Der Tod ist nichts für Deppen - Bernhard Weigl - E-Book

Der Tod ist nichts für Deppen E-Book

Bernhard Weigl

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Beschreibung

Seltsame Begegnungen im Zug, ein römisches Schleuderblei oder ein Mann, der einen echten Totentanz mitmachen muss. Der Autor Bernhard Weigl eröffnet uns mit seinen Geschichten einen anderen Blickwinkel auf Leben, Tod, Schuld und Unschuld.

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Seitenzahl: 135

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Inhalt:

Das Leben zwischen den Zeilen

Das Deppen-Tier

Schatten zwischen den Gleisen

Blumen des Grauens

Ein Zimmer in Homs

Namenlos

Der Glanz des Wassertropfens auf einem frischen Lindenblatt

Im Großen und Ganzen

Das Gedächtnis der Dinge

Der Kongo-Sepp

Sie können sprechen

Ausgetanzt

Ausgestorben

Meine Geschichte für Herrn Xiao Bau

Tod eines Heimatforschers

Der Schamane spricht

Das Gute existiert nicht

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,

dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,

blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche

Vorwort des Autors

Manchmal ist der Titel eines Aufsatzes oder Buches einfach da. Angeflogen wie Birkensamen mit dem Wind.

Genauso verhielt es sich bei diesem Werk.

Der Buchtitel „Der Tod ist nichts für Deppen“ kann natürlich leicht falsch aufgefasst werden.

Selbstverständlich ist der Tod etwas, das uns alle irgendwann betrifft. Anders verhält es sich jedoch mit der Auseinandersetzung damit. Die ist wahrlich nichts für Deppen.

In einigen der nachfolgenden Geschichten geht es um das Thema Tod. Bei Weitem aber nicht in allen. Diese kleinen Erzählungen haben sich bei mir einfach im Lauf der Zeit angesammelt und klopften immer wieder in der Nacht an, weil sie endlich veröffentlicht werden wollten. Gut, sollen sie! Dann habe ich vielleicht endlich meine Ruhe vor ihnen. Manche dieser Geschichten sind bitterernst, andere eher humoristisch, wieder andere einfach nur skurril und manche sind wohl alles zusammen. Ich wünsche dem Leser jedenfalls viel Freude beim Lesen und falls sich jemand in einer Szene wiedererkennt, so bin ich zumindest in den allermeisten Fällen daran unschuldig.

Zuletzt darf ich mich noch für das Korrekturlesen und zahlreiche Diskussionen zu diesem kleinen Werk bei Katrin Freund, Claudia Kick und natürlich vor allem bei meiner Frau Petra bedanken.

Bernhard Weigl

Das Leben zwischen den Zeilen

Ich bin Schriftsteller. Als ich jung war, dachte ich sogar, dass ich ein großer Schriftsteller sei. Na ja, ich meine, das passiert jedem jungen Menschen einmal. Zumindest muss ich mich für meine damaligen Werke nicht schämen, auch wenn sie vom Pulitzerpreis meilenweit entfernt waren. Mein erstes wirklich veröffentlichtes Werk, das auch noch etwas Geld einbrachte, war ein Kurzgeschichtenband. Es ging darin um die Liebe, deren Scheitern, den Rosenkrieg danach, aber auch um die große Versöhnung. Es ist mir heute noch schleierhaft, dass sich so etwas tatsächlich besser verkauft als jedes gute Sachbuch oder ein Abenteuerroman.

Angelegt hatte ich das damalige Werk auf zwanzig Geschichten, von denen mir neunzehn wirklich zufriedenstellend von der Hand gingen. Für die letzte Geschichte fehlte mir hingegen einige Zeit lang die Eingebung. Sie sollte etwas ganz Besonderes werden. Eher eine Art Tragödie. Normalerweise hatte ich die Gewohnheit, meine Erzählungen vorher durchzuplanen. Änderungen am Konzept nahm ich da meistens wenig vor. Diesmal schrieb ich allerdings einfach drauf los. Da war dieses Pärchen... Sonja und Ralf. Ich beschrieb, wie sich die beiden an der Uni kennengelernt hatten. Hm, ja... Beide studierten Medizin und hatten sich im Hörsaal kennengelernt. Sie hatte die Mappe fallen gelassen und er, ... nein, furchtbar, ... das wäre zu abgedroschen. Aber was könnte ich stattdessen nehmen? Die Geschichte sollte sich ja nicht wie eine amerikanische Seifenoper anhören. Ich ließ die beiden also Literatur und Kunstgeschichte studieren. In einem Arbeitskreis redeten sie über die Werke von Beuys. Während sie sich als glühende Verehrerin des Künstlers herausstellte, war er genau das Gegenteil davon. Die beiden diskutierten sich so in Rage, dass beinahe die Fetzen flogen. Am selben Abend saß man zufällig in einer Studentenkneipe an der gleichen Bar. Jeder war mit seinem eigenen Freundeskreis gekommen. Wie es so ist: Gegensätze ziehen sich an, der Alkohol tat ein Übriges und die beiden landeten noch in der gleichen Nacht zusammen in Sonjas Bett. Soweit gefiel mir die Geschichte schon einmal ganz gut. Ich überlegte mir, dass Ralf auf jeden Fall am Ende der Geschichte sterben müsste. Für den einen Tag hatte ich jedoch genug geschrieben.

Hatten Sie schon einmal richtig lebendige Alpträume? So... richtig lebendige?

Beim Lesen einer Erzählung stellt sich der Leser für gewöhnlich die Protagonisten bildlich vor. Wahrscheinlich hat jeder ein anderes Aussehen der beschriebenen Romanfiguren im Kopf. Auch, wenn Haarfarbe und Figur der beschriebenen Personen genau vorgegeben sind, jeder Leser verbindet mit den Helden eines Buches eine andere Vorstellung. Dem Schriftsteller geht es ähnlich. Er schreibt über irgendwelche fiktiven Menschen und stellt sich diese irgendwie vor. In dieser Nacht träumte ich von Ralf. Er sah ganz gut aus. Aschblond, dunkle Augen. Ralf saß nachdenklich auf dem Stuhl neben meinem Bett. Eigentlich sah er sogar ein wenig traurig aus. Schließlich sagte er zu mir: „Weißt du... ich habe mich wirklich in Sonja verliebt. Willst du mich da wirklich sterben lassen?“ Ich war etwas verblüfft, sagte aber nichts. Er redete weiter: „Ich... ich würde dich zumindest bitten, dass du dir das noch einmal überlegst.“

Dann war mein Traum schon wieder zu Ende. Zumindest kann ich mich an sonst nichts erinnern.

Am nächsten Tag kam ich erst abends wieder zum Schreiben. Diesmal ging es wieder etwas zögerlich. Ralf und Sonja trafen am Tag in der Diskussionsrunde aufeinander und sie zofften sich heftig wegen unterschiedlicher Standpunkte zur Kunst. Nachts stiegen sie miteinander ins Bett und vermieden es absolut, über Literatur zu reden. Das ging ein paar Monate so. Schließlich merkte Sonja... ja, genau, sie war schwanger. Jetzt musste ich Ralf noch irgendwie sterben lassen und ein paar Diskussionen einflechten. Wie sollte ich ihn über den Jordan schicken? Verkehrsunfall? Krebs? Egal, ich war müde und verschob das auf den nächsten Tag.

In der Nacht erschien Ralf wieder neben meinem Bett. Er sah mich an. „Weißt du?“, meinte er, „Wir sind jung. Sonja und ich schaffen das.“ Ich musste ein fragendes Gesicht gemacht haben. Er redete weiter: „Das mit dem Kind. Ich mag Kinder. Und auch, wenn ich noch keinen richtigen Job habe, wir schaffen das schon. Willst du mich jetzt wirklich sterben lassen?“ Ich zuckte mit der Schulter.

„Du bist ein Mistkerl!“, rief er, „Warum kannst du uns nicht glücklich sein lassen?“ Unvermittelt holte Ralf aus und haute mir mit seiner rechten Faust ins Gesicht.

Die meisten Menschen hatten wohl schon Alpträume. Aber nicht jeder hatte ein geschwollenes, dickes blaues Auge beim Aufwachen. Ich schon. Der Anblick im Spiegel verwirrte mich. Natürlich tat das weh und ich drückte mir vorsichtig einen Beutel mit Eiswürfeln auf die betreffende Stelle, aber schlimmer war meine Ratlosigkeit. Hatte ich mich nachts am Bettpfosten gestoßen? Litt ich unter irgendeiner Art von Selbstverstümmelungswahn?

An diesem Tag ging ich nur mit Sonnenbrille aus dem Haus. Zum Glück hatte ich keinen großartigen Termin. Was hatte Ralf in meinem Traum gesagt? Er hatte mich einen Mistkerl genannt. Ich war also dabei, das Leben meiner Romanfiguren zu zerstören? Ich überlegte. Was soll einem ein Traum sagen? War ich auf dem falschen Weg? An diesem Abend kam ich nicht zum Schreiben. Es dürfte aber niemanden wundern, wenn ich sage, dass ich tatsächlich von Ralf träumte. Er saß wieder auf meiner Bettkante: „Das mit dem Auge tut mir leid“, meinte er sichtlich zerknirscht. „Ich bin eigentlich kein gewalttätiger Kerl, weißt du? Ich wollte... ich wollte eben einfach nur glücklich sein. Das wollen wir doch alle.“ Dann schwieg Ralf eine Zeit lang und starrte an meine Schlafzimmerdecke. Schließlich sagte er: „Also, wenn du mich schon töten musst, dann mach es bitte kurz und schmerzlos“, er schluchzte, „und schreib, dass es Sonja und dem Baby gut ging.“ Er weinte und verschwand.

Ich wachte schweißgebadet auf. Das war zu viel für mich. Am nächsten Morgen beendete ich diese Kurzgeschichte. Sonja und Ralf heirateten schließlich und wurden glücklich. Das Kind kam gesund auf die Welt. Er bekam einen Job an einem Museum und zumindest über Beuys konnten sie sich ihr ganzes Leben nicht einigen.

Ich sah mich im Spiegel an. Irgendwie kam ich mir ganz stark erpresst vor. Von Ralf? Dazu müsste man glauben, dass einer Romanfigur etwas Lebendiges anhaftete. War ich von meinem Traum erpresst worden? Ein solcher entsprang dem eigenen Unterbewusstsein. Dann hatte ich mich also selbst unter Druck gesetzt? Ich beschloss, diese sinnlose Grübelei auf ein anderes Mal zu vertagen.

Mein Buch wurde übrigens ein richtig schöner Erfolg.

Das Deppen-Tier

Ich saß im Garten und war faul. Nicht, dass ich damit etwa kokettieren will. Das war schlicht und ergreifend einfach die Wahrheit. Nach einer arbeitsreichen und stressigen Woche streckte ich mich in meinem Terrassensessel aus. Neben mir stand eine offene Flasche Bier, kurz vorher aus dem Kühlschrank entnommen. Nur den Kronkorken versuchte ich jedes Mal nach dem Trinken wieder drauf zu pfriemeln. Wegen der Mücken. Wer mag schon sein Feierabendbier mit Fleischeinlage konsumieren.

Ich hatte diese Woche hervorragende Geschäfte gemacht. Beim Thema CO2-Ausstoß musste ich eigentlich nur lachen. Ich schweige hier besser über meine Tätigkeit. Nur soviel: mit Umweltschutz hat sie wenig zu tun. Dafür um so mehr mit vollen Kassen. Ich bin nicht blöd – nur einfach Realist. Der Mensch muss ja schließlich von irgendetwas leben. Dabei möchte ich mich aber durchaus als einen fried- und auch naturliebenden Typen bezeichnen. Erst vorhin waren mir direkt auf dem Flieder zwei wunderschöne Käfer aufgefallen. Von Artbestimmung habe ich keine Ahnung. Trotzdem habe ich gleich bemerkt, dass die beiden Krabbler fast identisch waren. Nur hatte der eine an seinen Deckflügeln einen rötlich-braunen und der andere einen schwarz-blauen Rand. Ich musste an Darwin denken. An die Konkurrenz der Arten und die Entwicklung des Lebens in der Zukunft und so weiter. Wenn ich jetzt den Käfer mit dem rotbraunen Streifen platt machen würde, dann herrschen über die Erde in 75 Millionen Jahren vielleicht zwei Meter große, hochintelligente Käfer mit einem schwarzen Streifen am Rücken. Im anderen Fall würden in hundert Millionen Jahren die Nachfahren der braun-roten Käfer zum Mond fliegen. Und Kollegen von ihnen würden schlaue Studien anstellen, warum vor Jahrmillionen die schwarzgestreiften Verwandten wohl ausgestorben wären. Ich musste grinsen. Den wahren Grund dafür würden sie nicht einmal erahnen.

Ich entschloss mich, nicht weiter in die Evolution einzugreifen und trank mein Bier. Dabei merkte ich zu spät, dass mich eine Mücke direkt ins Genick gestochen hatte. Ein kräftiger Handschlag machte dem Leben dieses Deppen-Tiers ein Ende. Den juckenden Stich hatte es mir aber leider schon verpasst. „Siehst du“, sagte ich in Richtung Mückenleiche auf meiner Handfläche, „jetzt war ich dein Schicksalsgott. Sonst hättest du es in der Evolution vielleicht noch weit gebracht.“ Meine Beschimpfung half nichts, jetzt juckte es schon.

Ich wischte mir die Hand mit der Papierserviette unter meiner Bierflasche ab. Allerdings schlich sich bei mir in den folgenden Minuten ein irgendwie seltsamer Gedanke ein. Vor meinem geistigen Auge erschien eine große Hand, die auf mich einschlug, um die Evolution in eine andere Bahn zu lenken. Ich schüttelte meinen Kopf und griff zur Flasche,

um diese unsinnige Eingebung wieder los zu werden.

Die Geschichte „Das Deppen-Tier“ war mein

Beitrag zum „Bubenreuther

Kurzgeschichtenwettbewerb 2019“. Sie wurde in

der dazugehörigen Anthologie abgedruckt.

Schatten zwischen den Gleisen

Ich stand draußen. Vor den Trittstufen des letzten Zugwagens. Hier war die Luft nicht so stickig wie drinnen bei meinen Kameraden. Unter mir tauchte immer weiter das Band der zwei Schienen auf und verschwand dann in der endlosen Ferne. Tarapp, tarapp. So machte es jedes Mal, wenn der Zug über die Stoßstellen der Gleise fuhr. Wie ein Maschinengewehr, dachte ich. Wie ein Maschinengewehr. Ich hätte jetzt gerne eine Zigarette gehabt. Dabei bin ich eigentlich Nichtraucher. Doch alle meine Kameraden rauchen. Und das würde irgendwie auch zur Situation passen, dachte ich. Tarapp, tarapp.

Von drinnen drang ausgelassenes Gelächter zu mir. Es hörte sich für mich mehr wie das Brüllen eines Pavians an. Der Offizier hatte Schnaps genehmigt. Nein, er hatte ihn nicht nur genehmigt. Er hatte die Schnapsflaschen mit offenen Armen selbst unter die Leute verteilt. Nach so einem Einsatz bräuchten die Männer das.

Die Tür zum Abteil öffnete sich. Ich erschrak leicht, denn mit einem Mal klang das Gelächter von drinnen wie Schläge in meinem Ohr. „Na, auch Luft schnappen?“, meinte Hubert. Was für ein geistreicher Satz. Aber er hielt mir seine Schachtel mit Zigaretten hin. Ich zog mir eine davon heraus und nickte zum Dank leicht. Er hielt mir auch sein Feuerzeug mit offener Flamme hin. Ich schüttelte aber nur leicht den Kopf. Dann drehte ich die Zigarette endlos zwischen Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen hin und her. Offenbar wollte er reden, wusste aber nicht wie und wo er beginnen sollte. Also lehnte er sich an das Geländer, starrte mit mir auf die Schienen und rauchte seine Zigarette. „Wir sollten nicht hier sein“, brach ich schließlich das Schweigen. Er rauchte weiter. Tarapp, tarapp dröhnte es von den Schienen herauf. „Sind wir aber“, entgegnete er endlich und starrte weiter auf die Gleise. „Das war ein harter Tag“, redete er weiter. „Lass einfach zwei, drei Wochen vergehen und wir haben uns alle miteinander wieder etwas beruhigt, oder gefangen oder... ach, ich weiß nicht.“ Er zog an seiner Zigarette und sah mich von der Seite her an. Dann fuhr er fort: „So was kann manchem ganz schön zusetzen.“ „Ach“, erwiderte ich. Dann sagte ich nichts mehr. Dieses Gefasel von wegen Weichei und so weiter. Damit brauchte er mir nicht zu kommen. Jetzt lächelte er spöttisch. Ich hätte ihm dafür auf der Stelle eine reinhauen können. Und wer weiß, eine weitere Provokation und ich hätte es wirklich getan. Doch Hubert warf seinen Zigarettenstummel über das Geländer, drehte sich um und ging wieder wortlos nach innen.

Ich stand gerne hier draußen alleine. Ich musste nachdenken. Meine Kameraden dagegen wollten sich offenbar nur betäuben. Denken. Denken. Nein, das ging nicht. Ich konnte meine Gedanken nicht in geistige Worte fassen. Nur Bilder, Bilder schwebten vor meinem geistigen Auge. Als ob sich mein Blick auf mich selbst richtete und mich langsam umrundete, wie ich so dastand mit dem Gewehr im Anschlag.

Wieder öffnete sich die Tür zum Abteil. Mein Kamerad Horst kam heraus. Horst war für mich nicht wie die anderen. Man konnte da schon fast von Freundschaft sprechen. Er hatte aus unerfindlichen Gründen Hemd und Unterhemd ausgezogen und stand nur noch mit seiner Uniformhose und den Hosenträgern bekleidet da. „Hubert hat gemeint, ich soll mal nach dir gucken“, sagte er leise. Und weiter: „Hat wohl Angst gehabt, du wirfst dich auf die Gleise.“ Ich brummte etwas verächtlich. Hubert war einfach ein Idiot. „Nein“, sagte ich, „das würde nichts an dem ändern, was heute Vormittag passiert ist“. Horst verschränkte die Finger ineinander. Fast so, dachte ich, als ob er beten wollte. „So ein Gewissen“, meinte Horst, „das kann eine kleine Ratte sein. Eine Ratte, die dich immer und immer wieder in die Zehen beißt. Immer dann, wenn du es gerade am wenigsten erwartest“. Ich sah ihn an. Eine Frage brannte mir auf den Lippen: „Sag mal? Bist du eigentlich irgendwie... gläubig? Also... glaubst du, dass es einen Gott gibt?“ Er antwortete nicht gleich, sondern dachte etwas nach: „Gott ist heute Vormittag nicht mit dem Gewehr dort gestanden, wo wir gestanden sind. Es ist vollkommen egal, ob ich an irgendein höheres Wesen glaube oder nicht. Du und ich und die anderen hier im Zug... wir waren heute die Götter, die über Leben und Tod entschieden haben. Und, wenn ich ein Gott bin, dann kann mich keiner irgendwie verurteilen.“ „Und daran glaubst du?“ fragte ich. Er lachte. „Nein, natürlich ist das ein Riesenblödsinn“, war die Antwort. „Aber, geh mal rein und frag, was alle anderen zu dem Thema denken. Da hast du ein paar eiskalte Typen, denen das anscheinend wirklich nichts ausmacht und der Rest verdrängt das. Jeder irgendwie anders. Du kannst saufen, du kannst meditieren, in die Kirche gehen oder ins Bordell. Du kannst auch gleich ins Kloster eintreten oder du kannst noch mehr Leute erschießen. Das ist alles egal. Eins darfst du jedenfalls nicht machen. Grübel nicht rum. Das macht dich kaputt.“ Ich nickte. Horst klopfte mir auf die Schulter. Dann ging er wieder rein.

Ich konnte Horst gut leiden. Seine Worte waren aber nichts anderes gewesen als eine lauwarme Soße, die zu allem irgendwie passte. Immerhin hatte er mich aus meinem Gedankenstrudel