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In 16 Kurzgeschichten und ebenso vielen Gedichten wirft Walter-Uwe Weitbrecht einen Blick auf Menschen, Tiere und Gegenstände und lässt diese ein unerwartetes Eigenleben entwickeln. Der Autor betrachtet sie nämlich aus unerwarteten Perspektiven. Ob Mittelalter oder Zukunft, hinter allen Geschichten steckt eine genaue Beobachtung von Menschen und außergewöhnlichen Ereignissen. Weitbrecht gibt Alltagsbegegnungen und -begebenheiten kuriose und skurrile Wendungen. Etwa ein efeuüberwuchertes Haus oder die alte Schreibmaschine auf dem eigenen Dachboden, Computer-Nerds oder Zeitgenossen mit speziellen Vorlieben inspirieren ihn zu fantastischen Geschichten, in denen sich vielfach auch aktuelle gesellschaftliche Themen wie die Corona-Pandemie, die Klimakrise und das Artensterben spiegeln.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Walter-Uwe Weitbrecht
Das Efeuhaus
und andere merkwürdige Geschichten
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Impressum:
© Verlag Kern GmbH, Ilmenau
© Inhaltliche Rechte beim Autor
1. Auflage, Juli 2024
Autor: Dr. Walter-Uwe Weitbrecht
Layout/Satz: Brigitte Winkler
Titelbild: Adobe Stock #740810886 | Adnan Haider
Lektorat: Heike Funke
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Sprache: deutsch
ISBN 978-3-95716-387-5
E-Book ISBN 978-3-95716-408-7
www.verlag-kern.de
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Vorwort
Das Efeuhaus
Olivenbaum*
Die alte Schreibmaschine
Leeres Blatt Papier*
Die schwarze Unterhose
Im grünen Gras*
Die Lade der Sünden
Sturmtag*
Die Landung auf dem Mars
Traum der Freiheit*
Die große Freiheit im Netz
Cybersex*
Die Pflicht
Am Grab*
Der Wurm im Kopf
Delirium*
Die Geschichte von der Königskrone
Nachkriegszeit – Was uns geprägt hat*
Das Haus am Fluss
Sommertag*
Als die Tiere die Erde verließen
Kaputt*
Der Handelsvertreter
Der Job*
Lilly und die Buche
Der Einkauf*
Sternschnuppen über den Wolken
Rosenblüte*
Eifel Geothermie
Die Rede*
Epilog – Die Geschichte vom fliegenden Hasen
Flüchtig*
*Lyrik
Nach dem ersten Buch Der tanzende Elch (ISBN 978-3-95716-219-9) mit 50 kurzen Geschichten, überwiegend Fabeln, und dem zweiten Buch Der Taschenmesserfall (ISBN 978-395716-263-2) mit zehn teils absurden Kriminalkurzgeschichten komme ich jetzt zum dritten Buch mit einer Mischung aus Prosa und Lyrik. Anlass für die 16 Kurzgeschichten war der Alltag oder kurze Nachrichten in der Zeitung. Ein total mit Efeu überwachsenes Haus haben wir tatsächlich auf einem Spaziergang in unserer Nähe entdeckt, eine alte elektrische Schreibmaschine stand einst noch auf dem Dachboden, und die schwarze Unterhose begegnete uns, als wir uns in einem Urlaub in Südfrankreich in einem Wäldchen auf eine Bank setzten. Die Geschichten dazu sind natürlich frei erfunden. Die Lade der Sünden führt ins Mittelealter. Der Flug zum Mars dagegen ist Zukunftsmusik, die Realität werden soll. Davon träumt die gesamte Weltraumindustrie. So mancher Nerd würde am liebsten in seinen Computer kriechen. Mit der Freiheit im World Wide Web ist es aber nicht weit her, da alles programmiert ist. Menschen sind nicht so fest programmiert, aber haben manchmal ein eigenwilliges Verständnis, was ihre Pflichten seien. Blickt man in die Gedankenwelt mancher Menschen, kann man sich gut vorstellen, dass sie einen Wurm im Kopf haben könnten. Die Coronazeit hat nicht nur Spuren in unserem Alltag hinterlassen, sie hat sich auch in der Idee zur Geschichte mit der Königskrone niedergeschlagen. Viele Menschen hätten gerne ein Haus am Fluss, zum Beispiel mit dem Blick auf den Rhein oder die Elbe. Doch es gibt auch andere Flüsse, die faszinieren können. Die Klimakrise betrifft nicht nur das Lebensumfeld des Menschen, sondern auch die Fauna und die Flora, so dass vielleicht die Tiere verschwinden.
Auf Idee zur Geschichte mit dem Handelsvertreter brachte mich unser Treppenhausfenster. Wie genau, möchte ich nicht erläutern. Zu dem Blick in die Kinderwelt in Lilly und die Buche veranlasste mich unsere Enkeltochter. Ob man sich mit Sternschnuppen Wünsche erfüllen kann oder dies nur zufällig geschieht, bleibt in der darauffolgenden Geschichte offen. In Island ist die Geothermie eine Lösung für die Grundlast der Stromversorgung. In Deutschland sind geothermische Wärmequellen viel schwieriger zu erreichen, da meist tiefere Bohrungen nötig sind. In der Eifel rumort es noch, so dass dort die Geothermie eine höhere Chance hat.
Auf manchen Vinylschallplatten der bekannteren Popgruppen gab es in der Auslaufrille ein wenige Sekunden langes Musikstück. So mag man sich den Epilog als Auslaufrille des Buches vorstellen.
W.-U. Weitbrecht
Maria blätterte in einem alten Buch aus der Jugendstilzeit, das sie im Nachlass ihrer Mutter gefunden hatte. Es handelte von einer armen Familie, die sich durch harte Arbeit und sparsames Leben ein bescheidenes Vermögen erwirtschaftet hatte. Die Familie bewohnte ein enges Steinhaus mit einem eigenen Brunnen vor der Haustür und einem Klohäuschen im Garten mit einem Herz in der Tür. Damals war das inmitten des Dorfes ein beneidenswerter Luxus. Am meisten faszinierte Maria ein kolorierter Kupferstich, der ein mit Efeu überwachsenes Haus mit Brunnen und einer großen Linde zeigte.
„Schau mal, Peter“, rief sie aus, „wie romantisch! Ich wünsche mir, dass unser Haus auch so mit Efeu bewachsen wird. Das sieht doch toll aus.“
Peter warf einen Blick über ihre Schulter und meinte leicht ironisch: „Wenn du es dir wünschst, machen wir das. Aber fließend Wasser, Strom und Toilette dürfen wir im Haus behalten. Auch die Heizung würde ich nicht auf gusseiserne Kohleöfen umstellen.“
Marie überhörte die Ironie und antwortete: „Das wäre toll!“
Und so geschah es. Sie pflanzten Efeu an die Ecken ihres Hauses, das sie als renovierungsbedürftiges altes Fachwerkhaus erworben und überwiegend in schweißtreibender Eigenarbeit aufgerichtet hatten. Es hatte eine ruhige Lage am Hang, umgeben von Bäumen an einer Stichstraße unweit der Hauptstraße. Dann wurden die Kinder geboren, zuerst Marvin und dann Susanne. Als die Kinder in den Kindergarten kamen, waren die Efeuranken daumendick an den Hausecken hochgewachsen und streckten Verzweigungen zu den flachen Seiten der Hauswand hin. Bei der Einschulung Marvins war das Efeu unter der Dachrinne weitergewachsen, so dass die Wände im Sommer wie im Winter grün umrahmt waren. Als Susanne die erste Grundschulklasse besuchte, hatten auch die Fenster und die Haustüre eine grüne Umrandung.
Maria fand, dass das Haus jetzt so romantisch aussah, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie arbeitete wieder halbtags im Bürgermeisteramt. Wenn der Bürgermeister sie sah, sagte er immer: „Sie sind die, die in diesem wunderschönen Fachwerkhaus wohnt. Ein Schmuckstück für unseren Ort.“
Als die Kinder von der Grundschule zur weiterführenden Schule wechselten, waren die Hauswände insgesamt zugewachsen, und sie mussten Triebe, die in die Fensteröffnungen oder vor die Haustüre wucherten, abschneiden.
„Wir sollten das Efeu begrenzen“, stellte Peter eines Tages fest. Es stellte sich aber heraus, dass das Efeu so fest mit der Hauswand verbunden war, dass der Putz abging, wenn man versuchte, es abzureißen. So beschränkte er sich darauf, es zu beschneiden. Die Dachgiebel erreichte Peter jedoch nicht, und das Efeu wucherte in der Folgezeit über Giebel und Dachrinne hinweg auf das Dach. Die Kinder waren schon in Ausbildung und Studium, so dass es tagsüber im Haus still war. Nachts aber schienen Hausgeister auf dem Dachboden zu feiern. Es trippelte und trappelte, kratzte und scharrte. Nachts lag Marie deshalb oft wach und lauschte den Geräuschen.
„Nachts sind auf dem Dachboden in letzter Zeit immer Geräusche, wie wenn ein Gespenst umginge“, bemerkte Marie an einem Sonntagmorgen beim Frühstück.
Peter schaute sie ungläubig an: „Ich höre nichts!“
„Du schnarchst auch so, dass du die leisen Geräusche nicht hören kannst.“
Peter warf im oberen Stockwerk über die Luke in der Decke des Treppenhauses einen Blick auf den Dachboden. Dort entdeckte er Mäuseköddel, sah aber kein Tier. Tatsächlich waren Mäuse über den Efeu auf den Dachboden geklettert und hatten sich dort häuslich eingerichtet. Peter stellte Fallen auf und konnte in einem Sommer mehr als 50 Mäuse fangen. Das Getrappel nachts hörte aber nicht auf. Sie beschlossen, die Mitbewohner zu ertragen. Peter musste die Luke mit Silikonpaste verschließen, da Marie auf keinen Fall mit den Mäusen in Kontakt kommen wollte.
Als die Kinder in Ausbildung und Studium waren, wuchs das Efeu über das Dach hinweg, so dass man unter der Blätterdecke das Haus nur noch an der Form erkennen konnte. Lediglich die Haustür und die Fenster schnitten Marie und Peter immer wieder frei und häuften die Berge von Efeublättern zu einem Komposthaufen an. Durch die kleinen Giebelfenster war das Efeu in den Dachboden hineingewachsen und wucherte nicht nur auf, sondern auch unter dem Dach. Das Trappeln der Mäuse hatte nachgelassen, da sie jetzt auf den Efeuzweigen im Dachboden herumrannten. Marie schlief daher wieder besser.
Die Kinder waren schließlich berufstätig und gründeten Familien. Sie waren im Ausland tätig, hatten Kinder und besuchten ihre Eltern nur selten.
Marie und Peter wurden alt und hatten nicht mehr die Kraft, den sprießenden Efeu zu beschneiden. So wuchsen die Fenster und die Haustür zu. Das Haus wirkte wie eine grüne Burg. Manche der Stämme und Verzweigungen des Efeus waren dick wie Kinderarme. Das Essen auf Rädern schob der Bote unter die dichten Efeuranken vor der Haustür. Dort holten Marie und Peter es ab.
Als die Kinder nach mehreren Jahren ihre Eltern besuchten, stapelten sich die Essensboxen hinter dem Efeu vor der zugewucherten Haustür. Mit Heckenschere und Axt verschafften sie sich Zutritt zum Haus. Die Innenräume waren vollständig mit Efeu durchwachsen. Nur mit Axt und Heckenschere konnten sie sich Zugang zum Treppenhaus verschaffen.
Als sie das Schlafzimmer im Obergeschoss erreichten, fanden sie ihre Eltern im Bett, das fast zärtlich von den geliebten Efeuranken angehoben und gleich einem Schneckenhaus umwachsen war. Maria und Peter schienen friedlich zu schlafen. Der Geruch ließ jedoch darauf schließen, dass sie schon vor vielen Tagen verstorben waren. Fast gleichzeitig flüsterten Marvin und Susanne: „Wir hätten uns früher um sie kümmern müssen.“
Mit flatternden Bändern in buntem Reigen
Umtanzen Goyas Kinder, die Lebenslust zeigen
Einen göttlichen Baum in sonnenblauem Äther
Das Bild strahlt auch noch Jahrhunderte später
Der Baum im Boden verwurzelt weiter lebt
Nach Trockenheit, Stürmen, wenn die Erde bebt
Der Mensch geboren, gewachsen, gewesen
Bestimmt am Ende zu Boden zu verwesen
Ein knorriges Gesicht blickt durch das Geäst
Das mit gewundenen Bögen den Stamm verlässt
Wenn der Wind spielerisch an den Zweigen knarrt
Eine murmelnde Stimme klingt aus des Stammes
Bart
Es spricht der beseelte Geist von hundert Jahren
Der die Sonne sah, als wir noch nicht waren
Schon unsere Vorfahren sahen im Traum
Die öligen Früchte des immergrünen Olivenbaums
Der aromatische Geruch, das alte Holz
Begründete früheren spanischen Stolz
Als der Mensch noch lebte als Teil der Natur
Heute ist es die Umwelt nur
Auf dem Schreibtisch eines Schriftstellers standen eine alte elektrische Schreibmaschine und ein moderner Personal Computer mit großem Bildschirm und einer Funktastatur mit Maus. Auf dem Nebentisch stand der Netzwerkdrucker. Die Schreibmaschine war traurig, weil der Schriftsteller jetzt den PC bevorzugte. „Ich roste ein“, stöhnte sie nachts und die Funkmaus zischte ihr zu: „Du bist aber auch so was von umständlich zu bedienen.“
„Und der Lärm, den du machst, wenn du arbeitest“, ergänzte der PC und streckte ihr die virtuelle Zunge heraus. Die Schreibmaschine konnte das nicht sehen, da sie überdeckt war von teilweise oder ganz beschriebenen Blättern, auf denen zudem noch ein Aktenordner ruhte.
Jetzt meldete sich der Drucker und bemerkte hochmütig: „Von unserer Funksprache verstehst du nichts. Du bist völlig aus der Zeit.“
Die Schreibmaschine war geknickt, aber murmelte noch: „Als Albert mich noch einsetzte, hat er mehr Zeit gehabt und viel bessere Texte geschrieben.“ Ein vielstimmiges Hohngelächter erklang. Dann wurde es ruhig im Arbeitszimmer.
Am nächsten Morgen kam die Frau des Schriftstellers in den Raum. Mit lauter Stimme rief sie: „Albert, du solltest deinen Schreibtisch aufräumen, wenn heute der Besuch kommt. Die alte Schreibmaschine könntest du endlich wegwerfen. Du benutzt sie doch gar nicht mehr. Dann hättest du wieder Platz auf dem Tisch für deine ganze Zettelsammlung.“
Aus der Ferne hörte man Gegrummel, das die Frau als Zustimmung interpretierte. Sie schob den Aktenordner und die Blätter beiseite, hob die Schreibmaschine mit dem daran hängenden Kabel vom Tisch – einige Blätter verabschiedeten sich auf den Boden – und trug sie in den Keller zu einem Haufen für den Sperrmüll. Die Schreibmaschine hauchte traurig „Entschuldigung!“, als sie auf einen alten Staubsauger fiel. In der Ferne hörte sie Albert rufen: „Du hast ein schlimmes Durcheinander auf meinem Schreibtisch verursacht.“ Die darauffolgenden Flüche waren unverständlich. Der Staubsauger war wohl schon komplett tot, denn er sagte nichts, als die Schreibmaschine mit ihrem gusseisernen Rahmen einen Riss in sein Gehäuse schlug.
Einige Tage später landete die Schreibmaschine mit anderem Gerümpel am Straßenrand. Sie stand auf einem gammligen Küchenstuhl, verdeckt von den gebrochenen Brettern eines alten Schrankes. Der Staubsauger hatte seinen Platz unter dem Stuhl gefunden. „Schmeißen sie dich auch einfach weg?“, fragte der Stuhl unvermittelt mit hölzerner Stimme die Schreibmaschine. „Man sagte mir, ich sei aus der Zeit“, klapperte die Schreibmaschine traurig. „Ich kann mich erinnern“, knarrte der Stuhl, „dass die Menschen uns früher aufgerichtet haben: neuer Bezug, neue Farbe – und dann wurden wir wieder verwendet. Jetzt schmeißen sie alles weg, was ihnen nicht mehr gefällt.“
„Schlimme Zeiten!“, antwortete die Schreibmaschine mit quietschender Stimme.
In der Nacht kamen zwei Jungs und ein Mädchen und durchsuchten mit einer Taschenlampe den Sperrmüll. „Der Sauger ist völlig kaputt und der Stuhl ist teilweise gebrochen und völlig verdreckt“, tuschelte das Mädchen. „Die Schreibmaschine sieht noch gut aus“, zischte einer der Jungs, „die kann man bestimmt über das Internet verkloppen!“ So dachte die Schreibmaschine, sie werde vor dem Verschrotten gerettet. Die Jugendlichen rannten los, die Schreibmaschine abwechselnd im Arm.
„He, ihr da! Was habt ihr geklaut?“, klang eine scharfe Stimme durch die Dunkelheit und eine Taschenlampe blitzte auf. Erschrocken ließen sie die Schreibmaschine am Straßenrand fallen, wo sie einen Abhang zum Bachufer hinunterrollte. Dort lag schon anderer Unrat. Die Schreibmaschine bemerkte in der Nähe einen Plastikkanister, der aber sehr schweigsam war. Sie flüsterte: „Hallo!“ Der verdreckte Kanister antwortete nicht, und die Schreibmaschine sinnierte, ob sie nach dem Sturz auch schon so schrecklich aussah. Da sie keinen Ansprechpartner hatte, döste die Schreibmaschine mehrere Wochen vor sich hin. Zeitweise regnete es und sie versank durch ihr Gewicht im schlammigen Boden, während der hohle Plastikkanister oben schwamm. Das konnte die Schreibmaschine nicht mehr erkennen – sie lag jetzt wie in einem Grab.
An einem sonnigen Nachmittag bemerkte die Schreibmaschine, dass ein Hund an ihrer Oberfläche schnüffelte und mit den Pfoten die Erde von ihr kratzte. „Jetzt kommt die größte aller Erniedrigungen“, dachte sie, „er wird mich anpinkeln.“ Da ertönte die bekannte Stimme des Schriftstellers: „Ach, das ist ja meine alte Schreibmaschine, wenn auch ziemlich verdreckt. Eine göttliche Fügung, jetzt nachdem der Computer ausgefallen ist. Nach einer Grundreinigung werde ich wieder schreiben können. Gut gemacht, Egon!“ Der Hund trottete neben seinem Herrn nach Hause.
So stand die Schreibmaschine bald wieder gereinigt und frisch geölt mit einem neuen Farbband auf dem Schreibtisch. Ein Blatt wurde eingespannt und der Schriftsteller begann zu arbeiten. PC, Tastatur und Maus standen vom Schreibtisch verbannt auf dem Boden. Bis zum Abend lag ein Haufen neu beschriebener Blätter auf dem Tisch. „Seht ihr“, sagte die Schreibmaschine, „ich bin doch noch zu etwas zu gebrauchen.“ Jetzt streckte sie dem PC die virtuelle Zunge heraus, der das nicht wahrnahm, da er ohne Strom tot war und auch gar nicht auf den Tisch schauen konnte.
Vor mir liegt ein leeres Blatt Papier
Gedankenlos im Dunkel des Raums
Noch vor wenigen Minuten schier
Überflossen die Bilder eines Traums
Das volle Rauschen des Windes
Ohne Ordnung, Bedeutung, Sinn
Gefesselt wie im Blumengebinde
Ist der Strom der Gedanken hin
Nichts will dem Geiste entrinnen
Was zuvor schien von weiter Tiefe
Fäden im Wind von tausend Spinnen
Es ist, als ob die gesamte Welt schliefe
Doch dann öffnet sich ein kleines Tor
Ein Lichtspalt mitten wabernder Wolken
Splitternde Worte tröpfeln hervor
Denen Sätze, Bilder, Klänge folgen
Scheinbare Ordnung des Gedankengewirrs
Für andere Ohren verfremdete Klänge
Wie Klingeln, Läuten des Schlittengeschirrs
Ein Konzert der Silben nicht für die Menge
Wir waren seinerzeit im September in der noch wärmenden Sonne in Südfrankreich in den Weinfeldern des Départements Hérault spazieren. Ein kühler Mistral zwang uns, eine Jacke anzuziehen. In einer kleinen Baumgruppe entdeckten wir ein Steinkreuz und eine Bank, die zu einer Rast einlud. Neben der Bank lag eine mit Kletten und Blättern übersäte schwarze Damenunterhose. Wir saßen eine Weile auf der Bank und überlegten, was es wohl damit auf sich hatte. Später hörten wir die folgende Geschichte:
Als Armand seinen 30. Geburtstag mit seinen Freunden bei Montpellier am Strand feierte, hatte sein Vater ihm kurz zuvor die Geschäftsführung des Wäschereibetriebs überlassen, der schon seit 70 Jahren im Familienbesitz war. Es war ein recht großer Betrieb mit mehreren Filialen und mehr als 70 Angestellten. Jupiter Dolichenus, der Wettergott, war ihm an diesem lauen Augustabend wohlgesonnen. Zudem hatte er sich einen Tag zuvor mit der zwei Jahre jüngeren Chloé verlobt, dem hübschesten Mädchen seines Semesters, die er auf der Internationalen Wirtschaftsschule kennengelernt hatte. Er hatte schon Torschlusspanik gehabt, da alle seine Freunde feste Partnerinnen hatten. Jetzt war er in Hochstimmung. Alles schien perfekt zu sein. Er war ein frisch verlobter Geschäftsführer eines gut laufenden Unternehmens, gesellschaftlich fest eingebunden.
Am nächsten Morgen in der Firma – er war noch ein wenig angeschlagen von der Verlobungsfeier bis spät in die Nacht – sah er sie zum ersten Mal. Anna! Sie hatte nicht diese gleichmäßig schönen Gesichtszüge wie Chloé. Aber irgendwie war sie auf eine sonderbare Art aufregend, so dass sie ihn faszinierte und er immer wieder hinsehen musste.
„Wer ist dieses Mädchen?“, fragte er eine Mitarbeiterin, deren Namen er vergessen hatte.
„Es ist Anna, die Tochter von Madame Bernard, die bei ihr steht. Sie macht ein Praktikum.“
„Warum weiß ich davon nichts?“
„Monsieur Moreau, der Personalleiter, hat es ihr genehmigt. Die Mutter hatte ihn gefragt, ob ihre 15-jährige Tochter hier ein Praktikum machen könne. In diesem Alter versuchen die Jugendlichen doch herauszubekommen, welcher Beruf ihnen gefallen könnte.“
„Ah ja, dann habe ich seine Nachricht noch nicht gesehen. Schön, dass sie sich für die Wäscherei interessiert.“ Seine Stimme klang gleichmütig, obwohl er innerlich sehr erregt war. Es fiel ihm schwer, sich abzuwenden, als er sich auf den Weg in sein Büro machte.
An diesem Vormittag hatte er kaum Zeit nachzudenken. Der Terminkalender war voll von Gesprächen mit Mitarbeitern, Kunden und Zulieferern. Überall schien es zu brennen. Als er gegen Mittag zur Ruhe kam, fiel ihm Anna wieder ein und er versuchte, sich mit geschlossenen Augen das Bild vorzustellen, wie sie schlank in Jeans und weißem Mantel, mit langem, glattem, dunklem Haar, schmalem Gesicht, kräftigen Augenbrauen über den wachen braunen Augen und sinnlichen Lippen neben ihrer Mutter stand. Irgendetwas an diesem Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit, so dass er sich vornahm, sie näher kennenzulernen.