überstreifte.

»Keine Angst«, sagte sie freundlich. »Ich werde dir nur ganz leicht mit diesem Dolch in den Finger stechen. Es wird überhaupt nicht weh tun.«

»Ich... Ich... Es sind nicht die Schmerzen... Es ist die Bl... Blutmagie. Sie ist das Werk der Dämonen.«

»Aber nein«, erwiderte Lynthis beschwichtigend. »Wie Noraim schon sagte, Blutmagie ist nichts Böses.«

Lynthis Versuche, die Frau zu beruhigen, schienen vergeblich zu sein. Nereana war zutiefst verängstigt, und daran konnten auch noch so schöne Worte ihrer Häscher nichts ändern.

Lynthis hielt Nereanas Hand, während Noraim den Faden in die Matrix wob und dann den Zauber erwirkte. Gleichzeitig gab er Lynthis ein Zeichen, die genau in dem Augenblick in Nereanas Finger stach, als der Zauber wirksam wurde. Kurz bevor Lynthis auf Astralsicht wechselte, bemerkte sie noch, dass der Ring den Blutstropfen aufsaugte, ein Zeichen, dass die Blutmagie aktiviert worden war.

Lynthis konzentrierte sich mit ihrer Astralsicht auf die Strukturen des Ringes, der Matrix und des losen Fadens. Diesmal wurde ihre Sicht jedoch von Nereanas Struktur beeinträchtigt, so dass eine genaue Beobachtung schwierig war. Als sie genauer hinsah, konnte sie erkennen, dass der Faden als Reaktion auf die ihm von Noraim mitgegebene Energie pulsierte, sogar wild peitschte wie eine wütende Schlange beim Angriff. Dann bewegte sich der Faden auf Nereanas Struktur zu, wobei seine Zuckungen schwächer wurden, je näher er der neuen Energiequelle rückte. Und dann, gedankenschnell und für Lynthis fast zu schnell, verband sich der Faden mit Nereanas Struktur. Der Faden pulsierte vor Energie, während Nereanas Struktur verblasste.

Lynthis wechselte rasch auf normale Sicht, und sofort bemerkte sie, dass Nereana vor ihren Augen sichtlich schwächer wurde. Lynthis arbeitete nicht zum erstenmal mit Blutmagie, und sie hatte auch schon öfter ihre Wirkung gesehen, aber so etwas noch nie. Gewiss, Blutmagie erschöpfte die betreffende Person immer, aber nicht in einem derartigen Ausmaß. Während Lynthis mitansah, wie Nereana immer schwächer wurde, erwiderte die Zwergenfrau den Blick, war jedoch zu verängstigt, um auch nur ein Wort herauszubekommen.

»Nereana, kannst du die astrale Präsenz hier im Zimmer spüren?« fragte Noraim.

Die Frau schüttelte den Kopf, doch Lynthis wusste nicht, ob dies eine Antwort auf die Frage des Magiers oder eine Begleiterscheinung des Experiments war.

»Nereana, spürst du überhaupt irgend etwas?« wollte Noraim wissen.

»Es bringt sie um«, zischte Lynthis. »Wir müssen ihr den Ring abnehmen!«

»Sie hält noch ein paar Sekunden aus. Nereana, du musst doch irgend etwas spüren.«

Nereana nickte und zeigte auf einen kleinen Tonkrug auf der Werkbank.

»Siehst du, es klappt!« rief Noraim aufgeregt. »Ich habe den Krug als Test mit einem winzigen Zauber belegt. Sie kann ihn spüren. Es klappt!«

»Nein, sie stirbt«, jammerte Lynthis. »Ich muss ihr sofort den Ring abnehmen.«

Noraim richtete sich zu voller Größe auf. »Du wirst den Ring an Ort und Stelle lassen. Und das ist ein Befehl. Nereana, spürst du noch etwas anderes?«

Diesmal schüttelte sich die Frau lediglich. Nicht nur der Kopf, sondern ihr ganzer Körper zuckte, als zittere er vor Kälte.

»Aber...«, begann Lynthis traurig.

Noraims Stimme war kalt, gefühlslos. »Lass es, oder du wirst mich wahrhaftig zornig erleben.«

Lynthis starrte Nereana hilflos an, musste mitansehen, wie das Leben aus ihr herausrann. Selbst in ihren schlimmsten Alpträumen hatte Lynthis so etwas noch nicht erlebt. Vor ihren Augen wurde eine Frau von der für einen simplen Zauber erforderlichen Magie getötet. Die Zwergenfrau war mittlerweile so schwach, dass ihr offenbar sogar die Energie fehlte, Angst zu haben. Die Anspannung wich aus ihrem Gesicht, während ihr Körper jeden Funken Energie in dem verzweifelten Versuch aufbrauchte, sich an das Leben zu klammern. Und dann, so, wie Lynthis wusste, dass es enden würde, schlossen sich Nereanas Augen, und ihr Körper erschlaffte, als die letzten Fünkchen ihrer Lebensenergie verbraucht waren.

Entschlossen, ihr Wissen zu bestätigen, wechselte Lynthis gerade noch rechtzeitig wieder auf Astralsicht, um mitanzusehen, wie sich zunächst die Struktur der Zwergenfrau und dann die Struktur der Matrix innerhalb des Rings in nichts auflöste. Als beide Strukturen verschwunden waren, schloss Lynthis für ein paar Sekunden die Augen, bevor sie sie wieder für die physikalische Welt öffnete.

»Wie konntet Ihr sie sterben lassen?« entfuhr es ihr. »Ihr habt sie umgebracht! Und das nur wegen eines Experiments?«

Noraim antwortete nicht sofort, wirkte fast ein wenig nachdenklich, während er das winzige Gesicht der Windlingsfrau musterte. Es war beinahe so, als taxiere er sie. »Ich will um deinetwillen hoffen, dass du mich gerade zum ersten und zum letzten Mal angezweifelt hast«, sagte der Magier kalt. »Ja, die Sklavin ist tot. Und morgen wird die Sonne trotzdem aufgehen und genauso untergehen. Und du und ich, wir werden immer noch die Aufgabe haben, eine durchführbare Lösung zu finden. Nichts von Belang hat sich geändert.«

Lynthis glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Dies war ihr Lehrer, Noraim Immerschlau, der über den Verlust eines Lebens sprach, als sei eine lästige Fliege zertreten worden.

»Was mich verblüfft«, fuhr der Magier fort, »ist die Todesursache. Die erforderliche Magie, um solch einen Zauber zu betreiben, ist gering, praktisch bedeutungslos, und doch hat sie die Sklavin ihres Lebens beraubt.«

»Aber so funktioniert die Magie unserer Zaubersprüche nicht«, sagte Lynthis erhitzt, indem sie sich in die Luft erhob, da sie zu aufgeregt war, um am Boden zu bleiben. »Die Energie für Zauber, für alle Magie, kommt aus dem Astralraum, nicht aus uns. Die Energie des Astralraums ist unendlich, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Selbst die mächtigsten Rituale können die unerschöpflichen Vorräte des Astralraums nicht aufzehren. Aber das heißt nicht, dass Lebewesen so viel Energie zur Verfügung stellen können.«

»Ja, natürlich. Die Blutmagie bewirkte, dass der Zauber seine Energie ausschließlich von Nereana bezog. Das war zuviel für sie.« Noraim seufzte, während er die leblose Gestalt Nereanas betrachtete. »Die größte Enttäuschung ist die Tatsache, dass das Experiment gescheitert ist, aber ich nehme an, das ist auch nicht so wichtig. Der Brela hätte diese Lösung abgelehnt, selbst wenn sie funktioniert hätte.«

»Warum das, Meister?«

»Weil der Brela... wie soll ich es formulieren?... Blutmagie nicht billigt. Wie so viele andere auch glaubt er, dass Blutmagie mit den Dämonen in unsere Welt gelangt ist. Eine alberne Ansicht, ich weiß, aber er will einfach nicht auf die Stimme der Vernunft hören.«

Lynthis achtete diesmal sehr sorgfältig darauf, sich nicht wieder zu ereifern. Noraim hatte gewöhnlich nichts gegen Fragen, solange sie in der Absicht gestellt wurden, Wissen und Verständnis zu vertiefen. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr wusstet, der Brela würde eine Lösung ablehnen, die die Verwendung von Blutmagie erforderte, und Ihr dieses Experiment dennoch fortgesetzt habt? Das verstehe ich nicht.«

»Das alles ist Bestandteil der Forschung. Es ist die Suche nach Wissen. Nach einem Verständnis, wie Magie auf bisher noch unbekannte Weise eingesetzt werden kann. Du wolltest doch sicher auch wissen, ob das Experiment erfolgreich sein würde oder nicht.«

»Ja, aber wir hätten es abbrechen können, bevor sie starb!«

»Vielleicht, aber schätzt du den Wert einer Sklavin etwa höher ein als die Suche nach der Wahrheit? Als den erfolgreichen Abschluss dieses Projektes? Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Lynthis. Diese Arbeit genießt absoluten Vorrang. Sie ist wie Unterricht. Deine Studien beschäftigen sich mit dem, was ich anordne. Und du stellst meine Handlungen oder Anordnungen nicht in Frage. Hast du verstanden?«

»Ja. Ich habe verstanden, Meister.«

Lynthis schwieg, während Noraim sie mit unnachgiebigem Blick anstarrte. Seiner Miene konnte Lynthis entnehmen, wie ernst der Magier dieses Projekt nahm. Sie fragte ihn, was sie als nächstes tun würden.

»Zuerst räumen wir hier auf«, sagte er und rief nach den Wachen, die augenblicklich hereinkamen, um die Leiche und alle anderen Spuren, die auf die Existenz dieser Sklavin hinwiesen, aus dem Raum zu entfernen.

Als sie damit fertig waren, setzte sich Noraim an den Tisch, und Lynthis landete neben ihm. »Du hast eine Menge Material über die Dämonen und ihre Magie durchgearbeitet, nicht wahr?«

»Ja, Meister, und es ist faszinierend. Aber je mehr ich lerne, desto mehr Fragen habe ich und desto mehr will ich wissen.«

Noraim lächelte sie zum erstenmal seit langer Zeit an. »Wie gut ich dieses Gefühl kenne – den Segen und zugleich Fluch aller Magier. Unsere Disziplin beruht auf der Grundlage des Wissens, und ich kann dir nur sagen, dass die Sehnsucht nach Wissen im Alter nicht nachlässt. Nein. Wenn möglich, wird sie mit den Jahren nur noch stärker. Nimm einstweilen diesen Text mit nach Hause und ließ ihn. Beim nächstenmal werden wir versuchen, ganz genau zu definieren, wie wir unseren Zauber gestalten müssen, so dass er nur auf Dämonen reagiert.«

»Könnt Ihr mir, bevor ich gehe, noch sagen, was das hier ist?« fragte Lynthis, während sie zu der vollgekritzelten Wand flog.

»Das ist möglicherweise der Anfang der Struktur unseres Zaubers. Eine Abwandlung des Astralsinn mit größerer Reichweite und verlängerter Wirkungsdauer.«

Noraim stand auf, ging zur Wand und deutete auf Teile der Strukturgleichung. Teile, von denen Lynthis erst jetzt erkannte, dass sie unvollständig waren.

»An dieser Stelle hoffe ich, eine Methode zur Identifikation von Dämonenmagie einzuweben, so dass der Zauber Dämonen und ihre Magie erkennt.«

»Aber was ist das hier drüben?« fragte Lynthis, indem sie auf einen weiteren unvollständigen Teil der Struktur deutete.

»Dort werde ich den Auslöser und die Energie für den Zauber einweben. Nach den heutigen Ergebnissen habe ich zwar ein paar Ideen, aber ich muss noch darüber nachdenken. Und jetzt, Lynthis, wird es Zeit für dich, nach Hause zu gehen. Ich wünsche dir noch einen guten Tag.«

»Guten Tag, Meister«, erwiderte Lynthis. Sie flog zu ihrem Beutel und hob ihn auf, bevor sie das Haus verließ. War sie zuvor verwirrt gewesen, so war sie jetzt zutiefst erschüttert. Die Mittel, derer sich Noraim zur Erreichung seiner Ziele bediente, ließen sie erschauern.

Doch noch viel beunruhigender war das Wissen, dass er recht hatte. Der Wissensdurst war stark in ihr. Und sie spürte, wie er wuchs. Sogar während sie zugesehen hatte, wie das Leben aus Nereana gesogen wurde, war Lynthis sich der Tatsache bewusst, dass ihre Neugier fast ebenso groß wie ihr Entsetzen gewesen war. Ihre Neugier bezüglich des Resultats. Gewiss, sie hatte das Experiment beenden wollen, aber tief in ihrem Innern hatte sie auch wissen wollen, ob es funktionierte. Ob es Nereana umbringen oder nur bewusstlos machen würde. Und wieviel Reue sie auch über den verschwenderischen Umgang mit dem Leben empfinden mochte, ihr war außerdem klar, dass sie sich, hätte Nereana überlebt, immer gefragt hätte ...

Mit diesen aufwühlenden Gedanken beschäftigt, flog Lynthis mit der Erkenntnis nach Hause, dass sie jetzt mit dem Wissen würde leben müssen, was aus ihr geworden war.

Als die Wache Lynthis mehrere Tage später in Noraims Labor einließ, war der Magier nicht da. Anstatt genau pünktlich war sie zu früh eingetroffen, aber sie hatte damit gerechnet, Noraim bereits bei der Arbeit vorzufinden. Während sie ihre Tasche auspackte, überflog sie mit einem Blick die Bücher auf dem Tisch, die Noraim für seine Forschungsarbeit benutzte und die sie an den Text erinnerte, den sie in der vergangenen Nacht gelesen hatte.

Es war eine Abhandlung über die wissenschaftlichen Aspekte der Geisterbeschwörung, insbesondere der magischen Theorie aus der Sicht der Geisterbeschwörer. Das Buch enthielt außerdem umfangreiches Material über die Dämonen, die für Lynthis langsam zu einer Art Besessenheit wurden. Seit Beginn dieses Projekts mit Noraim hatte sie mehr über Dämonen gelesen und erfahren, als sie je für möglich gehalten hätte. Und dennoch wollte sie noch mehr wissen.

Nachdem sie ihre Sachen auf dem Tisch abgestellt hatte, flog Lynthis zur Wand, um festzustellen, ob es Veränderungen gab. Die Struktur des Zaubers schien noch umfangreicher geworden zu sein. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass die Struktur in Wirklichkeit gar nicht so sehr verändert, sondern nur neu niedergeschrieben worden war, und zwar entschieden großzügiger. Das hatte Noraim wohl getan, um mehr Platz für die Erweiterung der Struktur zu haben, die jetzt fast die gesamte Wand bedeckte.

Lynthis flog zum Tisch zurück und nahm den Geisterbeschwörungstext aus ihrer Tasche. Sie legte die Schriftrolle auf den Stapel zurück und suchte nach einer anderen – dem nächsten Schritt in ihrem Streben nach Wissen über die Dämonen. Beim Stöbern durch die Texte wunderte sich Lynthis über das beeindruckende neue Buch, das ein wenig abgesondert von den anderen auf dem Tisch lag.

Während sie in der Luft schwebte, um den Titel des Buchs zu lesen – Das Wesen der Namensgeber –, überkam sie ein unbehagliches Gefühl. Lynthis hatte keine Ahnung, woher dieses Buch stammen mochte und zu welchem Zweck es sich hier in Noraims Labor befand. Mehrere Papierstreifen ragten an verschiedenen Stellen aus dem Buch, vermutlich um wichtige Seiten zu kennzeichnen. Immer vier oder fünf Seiten auf einmal nehmend, musste Lynthis mit beiden Händen kräftig ziehen und dann mit den Seiten in einem kleinen Bogen zum Buchdeckel fliegen, um die schweren Pergamentseiten bis zur ersten Markierung umzublättern.

Die Überschrift dieser Seite lautete ›Windlinge‹, doch sie beschloss, nicht an dieser Stelle innezuhalten. Wieder nahm Lynthis vier oder fünf Seiten und erhob sich in die Luft. Auf diese Weise fuhr sie fort, bis sie zur zweiten markierten Stelle kam. Diese trug die Überschrift ›Windlingssicht‹ und war eine Abhandlung über die Astralsicht, über die alle Windlinge von Geburt an verfügten. Darin hieß es, dass zwar schon viele Forscher versucht hätten, die Fähigkeit zu kopieren oder zu isolieren, dies aber noch niemandem gelungen sei. Die Fähigkeit sei ein Produkt der besonderen Windlingsphysiologie und könne von anderen Rassen nicht reproduziert werden.

Dies lesend, erinnerte sich Lynthis an Noraims Erwähnung ihrer Astralsicht, als sie anfänglich diskutiert hatten, wie ihr astraler Detektor funktionieren könne. Sie hatte die Idee verworfen, weil sie wusste – wie das Buch bestätigte dass nur Windlinge diese Fähigkeiten besaßen und sie sich nicht auf andere übertragen ließ. Doch vielleicht war Noraim nicht davon überzeugt oder suchte nach Möglichkeiten, den Astralsinn zu verstärken. Wie er immer wieder betonte: »Was heute noch unmöglich erscheint, ist morgen schon wahrscheinlich.«

Lynthis war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie der Klang von Stimmen erschreckt auffahren ließ. Sie flog rasch zu ihrem üblichen Platz auf dem Tisch, während jemand in der Tür erschien. Es war die theranische Wache, die Noraim die Tür öffnete, woraufhin dieser mit einem Bücherstapel in den Händen eintrat.

»Schau, schau, Lynthis. Wie ich sehe, bist du heute sogar zu früh gekommen«, sagte er freundlich. »Sehr gut. Ich hoffe, du hast dich hinsichtlich unseres jüngsten Experiments beruhigt. Ich bin sicher, du hast mittlerweile eingesehen, dass es nötig war.«

Lynthis hielt es für das beste, nicht zu antworten und Noraim denken zu lassen, was er wollte. Sie hatte selbst noch keine Erklärung für ihre verwirrte und widersprüchliche Reaktion auf die Vorgänge bei ihrem letzten Besuch gefunden.

»Ich fasse dein Schweigen entweder als Zustimmung oder als Zeichen dafür auf, dass du nicht weißt, wie du darauf antworten sollst. So oder so werden wir uns jetzt mit einem neuen Experiment beschäftigen.«

Der Magier ging zum Tisch und stellte die Bücher neben dem Band über die Windlingsmagie ab, den Lynthis in ihrer Hast aufgeschlagen gelassen hatte. Im stillen verfluchte sie sich dafür, nicht daran gedacht zu haben, ihn zu schließen.

»Wie ich sehe, hast du dir dieses Buch angesehen. Faszinierend, nicht wahr? Wir mögen die Wirkungsweisen der Magie bis in alle Ewigkeit studieren, und doch wird es uns vielleicht nie gelingen, die Geheimnisse zu enträtseln, über die die verschiedenen Namensgebenden Rassen von Natur aus verfügen. Die Beschreibungen dessen, was ihr Windlinge mit eurer Astralsicht wahrnehmt, haben mich mächtig neugierig gemacht.«

Lynthis versuchte ihre Erleichterung darüber zu verbergen, dass Noraim ihr ihre Schnüffelei nicht verübelte, als plötzlich vier theranische Soldaten den Raum betraten. Je zwei von ihnen trugen einen langen schmalen Kasten. Beide Kästen bestanden aus einem tiefroten Holz, und Ecken und Kanten waren mit glänzend poliertem Metall beschlagen. Bei beiden Kästen befanden sich auf der einen Seite drei Scharniere, auf der anderen drei Riegel, aber damit endeten die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kästen auch schon.

Der erste Kasten war von eher schlichtem Äußeren. Obwohl gut gearbeitet, war er eher funktionell denn schön. Der andere war sehr kunstvoll gestaltet. Zuerst wurde Lynthis aus den Schnitzereien nicht schlau, mit denen der zweite Kasten übersät war, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es sich dabei im wesentlichen um Runen handelte. Weder um Sprachrunen noch um Schmuckrunen, sondern um Schutzrunen gegen Dämonen – dieselben Runen, die man an den Eingängen zu den unterirdischen Kaers und auf den Kuppeln und Zitadellen finden konnte, die überall in Barsaive in Erwartung der kommenden Plage gebaut wurden. Als sie den Kasten mit ihrer Astralsicht betrachtete, bestätigte sich ihr Verdacht. Der Kasten enthielt mächtige Magie. Schutzmagie, speziell darauf ausgerichtet, den Dämonen und ihrer Magie zu widerstehen. Die Runenstrukturen, die sie sah, ähnelten denjenigen, die in einigen der von ihr kürzlich gelesenen Bücher abgebildet waren.

»Was ist das?« fragte sie.

»Der Grund für meine Verspätung«, sagte Noraim. »Ich musste den Brela erst dazu überreden, mir diese Kästen für unsere heutige Arbeit aus der Schatzkammer zur Verfügung zu stellen. Wegen seiner zwanghaften Angst vor den Dämonen und ihren Kräften lehnte er zunächst ab, aber als ich ihm erklärte, dass ich sie brauchen würde, um seine Vorrichtung zum Aufspüren von Dämonen zu vollenden, gab er schließlich nach. Sie müssen in drei Stunden zurückgebracht werden, so dass uns nicht viel Zeit bleibt.«

»Was sind das für Kästen?« fragte Lynthis, in der bereits Erregung und Neugier wuchsen.

»Wenn wir die verschiedenen Arten ergründen wollen, wie die Magie unserer Welt und diejenige der Dämonen astral wahrgenommen wird, brauchen wir ein paar Versuchsgegenstände. In jedem dieser Kästen befindet sich ein Schwert. Die Magie des einen Schwerts ist das, was wir als ›natürlich‹ bezeichnen würden. Seine Struktur hat sich durch die Ereignisse, an denen es beteiligt war, entwickelt und geformt. Es ist Benannt und beinhaltet magische Informationen. Die Magie des zweiten Schwerts ist Dämonenmagie. Als die Klinge hier in diese Stadt gelangte, wusste der Brela nicht, was er damit anfangen sollte, und er ließ diesen Kasten bauen, um die Dämonenkräfte einzudämmen. Wir werden beide untersuchen, zuerst jede Waffe für sich und dann beide zusammen, um die beste Methode herauszufinden, die Dämonenmagie zu entdecken. Bist du bereit?«

»Ja«, sagte Lynthis eifrig.

»Gut. Dann lass uns mit der natürlich magischen Klinge beginnen.«

Lynthis drehte sich um und stellte fest, dass die beiden Kästen jetzt am Boden des Labors standen, und zwar ganz in der Nähe der Stelle, wo Nereana gestorben war. Während sie sich konzentrierte, ging Noraim zu dem unscheinbaren Kasten, öffnete die drei Riegel und klappte den Deckel auf.

In dem Kasten lag ein großes Schwert, ein Breitschwert. Dann ging Noraim zu Lynthis, die auf dem Tisch stand.

»Jetzt«, sagte er, »lass uns beide einen Astralsinn-Zauber erwirken und sehen, was wir feststellen.«

Sie erwirkten beide den Zauber und betrachteten das Schwert. Als die Wirkung ihres Zaubers einsetzte, nahm die Struktur des Schwerts vor ihrem geistigen Auge Gestalt an. Während des Unterrichts hatten Lynthis und Noraim dies sehr oft getan, als der Magier die Windlingsfrau angewiesen hatte, wie man nach Informationen suchte, die sich in einer Struktur befanden.

»Versuch dir die Struktur des Schwerts zu merken«, sagte er, »da wir die Unterschiede zwischen beiden Strukturen herausarbeiten müssen. Erst wenn wir die Unterschiede kennen, können wir eine Methode entwickeln, Dämonenmagie inmitten anderer Magiearten aufzuspüren.«

Während Noraim seine Anweisungen gab, versuchte Lynthis sich das Bild vor ihren Augen einzuprägen. Die Struktur war dreieckig, wobei jede Seite aus einer Klinge bestand, die anscheinend aus Spruchfäden gewoben war. Die ›Fäden‹ entsprangen den Spitzen und Heften der Klingen und verbanden sich zu einem spiralförmigen Muster, das das Innere des Dreiecks ausfüllte. Die Spiralen schienen in ständiger Bewegung zu sein. Sie erinnerten Lynthis an Zauberkanne und Illusionen, die von Illusionisten angewandt wurden, wenn sie jemanden zu hypnotisieren versuchten. Nachdem sie sich die Struktur so gut wie möglich gemerkt hatte, ließ sie das Bild vor ihren Augen verblassen, da sie befürchtete, sie werde tatsächlich hypnotisiert, wenn sie die Struktur noch länger betrachtete.

»Jetzt benutze deine Astralsicht«, sagte Noraim, »und wiederhole den Vorgang.«

Nachdem sie sich gesammelt hatte, richtete Lynthis ihre Astralsicht auf die Struktur. Diesmal konnte sie sie viel deutlicher sehen. Die Struktur hatte immer noch die Form eines Dreiecks, und die Klingen waren ebenfalls noch da. Jetzt konnte sie außerdem erkennen, dass ihre ersten Wahrnehmungen von der Struktur genauer gewesen waren, als sie gedacht hatte. Die ›Fäden‹, die von den Heften und Spitzen der Klingen ausgingen, bewegten sich tatsächlich. Sie konnte sie beobachten, wie sie sich durch die Spiralen in der Mitte wanden, dann im Heft eines Schwerts verschwanden und schließlich an der Spitze wieder austraten. Alles in allem hatte sie den Eindruck, als schraubten sich Tausende dieser ›Fäden‹ durch die Struktur.

Dies war das erstemal, dass sie das, was sie mit ihrem magischen Astralsinn sah, und das, was sie mit ihrer Astralsicht wahrnahm, miteinander verglich. Der Unterschied war verblüffend. Die Struktur war vor ihrem astralen Auge mit faszinierender Klarheit und in einem unglaublichen Detailreichtum zum Leben erwacht. Sie betrachtete die Struktur so hingebungsvoll, dass sie Noraims Aufforderung, aufzuhören, überhörte. Erst als er den Kasten mit dem Schwert schloss, wurde sie jäh in die Welt der fassbaren Wirklichkeit zurückgerissen.