Der Teich der Tränen - Isabelle Kerani - E-Book

Der Teich der Tränen E-Book

Isabelle Kerani

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Beschreibung

Die sagenhafte Gestalt Honeybean nähert sich verbotenerweise dem Teich der Tränen und verliebt sich durch dessen Spiegelung in einen weinenden jungen Mann. Indem sie in der Welt der Menschen verloren geht, wird ihre Schwester Cherryfly mit der Mission beauftragt, das Mädchen vor dem nächsten Vollmond wieder zurückzubringen. Bald erfährt sie von der Existenz eines machthungrigen Dämons und gerät durch ihre anfänglichen Helfer, welche ein erschreckendes Geheimnis bergen, in große Gefahr ...

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Seitenzahl: 358

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Prolog

I: Licht am Firmament

II: Eine kleine Seejungfrau

III: Der Oger

IV: Früchte der Verdorbenheit

V: Der Geschmack von Meerschaum

VI: Vergiftete Herzen

VII: Flucht in die Vergessenheit

VIII: Das Märchen vom Mondschatten

IX: Besuch der Finsternis

X: Eine Reliquie

Epilog

Der Teich der Tränen

Isabelle Kerani

Über die Autorin

Isabelle Kerani wurde in der Schweiz geboren und studiert zurzeit „Nahost-“ und „Zentralasien-Studien“ an der Universität Bern. Sie begann ihre Geschichten schon vor dem schulischen Alter ihren Eltern zu diktieren und verfasste später kleine Romane und groteske Erzählungen. „Der Teich der Tränen“ ist ihr erstes veröffentlichtes Werk.

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Februar 2016

epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright © der Originalausgabe 2016 von:

Mirjam Hafner

Gibelmatte 14

6166 Hasle LU

Schweiz

Alle Rechte vorbehalten.

Quelle der Umschlagabbildungen: www.fotolia.com

Umschlaggestaltung: Simon Hafner

Printed in Germany

ISBN: 978-3-7375-8927-7

www.isabellekerani.com

FÜR FRANZ KAFKA

Prolog

Wohl hinterlassen Tränen einen großen Eindruck bei den Menschen, wenn sie wie kleine, schimmernde Perlen an den Wangen dahinschmelzen und das Licht des Tages sich in ihren durchsichtigen Körpern verfängt. Aber nur die wenigsten haben sich auch Gedanken darüber gemacht, was mit ihnen passiert, wenn sie aus dieser Welt verdunstet sind. Ich hätte es mir lange Zeit selbst nicht vorstellen können, aber heute weiß ich mit großer Bestimmtheit, dass alle vergossenen Tränen schließlich in ein besonderes Land reisen, welches fernab von unserer Welt liegt und nur durch ein geheimes Tor erreicht werden kann. Dieses Land wird „Reich der Tränen“ genannt. Ich persönlich habe es noch nie gesehen, aber ich weiß eine Geschichte darüber zu erzählen, welche mit meiner vollen Bürgschaft wahr ist und die ich mein ganzes Leben nie wieder vergessen werde. Schenkt mir nur ein wenig Zeit, setzt euch hin und hört mir gut zu. Vielleicht werdet ihr dann einiges aus dieser Geschichte an euch wiedererkennen und ihr werdet verstehen, dass unser Leben eng mit dem Erdachten zusammenhängt, um dem genauen Betrachter ebenso Erstaunliches anzubieten, wie ein fantastisches Märchenbuch selbst.

Das Reich der Tränen ist ein Kosmos für sich und liegt unveränderlich und gut behütet von einem sanftmütigen Wesen, umkreist von einem gewaltigen Tannenwald, in der Mitte eines vergessenen grünen Tals. Dort steht seit unzählbaren Jahrtausenden der Palast des Wächters erbaut, der von einem uralten Himbeergarten umgeben wird. Im Herzen dieses Gartens wiederum befindet sich ein kleiner Teich, an dem der Hüter des geheimen Landes jeden Abend vorübergeht, um die vergossenen Tränen der Menschen und Tiere zu überprüfen, die darin gelagert werden.

Lange Zeit lebte dieser Wächter allerdings nicht alleine und unsere Geschichte hätte niemals ihren Lauf nehmen können, hätte er nicht auch noch eine Tochter gehabt, die sich durch den ungewöhnlichen Namen „Honeybean“ auszeichnete. Diese Tochter des Wächters war ein graziles kleines Wesen, das leicht mit einem jungen Menschenmädchen verwechselt werden konnte, ihre graugrünen Augen jedoch bargen einen überirdischen Schimmer in sich und das Antlitz der Honigbohne war von solch makelloser Reinheit, dass dessen Anblick einen gewöhnlichen Sterblichen glauben ließ, einer Fee oder einem wahrhaftigen Engel gegenüberzustehen. Honeybean spazierte tagein, tagaus von aller Welt unbemerkt unter dem grünen Blätterwerk des Himbeergartens umher, wo ihr die zahmen Hummeln zu den liebsten Gefährten zählten. Dabei verspürte sie weder Hunger, Durst, noch das Bedürfnis, jemals schlafen zu gehen. Mit der Zeit jedoch geschah es, dass sich ein arglistiges Gefühl in ihr Leben schlich, welches in ihr die Langeweile aufkeimen ließ. Es war also nicht verwunderlich, dass dem Mädchen eines Tages plötzlich der Gedanke kam, sich die Tränen im Teich, denen sich zu nähern ihr der Vater strengstens verboten hatte, einmal genauer anzusehen.

An diesem Punkt sind wir nun also am Beginn unserer Erzählung angelangt: Vorsichtig legte das Mädchen die katzengroße Hummel, die eben noch auf ihrem Schoß gelegen hatte, auf den Boden und verließ den Garten, um sich mit wachsender Aufregung dem Innenhof zu nähern. Als Honeybean schließlich am Rand des Wassers angekommen war, schwammen ihr die kleinen Fische, deren Schuppenkleider golden, weiß und in kräftigem Orangerot schimmerten, neugierig entgegen und streckten ihr die Köpfe mit weit aufgerissenen Mäulchen aus dem frischen Nass entgegen. Da beugte sie ihre Knie hinab zum Wasser und wollte die glatte, klare Oberfläche mit ihren Händen berühren. Als ihre Fingerkuppen schließlich aber mit den ersten Tropfen im Teich zusammentrafen, ging ein eigenartiger Schauer durch den Körper des Mädchens und es war ihr, als sei sie mit einem Mal aus der vertrauten Umgebung des Palastes geschleudert worden. Die verschiedensten Menschengesichter zogen an ihren Augen vorbei, einige so eigentümlich von Schmerz oder Freude verzerrt, dass Honeybean, welche weder Glück noch Leid kannte, ein unwillkürlicher Schrei des Erstaunens entfuhr. Erschrocken riss sie sich zurück zur Bank am Rande des Wassers und verweilte dort eine Weile zitternd und in vollkommener Regungslosigkeit. Als sie über alles nachgedacht und sich wieder etwas beruhigt hatte, beschloss das Mädchen, am nächsten Morgen zurückzukehren und das seltsame Geheimnis des Teiches auf eigene Faust zu ergründen. Sie wagte nicht, ihren Vater danach zu fragen, der stets beschäftigt in seinem Büro saß und es bestimmt nicht gern gehört hätte, dass sie sich ohne seine Erlaubnis so nah an das Wasser der Tränen herangewagt hatte. So geschah es, dass Honeybean, die sich für ihre Forschungen eigens ein Sieb beschafft hatte und nun vorsichtiger zu Werke ging, um jeweils nur einen Tropfen des Teichs auf ihre Fingerspitze fallen zu lassen, langsam dahinter kam, dass es sich beim Inhalt des verbotenen Nasses um die zu Salzwasser geronnenen und konservierten Gefühle von anderen Lebewesen handeln musste. Als sie die einzelnen Tränen der fremden Menschen und Tiere berührte, wurde sie für eine kurze Zeit in deren Gefühlswelt zu jenem Zeitpunkt zurückversetzt, in dem sie die kostbaren Perlen der Trauer oder der Freude geweint hatten. Das Mädchen war dadurch im Stande, die geheimsten Augenblicke im Leben ihr völlig fremder Geschöpfe zu beobachten und geriet schließlich so sehr in deren Sogkraft, dass sie den Himbeergarten und die Hummeln sowie ihr eigenes Leben in der Gegenwart vollkommen vergaß. Fortan schlich sie sich jeden Morgen zum Teich und verlor sich in einer seiner Tränen, um den Rest des Tages auf einer Bank im Innenhof zu sitzen und stundenlang über das Erlebte zu grübeln. Ihr Vater, der tagsüber in seinem Arbeitszimmer verweilte, bemerkte von allem nichts.

So nahte jener schicksalshafte Morgen, an dem Honeybean zum allerletzten Mal von den Erinnerungen des verbotenen Teichs kosten sollte. Wie jeden Tag schaute sie sich erst einmal genau um, ob nicht eine traurige Hummel ausgezogen sei, um sie zu suchen - und lief dann, nachdem sie niemanden hinter den breiten Säulen des Hofs entdecken konnte, entschlossen los, um sich die nächste Träne aus dem Wasser zu fischen. Ihre nackten Füße huschten eilig über den warmen Marmorboden - und als wäre es ein langgeübter Tanz - gingen die geschmeidigen Bewegungen des Mädchens vor dem Rand des Teiches in eine Verbeugung zum Gewässer hin über und die Hände zitterten ihr leicht, als sie die erste vom Sieb herabfallende Wasserperle mit ihren schmalen Fingern berührte. Auch dieses Mal verschwand der Geruch der reinen Frühlingsluft und das ferne Summen der riesenhaften Insekten im Himbeergarten um sie herum abrupt und tiefe, undurchdringliche Dunkelheit umringte Honeybean. So dicht und schwer erschien ihr der Geruch des finsteren Zimmers, in dem sie sich jetzt befand, dass sie kaum noch zu atmen wagte. Das Mädchen stand in einer Ecke und konnte erkennen, dass die Vorhänge vor den breiten Fenstern des Raumes eng zugezogen waren. Von draußen her versuchte das schummerige Licht einer künstlich beleuchteten Außenwelt hereinzudringen, der Rest des Zimmers blieb ihr jedoch verborgen. So wartete sie einen Augenblick lang vergebens auf Geräusche, welche ihr die Anwesenheit eines weinenden Wesens verraten hätten. Es war tatsächlich, als sei die ganze Welt zu einem bewegungslosen Eisblock eingefroren worden. Honeybean verharrte geräuschlos an ihrem Platz und hätte schließlich fast die Geduld verloren, als sich auf einmal etwas in den Schatten des stillen Zimmers zu regen begann, um sich schwerfällig aufzurichten. Für das Mädchen war klar, dass es ein menschliches Wesen sein musste, welches sich nun langsam zu den Fenstern mit den undurchdringlichen Vorhängen hinbewegte und dabei erstaunlich geräuschlos an ihr vorüberzog. Der junge Mann, obwohl groß und schlank, schien beim Gehen von einer schweren, unsichtbaren Last niedergedrückt zu werden und sein Körper verströmte bei jedem weiteren Schritt den eigentümlichen Geruch von mit einer scharfen Axt angeschlagenem, blutendem Holz. Honeybean zwang sich zur Konzentration und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Rücken jener dem Fenster zugewandten Gestalt, welche ihre Arme noch immer regungslos hängen ließ. Dann aber ging auf einmal eine feine Bewegung durch den Körper des Mannes und er hob seine Hand, um den Stoff des Vorhangs einen winzigen Spaltbreit beiseite zu schieben. Das Mädchen hielt seinen Atem an und stutzte. Wie der fahle Mond bei abnehmender Form wurde nun auch das Gesicht des jungen Mannes bloß ein kleines Stück vom weichen, hereinströmenden Licht der nächtlichen Stadt unter ihnen beleuchtet, doch genügte dies schon, um ihr Herz auf erschreckende Weise zum Stocken zu bringen. Noch nie, so erschien es Honeybean, hatte sie ein so schönes und eigentümlich zusammengestelltes menschliches Gesicht erblickt, welches die Klugheit und den Stolz eines wilden Fuchses besaß und in diesem einen Moment doch auch eine so tiefe Traurigkeit ausstrahlte, dass man in den grünen Augen jenes Menschen die Verlorenheit eines sterbenden Hirschkindes erblickte. Sie hätte noch eine ganze Weile in der Ecke des stillen Raumes dasitzen können, bloß um die Tränen auf den Wangen jenes Fremden zu betrachten, genau im nächsten Augenblick jedoch begannen sich die Umrisse um sie herum plötzlich aufzulösen und das Mädchen fiel in ein tiefes schwarzes Nichts. Danach fand sie sich bestürzt auf dem Boden vor dem Teich in ihrem altbekannten Palast wieder. Neben ihr saß eine herbeigeflogene Hummel und untersuchte sie aufgeregt mit den Fühlern. Das Tier schien zu spüren, dass das Mädchen sich einem merkwürdigen Wandel unterzogen hatte, konnte die Ursache der Veränderung aber noch nicht erkennen. Honeybean indessen richtete sich benommen auf, um zu einer der Bänke ganz in der Nähe zu gehen. Sie ließ sich darauf niedersinken und verspürte mit einem Mal einen stechenden, tiefen Schmerz, der sich von ihrer Brust aus in den ganzen Körper auszubreiten schien. Dieser Schmerz, so dachte das Mädchen nun bei sich, musste von der Gewissheit herrühren, dass sie das wundervolle Antlitz des ihr vollkommen unbekannten jungen Mannes nie wieder sehen würde. Seine Träne war verbraucht und eine weitere aus den gleichen Augen im Meer des Teiches wiederzufinden schien so gut wie unmöglich. Von diesem Tage an verlor sie allen Mut und alle Kraft, um wie eine leere Hülle durch das üppige Grün und den Innenhof des prächtigen Palastes zu wandeln. Die Hummeln im Himbeergarten jedoch liebten das Mädchen so sehr, dass sie bald einen Entschluss fassten und ihre Königin als Sprecherin vor die Füße der unglücklich Verliebten schickten. Es war um die Mittagszeit, als sich der pelzige, runde Körper des riesenhaften Tieres gemächlich von seinen Flügeln durch die Luft tragen ließ, um mit einem tiefen Brummen schließlich im Innenhof zu landen. Dort stand schon das Mädchen und starrte gedankenverloren auf den Teich hinaus. Mit den Gebärden ihrer zwei Fühler machte die Hummelkönigin auf sich aufmerksam und überbrachte Honeybean die Botschaft ihres Volkes:

„Liebe Honigbohne, es ist lange her, seit wir etwas von Euch gehört haben und wir sind sehr besorgt um Euren geistigen Zustand, der sich stetig zu verschlechtern scheint. Uns ist auch nicht entgangen, dass Ihr diesen Teich hier nun unserem Garten vorzieht und tagein, tagaus vor seinem Wasser weilt. Wir haben nicht die Geduld, noch längere Umschweife zu machen und nennen Euer Geheimnis darum gleich beim Namen, das uns durch kurze Überlegung sofort offenkundig geworden ist. Ihr müsst Euch dem Teich verbotenerweise genähert haben und in seinen Bann gefallen sein, wie es unumgänglich ist für alle, die sich dem Rat Eures Vaters widersetzen.“

Da erwachte Honeybean aus ihrer Teilnahmslosigkeit und ihre hübschen Wangen, die zuvor noch blutleer schienen, verfärbten sich mit einem Mal wieder rot. Sie wollte etwas erwidern, doch die Königin fuhr fort:

„Keine Angst, wir beabsichtigen nicht, Eurem Vater etwas davon zu erzählen. Wir wissen gut genug, dass der Schaden schon geschehen ist und selbst der Wächter nichts mehr für Euch tun kann. Wer sich einmal im Teich der Tränen verliert, kann nur noch schwerlich aus seinen Untiefen gerettet werden.“

Das Mädchen schluckte und fragte dann:

„Aber Ihr wisst, was mich retten könnte, nicht wahr?“

Die großen, schimmernden Augen der Hummelkönigin verblieben in ihrem Schwarz und zeigten keinerlei Regung.

„Gut dosiert wirkt das stärkste Gift oft als effektives Heilmittel. Wenn Euch also die Welt, die Ihr als bloße Spiegelung auf der Oberfläche jenes Wassers wahrgenommen habt, so begehrenswert erscheint, dass Ihr in Eurer echten Heimat nicht mehr leben wollt, scheint es doch am sinnvollsten, Euch einmal die Wirklichkeit auf der anderen Seite zu zeigen. Vielleicht folgt auf Eure Schwärmerei dann Ernüchterung und vielleicht werdet Ihr dann mit umso größerer Dankbarkeit in das Tal Eures Vater zurückkehren.“

Das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar ließ sich die Worte der Hummel durch den Kopf gehen und starrte hinaus auf die Weiten der grünen Wiese hinter den Säulen des Palasthofes.

„Heißt das also, Ihr wollt mir das Tor zur anderen Welt zeigen?“

Ihr Gegenüber antwortete ihr:

„Euer Vater wird wohl sehr wütend, wenn er von unserem Plan erfährt und wir wissen nicht, was mit Euch geschieht, wenn Ihr erst einmal auf der anderen Seite seid. Allerdings werdet Ihr dort, sofern Ihr unbeschadet bleibt, auch einen Weg finden, wieder in Eure Heimat zurückzukehren. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen Schritt zu wagen, zumal Ihr sonst immer schwächer werdet und zu einem bloßen Schatten verkommt, der - sich ununterbrochen nach dem Fernen verzehrend - bald unsichtbar geworden sein wird.“

Da tat sich zum ersten Mal seit dem Morgen, an dem sie das Gesicht des schönen Mannes gesehen hatte, eine kleine Wolke am düsteren Himmel ihres Herzens auf und das Mädchen schöpfte wieder Hoffnung. Mit einem sanften Lächeln beugte sie sich hinab zu jenem pelzigen und runden Tier, um es dankbar mit ihren schlanken Armen zu umschlingen. Sie legte ihre Wangen auf den weichen Rücken der Hummel und flüsterte:

„Ich kann Euch nicht genug danken, meine treue Freundin. Lasst uns morgen schon aufbrechen und den Palast rasch hinter uns lassen, damit mein Vater, der bis zum Abend lange mit seiner Arbeit beschäftigt sein wird, nichts von unserem Verschwinden erfährt.“

Ihre treue Verbündete jedoch war ein naives Tier, das glaubte, immer alles besser zu wissen und sich niemals eingestand, mit seinen wilden Vermutungen auch einmal falsch zu liegen.

Und so kam es, dass das Mädchen und die Hummelkönigin sich am nächsten Morgen auf der Wiese vor dem Palast trafen, um den Boden ihrer vertrauten Welt zu verlassen. Gemeinsam überquerten die beiden das saftige Gras Richtung Waldrand, der sich schon in weiter Ferne wie ein einziger, unüberwindbar hoher Wall aus dunkelgrünen Tannen gegen sie erhob. Obwohl die Hummel den Weg zum geheimen Tor zur Menschenwelt kannte, wusste Honeybean doch, dass es kein leichtes Unterfangen werden würde, bis zur Grenze des Tränenreiches zu gelangen. Niemand außer die ältesten Insekten hatten sich in den dichten Wald hinter der Wiese des Wächters gewagt - und wenn doch einmal irgend ein ungebetener Gast den Boden unter den hochgewachsenen Tannenhölzern betrat, verlief er sich ganz einfach im undurchschaubaren Labyrinth aus alten Bäumen, um bald vollkommen ausgetrocknet und kraftlos von der bloßen Gewalt der endlosen Anzahl an harzig duftenden Nadeln um sich herum erstickt zu werden. Schlussendlich aber würde nur die Durchquerung jenes Ortes das Mädchen zu ihrem Geliebten führen, der irgendwo hinter dem unsichtbaren Schleier auf der anderen Seite leben musste.

Als Honeybean und die Hummelkönigin schließlich am Rand des finsteren Waldes ankamen, schauten sie in ein Heer aus kräftigen Tannenstämmen. Sie warfen einen letzten Blick zurück zum Palast, der nur noch ganz klein in der Ferne zu erkennen war und sagten ihrer Heimat Lebewohl. Dann ließen die beiden das Licht des Tages hinter sich und traten unter das Dach aus immergrünen Nadeln, die alles um sich herum in eine dämmerige Welt aus Stille und Regungslosigkeit tauchten. Indem sie immer weiter in die Wildnis hineinmarschierten, bemerkten sie auch, dass es im Wald anscheinend keinerlei Vögel oder andere Tiere zu geben schien. So weit man auch schaute, war da knorriges, vom Dunst umwabertes Holz und das dunkelgrüne Moos unter den Füßen des Mädchens roch intensiv nach feuchter Erde, um sich überall wie ein dicker Teppich auszubreiten. Ohne die Hummel und ihren Orientierungssinn hätte sich Honeybean in einer endlosen Wüste aus schweigsamen Bäumen verloren gesehen. Sie konzentrierte sich auf den Boden vor sich, der von Wurzeln durchzogen war und viele Stolpersteine bot. Die beiden gingen langsam voran, doch mit einem klaren Ziel -; und so kam es, dass sich dank ihrer pausenlosen Wanderung am späten Nachmittag jene dunkle Welt der Tannen endlich lichtete und sie mit großer Erleichterung die andere Seite des Waldes erreichten. Auch hier bot sich dem Mädchen und der Hummel die hübsche Aussicht auf eine friedliche kleine Ebene, in deren Mitte einsam und verlassen eine alte Eiche stand, deren unzählige Blätter sich sanft im Wind wiegten.

Die Hummelkönigin wandte ihren Blick zu Honeybean und sprach:

„Hier sind wir nun also, dies ist die Grenze des Tränenreichs. Das Tor zur Menschenwelt ist nicht mehr weit - und wenn wir diesen Baum dort drüben erreicht haben, werdet ihr bald verstehen, wo es sich versteckt hält.“

Das Mädchen nickte und fühlte eine wachsende Aufregung in sich aufkommen. Schließlich vergeudeten die beiden keine Zeit mehr und ließen den Waldrand rasch hinter sich, um sich der großen Eiche in der Mitte der Wiese zu nähern. Am Fuße des riesenhaften Baumes angekommen, standen sie erst einmal still und betrachteten verwundert die knorrige, dicke Elefantenhaut vor ihnen. Da fuhr plötzlich ein scharfer Wind durch die Blätter des Kolosses und ein flüsterndes Rauschen entstand, welches das Erwachen eines Wesens aus seinem Schlaf ankündigte. Eine tiefe Stimme drang nun aus dem Inneren des Holzes hervor, die dem Mädchen und der Hummel im Kopfe dröhnte und sie erschrocken einen Schritt zurückweichen ließ.

„Wer ist da und wagt es, meinen tausendjährigen Schlaf zu stören?“

Nach einer kurzen Pause hatte sich die Hummelkönigin wieder etwas gefasst und antwortete dem alten Baum:

„Ehrenwerte Eiche, beruhigt Euch, denn wir sind keine gewöhnlichen Verirrten, wie Ihr vielleicht denken mögt. Wir sind die Königin der Hummeln und die Tochter des Wächters - und wir sind gekommen, weil eine dringende Mission in der Menschenwelt zu erfüllen ist. Darum bitten wir Euch jetzt freundlich, dass Ihr diesem Mädchen hier das Tor öffnen mögt.“

Da ging ein leises Rascheln durch die Blätter des Baumes, das wie ein müder Seufzer klang und die beiden Bittenden bekamen zu hören:

„Glaubt ihr wirklich, dass ich so leicht dem Drängen zweier Herumtreiber nachgebe? Wie viele Menschen und Tiere, die sich hierher aus ihrer Welt verlaufen haben, stolperten schon an mir vorüber, in ihren Gedanken nach einer Lösung flehend, wieder zurück in ihre Heimat zu kehren. Ich aber blieb standhaft und habe sie nicht durchgelassen, aus dem Grund, weil sie das verbotene Wissen über diesen Ort hier nicht auf der anderen Seite verbreiten sollten. Ihr wiederum, die ihr aus dem Palast der Tränen kommt, sollt nicht in die Menschenwelt reisen, um dort die Geheimnisse eures Herren zu verraten.“

Und indem die Eiche sich an Honeybean richtete, sprach sie schließlich streng:

„Besinnt Euch und kehrt nach Hause zurück - denn nichts könnte dringend genug sein, das Geschenk des ewigen Lebens so leichtsinnig in der Fremde zu verwirken.“

In diesem Moment kam dem Mädchen wieder das Gesicht des Unbekannten in den Sinn und ein aufgeregtes Funkeln trat in ihre Augen. Sie ging auf den Baum zu und antwortete ihm mit zitternder Stimme:

„Wie gerne würde ich Euren Ratschlag befolgen und zurück in den Palast meines Vaters kehren, um in Frieden dort weiterzuleben. Doch in meinem Herzen ist keine Ruhe mehr, seit ich im Teich der Tränen einen Blick in die Menschenwelt geworfen habe, und ich verzehre mich langsam von innen nach ihr, bis nichts mehr von mir übrig bleiben wird. Ich habe daher keine andere Wahl, als durch Euer Tor zu treten und meine Krankheit, die mich hier in den sicheren Tod führen wird, durch einen Besuch auf der anderen Seite zu heilen.“

Da ärgerte sich die alte Eiche über die Unnachgiebigkeit des jungen Mädchens und dachte bei sich, dass es ihm wohl ganz recht geschehen würde, in der anderen Welt zu sterben. Für sie hatte es keinen Wert mehr, weiter mit den beiden Störenfrieden zu verhandeln und so schwieg sie, um stattdessen ein finsteres Grollen durch ihren ganzen Stamm bis hinunter zu den tiefsten Wurzeln rollen zu lassen. Im nächsten Augenblick spürte Honeybean ein eigenartiges Beben unter den Füßen, das sich immer weiter verstärkte und schließlich eine solche Kraft entwickelte, dass der Boden vor dem großen Baum zunächst Risse bekam und sich danach als ein unheimlich klaffendes Loch in der Erde zu öffnen begann. Man konnte sehen, wie kleine, feine Wurzeln auseinander gerissen wurden und - verwundeten Adern unter dem Licht eines grausamen Seziertisches gleich - gewaltsam zu Tage befördert wurden. Steine lösten sich von ihrem Platz, um in die gähnende Dunkelheit hinabzubröckeln und die Lücke im Boden am Ende so weit zu verbreitern, dass ihr Platz gerade für den Durchlass eines zierlichen Körpers von der Größe eines Menschenmädchens reichte. Als ihr Werk vollendet war, raschelte die Eiche verdrossen mit ihren Blättern und sprach:

„So - hier habt Ihr, was Ihr wolltet; dies ist der geheime Eingang zur Menschenwelt. Geht nur hindurch und besucht die andere Seite, sie wird Euch wie ein einziges großes Wunder vorkommen. Die Reise dorthin wird nicht sonderlich angenehm sein, aber ich schätze, Ihr werdet dies wegen Eurer schrecklichen Krankheit Wohl oder Übel auf Euch nehmen müssen.“

Honeybean wusste auf diese Worte nichts zu erwidern und näherte sich stattdessen vorsichtig dem gähnenden Loch im Boden, dessen Leere unendlich weit in das Erdreich unter ihnen hineinzureichen schien. Die Hummel folgte dem Mädchen und tröstete es:

„Ich kann Eure Angst gut verstehen, da Ihr keine Flügel habt, so wie ich. Doch fürchtet Euch nicht, denn am Ende dieses Überganges wird Euch nichts geschehen. Wenn Ihr erst einmal gesprungen seid, wird es sein, als ob Ihr hinauffallen würdet in den Himmel, denn die Welt der Menschen liegt oberhalb unseres eigenen Landes.“

Da wandte sich die Tochter des Wächters ihrer Begleiterin zu und machte ein trauriges Gesicht. Sie hoffte, das gütige Tier bald wiederzusehen und heil auf den Boden in der Menschenwelt anzukommen. Ein letztes Mal streichelte das Mädchen der schwebenden Hummel über ihren flauschigen Kopf und verabschiedete sich dann schweren Herzens von ihr, um sich mit wachsendem Unbehagen dem Rand des Abgrundes zuzuwenden.

„Lebt wohl, liebe Hummelkönigin und richtet meinem Vater aus, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Habe ich den Menschen, den ich im Teich erblickt habe, erst einmal gefunden, werde ich ihn dazu bewegen, mit mir in diese Welt zurückkehren und wir werden glücklich und bis in alle Ewigkeit in unserem Reich leben.“

Dann schloss Honeybean die Augen, atmete tief durch und sprang. Im nächsten Augenblick waren alle Geräusche der Natur um sie herum verschwunden und es schien, als ob auch der Schlag ihres Herzens plötzlich stillstand. Ihre nackten Sohlen bekamen die kühle, feuchte Luft unter sich in der Leere zu spüren und das Mädchen fiel immer tiefer und tiefer in den schwarzen Tunnel aus modriger Finsternis hinab, dessen Wind scharf an ihrem Gesicht vorbeipfiff. Den Mund weit geöffnet, hörte sie sich nicht schreien und fürchtete, von der dicker werdenden Luft schließlich erstickt zu werden. Dann auf einmal stand die Zeit abermals still und sie landete überraschend sachte auf einem harten dunkelgrauen Untergrund aus Asphalt, welcher vom Licht der untergehenden Sonne überflutet wurde. Rot wie Blut übergoss dieses Licht den abendlichen Parkplatz eines heruntergekommenen Industriegeländes in der Menschenwelt und kündigte den Tod des Tages und die Auferstehung der Nacht an, die dem Mädchen aus dem Tränenreich vollkommen fremd war. Sie saß dort und versuchte, ihre Augen an die sanften und doch überwältigend kraftvollen Strahlen der neuen Sonne zu gewöhnen. Dabei wusste sie noch nicht einmal, dass ihr zarter Körper schon im Begriff war, sich langsam aber sicher in Dunst aufzulösen. Wie eine Qualle, die im Meer ihren ganzen Zauber entfaltet hatte, dann jedoch irrigerweise an Land gespült wurde und kümmerlich in sich zusammenfiel, verhielt es sich auch mit der Erscheinung des fremden Mädchens, das noch immer verwirrt in die Sonne blinzelte. Es besaß nicht die physischen Mittel, länger als ein paar Minuten in der Atmosphäre der Erde zu überleben und war in seiner ganzen Unwissenheit dem Untergang geweiht. Und gerade als Honeybean endlich die wundersamen Umrisse um sich herum erkennen konnte, waren ihre zwei vor Aufregung glänzenden Augen fast vollkommen verblasst und der Körper des Mädchens verschwand im nächsten Augenblick im Nichts, so als hätte es ihn niemals gegeben. Das verlassene Parkgelände indes hüllte sich in tiefes Schweigen und nur die Vögel am Himmel waren Zeugen jenes sonderbaren Ereignisses geworden.

Im Reich der Tränen unterdessen war die Sonne nicht am Untergehen, obwohl es bereits Abend geworden war und Honeybeans Vater das Ende seiner heutigen Arbeit erreicht hatte. Er wollte gerade den Stift beiseitelegen und sich von seinem schweren Arbeitsstuhl im oberen Stockwerk des Palastes erheben, als auf einmal ein heftiger Schauer über seine Haut hinwegfegte, der tausend feinen Nadelstichen gleichkam und den großen Mann mit den vier dünnen Armen entsetzt von seinem Pult auffahren ließ. Der Wächter des Tränenreiches wusste sofort, dass seiner Tochter etwas zugestoßen sein musste. Er ließ alles stehen und liegen und eilte hinunter in den Garten, bloß um festzustellen, dass Honeybean nirgends in der Umgebung mehr zu finden war. Nachdem er die Hummeln nach ihrem Verschwinden befragt hatte, diese aber nichts aussagen wollten, bis ihre Königin wieder zurückgekehrt sein würde, verlor der Wächter die Geduld und ging zurück in sein Arbeitszimmer. Er hatte seine Tochter einst aus dem Fleisch und den Knochen einer seiner Finger geschaffen und ahnte bereits, dass etwas Ernsthaftes passiert sein musste. Vermutlich hatte ihr die törichte Hummelkönigin tatsächlich den Weg in die Menschenwelt gezeigt und das Mädchen befand sich nun auf der anderen Seite, wo es nur eine Frage der Zeit war, bis sie vollständig verloren sein würde. Indem der große Mann mit den durchdringend blauen Augen sich ermüdet an die Stirn fasste, kam ihm schließlich eine Idee, die als letzter Ausweg aus einem riesenhaften Problem gedacht war. Er begab sich zu einer der Kommoden in der Ecke des Raumes und holte ein schön geschwungenes, silbern glänzendes Messer daraus hervor, um es kurz im gleißenden Licht, das durch die Fenster hereinfiel, zu betrachten. Dann ging er zurück zu seinem Pult, legte die freie Hand des oberen linken Arms auf den Tisch vor sich und setzte das Messer am Ende seines Ringfingers an. Der linke Nachbar dieses Fingers dämmerte seit langer Zeit als ein kümmerlicher Stummel vor sich hin. Mit einer kurzen und kräftigen Bewegung hackte sich der Wächter nun auch noch seinen zweiten Finger ab und betrachtete ihn anschließend ungerührt auf der glatten Oberfläche des Pultes. Das Blut, welches nun aber aus der Öffnung seiner Wunde zu fließen begann, verwandelte sich, kaum traf es auf die Luft im stillen Zimmer, sofort in purpurrote, eigenartig züngelnde kleine Ranken, welche sich von der Hand des Mannes aus immer weiter auszudehnen schienen und schon den toten Finger umwickelten, um ihn - wie die Spinne es mit ihrer Beute tat - kokonartig zu umhüllen. So wuchs das Knäuel mit dem dahinfließenden Blut schließlich immer weiter an, bis es den ganzen Platz auf dem Arbeitstisch in Anspruch nahm. Es war unter dem Blick des Wächters zur Größe eines in sich zusammengekauerten, zarten Menschen herangewachsen, der von pulsierenden Armen aus Blut umschlossen wurde. Und als beherbergte jenes eigenartige Paket tatsächlich etwas Lebendes, begann sich das Innere in seinem Kern auf einmal zu regen und kleine Glieder schienen sich gegen die dichte Hülle des Kokons zu stemmen, als ob sie sich aus den engen Verhältnissen ihres Gefängnisses befreien wollten. Der Mann blieb ruhig und verfolgte schließlich mit, wie die elastischen Wände des Bündels nachgaben und zwei schneeweiße, zarte kleine Hände zum Vorschein kamen. Kurz danach lugte ein verwunderter Mädchenkopf aus der Öffnung des Kokons hervor, dessen Haar golden schimmerte und dem neugeborenen Wesen bis zur Taille reichte. Als es noch etwas ungeschickt aus seiner Hülle kroch und vom Tisch stieg, trug es bereits ein weißes Blütenkleid an seinem Körper. Das Mädchen rieb sich ungläubig die Augen und fragte seinen Vater:

„Wer bin ich? Wo bin ich? Warum bin ich hier?“

Da lächelte der riesenhafte Mann und nahm das Mädchen bei der Hand, um ihm zu antworten:

„Dein Name, liebes Kind, soll ab heute Kirschfliege sein. Im gegenwärtigen Moment befindest du dich im Reich der Tränen, wo es weder Hunger, Durst noch Müdigkeit gibt. Du bist auf diese Welt gekommen, weil du eine wichtige Aufgabe für mich zu erfüllen hast. Ich wünsche, dass du als ein Teil von mir auf die andere Seite dieses Tals zu den Menschen reist und den Geist deiner Schwester aufspürst, welche sich dorthin verirrt hat und ohne unsere Hilfe wohl nicht mehr alleine zurückfinden wird. Sie hört auf den Namen Honigbohne und hat kastanienbraunes Haar.“

Das Mädchen mit dem Namen Kirschfliege nickte und lauschte aufmerksam der nachfolgenden Rede des Wächters.

„Aber keine Sorge, ich habe dich sehr viel stärker und klüger gemacht als deine große Schwester, deren Körper nach ihrem Übertritt ja zerfallen sein muss - und du wirst dich bestimmt gut in der Menschenwelt zurechtfinden, um dich bald an ihre Gepflogenheiten zu gewöhnen. Denke daran, dass die Wesen in jener Welt ganz anders sind als wir und uns auch gefährlich werden können. Sie hegen ein unstillbares Verlangen nach dem Leben, das für sie äußerst kurz und so zerbrechlich ist, wie eine hauchdünne Kugel aus durchsichtigem Glas. Auch dein Körper wird in ihrer Welt nicht ewig Bestand haben und bis zum nächsten Vollmond, der schon sehr bald sein wird, wieder verschwunden sein. Bis dahin musst du deine Schwester unbedingt gefunden haben. Nutze deine Kräfte gut und passe dich an die fremde Welt an, damit niemand vorzeitig von deiner großen Macht erfährt.“

Und als der Mann geendet hatte, klatschte er in seine Hände und ein hell leuchtendes Portal tat sich inmitten des Zimmers auf, das die rechteckige Form einer Tür besaß und dem Mädchen als privates Tor zur Menschenwelt dienen sollte. Dann holte er ein kleines rotes Briefchen mit einer goldenen Schnur aus seinem Anzug hervor und reichte es seiner Tochter mit den folgenden Worten:

„Hier; dies ist unendlich kostbar und wird dir dabei helfen, dich und Honigbohne wieder sicher zu mir nach Hause zurückzubringen. Sobald es Vollmond ist, musst du den weißen Sand als Kreis auf dem Boden verstreuen und ein Übergang in das Tränenreich wird sich dir öffnen, welcher nur kurz Bestand haben wird.“

Kirschfliege nickte und hing sich das Briefchen dankbar um den Hals, um es unter ihrem Kleid zu verstecken - dann ging sie zum Tor in der Mitte des Raumes. Mit einem unsicheren Blick zurück stand sie nun vor der Schwelle ins Unbekannte und erlaubte sich noch eine allerletzte Frage:

„Und werden wir irgendwie miteinander sprechen können, wenn ich erst einmal drüben bin - oder muss ich mich dann vollkommen alleine durchschlagen?“

Der Mann mit den vier spinnenhaften Armen seufzte betrübt und antwortete ihr:

„Es tut mir sehr leid, aber sobald du auf der anderen Seite bist, kann ich dich nur noch schwerlich kontaktieren. Ich habe zwar Zugang zur Menschenwelt über die vielen Tränen in meinem Teich, doch bieten diese mir schlussendlich einen sehr beschränkten Einblick in die Geschehnisse jenseits unseres Reiches. Ich kann nicht direkt auf sie einwirken und bin hier gefesselt, da ich mich auch weiterhin um meine Arbeit kümmern muss.“

Da erwiderte das Mädchen mit einem ernsten Ausdruck in ihren großen bernsteinfarbenen Augen:

„Das macht nichts, Ihr könnt auf mich vertrauen. Ich werde meine Aufgabe auch allein erfüllen können und noch vor Vollmond mit meiner Schwester wohlbehütet zu Euch zurückgekehrt sein.“

Dann drehte sie sich um, tat unerschrocken einen Schritt über die strahlende Schwelle zur anderen Welt und verschwand schließlich ganz im gleißenden Licht des leuchtenden Tores. Kurz darauf brach das sonderbare Portal ebenso abrupt, wie es erschienen war, wieder in sich zusammen und war fort. Der Wächter verblieb stumm in seinem Zimmer und ließ sich die letzten Worte seiner Tochter durch den Kopf gehen. Er dachte bei sich, wie tapfer sie doch war und hoffte inständig, nicht auch noch sie an die feindselige Fremde zu verlieren. Schlussendlich aber blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen, dass sein großes Opfer nicht umsonst gewesen sein würde.

ILicht am Firmament

Die Sonne über der Stadt war schon fast untergegangen und machte allmählich einem kühlen Zwielicht Platz, das nun lautlos und ebenso geschickt wie ein gutgeschulter Dieb alle Ecken und Winkel der engen Gassen auszufüllen begann. In einem großen Müllcontainer etwas Abseits inmitten der heruntergekommenen Gegend, in der sich unsere Geschichte in der Menschenwelt fortsetzten soll, lag ein Mädchen und hatte seine Augen fest geschlossen, um den Eindruck einer schlafenden Puppe zu erwecken. Es besaß zarte elfenbeinfarbene Haut und seidig glänzende Haare; sein Schopf, der ihm üppig und glatt über beide Schultern fiel, schimmerte unter dem Licht der Laternen wie pures Gold. Noch krabbelten einige kleine Fliegen über das zarte Gesicht des unheimlich schönen Wesens, um jenen eigenartigen Geruch zu erkunden, der von der fremden Kreatur ausging. Der Gestank von faulendem Fisch und sich zersetzenden Obstschalen vermischte sich mit dem Duft eines weißen Blütenkleides und bildete ein verwirrendes Parfum. Keine Menschenseele war zu jener Zeit jedoch auf den Straßen zu sehen. Die Bewohner der backsteinumfassten Häuser hatten sich allesamt in ihre warmen Zimmer zurückgezogen und niemandem von auswärts schien es in den Sinn gekommen zu sein, sich für einen Spaziergang in die Abgründe jener schummrigen Gegend zu wagen. Stattdessen kündigte nun der Schatten einer vorbeihuschenden Katze das Erscheinen einer kleinen Gruppe an. Dicht in ihre schwarzen Mäntel gehüllt, bewegten sich die Gestalten mit zügigen Schritten durch die leeren Gassen. Der Mann an ihrer Spitze war im Dunkeln bloß schemenhaft zu erkennen, doch trug er eine große Tasche bei sich, die er mit seinen Handschuhen fest umgriffen hielt. Die Kälte hatte sich in die Nischen des dämmernden Viertels geschlichen und ließ die fünf Personen ihren Gang beschleunigen. Als sie sich schließlich der Mülltonne mit dem Mädchen zu nähern begannen, drosselten sie ihre Geschwindigkeit, um sich fragend anzuschauen. Dann trat der Kräftigste unter ihnen, dessen Gesicht eine tiefe Narbe zierte, an den Rand der schimmelnden Mülltonne und vertrieb die stäubenden Fliegen und den üblen Gestank vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schnitt eine grimmige Miene, um nach dem Handgelenk des schlafenden Geschöpfs zu greifen. Als der muskelbepackte, furchteinflößende Mann die pochende Wärme unter der dünnen Haut der Fremden gewahrte, ließ er ihren Arm rasch wieder los und kehrte zu den anderen zurück.

„Sie lebt und scheint bei bester Gesundheit zu sein. Dennoch war es höchste Zeit, dass wir sie zwischen diesen armseligen Mauern gefunden haben. Lasst sie uns von hier fortschaffen, ehe uns jemand findet und wir in Erklärungsnot geraten.“

Seine Kameraden stimmten ihm zu und der Mann streckte schon seine Hand nach dem regungslosen Körper des Mädchens aus, als dieses just in jenem Moment seine Lider aufschlug und in den grauen Himmel spähte. Sich langsam aufrichtend, weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und beim Anblick der Gruppe von fremden Erscheinungen, welche sich allesamt zu Eis erstarrt vor dem Container versammelt hatten, grub das Wesen seine Finger angespannt in die Essenreste, um ein Stück zurückzuweichen. Es wollte etwas sagen, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Unterdessen bahnte sich ein junger Mann seinen Weg durch die schweigende Schar, schob die kräftige Gestalt neben sich behutsam beiseite und näherte sich vertrauensvoll dem unbekannten Geschöpf. Indem er vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, sprach er mit sanfter Stimme:

„Mein Name ist Joseph. Keine Angst, wir werden dir nichts tun. Wir glauben ja zu wissen, wer du bist und sind gekommen, um dich in Sicherheit zu bringen. Gibt es denn etwas, an das du dich erinnern kannst?“

Da begann sein Gegenüber nachzudenken, um die Ereignisse vor seinem Erwachen zu untersuchen -; im Kopf des stummen Mädchens aber schien es, als sei ihr das Gedächtnis als ganzes Zimmer von einem Sturm leergefegt und anschließend gegen ihren Willen ausgeplündert worden, um sich nun dunkel und verlassen in tiefes Schweigen zu hüllen. Nicht einmal mehr ihren Namen wusste sie, den sie einmal mit großer Sicherheit gekannt haben musste. Als das Wesen folglich nichts erwiderte und stattdessen bloß traurig in das Gesicht des Unbekannten blickte, reichte dieser ihm seine Hand und bedeutete ihm freundlich, vom Abfallberg hinunterzusteigen.

„Wie es aussieht, kannst du nicht sprechen -; aber keine Sorge, wir werden schon einen Weg finden, uns miteinander zu verständigen. Es ist kalt hier draußen und ich schlage vor, wir begeben uns in eine andere Gegend, die uns etwas weniger feindselig erscheinen wird.“

Das Mädchen, welches trotz ihres leichten Blütenkleides keine Anzeichen von Unterkühlung zeigte, zögerte noch und nahm dann die Hilfe der Gestalt vor sich an, um vorsichtig von ihrem Posten hinunterzuklettern. Kaum aber hatte sie ihren ersten Schritt auf den schwarzen Asphalt getan, strömte ihr auch schon der überwältigende Duft von Sandelholz entgegen. Indem sie den Kopf hob und durch den Schleier der Finsternis in das Gesicht des Fremden blickte, verschlug es ihr für einen kurzen Augenblick den Atmen und es war, als sei ein Schalter in ihr umgelegt worden. Ein kleiner Staudamm in Kirschflieges Kopf brach, um mit der ganzen Gewalt seiner Erinnerungen über ihr Bewusstsein hinwegzufluten. Sie konnte sich wieder an ihren Namen, ihren Vater und das Reich der Tränen erinnern, aus welchem sie vor kurzem erst geschickt worden war, um ihre verschollene Schwester zu finden. Ehe sie in der Menschenwelt ankam, hatte sie ein hell gleißendes Portal im Arbeitszimmer des Wächters durchschritten und musste danach auf einem gut gepolsterten Abfallcontainer irgendwo hinter der Grenze ihrer heimischen Welt auf der anderen Seite gelandet sein.

„Ist alles in Ordnung mit dir, du siehst so erschrocken aus?“

Der junge Mann starrte sie prüfend an und wagte sich nicht zu bewegen. Cherryfly wandte ihren Blick jedoch nicht von seinem Gesicht ab und versuchte zu ergründen, was seine rätselhaften Züge zu bedeuten hatten. Die außergewöhnlich grünen Augen ihres Gegenübers, welche an zwei edle, lebende Smaragde erinnerten, und der schwere hölzerne Geruch seiner Kleidung hatten etwas im Innersten des Mädchens bewegt, das es nun zu ergründen galt. Es war ihr, als hätte sie alle Merkmale dieses einen Menschen schon einmal in ferner Vergangenheit gesehen. Indem sie den Kopf schüttelte, gab sie dem Unbekannten zur Antwort:

„Mir ist eben alles eingefallen, was vor kurzem noch aus meiner Erinnerung verschwunden war. Mein Name lautet Kirschfliege und ich bin froh, euch zu treffen. Ehe ich euch aber folge, möchte ich wissen, wer ihr seid - und woher ihr mich kennt, um zu glauben, mir helfen zu können.“

Die Gestalt vor ihr nickte und wurde ruhiger. In der Tat besaß sie nun eine Ausstrahlung von ansteckender Gelassenheit und lächelte durch die dämmernden Schwaden aus zwielichtigem Dunkel.

„Wir arbeiten für eine gewisse sehr besondere Person in dieser Stadt, welche den Namen ‚Oger‘ trägt und deine Ankunft sowie das Erscheinen deiner Schwester schon vorausgesehen hat. Sie weiß darüber Bescheid, dass du nicht von dieser Welt bist und ganz spezielle Kräfte besitzt. Sie möchte dich dafür gewinnen, diese gegen eine bestimmte Kreatur einzusetzen. Ursprünglich haben wir beabsichtigt, dich und deine Schwester zu diesem Vorhaben zu überreden und euch beide hier in dieser Stadt abzufangen, doch unser Gegner ist uns leider bei deinem Geschwister zuvorgekommen, um es zu stehlen. Nun liegt es an uns, noch Schlimmeres abzuwenden. Wenn wir dich nicht bald von hier wegbringen, scheint es sehr wahrscheinlich, dass auch du unserem Feind in die Hände fällst.“

Während ihr Gegenüber diese Worte sprach, machte Cherryflys Herz einen kleinen Aussetzer und sie dachte bang an Honigbohne. Kurz darauf erinnerte sie sich jedoch daran, wie ihr Vater ihr vor ihrer Reise in die Menschenwelt geraten hatte, sich vor den Wesen auf der anderen Seite zu hüten. Es schien keine gute Idee zu sein, den fremden Geschöpfen außerhalb der Heimat blind zu vertrauen - und erst recht nicht, wenn jene aus ungeklärten Gründen vorgaben, einen bereits zu kennen. So verfinsterte sich der Blick des Mädchens, um kurz zur bulligen Gestalt des Narbengesichts hinter dem Rücken des jungen Mannes zu schweifen. Schließlich erwiderte sie:

„Ich bin bloß zu euch in diese Stadt gereist, weil ich meine verschwundene Schwester Honigbohne wiederfinden will. Ich habe nicht erwartet, dass jemand von mir erfahren hat, um mir gleich bei meiner Ankunft seine Hilfe anzubieten. Die Zeit drängt und ich setze mein eigenes Leben aufs Spiel -; da kommen mir ein paar Verbündete zur Befreiung meiner Schwester natürlich sehr gelegen.“

Cherryfly schaute hinauf zum Himmel und versuchte herauszufinden, wie weit es noch bis zum Vollmond war. Bis zu seinem Eintreten musste sie das verlorene Kind des Tränenwächters unbedingt gefunden haben. Doch der dumpfe Smog der Stadt verdeckte alle Sterne und auch die silberne Scheibe am nächtlichen Firmament hatte sich hinter einem dick zusammengebauschten Wolkenschleier versteckt. Also fuhr sie mit einem leichten Senken ihres Tones fort:

„Unglücklicherweise bin ich mir jedoch nicht sicher, ob ich euch vertrauen soll. Ihr könntet ebenso gut diejenigen Übeltäter sein, welche meine Schwester in ihre Gewalt genommen haben und mich nun ebenfalls in die Falle zu locken suchen. Wer ist denn euer Feind und wie hat er es bewerkstelligt, Honigbohne vor euch an sich zu reißen?“

Der Mann in der Finsternis der spärlich beleuchteten Gasse funkelte mit seinen grünen Augen und entgegnete:

„Uns zuvorzukommen ist im Grunde bloß möglich, wenn man überirdische Kräfte besitzt. Wir sind eine sehr einflussreiche Gesellschaft und darum nicht so leicht zu hintergehen. Doch unser Feind ist kein normaler Mensch. Er ist noch nicht einmal ein Monster aus Fleisch und Blut, sondern eine Macht, die sich über die Grenzen aller weltlichen Gesetze begibt. Es muss ihm durch seine Fähigkeiten also gelungen sein, die feine Spur deiner Schwester mühelos aufzufinden. Wie gesagt drängt die Zeit und es ist durchaus denkbar, dass seine Schergen bereits ausgeströmt sind, um uns zu finden. Folglich ist hier nicht der richtige Ort, um lange Abhandlungen über unser Problem zu führen.“

In diesem Moment trat die respekteinflößende Person mit der Narbe im Gesicht vor, um das Wort zu ergreifen. Ihre Stimme klang tief und eindringlich und erweckte den Eindruck eines grollenden Wolfes.

„Du möchtest deine Schwester zurückbringen und musst sie dazu aus den Klauen unseres mächtigen Feindes befreien. Unser Interesse wiederum besteht darin, jene Plage der Nacht zu vernichten. Das trifft sich perfekt, um unsere beiden Ziele in einem wirksamen Bündnis zu vereinen. Dank deinen speziellen Eigenschaften wird es uns gelingen, die finstere Kreatur zu besiegen und das Mädchen namens ‚Honigbohne‘ aus ihren Fängen zu befreien. Komm jetzt mit uns und wir lassen euch nach erfüllter Aufgabe nicht bloß beide ziehen, sondern belohnen euch auch noch mit einem großzügigen Entgelt.“