Der Taschenmesserfall - Walter Uwe Weitbrecht - E-Book

Der Taschenmesserfall E-Book

Walter Uwe Weitbrecht

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  • Herausgeber: Verlag Kern
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Krimi-Zeit rund um Gummersbach: In zehn Kurzgeschichten erzählt Walter-Uwe Weitbrecht von unerklärlichen Todesfällen, verzwickten Verbrechen und braven Zeitgenossen, die mit krimineller Energie ein Doppelleben führen. Da ist beispielweise Arne Feddersen: Dem zuverlässigen Arbeiter mit zwanghafter Ordnungsliebe ist kaum zuzutrauen, dass er je in eine Verbrechen verwickelt sein könnte. Drei eigenartige Begegnungen mit Herrn Müller enden fast tödlich. Im Polizeirevier ermitteln Kommissarin Waltraud Rausch und Hinrich Schulte zu einem mysteriösen Sturz von der Staumauer der Brucher Talsperre, in einer Serie von Handtaschen-Diebstählen in Gummersbachs Einkaufsmeile und zu einer verkohlten Leiche im Wald des Lambachtales. Doch nicht immer gibt es eine Leiche – manches Verbrechen ist so geschickt eingefädelt, dass es gänzlich unbemerkt bleibt…

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Seitenzahl: 147

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Der Taschenmesserfall

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, April 2018

Autor: Dr.Walter-Uwe Weitbrecht

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Manfred Enderle

Sprache: deutsch, broschiert

ISBN: 978-3-957162-632

ISBN E-Book: 978-3-957162-816

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Ein ganz normaler Tag mit Arne

Müllers Pirouette

Der Staumauersturz

Feuerbestattung

Der Taschenmesserfall

Der schwarze Tod

Soho Lady

Die Packmaschine

Walter Hotter

Ein total verrückter Tag

Weitere Werke

Ein ganz normaler Tag mit Arne

Arne Feddersen war ein hagerer, blasser Mann mit ausdruckslosen, graublauen Augen; ein grauer Nadelstreifenanzug umschlotterte ihn. Sein Leben war ausgesprochen wohl geordnet. Er richtete sich nach der Uhr. Jeden Morgen stand er um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit ins Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen. Sein Büro war ein schmuckloser Raum mit einem zweckmäßigen hellgrauen Stahlschreibtisch, einem einfachen Schreibtischstuhl und einem offenen Regal, das sich rechts an der Wand vom Boden bis zur Decke reckte und Akten, Kataloge und anderen wohlgeordneten Krimskrams beherbergte. Das helle Neonlicht ließ die kahlen, weißen Wände und den mausgrauen Kunststoffboden kalt erscheinen. Der Schreibtisch, die Wohnung, der Garten, die Beziehung, worauf immer er auch Einfluss hatte, mussten geordnet und aufgeräumt sein. Das Einzige, was davon abwich, war sein Sarkasmus, der immer dann herausbrach, wenn er in seiner Ordnung gestört wurde.

Dennoch gab es in seinem Leben eine Abweichung. Er hatte Dora geheiratet. Dora war das genaue Gegenteil. Sie war ein lebenslustiger Wirbelwind, die einmal durch das Haus ging und alles war in Unordnung. Überall stellte sie Blumen auf, hing romantische Bilder an die Wände und zündete sich abends eine Kerze an. Gerade deshalb hatte er sich in sie verliebt, weil er dies alles nicht konnte. Als er sie kennenlernte, hatte sie wasserblaue Augen und blondes Haar mit etwas dunklerem Ansatz. Später wusste er dann, dass ihr Haar dunkel war wie Ebenholz, sodass er sie sein Schneewittchen nannte. Sie war für ihn die schönste Frau der Welt. Dora fand ihn intelligent, bewunderte seine Ordnung, mochte seine zynischen Bemerkungen, aber sonst erschien er ihr ein wenig langweilig, da er nicht unternehmungslustig war. Was sie zunächst hielt, war seine Liebe zu ihr gewesen.

Irgendwann ließ diese Bindungskraft nach. An einem Donnerstag im August, drei Tage nachdem Dora ausgezogen war, verließ Feddersen sein Büro pünktlich um 17:30 Uhr, innerlich in Unruhe, äußerlich gefasst. Bevor er das Deckenlicht ausschaltete, kontrollierte er noch mit prüfendem Blick den Schreibtisch. Es war alles in Ordnung. Die Stifte lagen parallel neben der Schreibtischauflage, der Rechner war ausgeschaltet und kein einziges Blatt Papier lag auf dem Tisch. Er nahm die braune Aktentasche und fuhr mit dem Aufzug in das Erdgeschoss.

Der Pförtner in der Empfangshalle rief: „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen. Heute wird wieder demonstriert. Seien Sie vorsichtig.“

Feddersen hob die linke Hand zum Gruß und sagte emotionslos: „Jeder äußert Meinungen auf seine Weise. Nicht alles, was wir produzieren, gefällt.“

„Stimmt schon! Auf Wiedersehen!“ Der Pförtner lächelte freundlich.

Feddersen verließ das Gebäude durch die Drehtür, ohne zu lächeln, und winkte dem Häuflein Demonstranten zu, die vor dem Zaun an einer Straßenlaterne trotz der aufziehenden Gewitterwolken flatternde Plakate in die Windböen hielten: „Kein Gift für Afrika!“ Er hatte eine gewisse Sympathie für sie, seit er wusste, dass die Phosphorsäureester, Chlorhexane und das Chlorphenotan, für die er Aufträge schrieb, in großen Mengen in Entwicklungsländer verkauft und dort großzügig über das Land versprüht wurden. Er hatte Berichte gelesen und sich im Internet Filme sowie Fotos angesehen von den Missbildungen der Kinder, Nervenschäden und Tumoren, die als Folge der Insektizide interpretiert wurden. Dies hatte zunehmend seine Einstellung zu seinem Arbeitgeber, dem Chemiekonzern Reyab, verändert, dem er über Jahre loyal verbunden war. Dies und der Verlust von Dora hatten ihn mehr aufgewühlt, als er dies in seinem bisherigen Leben erlebt hatte. Seine starre seelische Stabilität drohte zu zerbrechen. Von außen war ihm dies nicht anzusehen. Er hielt sich an seine festen Tagesabläufe, sodass er seinen Arbeitskollegen unverändert zuverlässig und schweigsam erschien. Er setzte seinen Weg zur Bushaltestelle fort.

Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Feddersen in einen Bus der Linie 60. Dabei sprach er ein paar Worte mit dem Busfahrer Willy Otremba. Der fuhr schon immer Bus, kannte Feddersen gut und hielt ihn für einen skurrilen, aber harmlosen Menschen.

„Schöner Abend heute“, bemerkte Feddersen.

„Soll aber noch regnen“, gab Otremba zurück.

„Dabei hatten wir doch in letzter Zeit genug Regen“, sagte Feddersen.

„Da haben Sie recht.“

Feddersen setzte sich auf eine freie Sitzbank im hinteren Teil des Busses und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Es donnerte und eine Druckwelle erschütterte den Bus. Feddersen lächelte zum ersten Mal seit Monaten. Otremba blickte in den Rückspiegel, sah eine Staubwolke und brummelte kopfschüttelnd: „Ein trockenes Gewitter!“, und setzte die Busfahrt unbeeindruckt fort.

Zu Hause angekommen schaltete Feddersen den Fernseher ein, um die 18-Uhr-Nachrichten im dritten Programm zu sehen. Er blickte sich um. Es lagen keine Zeitschriften herum, er war nicht über Stöckelschuhe gestolpert, alles sah wieder kühl und geordnet aus. Er vermisste Dora, auch wenn er sich über ihre Unordnung aufgeregt hatte. Jetzt fehlte sie ihm, nachdem sie ihn verlassen hatte. Er hatte Mühe diese Realität zu akzeptieren.

Seine Aufmerksamkeit wurde auf den Fernseher gelenkt.

„Wie wir soeben erfahren haben, gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil des Chemiekonzerns Reyab“, sagte die Fernsehsprecherin, „wir schalten um zu unserem Lokalreporter vor Ort.“

Im Bild erschien der Lokalreporter Friedhelm Meyer, der mit hochgeschlagenem Kragen und Schirm vor dem Gebäudekomplex des Chemiekonzerns stand. Im Hintergrund brannte es. Das Blaulicht der Feuerwehr- und Polizeiwagen erhellte die Mauern der Gebäude im Vordergrund gespenstisch. Männer rannten scheinbar planlos hin und her.

„Können Sie sagen, was passiert ist“, fragte die Sprecherin.

„Soweit ich bis jetzt in Erfahrung bringen konnte“, berichtete Friedhelm Meyer, „gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil, in dem Insektizide und Unkrautvernichtungsmittel hergestellt werden. Über das Ausmaß des Schadens kann man noch nichts sagen. Auch ist noch unklar, ob es sich um eine Spontanexplosion der Chemikalien oder um einen Anschlag handelte. In letzter Zeit randalierten immer wieder Demonstranten vor der Firma. Hier könnte ein Zusammenhang gesehen werden. Ein Polizeisprecher ging davon aus, dass derzeit keine Gefahr für die Bevölkerung bestünde, empfahl aber, die Fenster in der Umgebung geschlossen zu halten.“

Feddersen lächelte und schaltete den Fernseher aus. Es hatte geklappt. Dora wäre stolz auf ihren Langweiler, dachte er. Er nahm den vorbereiteten schwarzen Rollkoffer, der sein ganzes Vermögen enthielt, blickte sich nochmals um. Alles war in Ordnung. Er löschte das Licht und schloss sorgfältig die Wohnungstür ab. Er stieg in das wartende Taxi zum Flughafen und überlegte, wie jetzt wohl das Wetter in Santiago de Chile sein würde. Es war dort jetzt Winter.

Müllers Pirouette

An jenem Tag in der Stadt traf ich Herrn Müller das erste Mal, als ich in den Bergischen Hof in Gummersbach schlenderte, um im Kaufhaus nach Druckerpatronen zu suchen. Ich kannte ihn. Er wohnte in der Nähe unseres Hauses. Meist sahen wir uns, wenn ich den Gehweg mit dem Laubsauger vom Herbstlaub befreite oder kehrte. Er marschierte dann rasch vorbei, ohne zu grüßen und brummte hämisch: „Morgen, ist wieder alles voll.“

Jetzt stießen wir im Eingangsbereich des Bergischen Hofes an der Glastür aufeinander und wollten höflich den anderen vorlassen. Ich hielt die Tür auf. Da griff Müller über mich hinweg an das Glas und sagte: „Bitteschön.“ Ich trat auf die andere Seite und sagte ebenfalls: „Bitteschön.“ So sprangen wir ein Weilchen hin und her, um jeweils den anderen vorzulassen. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich sprang einfach durch die Türöffnung auf die andere Seite. Er schaute indigniert hinter mir her, da ich nun doch so unhöflich gewesen war, ihn nicht vorzulassen. Eilig ging ich im Kaufhaus in das zweite Obergeschoss, wo ich die Druckerpatronen fand. Früher, als es dort auch noch Computerzubehör gab, waren die Druckerpatronen billiger als beim großen Elektronik-Markt. Jetzt musste ich feststellen, dass sie teurer waren. Aber ich kaufte sie dennoch, weil ich bei dem kalten, feuchten Novemberregen keine Lust hatte, durch die ganze Stadt zu gehen.

Das zweite Mal traf ich Müller in der Buchhandlung, wo ich ein Geschenk für einen Freund suchte. Ich stand an einem Tisch mit Büchern, als Müller von einem Regal zurücktrat und mich von hinten rempelte. Er nuschelte eine Entschuldigung. Um höflich zu sein, fragte ich: „Wie geht es Ihnen?“ Er knurrte: „Gut und Ihnen?“

Ich antwortete: „Auch gut! Aber Sie humpeln ein wenig.“

„Die rechte Hüfte macht mir zu schaffen. Zu Hause komme ich kaum die Treppen hoch und hier nehmen die Schmerzen nach wenigen Schritten so zu, dass ich stehen bleiben muss. Der Arzt meinte, es sei bald ein Ersatzteil nötig“, er kicherte etwas. „Ich bin schließlich im metallischen Alter: Silber in den Haaren, Gold in den Zähnen und Eisen in den Knochen. Das Letztere ist jetzt fällig. Aber sonst geht es mir gut.“

Ich ging nicht weiter auf seine Klagen ein und fragte: „Und Ihrer Frau?“

„Ja, der geht es auch ganz gut.“

„Ganz gut klingt nicht überzeugend. Hat sie etwas?“

„Ach ja, vor zwei Wochen hatte sie einen leichten Schlaganfall mit einer Lähmung rechts und einer Sprachstörung. Das trat mitten in der Nacht auf. Ich bin aufgewacht, weil sie so unruhig war und habe sofort den Notarzt gerufen. Das hat auch hervorragend geklappt. Er kam in wenigen Minuten und hat sie mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Das ging so schnell, dass ich nicht einmal angezogen war, als sie abfuhren. Als ich später in die Klinik kam, lag sie schon auf der Schlaganfallstation. Das war alles sehr aufregend. Jetzt ist sie in der Rehaklinik und geht wieder recht sicher. Die Sprache ist wieder verständlich, auch wenn ihr nicht alle Wörter einfallen.“

„Da hatten sie ja ereignisreiche Wochen. Ein Glück, dass alles gut gegangen ist.“

Er drehte sich abrupt um und humpelte ohne Gruß aus der Buchhandlung auf die Straße. Ich stand für einen Moment verdattert da und wandte mich dann der Suche nach dem Geschenkbuch zu.

Das dritte Mal traf ich Herrn Müller auf dem Weg nach Hause. Es war schon dunkel und regnete. Die Straße war durch das nasse Laub etwas glitschig, weshalb ich langsamer fuhr als sonst. Auf der Kaiserstraße zur Hückeswagener Straße stadtauswärts, kurz hinter der Papierfabrik, fuhr plötzlich ein Wagen so dicht auf, dass man die Scheinwerfer nicht mehr sehen konnte. Als wir das Waldstück erreichten, scherte er mit aufheulendem Motor aus und überholte rasant. Er war auf der linken Spur schon deutlich vor mir, als von Windhagen um die Kurve ein Wagen entgegenkam. Da bremste er abrupt, riss das Steuer nach rechts und machte eine Pirouette direkt vor mir über die Straße. An der Stelle, wo im Sommer die Indianer ihre Zelte aufbauen, fuhr er polternd schräg den Hang hinunter zum Indianerdorf, touchierte krachend einen Baumstamm, überschlug sich schräg seitwärts zweimal und kam wieder auf den Rädern dort zu stehen, wo im Sommer das große Tipi stand.

Ich hatte schon automatisch rechts angehalten, brauchte einen Moment, um das innere Zittern zu überwinden und stieg mit noch weichen Knien aus. Auf dem glitschigen Boden leicht rutschend erreichte ich den Hang hinunter den zerbeulten Unfallwagen. Beim Blick durch das Frontfenster erkannte ich den bewusstlosen Müller am Steuer hängend. Er schon wieder! Ich versuchte, die Wagentüren zu öffnen, doch es war alles so verbogen, dass die sich die Türen nicht öffnen ließen. Mit dem Mobiltelefon rief ich Notarzt und Polizei. Der Notarzt kam von der Kotthauserhöhe und war zuerst da. Er und die Sanitäter scheiterten ebenfalls an den Autotüren. Mit Geheule kam dann die Feuerwehr aus ihrem nur wenige hundert Meter entfernten Stützpunkt. Die Feuerwehrmänner tauchten den Unfallort in grelles Scheinwerferlicht und öffneten den eingeknautschten Wagen mithilfe eines großen Seitenschneiders. Kreischen mit wildem Funkenflug hallte durch den Wald. Zwischenzeitlich hatte die Polizei die gesamte Straße gesperrt, sodass sich der Verkehr aus der Stadt bis in die La-Roche-Sur-Yon- und die Brückenstraße zurückstaute. Schaulustige sammelten sich auf der Straße und bedienten sich am Getränkevorrat des Notarztwagens. Einige versuchten, auf den Feuerwehrwagen zu klettern, um besser sehen zu können. Die Polizei konnte das eben noch verhindern.

Ein Kind rief: „Schau mal Mama, ein Toter!“

Müller wurde gerade auf einer Bahre von den Sanitätern den Hang hochgetragen. Als er in den Notarztwagen geschoben wurde, stand ich neben ihm. Er hob langsam die Lider, sah mich an und murmelte: „Das nächste Mal lassen Sie mich im Bergischen Hof zuerst durch die Tür gehen. Dann passiert so etwas nicht.“

Der Staumauersturz

An einem kühlen Sommermorgen im Oberbergischen, seit dem Vorabend hatte es nicht mehr geregnet und die Sonne wärmte das Wäldchen um die Bruchertalsperre auf, lag ein leichter Dunst über den Baumwipfeln und über dem Abfluss zur Wipper schwankten durchsichtige Nebelschwaden wie Elfen in weißen, durchsichtigen Kleidern.

Heidi Wolfslust schlenderte auf der nur wenig befahrenen Straße von der Staumauer abwärts und beobachtete ihren Schäferhund, der fröhlich mit zurückgelegten Ohren Kurven rannte. Als er die Talsohle erreicht hatte, blieb er plötzlich am Straßenrand stehen und bellte. Als Heidi Wolfslust neben ihn trat, sah sie einen am Kopf blutenden jungen Mann mit zerrissenen Jeans und blauem Pullover im Schatten unterhalb der Talsperre im Gras neben dem Wasserauslass am Boden liegen. Er bewegte noch die Beine und schien etwas sagen zu wollen. Sie kniete neben ihm nieder und beugte sich zu ihm hinunter. Er flüsterte etwas, was sie kaum verstand und verlor dann das Bewusstsein. Rasch zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte 110.

„Am Fuß der Brucherstaumauer liegt ein Verletzter. Er sagt, soweit ich es verstanden habe, er sei hinuntergestoßen worden.“ Nach etwa zehn Minuten kamen mit einer Staubwolke, Blaulicht und Martinshorn Polizei und Krankenwagen.

In der Polizeidirektion musterte Kommissarin Waltraud Rausch den schlanken, etwa dreißig Jahre alten Mann in blauen Jeans, weißem T-Shirt und brauner Sportjacke, der unsicher um sich blickend das Büro betrat.

„Was führt Sie hierher“, fragte sie.

„Ich bin der Neue, Hinrich Schulte, aus Dortmund hierher beordert“, antwortete er und reichte ihr die Hand.

„Erwarten wir für die Polizeiwache einen Neuen?“ Sie blickte sich fragend um, aber da war niemand außer ihr und Hinrich Schulte.

„Nach meinem Zusatzstudium der Kriminologie wurde ich nach Gummersbach versetzt, um bei der Kripo anzufangen.“

„Ach, bei uns! Ich hatte jemanden aus Köln erwartet. Bei der Kripo können wir Verstärkung gut gebrauchen. Es geht drunter und drüber, seit die Zahl der Einbrüche so zugenommen hat.“

Sie schüttelte ihm die Hand, zeigte auf einen kahlen Schreibtisch am Fenster. „Dort können Sie Ihre Zelte aufschlagen. Ich habe Ihnen schon einen Ausdruck hingelegt. Einen Bericht des Streifendienstes, über einen Selbstmordversuch an der Bruchertalsperre. War das Erste, was heute reinkam. Vielleicht können Sie sich damit beschäftigen. Ich muss noch Akten aufarbeiten.“

Hinrich Schulte stellte seine Tasche ab, nahm das Blatt hoch und las es aufmerksam. Aus dem Bericht ging hervor, dass eine Zeugin angerufen und behauptet hatte, es sei jemand von der Bruchertalsperre gestoßen worden. Als sie ankamen, war der Verletzte tief bewusstlos. Sein Personalausweis befand sich in der Jackentasche, Maximilian Gummelang, 18 Jahre alt. Der Notarzt hielt es aufgrund der Kopfverletzung für unwahrscheinlich, dass er noch habe sprechen können. Spuren für Fremdeinwirkung hätten sie nicht finden können, deshalb seien sie von einem Selbstmordversuch ausgegangen. Das habe es dort schon öfter gegeben. Einige ausgedruckte Fotos vom Ort des Geschehens lagen dem Bericht bei. Hinrich Schulte zog einen Notizblock aus seiner Jackentasche und machte einige Einträge.

„Alles in Ordnung?“, fragte Waltraud Rausch.

„Ich werde mir alles anschauen, mit der Zeugin und den Angehörigen sprechen.“

„Zweifel am Bericht?“

„Ja!“

Hinrich Schulte musterte die Stelle, an der Maximilian Gummelang gelegen hatte und kritzelte etwas in seinen Block. Dann ging er die Straße hoch zu der Stelle an der Staumauer, von der der junge Mann hinuntergestürzt sein musste. Langsam ging er den Mauerrand ab und fand Wollfasern des blauen Pullovers sowohl auf der Mauer als auch an der Außenkante. An der Innenkante fand sich der Abrieb einzelner roter Fasern. Er packte alles mit der Pinzette in kleine Plastiktüten und machte sich auf den Weg zu der Zeugin Heidi Wolfslust und anschließend ins Krankenhaus.

Heidi Wolfslust wohnte in Rodt in einer Mietswohnung, Am Struckey, und war gerade dabei, die Wohnung zu saugen, als er klingelte, sodass sie erst nach mehrfachem Läuten öffnete. Sie berichtete ihm, dass sie mit dem Hund spazieren war und dabei den Verletzten gefunden habe. Der Verletzte sei noch ansprechbar gewesen und habe etwas wie: „Ich bin gestoßen worden“, gehaucht und sei bewusstlos geworden. Sie habe sofort angerufen und ansonsten nichts bemerkt. Im Krankenhaus erfuhr er vom Stationsarzt, dass das Veilchen um das linke Auge des Verletzten schon vor dem Sturz entstanden sein musste und nur die Prellmarke unter dem Haaransatz rechts durch den Aufprall erklärt werden könne. Zudem habe er sich beide Unterarme gebrochen. Sprechen konnte er mit Maximilian Gummelang nicht, da dieser schläfrig und verwirrt war.

„Er wird es zum Glück überleben“, sagte der Stationsarzt der Intensivstation.

Auch Hinrich Schulte hatte Glück. Er traf die Mutter an, die ihren Sohn besuchte und konnte kurz mit ihr sprechen.