Der Tanzende - Victor Jestin - E-Book

Der Tanzende E-Book

Victor Jestin

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Beschreibung

La Plage heißt der Club in einer kleinen Stadt am Ufer der Loire. Schon bei seinem ersten Besuch anlässlich eines Kindergeburtstages fühlt sich Arthur unwohl, wie erstarrt. Später, als Jugendlicher, will er lernen, mitzumachen. Er begleitet verschiedene Bekannte in den Club, versucht zu sein wie sie, verliebt sich zum ersten Mal, lernt zu tanzen, wird sogar zum besten Tänzer und ist schließlich beinahe täglich dort. Doch alle in seinem Umfeld verlassen die Stadt, bauen sich ihr Leben auf, können mit Erwartungen, die an sie gestellt werden, umgehen. Für Arthur hingegen wird das La Plage zu seinem eigentlichen Leben, nur an diesem Ort mit seinen eigenen Gesetzen gelingt es ihm, einen Platz in der Menge und eine Form der Existenz zu finden. Nur auf der Tanzfläche fühlt er sich frei und gibt die Hoffnung auf Liebe nicht auf.

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INHALT

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ÜBER DEN AUTOR

Victor Jestin, 1994 geboren, wuchs in Nantes auf und studierte anschließend am Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle in Paris, wo er heute auch lebt. Nach seinem viel beachteten Debüt Hitze folgt nun mit Der Tanzende sein zweiter Roman, der ebenfalls mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.

ÜBER DAS BUCH

La Plage heißt der Club in einer kleinen Stadt am Ufer der Loire. Schon bei seinem ersten Besuch anlässlich eines Kindergeburtstages fühlt sich Arthur unwohl, wie erstarrt. Später, als Jugendlicher, will er lernen, mitzumachen. Er begleitet verschiedene Bekannte in den Club, versucht zu sein wie sie, verliebt sich zum ersten Mal, lernt zu tanzen, wird sogar zum besten Tänzer und ist schließlich beinahe täglich dort. Doch alle in seinem Umfeld verlassen die Stadt, bauen sich ihr Leben auf, können mit Erwartungen, die an sie gestellt werden, umgehen. Für Arthur hingegen wird das La Plage zu seinem eigentlichen Leben, nur an diesem Ort mit seinen eigenen Gesetzen gelingt es ihm, einen Platz in der Menge und eine Form der Existenz zu finden. Nur auf der Tanzfläche fühlt er sich frei und gibt die Hoffnung auf Liebe nicht auf.

 

 

»Ich würde gern das Lieben lieben.«

FERNANDO PESSOA

 

 

Diskotheken enttäuschen am frühen Morgen. Mit einem Mal offenbaren sie das Hässliche, den Schmutz. Das Licht geht an, die Musik aus; es riecht nach Schweiß und Fabrik, der Boden klebt, die Palme ist aus Plastik. Da sind Wände und eine Decke, der Raum hat eine Dimension. Schlimmer noch, alle gehen nach Hause. Außer den Besoffensten, den Verzweifeltsten – wie Kinder, die sich weigern, ins Bett zu gehen. Der Türsteher jagt sie hinaus. Die Party ist vorbei. Zurück bleiben das leere Gebäude und ich, vergessen auf einer Bank ganz hinten.

Meine Augen brennen vom Weinen, mein Kopf ist heiß, ich liege auf der Seite, mit der Wange auf dem Leder. Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin. Der Anblick muss traurig und komisch zugleich gewesen sein. Bald werde ich vierzig, hier ist man damit alt, fast tot. Ich habe das Verfallsdatum überschritten. Es ist Zeit zu gehen. Aber ich weiß nicht, wohin.

Ich höre, wie der Barkeeper Gläser spült. Er sieht mich nicht. Alles ist gut. Ich kann Zeit schinden. Wenn ich mit halb zugekniffenen Augen zur Tanzfläche schaue, kann ich mir sogar Leute darauf vorstellen, die tanzende Menge, die Nacht, die weitergeht, nur noch ein bisschen.

GUY

1990

Als ich zum ersten Mal herkam, war ich zehn.

Ich erinnere mich, wie ich auf einer Bank im Pausenhof saß, mit baumelnden Beinen, allein wie ein Neuling, aber ich war keiner, es waren dieselbe Schule und dieselben Mitschüler seit der ersten Klasse. Sie spielten einen Meter weiter Fußball. Ich schaute sie lächelnd an, damit sie mich in eine Mannschaft holten, egal welche.

Da kam Anthony zu mir.

»Am Sonntagnachmittag feiere ich meinen Geburtstag an einem besonderen Ort. Es müssen so viele Jungen wie Mädchen sein, und einer kann nicht kommen, möchtest du für ihn einspringen?«

Sein Angebot rührte mich.

»In Ordnung.«

Er gab mir einen blauen Umschlag und ging weiterspielen.

Meine Eltern waren nicht daran gewöhnt, mich zu Geburtstagsfeiern zu fahren. Es hatte schon ein paar gegeben, aber immer waren es Einladungen von Freunden der Familie oder von Nachbarn gewesen. Die von Anthony war echter. Als ich ihnen die Einladung zeigte, gratulierten sie mir, als wäre es mein eigener Geburtstag. Am Sonntag fuhren wir also um fünfzehn Uhr zum angegebenen Ort. Es war ein Parkplatz mit einem großen gelben und rechteckigen Gebäude in der Mitte, das einem Container glich. Die Gäste standen davor. Anthonys Onkel empfing uns. Er hieß Guy. Blond, muskulös, braungebrannt. Er sah aus wie ein Bademeister oder ein Zeltplatz-Animateur. Er erklärte uns stolz, dass das Gebäude »La Plage« heiße und er der Besitzer sei. Es handele sich um einen »Nachtclub«. Ich wusste nicht, was das war. Meine Eltern hingegen wirkten beunruhigt. Sie fragten mich, ob ich einverstanden sei, hineinzugehen, ich sagte Ja, um die Lage nicht zu verkomplizieren, und sie ließen mich bei Guy, der mich zu den anderen schickte. Die meisten kannte ich, sie waren in meiner Klasse. Ich wollte sie begrüßen, aber Guy klatschte in die Hände.

»Also, ihr Rotzlöffel, wollt ihr sehen, wie es drinnen aussieht?«

Alle riefen »Ja!«. Ich auch, ein wenig leiser, und wir gingen hinein.

Wir liefen in einer Reihe durch einen dunklen Flur. Es roch nach Farbe und Staub, nach noch nicht beendeten Renovierungsarbeiten. Guy öffnete eine zweite Tür, und wir gelangten in einen großen, leeren Raum, eine Art Mehrzweckhalle mit Neonlicht. An den Wänden standen Tische und Stühle. Die Mitte schien für etwas freigeräumt worden zu sein.

»Wollt ihr tanzen?«

Alle riefen wieder »Ja!«. Ich wollte auch, aber dieses Mal kam kein Ton raus. Nun wurde ich von den Ereignissen überrollt. Guy stellte sich an einen Tisch, auf dem ein verkabeltes Gerät stand. Er drückte auf einen Knopf, und die Lichter gingen aus, wurden aber von einer bunten Diskokugel an der Decke ersetzt. Auf einmal herrschte eine gespannte Atmosphäre. Wir wurden alle schöner.

»Die Jungs auf eine Seite, die Mädchen auf die andere. Jungs, wenn ich die Musik anmache, fordert ihr die Mädchen zum Tanzen auf!«

Die zwei Gruppen reihten sich auf. Überrumpelt stellte ich mich dazu. Nur Sekunden später stand ich den Mädchen gegenüber, von ihnen getrennt und zugleich aufgefordert, zu ihnen zu gehen.

Madonna – Like a Prayer

Niemand rührte sich.

»Los, Jungs, traut euch!«

Anthony fasste sich als Erster ein Herz. Er ging über die Tanzfläche zu einem Mädchen. Die anderen folgten, Paare bildeten sich. Die Musik wurde ein wenig lauter, und als ob es alle geprobt hätten, fingen sie gleichzeitig an zu tanzen. Ihre Arme und Beine begannen, fantasievolle Bewegungen aneinanderzureihen, sie wirbelten paarweise über den Boden, der sich auf einmal auch bewegte, überflutet von Lichtpunkten. Ich blieb einsam zurück, abgesehen von dem Detail, dass mir gegenüber ein Mädchen stand, das noch einsamer war, übrig geblieben: Aurélie. Sie hatte ihren Pulli über dem Kleid angelassen. Ihre vom Knie abwärts sichtbaren Beine waren auf einmal sehr dünn und ließen sie wie einen Flamingo aussehen. Sie schaute mich verängstigt an. Fürchtete sie, dass ich sie auffordern oder nicht auffordern würde?

»Du bist der Letzte!«, rief mir Guy zu. Der Raum war auf einmal ein Sumpf. Ich steckte fest. Ich versuchte es mehrmals, mit aller Kraft, mit ganzer Entschlossenheit, aber jedes Mal hielt mich etwas davon ab, als ob ich vor einem Sprung ins Wasser zögerte.

Guy verließ sein Pult, um nach mir zu sehen. Die Musik machte ohne ihn weiter, die anderen auch. Wie automatisch.

»Also, Arthur, willst du denn nicht tanzen?«

»Das ist es nicht …«

»Hast du keine Lust, mit ihr zu tanzen?«

»Das ist es nicht …«

»Fürchtest du die Blicke der anderen?«

»Das ist es nicht …«

»Was ist es dann?«

Ich suchte nach Worten, um es ihm zu erklären.

»Ich stecke fest.«

»Aber nein, du steckst nicht fest.«

»Ich schwöre es Ihnen.«

»Gib mir deine Hand.«

Er nahm meine Hand und führte mich hinüber zu Aurélie. Ich spürte, wie meine Füße über den Boden schleiften wie ein Schrank, den man übers Parkett zog, und doch ging ich, einen Schritt nach dem anderen.

»Siehst du, du steckst nicht fest.«

Vor Aurélie ließ er meine Hand los.

»Nun fordere sie auf.«

Sie schaute auf ihre Schuhe und ich auf meine.

»Fordere sie auf, du siehst doch, dass es ihr peinlich ist.«

Ich sah es, und es tat mir leid. Ich hatte nichts gegen sie. Unter anderen Bedingen hätte ich sie gerne kennengelernt. Doch es gelang mir einfach nicht, zu tanzen. Aber ich musste. Die anderen starrten mich an. Scham überkam mich. Ich war unhöflich, ich verdarb die Party. Man würde mich nie wieder einladen.

Ich schaffte es, eine Hand zu heben und sie ein paar Sekunden auf halber Höhe zu halten, zwischen Aurélie und mir. Plötzlich ergriff sie sie. Ich packte zu. Wir hingen aneinander fest.

»Und nun tanze mit ihr.«

Ich wusste nicht, wie. Niemand hatte es mir gezeigt. Es fehlte der Impuls, um anzufangen. Jede Idee einer Bewegung trug all jene in sich, auf die man verzichten musste. Ich startete mehrere Anläufe, wie ein absaufendes Auto. Meine Anstrengungen waren unsichtbar. Man hätte meinen können, dass ich mich einfach nur zierte.

»Jetzt aber, so schwierig ist das doch nicht! Du musst nur loslegen! Schau!«

Und Guy fing an zu tanzen, hob abwechselnd die Beine, schnippte lächelnd mit den Fingern. Ich fand das hässlich. Er wollte unbedingt, dass ich tanzte, er war ganz besessen. Was würde geschehen, wenn ich mich weiterhin weigerte? Würde er losschreien? Ich könnte weinen. Nur das blieb mir noch, um mir Gehör zu verschaffen, nur dann würde man mich in Ruhe lassen. Aber die Tränen kamen nicht. Meine Wut nahm alles ein.

Ich ließ Aurélies Hand los.

»Gut«, seufzte Guy, »das reicht. Das hier ist ein Nachtclub, der ist zum Tanzen da. Was, wenn es alle so machen würden wie du? Tanz mit mir, ich werde es dir zeigen.«

Er griff ruppig nach meiner Hand. Plötzlich schrie ich »Nein!« und schlug mit meiner freien Hand auf seine. Das knallte. Ich schaute ihn mit zusammengebissenen Zähnen an und glaubte wirklich, er würde gleich losbrüllen. Stattdessen gab er mir eine Ohrfeige, eine saftige Ohrfeige, die ebenfalls knallte und meine Wange brennen ließ. Nun flossen die Tränen. Guy legte das Gesicht in die Hände und stöhnte. Die anderen erstarrten. Nur die Musik und das Licht machten weiter, wie um nicht lockerzulassen: Los, Arthur, nur ein kleiner Schritt, der Rest kommt von allein …

VINCENT

1998

Acht Jahre später ging es wieder los.

»Jungs, gehen wir tanzen?«

Ich rauchte bei Vincent auf dem Sofa, mit zwei anderen Jungen, an die ich mich kaum erinnern kann, Statisten. An Vincent erinnere ich mich. Er war imposant, trug immer weiße T-Shirts und schmutzige Jeans, die manchmal stark rochen, aber selbst sein Geruch war ihm zuträglich, war wie seine Gesten Teil einer Männlichkeit, die vor unserer herangereift war, eines Männerkörpers. Er war Rechtshänder, rauchte aber mit der Linken. Ich mochte die Art, wie er in seiner Tasche nach dem Feuerzeug suchte, im Mund eine Zigarette, sie mit geneigtem Kopf anzündete und jeden Satz mit einem langen Zug beendete, bei dem wir an seinen Lippen hingen, bis er am Ende die Kippe wegwarf, um zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Ich saß neben ihm, eine Pobacke in der Luft, und konzentrierte mich darauf, nicht zu paffen, sondern wie bei den Proben in meinem Zimmer ganz tief zu inhalieren. Ich erhoffte mir ein wenig Vergnügen, nur ein bisschen, damit man es meinem Gesicht ansah, aber es war eklig, ein Geschmack von Staub und Tod, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich behauptete, allergisch auf das Sofa zu sein. Ich hätte alles getan, um dort zu bleiben, auf der gemeinsamen Wolke, auf Bewährung. In Wahrheit war ich nur halb ihr Freund. Ich war eine Option, ein Anhängsel, das durch den Zahn der Zeit, durch Verschleiß in der Clique implantiert worden war, die Art von Freund, dessen Anwesenheit und Abwesenheit die gleiche zu vernachlässigende Bedeutung haben.

»Gehen wir jetzt tanzen, oder was?«, wiederholte Vincent.

Ich tat weiterhin so, als würde ich nichts hören, während ich darauf wartete, dass die anderen für mich ablehnten.

»Warum sollten wir tanzen gehen?«

»Ich habe genug davon, abends hierzubleiben. Mir ist lieber, es sind haufenweise Leute da.«

»Die lassen uns doch nie rein.«

»Doch, ich bin schon einmal mit Freunden meines Bruders dorthin, sie wollten meinen Ausweis nicht sehen.«

»Ich hab ohnehin keine Lust zu tanzen.«

»Das will ich auch nicht. Ich scheiß aufs Tanzen. Man tanzt nicht, um zu tanzen, sondern um eine aufzureißen.«

Aufreißen, bei dem Wort wurde mir übel. In ihrer Sprache hieß das Knutschen. Seit einiger Zeit nahm sie dieses Thema völlig in Beschlag. Auf dem Gymnasium war es langsam losgegangen: Ihre Körper waren massiver geworden, ihre Stimmen hatten sich verändert, ihre Blicke waren nach und nach an den Mädchen haften geblieben, wo sie von den Brüsten über ihre Beine, ihren Hintern glitten, die in ihrer Sprache Ärsche geworden waren, und ich sagte es errötend nach. Ich war nicht bereit dafür. Ich sah noch immer aus wie ein Kind.

»Kommt schon«, hakte Vincent nach, »ich habe das Gefühl, dass Arthur dort Erfolg haben wird.«

Sie lachten und ich auch, mit verkniffenem Gesicht. Vincent wollte immer, dass ich aufriss. Jedes Mal, wenn wir ausgingen, suchte er nach einer Gelegenheit für mich. Das war regelrecht zu seiner Mission geworden, ehrenamtlich, sozial, humanitär. Mein Fall ließ ihn nicht los. Ich hatte noch nie jemanden geküsst. Nicht mal ein kleiner Schmatz in einer verborgenen Ecke des Schulhofs. Während die anderen bereits an Sex dachten, trat ich auf der Stelle, als würde ich auf dem Startfeld eines Spielbretts festsitzen. Eines Tages würde ich vorankommen müssen, und wenn auch nur, damit sie aufhörten zu lachen.

»Ich bin dabei«, sagte ich plötzlich mit aufwallendem Mut.

Bevor wir aufbrachen, hatten die anderen telefonisch um Erlaubnis fragen müssen. Sie beneideten uns, Vincent und mich, um unsere Freiheit. Unsere Eltern hielten uns nie vom Ausgehen ab, aber aus unterschiedlichen Gründen: Seine, weil sie nur selten da waren, meine, weil jedes Zeichen von Sozialisierung eine gute Nachricht war, ein kleiner Sieg über meine Einsamkeit.

Um diese Zeit war im Stadtzentrum wenig los; ein paar nach Mitternacht geöffnete Bars, unser Lieblingskiosk, ein Kebab-Laden, wo man am Ende der Nacht landete, der Nachtbus in den leeren Straßen, und, am anderen Ufer der Loire, vor dem Industriegebiet, La Plage, die einzige Disko der Stadt, ein glänzendes gelbes Rechteck am Wasser. Ich ging nie dort vorbei. Als wir näher kamen, schlug mir etwas auf den Magen, und es waren nicht nur die Bässe, die durch die Wände wummerten – ich erkannte den Ort wieder und mit ihm eine alte Angst, so wie man sich an eine bestimmte Straßenecke erinnert, an eine geometrische Anordnung, wo der Schmerz seine Spuren hinterlassen hat.

Wir gingen über die Brücke und den Parkplatz zum Eingang. Auf der Fassade prangte in großen Neonlettern »La Plage«. Mehrere Leute standen Schlange. Wir stellten uns dazu. Ich tat entspannt, die anderen vielleicht auch, aber es gelang ihnen besser als mir. Alle hier schienen volljährig zu sein, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Als wir vor dem Türsteher standen, fiel sein Blick auf mich. Ich fürchtete, dass wir meinetwegen abgewiesen würden, weil ich nicht begehrenswert genug war, nicht genug begehrte, was auch immer. Ich hielt mich aufrecht. Ich hätte etwas Suspektes tun können, auf die Erde spucken zum Beispiel, damit seine Ablehnung sich darauf richtete und nicht auf mich.

»Okay.«

Wir gingen hinein. Vincent und die anderen jubelten, als hätten sie gerade eine Bank ausgeraubt. In der Schleuse wurde die Musik lauter, das Gebäude schien langsam in der Erde zu versinken. Schwimmbadschleusen, Umkleidekabinen, Warteschlangen vor Attraktionen, Durchgänge aller Art, Vorzimmer der Panik – mein Herz begann systematisch, schneller zu schlagen, und ich zog meine verschränkten Arme vor die Brust, um mit meinen Fäusten das Pochen einzudämmen. Wir ließen unsere Jacken am dafür vorgesehenen Ort. Jeder von uns bekam einen Jeton. Als der Gang enger wurde, kam es mir auf einmal so vor, als würde ich in die Fabrik gehen, nicht auf eine Feier, sondern in die Fabrik, zur Arbeit, in die Mine.

Daft Punk – Around the World

Drinnen gab es eine Bar, eine künstliche Palme, eine Spiegelwand, in den Ecken Bänke aus violettem Leder und in der Mitte eine rechteckige Tanzfläche, wo sie zu Hunderten in einem Gemisch aus Musik, Farben und Rauch tanzten. Das war, was ich sah. Gleichförmig und anhaltend. Das Gefühl, von einer Bewegung in vollem Gange mitgerissen zu werden, währte nur kurz; schon nach ein paar Schritten waren wir vollständig von der Atmosphäre aufgesogen, von den Lichtern hineingezogen. Unsere T-Shirts, Schuhe und Zähne fingen an zu leuchten wie beim Bowling. Ich spürte die anderen in Erregung geraten. Sie sagten etwas, was ich nicht verstand, da die Musik zu laut war. Wir gingen um die Tanzfläche herum zur Bar. Vincent, das sah ich an seinem Gang, fand Gefallen daran, nicht zu tanzen, den Moment hinauszuzögern, wie es selbstbewusste Leute tun. Ich versuchte, ihn zu imitieren. Solange ich nicht tanzte, wies nichts darauf hin, dass ich kein großer Tänzer war, ein Verführer, der sein Game ziemlich gut hinter seiner Verlorenheit versteckte.

»Vier Gin Tonic«, brüllte Vincent dem Barkeeper zu, ohne nach unserer Meinung zu fragen, und legte hundert Francs auf den Tresen.

Ich hätte mich nie getraut, für alle zu bestellen. Das war wie in der Kantine den Aufbruch zu initiieren, indem man zuerst aufstand, nur Anführer wussten, wie man das machte. Ich wusste nicht, was ein Gin Tonic war, und mir wäre eine Cola lieber gewesen, höchstens ein Apfelkorn, aber ich sagte nichts. Anschließend folgte ich ihnen zu den Bänken und hielt dabei mein Glas als Entschuldigung dafür, dass ich nicht tanzte, konzentriert nach oben. Alkohol floss in meinen Hemdärmel. Wir setzten uns nebeneinander an den Rand der Tanzfläche. Noch nie hatte ich gesehen, wie sich so viele Leute im selben Raum bewegten. Um sie nicht anzuschauen, hob ich den Blick. An der Decke wirbelten in höllischer Geschwindigkeit Dutzende irrer Spots, jeder mit einer eigenen Farbe und Bahn, seiner eigenen kleinen Partitur inmitten des Chaos. Sie wirkten erschöpft, sogar ein bisschen mitleiderregend. Ich schaute wieder nach unten, konzentrierte mich auf die Musik. In meinen Füßen zuckte die Lust, mit ihnen wie auf einem Konzert zu wippen, ein ruhiges Konzert, bei dem jeder sitzen bleibt, das hätte mir gefallen. Neben mir unterhielten sich die drei anderen, indem sie einander ins Ohr brüllten. Ich glaubte zu hören, wie Vincent von einer Party erzählte, auf der er letztes Wochenende war. Das war sein Lieblingsthema. Noch mehr als das Ausgehen gefiel ihm, davon zu erzählen. Das Vergnügen eines Abends bestand in der Erinnerung, die er daraus formte. Er übertrieb es immer. Die anderen hörten ihm lachend zu, lachten noch vor der Pointe, so sehr hatten sie Lust zu lachen, längst verführt und überzeugt. Ich reckte den Hals, um mich einzuklinken, mich in das Dreieck ihrer Körper einzufügen, aber es gelang mir nicht, denn ihre Schultern drängten mich zurück, ohne dass sie es bemerkt hätten. Ich lachte willkürlich, aber meine Stimme glitt ab ins Schrille, also hörten sie mich nicht. Resigniert starrte ich zu Boden und trank meinen Gin Tonic. Gin mit Schweppes. Sehr bitter. Blähend. Was mache ich hier bloß, fuhr es mir durch den Kopf.

Vincent stand auf. Er tat ein paar Schritte und fing an zu tanzen, schwang mit zusammengekniffenen Lippen die Hüften, seine Arme rotierten langsam an seinem Körper, als würde er in Zeitlupe joggen. Er schob sich in die Mitte der Tanzfläche und verschwand in der Menge.

»Verdammt, der kann tanzen!«

»Der Arsch hat echt was drauf.«

Sie folgten ihm wie die Fliegen.

»Ich trinke aus und komme nach!«, rief ich.

Die Bank ohne Armstützen kam mir auf einmal zu groß vor. Ich sog am Strohhalm, und es entstanden widerliche Blasen. Ich zündete mir eine Zigarette an. Noch ein paar Minuten, und ich lege los, nahm ich mir vor. Die Tanzfläche lag vor mir wie das Meer. Dort draußen waren die Mädchen, die ich ansprechen sollte. Es war ein Ball. Walzer wurde nicht getanzt, aber es war dennoch ein Ball, archaisch und grausam. Jeder suchte sich einen Partner. Wenn die Menge eine ungerade Zahl ergab, würde einer von uns am Ende allein dastehen, und ich riskierte, derjenige zu sein, wie früher beim Reise-nach-Jerusalem-Spiel. Alle beeilten sich. Sahen sich ähnlich. Verschwammen in diesem Licht, das auf sie fiel, um ihre Gesichter zu glätten, ihre Pickel auszuradieren, ihnen neue Formen zu verleihen. Es herrschte eine erregte, sogar gefährliche Stimmung, denn alle, schöner geworden, mussten nun umso länger warten, den Club mit mehr Begehren füllen, als er aufnehmen konnte. Es gab sicher irgendwo einen Schalter, der die Neonröhren an der Decke anschaltete und alle zusammenzucken ließ, da sie plötzlich in den Armen eines rotgesichtigen und verschwitzten Unbekannten erwachten.

Ich musste loslegen. Es schien so, als würde ich sonst stunden- und tagelang hier sitzen können, ohne dass jemand mich holte. Ich musste es versuchen, den Teufel herausfordern. Ich stand auf. Die Grenze zur Tanzfläche war nicht eindeutig, es gab weder einen Leuchtstreifen noch eine andere Bodenfarbe. Der einzige Orientierungspunkt war der Saum der Menge selbst, die Tanzzone begann mit dem äußersten Körper. Zwischen ihm und mir blieben noch ein, zwei Meter Leere, no man’s land. Ich überwand sie, einen Schritt nach dem anderen, vorsichtig wie auf der Eisbahn. Da war ich. Mit all meinen Körperteilen, selbst den belanglosesten, Finger, Füße, Ohren, für die ich auf einmal eine Haltung finden musste, deren Anwesenheit ich hier rechtfertigen musste. Wie tanzt man los, wie macht man die erste Bewegung? Ich schaffte es nicht. Die Sekunden verstrichen, ich sah, wie sich die Blicke auf mich richteten, und Panik stieg in mir auf. Die einzige Alternative zur Demütigung bestand darin, zielgerichtet weiterzugehen, egal wohin, wie im Pausenhof. Ich setzte mich in Bewegung und schritt entschlossen Richtung Bar. Solange ich konnte, ging ich an den Bänken entlang, doch es kam der Moment, da ich abbiegen und über die Tanzfläche gehen musste, wenn ich mich nicht an der Wand stoßen wollte. Ich schlängelte mich zwischen den Körpern durch. Ihre Gerüche vermischten sich zu einem einzigen umfassenden, offiziellen Schweißdunst. Ich nahm das allgemeine Schweigen wahr; die Körper tanzten, berührten sich, aber gaben keinen Laut von sich. Niemand in diesem Club sagte etwas. Die Münder blieben geschlossen, bildeten Speichel und öffneten sich nur, um zu trinken oder zu küssen. All das geschah unter dem Deckmantel der Musik. Es musste einen zweiten Schalter geben, dachte ich, um den Ton abzustellen, sodass jeder sein Schweigen bemerkt, das Geräusch der sich reibenden Jeans und des eigenen Atems im Dunkeln.

Ich gelangte zur Bar, wollte mich auf den Tresen stützen, aber er klebte. Der Barkeeper lehnte sich zu mir:

»Was kann ich dir bringen?«

»Ein Glas Wasser, bitte!«