Der Tod - live! - Philipp Propst - E-Book

Der Tod - live! E-Book

Philipp Propst

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Beschreibung

Ein explodierender Plüschhase mitten im Trubel der Basler Fasnacht, ein lahmgelegtes Spital und spurlos verschwundene Bankkonti - und immer mittendrin: die "Aktuell"-Reporter. Als der kantige und mürrische Chefredakteur Jonas Haberer und sein Team merken, dass nicht nur sie verschlüsselte Botschaften aus den dunklen Sphären des Internets erhalten, sondern dass die Attentate aus dem Deepnet, dem geheimnisvollen Netz hinter dem World Wide Web, gesteuert werden, ist es zu spät: Der virtuelle Krieg gegen die Schweiz ist bereits in vollem Gange. Mit dem Ausschalten der Infrastruktur und mit Drohnenangriffen soll die Schweiz gezwungen werden, ihre Eigenständigkeit aufzugeben, "um die Welt von ihrer einzigartig verbrecherischen Bankgeschäften, ihrer ausbeuterischen Wirtschaft und der scheinheiligen Neutralität zu befreien". Die Schweizer Regierung knickt ein. Ebenso die Armee. Doch Jonas Haberer, seine Reporter und der lebenslustige, aber nicht besonders mutige Basler Ermittler Olivier Kaltbrunner versuchen, die Katastrophe zu verhindern. Doch dann explodieren Bomben mit Giftgas…

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Philipp Probst

DER TOD – LIVE!

Philipp Probst

DER TOD – LIVE!

Roman

Appenzeller Verlag

1. Auflage, 2015

© Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und

Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische

Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Umschlagbild: Katja Niederöst

Gesetzt in Janson Text

Satz: Appenzeller Verlag, Schwellbrunn

ISBN: 978-3-85882-728-9

ISBN eBook: 978-3-85882-740-1

www.appenzellerverlag.ch

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

12. November

WOHNSIEDLUNG BERG, TROGEN, KANTON APPENZELL AUSSERRHODEN

Die Versuchung war gross. Riesig. Eigentlich gigantisch. Das Smartphone lag vor ihr auf dem Tisch. Und sie hatte den Code zum Entsperren. 0109. Nulleinsnullneun. Susa überlegte lange, ob die Zahlen irgendetwas zu bedeuten hatten. Doch sie kam nicht drauf. Kein Geburtsjahr war darin versteckt, auch ihr Kennenlernjahr nicht und ebenso wenig ihr Hochzeitsdatum. Und andere Daten kamen ihr nicht in den Sinn. Wichtige Daten ihres Ehemannes?

Sie müsste ihn vielleicht einmal fragen. Muss sich wohl um den Zufallscode der Swisscom handeln, der Netzbetreiberin, bei der ihr Mann Konstantin das Abonnement gekauft hatte, sagte sie sich, stand vom Glas-Esstisch auf und machte sich einen Kaffee. Sie goss einen Schluck Milch dazu, setzte sich wieder an den Tisch, starrte das Smartphone lange an, strich mehrmals über den Bildschirm. Die Tastatur erschien, das Gerät verlangte nach dem Code. Und Susas Zeigefinger zuckte. 0109. Nulleinsnullneun.

Vier Berührungen auf die Ziffern und eine fünfte auf die Ok-Taste – so leicht wäre der Eintritt in die virtuelle Welt ihres Mannes. Dabei hatten sie sich geschworen, nie, nie, niemals in die Intimsphäre des anderen einzudringen. Dazu gehörte die Post, die Computer-Zugänge zu Mails, Facebook, Twitter und Google Plus, aber auch die Handys mit all ihren Nachrichten- und Bilddateien. Die Versuchung war gross. Riesig. Eigentlich gigantisch. Susa erlag ihr um 08.12 Uhr.

Sie war auf seltsame Art und Weise in diese Situation hineingeraten. Konstantin war, wie fast jeden Morgen, in Eile, hatte ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt und war mit wehenden Haaren aus der Wohnung geeilt. Susa war gerade unter der Dusche gestanden – sie hatte ihren ersten Termin in der Klinik erst um 09.30 Uhr – als sie das Telefon läuten hörte. Sie eilte nackt aus dem Bad. Weil der Festnetzanschluss praktisch nie klingelte, musste etwas Aussergewöhnliches los sein. Oder es war ein Werbeanruf, eine Umfrage oder einfach falsch verbunden. Sie tropfte das Parkett voll und nahm den Anruf entgegen.

«Ich bin es, entschuldige, ich habe mein Handy vergessen», sagte Konstantin hastig.

«Dein Handy? Du telefonierst doch gerade damit. Oder bist du schon im …»

«Nein, ich bin noch nicht im Büro, ich bin im Auto und rufe dich vom Geschäftshandy aus an. Ich habe mein Privathandy vergessen.»

«Oh.»

«Ich habe einen Termin mit einem Kunden, also mit einem Kollegen, der vielleicht ein Kunde wird…ist ja egal, jedenfalls habe ich das Treffen mit ihm auf dem Privathandy gespeichert, und ich weiss nicht, wo ich ihn treffe.»

«Oh.»

«Kannst du schnell nachschauen?»

«Wo ist es denn?»

«Keine Ahnung.»

«Bleib dran! Ich such mal.» Susa suchte, fand es aber nicht.

«Es ist nicht da», meldete sie ihrem Mann.

«Doch, es muss da sein, verdammt!»

«Aber ich finde es nicht, mein Schatz!»

«Hast du im Bad geschaut?» Susa suchte im Bad und roch diesen herben, angenehmen und dezenten Duft von Konstantins Aftershave. Sie liebte ihn. Aber auch im Bad war kein Handy. Schliesslich schaute sie auf der Gästetoilette nach, die Konstantin meistens benutzte. Da, neben der Kloschüssel, lag sein Smartphone. «Ich habe es gefunden», sagte Susa, immer noch nackt.

«Schau in die Agenda!»

«Ich muss erst einen Code eingeben. Den kenne ich aber …»

«Nulleinsnullneun.»

Sie hatte den Code eingegeben und ihrem Mann den Ort seines Dates durchgegeben: Café Gschwend. Konnte man das vergessen? Offenbar ja.

Susa war zurück ins Bad gegangen, hatte sich abgetrocknet und sich in ihren flauschigen, hellblauen Bademantel gehüllt. Das Handy, Konstantins Smartphone, hatte sie auf den Salontisch gelegt. Das Display war erloschen und die Sicherheitssperre wieder aktiviert. Jetzt nahm sie es in ihre Hände, tippte 0109 und die Ok-Taste. Voilà. Sie hatte es getan.

Sie klickte sich ins SMS-Menü ein und checkte ab, mit wem ihr Ehemann Kontakt hatte. Es waren vor allem Männer, die sie teilweise kannte. Diese interessierten sie nicht. Sie öffnete die Chats mit den Frauen, die sie zum Teil auch kannte, fand aber nichts, was irgendwie zweideutig war.

Was suche ich überhaupt?, fragte sie sich. Sie öffnete den Nachrichtendienst WhatsApp, wo sich ein ähnliches Bild zeigte: viele Männer, wenige Frauen. Dieses Mal nahm sie auch einige der Männer-Chats ins Visier. Allerdings war auch hier, ausser einigen ziemlich primitiven Männersprüchen, wie sie fand, nichts Aufregendes oder Verdächtiges zu finden.

In den Chats mit den Frauen flogen zwar ab und zu Kuss-Smileys hin und her, aber auch diese lieferten nicht den geringsten Grund zur Annahme, dass Konstantin sie betrügen würde. Im Gegenteil: Mehrmals erwähnte er seine Frau, welch grosses Glück er habe und dass er sie über alles liebe.

Ich bin ein schlechter Mensch und habe seine Liebe nicht verdient, sagte sich Susa. Sie wollte Konstantins Smartphone beiseitelegen, verurteilte ihren Vertrauensbruch und schwor sich, nie mehr überhaupt nur an so etwas zu denken. Allerdings fuhr sie dann mit ihrem Zeigefinger auf das File «Galerie» und erfreute sich kurze Zeit an Bildern, die sie und Konstantin, freudig und verliebt ins Objektiv lächelnd, zeigten. Weitere Bilder zeigten vor allem sie.

Ja, sie konnte sich daran erinnern: in den Skiferien, am Meer, in Paris. Sie hatte posiert, ihn angestrahlt. Susa studierte die Bilder ganz genau und hätte am liebsten zwei Drittel davon gelöscht, weil sie fand, sie sehe darauf nicht gut aus. Vor allem diese dämlichen Grübchen störten sie, die entstanden, wenn sie zu fest lachte. Aber sie hielt sich zurück und blätterte in der Galerie weiter.

Dann wurde ihr heiss. Sie sah sich selbst, wie sie auf dem Bett lag, nur mit einem schwarzen, durchsichtigen Slip bekleidet, mit leicht gespreizten Beinen, die Augen geschlossen, ihre Hand an ihrem Busen.

Sie blätterte weiter. Nahaufnahmen ihres Körpers. Füsse. Beine. Ihr Höschen. Dann ihr Po. Nicht ganz nackt. Nur mit dem Hinterteil ihres Höschens bekleidet, einem String. Ihr Rücken, ihre langen, dunklen Locken. Sie gefiel sich. Mehr Bilder! Mehr!

Die Hand ihres Mannes, wie er den String zur Seite schob. Sein Glied … Susa legte das Handy zur Seite und nahm einen Schluck Kaffee. Alles bestens. Wenn mein Mann Freude daran hat, mich für einsame Stunden zu fotografieren, okay. Aber warum habe ich das nicht gemerkt? Oder doch, einmal, da hantierte er mit dem Handy herum, war das nicht so? Täusche ich mich? Ach, was soll’s, geniess es, ist doch schön. All das sagte sie sich und lächelte dabei.

Weiter. Es folgten Landschaftsfotos, Tierfotos und wieder Landschaftsfotos. Susa erinnerte sich an die Ausflüge, schmunzelte und schweifte in ihren Gedanken zu ihrem Mann. Aber sie war auch ein bisschen enttäuscht, dass nicht noch mehr eindeutig zweideutige Fotos von ihr gespeichert waren.

Er hätte mich aber ruhig fragen dürfen, sagte sie sich, ich habe nichts davon mitbekommen. Schliesslich war sie in diesen Situationen selbst in sexuell angeregter Stimmung – und sie war eine Frau, die Sex liebte –, aber gut: So lange sie seine Traumfrau war, war ja alles in bester Ordnung.

Sie zappte weiter durch Konstantins Bildergalerie. Landschaftsfotos, Porträts von ihr, von Bekannten, Landschaftsfotos, Autobilder und … «Was ist denn das?», murmelte Susa plötzlich. Sie öffnete ein Bild – und erstarrte. Ein blutiges Gesicht.

Nächstes Bild. Schwarze Gestalten. Erstarrt in Stellungen, die ihr unnatürlich erschienen. Irgendwie zusammengezogen. Wieder ein blutiges Gesicht. Teile eines Gesichts. Kein Gesicht. Nur noch Umrisse eines Kopfes. Aufgerissene Augen.

Susa holte ihr eigenes Handy und kopierte die gesamte Galerie via Bluetooth. Danach stellte sie sich erneut unter die Dusche. Sie drehte den Wassermischer von warm auf kalt. Dreissig Sekunden hielt sie es aus. Danach trocknete sie sich ab, eilte ins Schlafzimmer und zog sich an. Sie trank noch einen Kaffee und betrachtete nun die Bilder auf ihrem eigenen Handy.

Sie selbst. Glücklich. Sie beim Sex. Heiss. Doch leider waren auch die anderen Bilder da. Dunkel, düster, meistens unscharf. Tote. Sie klickte sich durch. Und entdeckte noch Grauenhafteres als das, was sie schon gesehen hatte. Junge Männer, offensichtlich schreiend, mit blutenden Wunden, die Geschlechtsteile fehlten. Susa musste weiter klicken, zu schrecklich waren die Fotos. Doch es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Junge Frauen mit entstellten Gesichtern und Messern zwischen den Beinen. Nein, nicht die ganzen Messer waren zu sehen. Nur die Griffe. Denn die Klingen steckten tief in den Körpern.

Susa erbrach sich auf das Parkett.

25. Januar

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Beim Wort «Fasnacht» begann Chefredaktor Jonas Haberer mit den Füssen zu scharren und mit den Absätzen seiner Boots auf den Boden zu schlagen: Klack – klack – klack.

«Fasnacht ist in der Schweiz das beliebteste Volksfest überhaupt», führte der junge FotografJoël Thommen aus. «Da könnten wir eine tolle Reportage machen. Zum Beispiel darüber, wie sich die Fasnächtler in Luzern, Bern und Basel darauf vorbereiten, die Kostüme schneidern und die Masken kreieren. In Basel werden ja noch grosse Laternen gemalt, das gäbe tolle Fotos.» Jonas Haberer gähnte. Seine Mimik zeigte aber deutlich, dass er gar nicht gähnen musste, sondern nur so tat.

«Und in Luzern könnten wir eine Guggenmusik bei einer Probe besuchen. In Bern den Typen besuchen, der im Bärenkostüm steckt. Und in der Ostschweiz gibt es sicher auch noch jene lustigen …» Haberer steckte sich den Zeigefinger in den Mund und machte Würgegeräusche. Joël Thommen wagte nichts mehr zu sagen. Auch die anderen Redaktionsmitglieder waren still. „Habe ich etwas verpasst?», fragte Haberer nun provokativ.

«Hey, Jonas, du übertreibst», meldete sich nun Nachrichtenchef Peter Renner, die Zecke, zu Wort. «Wir wissen, dass du nicht auf Fasnacht stehst. Trotzdem ist der Vorschlag von Joël nicht so …»

«Papperlapapp, Pescheli», fauchte Haberer. «Fasnacht ist Scheisse. Kommt mir nicht ins Blatt. Von mir aus könnt ihr diesen Müll auf unserer Online-Seite veröffentlichen.» Er verdrehte theatralisch die Augen, räusperte sich laut und ziemlich unappetitlich und fragte dann: «Hat irgendjemand eventuell noch eine andere Idee?» Die fünfundzwanzig Journalisten blieben alle mucksmäuschenstill.

«Was seid ihr bloss für eine lahme Truppe!», wetterte Haberer. «Wir brauchen News, Sex und Skandale. News, Sex und Skandale.» Und noch lauter: «News, Sex und Skandale!»

Damit war die Sache und gleich die ganze Themensitzung beendet. Haberer stand auf und verliess den Raum. Klack – klack – klack. Seine Schritte hallten noch eine Weile nach. Dann war eine zuknallende Türe zu hören.

«Kein Problem, Leute», sagte Peter Renner. «Ihr kennt den Alten. Ist eine Boulevard-Ratte wie vor hundert Jahren.» Er drehte seinen Kopf beziehungsweise seinen ganzen, massigen Körper leicht nach links und schaute Joël an: «Nimm’s easy! Du als Basler hast es nicht leicht mit deiner Fasnacht bei uns Bernern. Einfach für ein nächstes Mal: Besprich deine Ideen zuerst mit mir, bevor du hier den Haberer auf die Palme bringst!»

22. Februar

CLARAPLATZ, BASEL

Thomas Neuenschwander stand mit seiner Familie um 14.36 Uhr bei der Tramhaltestelle Claraplatz in der ersten Reihe. Der Cor- tège, der Basler Fasnachtsumzug, war in vollem Gang. Pfeifende und trommelnde Formationen, sogenannte Cliquen, zogen in prächtigen, teuflischen oder lustigen Kostümen an ihnen vorbei. Dazwischen heizten Guggenmusiken ordentlich ein. Die Kinder hielten sich manchmal die Ohren zu und wichen einen Schritt zurück, vor allem wenn die Paukisten vorbeiliefen. Diese holten mit den Armen für jeden Schlag kräftig aus. Am meisten Freude hatten die drei Kinder an den «Waggis»-Wagen, weil die Kostümierten darauf Bonbons, Orangen oder kleine Spielsachen herunterwarfen. Manchmal schütteten sie aber auch Konfetti über die Leute, Räppli, wie man in Basel sagt. Und die Frauen wurden mit Blumen, vor allem mit Mimosen, beglückt. Ein richtiges Fest bei strahlendem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Die Kinder durften ihre Wollmützen abnehmen.

Plötzlich entdeckte Thomas mitten in diesem Treiben eine kleine, ältere Frau mit graumelierten Haaren. Sie hatte einen Blindenstock dabei, wirkte aber nicht so, als sei sie wirklich blind. In ihrem rechten Arm hielt sie einen Teddybären mit grossen, braunen Augen. In ihrem Rucksack sass ein weiteres Stofftier, ein weisser Hase. Seine langen Ohren baumelten bei jedem Schritt hin und her. Thomas kannte die Frau. Sie sass oft in seinem Bus der Basler Verkehrsbetriebe. Sie tauchte auf allen möglichen Linien auf. Auf dem 36-er und dem 34-er war sie aber am häufigsten. Sie sass immer zuvorderst. Oft war sie stumm. Manchmal murmelte sie etwas vor sich hin. Einmal hatte Thomas sogar verstanden, was sie sagte: «Ich bin kein schlechter Mensch. Ich mach niemandem weh.» Wahrscheinlich wohnte sie in einem Heim. Denn es war offensichtlich, dass sie geistig behindert war.

«Schau, da ist diese Frau, von der ich dir schon mehrmals erzählt habe», sagte Thomas zu seiner Frau. In diesem Moment wollte ein jüngerer Mann der Frau helfen; denn sie war mitten in den Umzug geraten. Doch die Frau wehrte sich und trottete munter weiter. Immer mit dem Blindenstock voraus.

Thomas genoss den freien Nachmittag mit seiner Familie an der Fasnacht. Er war zwar Basler, aber nie ein aktiver Fasnächtler gewesen. Die Kinder zeigten diesbezüglich mehr Interesse. Vielleicht werden sie bald einmal in die Junge Garde einer der grossen Cliquen eintreten und pfeifen oder trommeln lernen.

Den Morgestraich um vier Uhr morgens, den Auftakt zur Basler Fasnacht, hatte Thomas im Bus erlebt. Sein Dienst hatte um 02.03 Uhr begonnen. Obwohl er am Vormittag ein bisschen geschlafen hatte, spürte er Müdigkeit aufkommen. Aber er wollte auf jeden Fall diesen Tag mit seiner Familie geniessen. Er liebte die Fasnacht. Er sammelte auch alle Zeedel, die Fasnachtsgedichte, die die Cliquen den Zuschauern in die Hände drückten, und las sie zu Hause.

Er schaute nochmals zur behinderten Frau: Sie befand sich ein gutes Stück weiter vorne in der Greifengasse und die Lampiohren des Hasen in ihrem Rucksack schaukelten weiterhin lustig hin und her. Thomas schmunzelte. Irgendwie mochte er diese Frau, auch wenn sie immer grimmig dreinblickte. Was war wohl los mit ihr? Warum war sie immer mit Stofftieren unterwegs? War es immer ein Bär und ein Hase? Sass normalerweise nicht ein kleiner Elefant in ihrem Rucksack? Thomas rührte dieser Anblick, diese Frau. Vielleicht war sie ja glücklich. Glücklich, ihre Stofftiere spazieren zu führen.

Ein Knall riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schreiende Menschen. Staub, Fetzen und allerlei Dinge flogen durch die Luft. Thomas packte seine Kinder und seine Frau und warf sich mit ihnen auf den Boden.

RESTAURANT ADLER, OCHSENGASSE, BASEL

Die Kleinbasler Beiz wurde durchgeschüttelt. Die Menschen, alles Kostümierte, die sich in den «Adler» gedrängt hatten, erstarrten. Die Bier- und Weingläser zitterten. Nur die Musikbox dröhnte weiter: «An Tagen wie diesen …» von der deutschen Rockgruppe die Toten Hosen hatte jemand gewählt.

Olivier Kaltbrunner sass mit Kollegen seiner Guggenmusik Ohregribler ganz hinten nahe der Theke. Sie hatten einen kurzen Marschhalt eingelegt. Kaltbrunner gönnte sich ein Bier. Es war nicht das erste. Das Wievielte es war, wusste er nicht. Aber das spielte an der Fasnacht auch keine Rolle.

«An Tagen wie…». Bis vor wenigen Augenblicken hatten noch etliche Gäste mitgesungen.

Jetzt zog jemand den Stecker. Doch still war es nur für einen Augenblick. Dann brach ein Tumult aus. Geschrei in der Gaststube, Leute drängten hinein. Andere rannten quiekend und brüllend vorbei Richtung Kaserne.

Kaltbrunner stand auf und bahnte sich mühsam einen Weg Richtung Ausgang. Es war ihm nicht wohl. Da draussen musste irgendetwas Dramatisches passiert sein. Obwohl er an der Fasnacht war und dafür Ferien genommen hatte – seinen Polizistenberuf konnte er in einem solchen Moment nicht vergessen. Vor allem nicht als Kommissär. Obwohl sein Team auch bestens ohne ihn funktionierte. Er ging hinaus in die Ochsengasse. Immer noch eilten ihm Menschen entgegen, andere rannten in die andere Richtung. Kaltbrunner marschierte los und gelangte zur Greifengasse. Dort sah er die ersten Menschen am Boden liegen und schreien. Polizei- und Sanitätssirenen kamen näher.

Kinder lagen am Boden. Kostümierte und Menschen in Zivilkleidung betreuten sie und riefen um Hilfe. «Sie werden gleich hier sein!», schrie Kaltbrunner. «Sie werden gleich hier sein! Ruhig bleiben. Bitte! Ich bin von der Polizei.»

Und dann passierte etwas, was ihm in seiner ganzen bisherigen Polizeikarriere noch nie passiert war: Er begann zu weinen.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Ich liebe diese beschissene Fasnacht», schrie Jonas Haberer durch die ganze Redaktion. «Alle herkommen! Sofort! Das ist ein verdammter Befehl, Leute! Wir machen Fasnacht! Das ganze Blatt wird neu! Online-Fuzzis daher! Es gibt Arbeit. Pescheli, leg los!» Klack – klack – klack, und der Chefredaktor fläzte sich auf einen Stuhl und strich sich durch die halblangen, fettigen Haare.

«Es ist eine für schweizerische Verhältnisse ungewöhnlich dramatische Katastrophe passiert», begann Peter Renner. «Mach’s nicht so spannend, Pescheli. In Basel ist an der Fasnacht eine Bombe explodiert. Wie viele Tote gibt es?»

«Bisher ist nur von einem Toten die Rede. Mehrere Verletzte.»

«Waaas?», schrie Haberer. «Nur ein Toter? Was war denn das für ein beschissenes Bömbchen? Ein gepimpter Frauenfurz?» Haberer lachte schallend und schüttelte sich. «Jonas!», schrie Peter Renner, was alle Journalisten zusammenzucken liess. Peter Renner war nicht der Typ, der laut wurde. Und vor allem getraute sich niemand, den Chefredaktor anzuschreien. «Es reicht. Du kennst wohl überhaupt kein Mitgefühl?»

«Sorry», sagte Jonas kleinlaut. «Mach weiter.»

«FotografJoël Thommen ist bereits vor Ort. Erste Bilder sollten demnächst eintreffen. Alex Gaster, Flo Arber und Sandra Bosone sind auf dem Weg nach Basel.»

«Womit?», wollte Haberer wissen. «Mit der Schweizerischen Dampfeisenbahn?»

«Mit dem Helikopter.»

«Verdammt, Pescheli, du bist mein Held. Ich sehe dir an, dass du wieder mal deinem Übernamen gerecht wirst. Die Zecke hat sich bereits in den Fall verbissen. Ach, was würde ich ohne dich machen? Mit dem Helikopter! Geil, geil, geil! Wie früher zur guten alten Reporterzeit!»

«Ja, sie sind bald vor Ort. Dann suchen wir Zeugen. Leute, die die Explosion fotografiert und gefilmt haben.»

«Wann können wir das alles aufschalten?»

«Im Moment haben wir noch gar nichts, Jonas.»

«Sie sollen den Finger aus dem Arsch nehmen, sag ihnen das!»

«Die werden alles bringen, Jonas, alles. Und wenn sie die Leute dazu unter Druck setzen müssen.»

«Ich hoffe, sie haben genug Geld dabei. Der Preis ist heiss. Irgend so ein Idiot, der sich diese Scheiss-Fasnacht angeguckt hat, wird doch das Explosiönchen gefilmt haben. Ha! Kauft die Leute, stopft ihnen die Tausender in den Arsch! Meine Güte, wie ich diese Scheiss-Fasnacht liebe!» Die Journalisten lachten gequält. Einige schüttelten den Kopf. Doch die meisten waren an solche Anfälle ihres Chefs gewöhnt.

GREIFENGASSE, BASEL

Erst jetzt merkte Kommissär Olivier Kaltbrunner, dass er aufgrund der getrunkenen Biere nicht im Vollbesitz seines Denkvermögens war. Zudem stand er in einem giftgrünen Insektenkostüm mit giftgrünen Krallenfüssen aus Plastik am Tatort, da sich seine Guggenmusik «Heuschrecken-Diebe» als Sujet gewählt hatte – Diebesbanden aus Osteuropa, die in einer Nacht ein ganzes Dorf heimsuchten und die Häuser leerräumten. Er kam sich unter all den uniformierten Leuten der Polizei und Sanität ziemlich deplatziert vor. Unbehagen bereitete ihm zudem die Anwesenheit von Staatsanwalt Hansruedi Fässler, seinem Vorgesetzten. «Da sind Sie ja», sagte Fässler und reichte Kaltbrunner die Hand.

«Sorry für mein Kostüm, ich bin eben aktiver …»

«Vergessen Sie’s. Gut, dass Sie hier sind. Ich brauche Sie.»

«Moment», sagte Kaltbrunner. «Ich bin rein zufällig hier und habe ein bisschen geholfen, den Einsatz zu organisieren. Aber jetzt sind ja alle da, und ich möchte mich zurückziehen.»

«Kaltbrunner, das geht nicht.» Staatsanwalt Fässler schaute Kaltbrunner mit grossen Augen an. «Das hier ist ein Bombenattentat. Das wird europaweit für Schlagzeilen sorgen. Wir müssen den Fall schnellstmöglich klären. War das ein Einzeltäter? Ein Amokläufer? Ein Wahnsinniger? Oder war es ein Terroranschlag? Islamisten? Mannomann. Hoffentlich nicht. Wenn ich an die Anschläge auf die Satirezeitschrift in Paris denke. Oder an all die anderen Attentate. Bitte nicht! Sonst haben wir nie mehr unsere Ruhe!»

«So, so», machte Olivier Kaltbrunner. Wie immer wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. «So, so. Ein Amokläufer … oder Terroristen …»

«Könnte doch sein. Also, nehmen Sie die Arbeit auf! Die Fasnacht ist sowieso zu Ende.»

«So, so.» Der Kommissär entdeckte seinen Kollegen Giorgio Tamine und liess den Staatsanwalt stehen. «Hey.»

«Hey. Scheisse, was?», sagte Tamine. «Kaum hat die Fasnacht angefangen, ist sie …»

«Es ist gut, Giorgio!», unterbrach ihn Kaltbrunner. Er schaute um sich und stellte fest, dass sich die Panik gelegt hatte. Er wandte sich wieder Tamine zu: «Hast du schon etwas gefunden, das irgendwie auf eine Bombe hin…?»

«Ja», unterbrach ihn Tamine. «Leichenteile, Fetzen von Kleidungsstücken, von Plüschtieren und von einem Rucksack. Und ein von der Hitze verbogener Blindenstock. Die Tote war offensichtlich blind. Oder tat so. Ziemlich sicher handelt es sich um eine Selbstmordattentäterin.»

«Eine Frau? Das wisst ihr schon?»

«Komm!» Tamine führte Kaltbrunner zu einem weissen Polizeizelt. Weissgewandete Menschen begutachteten Menschenteile. «Hey», sagte Kaltbrunner. «Was wisst ihr bereits?»

«Eine Frau um die fünfzig.» Kaltbrunner erkannte den Kollegen der Gerichtsmedizin wegen des Ganzkörperanzugs mit Gesichtsschutz nicht. «Darf ich mal?», fragte Kaltbrunner.

«Klar. Ist aber kein schöner Anblick.» Der Gerichtsmediziner hob das blutdurchtränkte, weisse Tuch an. Kaltbrunner sah die Fragmente eines Gesichts. «Sofort tot?», fragte er.

«Ist anzunehmen.»

«Die einzige Tote?»

«Ja. Die Verletzten werden es wohl überleben. Jedenfalls haben die Sanitäter einen gefassten Eindruck gemacht.»

«Okay, danke.»

«Verdammte Scheisse, was?»

Olivier Kaltbrunner antwortete nicht. Er verliess das Zelt und bat seinen Kollegen Tamine um eine Zigarette.

«Klar.» Kaltbrunner inhalierte tief und fragte sich, wie er bloss siebzehn Jahre darauf hatte verzichten können.

MITTLERE BRÜCKE, BASEL

Alex Gaster, Flo Arber und Sandra Bosone fragten praktisch jeden, der die hermetisch abgeriegelte Zone verliess und an ihnen vorbeiging: Haben Sie Fotos vom Attentat? Haben Sie eine Videoaufnahme? Der Erfolg ihrer Recherchen war so gross, dass es fast schon ein bisschen langweilig war. Jeder Zweite hatte irgendein brauchbares Bild der Explosion. Allerdings fehlte das ultimative Bild, das ultimative Video: die Aufnahme der Explosion selbst. In Anbetracht der vielen Medienleute, inklusive Schweizer Fernsehen, das den fasnächtlichen Umzug live gesendet hatte, war die Wahrscheinlichkeit einer spektakulären Aufnahme in diesem Fall besonders hoch. Schliesslich erwarteten Nachrichtenchef Peter Renner und Chefredaktor Jonas Haberer spektakuläre Bilder, die über sämtliche Newskanäle der Welt laufen würden.

Sandra Bosone bekam sie um den Preis eines charmanten Lächelns. Ein Passant war dermassen verstört, dass er sie nicht nur das komplette Video der Explosion und der in Panik flüchtenden Menschenmassen kopieren, sondern sich auch noch fotografieren und zu dramatischsten Aussagen überreden liess. Joël Thommen lichtete ihn ab, nahm sein Handy an sich und löschte nach dem Kopiervorgang auf sein eigenes Smartphone sämtliche Bilder und Videos, damit der Mann keinem anderen Reporter seine Aufnahmen weitergeben und sie auch nicht auf Facebook, Twitter, Instagram oder Youtube hochladen konnte.

«Aktuell» hatte sie exklusiv. Was für ein Hammer!

GREIFENGASSE, BASEL

«War es also einfach eine Verrückte? Keine Terroristin?»

«Das kann ich Ihnen unmöglich sagen», antwortete Olivier Kaltbrunner auf die Frage des Staatsanwalts, der ihn zum vierten Mal zu einer Stellungnahme drängte. «Der Regierungsrat setzt mich unter Druck. Müssen wir die Fasnacht absagen?»

«Wie wollen Sie das machen?»

«Verbieten.»

«Die Fasnacht wird sich von selbst absagen. Oder eben nicht.»

Am Ort der Explosion wimmelte es von weissgewandeten Spezialisten der Spurensicherung. Normalerweise tobte um diese Zeit – es war 17.35 Uhr und ziemlich dunkel – die Fasnacht. Doch jetzt waren nur einzelne Piccolo- oder Guggenklänge zu hören. Dafür brummten mehrere Dieselaggregate, die Strom für die Beleuchtung des Tatorts erzeugten. Und über der Stadt kreisten mehrere Polizeihelikopter.

«Müssen wir weitere Anschläge erwarten?», wollte der Staatsanwalt wissen. «Keine Ahnung», antwortete Kaltbrunner mürrisch.

«Verdammt.»

Kaltbrunner blickte in Richtung Mittlere Brücke. Dort waren die Kameras des Schweizer Fernsehens postiert, die den Umzug live übertragen hatten. «Habt ihr die Medien im Griff?», fragte Kaltbrunner.

«Ja, das Schweizer Fernsehen hat die Live-Übertragung abgebrochen.»

«Aber die filmen doch sicher! Wo sind die anderen Journalisten?»

«Die haben wir alle weggeschickt.»

«So, so», machte Kaltbrunner. Und dachte: So ein Blödsinn. Journalisten sind immer und überall anwesend.

MITTLERE BRÜCKE, BASEL

Nachdem Sandra Bosone, Flo Arber und Alex Gaster die Bilder und Videos an die Redaktion gemailt hatten, sagte Sandra: «Auf geht’s! Wir müssen uns aufteilen. Wer geht zum Regierungsratspräsidenten? Wer geht ins Spital, um die Verletzten zu interviewen? Wer kämpft sich zum Tatort vor?»

«Ich mache den Präsidenten», meldete sich Flo sofort. Er war eigentlich Wirtschaftsjournalist und hatte wenig Freude an klassischer Boulevard-Arbeit. «Okay!», bestätigte Sandra und schaute Alex an.

«Ich kämpfe mich vor.»

«Gut, dann schau ich, was ich im Spital erreichen kann. Ich schreibe unserem Chef eine Mitteilung. Viel Glück, Jungs.»

«Viel Glück», wünschten auch Flo und Alex. Das Team trennte sich. Während Sandra und Flo mit schnellen Schritten verschwanden, blieb Alex nach wenigen Metern an der Polizeisperre hängen. Kein Zutritt, für niemanden. Alex zückte seinen Presseausweis. Der Polizeibeamte warf nur einen flüchtigen Blick darauf und schickte Alex weg. Er solle sich an die Medienstelle wenden. Alex trottete davon und lümmelte rund fünfzig Meter vor der Sperre herum. Nach fünf Minuten sah er eine Chaise kommen, eine Fasnachtskutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde. In der Chaise sassen vier Damen. Der Kutscher steuerte direkt auf die Polizeisperre zu. Alex rannte zum Wagen, öffnete die Türe und sprang in die Kutsche. «Sorry, mein kleiner Sohn irrt da drüben im Kleinbasel herum, und diese Idioten lassen mich nicht durch.» Die Damen waren völlig überrumpelt. Nicht nur wegen Alex, sondern auch wegen der ganzen gespenstischen Szenerie. Sie liessen Alex gewähren. Er schnappte sich eine Maske und zog sie an. Sie stank nach Schminke und süssem Parfum. Durch die Augenschlitze sah er, dass der Kutscher stoppte und mit einem Polizisten sprach. Alex verstand nur «Pferde sind störrisch», «zurück zur Kaserne», «sofort».

Dann ging die Fahrt weiter. Die Hufe der Pferde klapperten auf dem Asphalt. Am Brückenkopf auf der anderen Seite des Rheins bog der Kutscher links ab. Alex nahm die Larve vom Kopf, bedankte sich und sprang aus dem Wagen. Er hörte, wie ihm die Damen nachriefen, dass er seinen Sohn sicherlich finden werde.

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

Kilian Derungs sass in seinem Büro, einem halbrunden Erkerzimmer, und schaute abwechselnd auf den Fernsehmonitor an der Wand und den Computerbildschirm. Im Fernsehen wurde live über die Bombenexplosion in Basel berichtet, wobei vom eigentlichen Ereignis nicht viel zu sehen war. Es wurden vor allem immer wieder flüchtende Fasnächtler und Passanten gezeigt, eintreffende und abfahrende Ambulanz- und Polizeifahrzeuge, mehrere Helikopter, die über Klein- und Grossbasel kreisten und dazwischen unscharfe Bilder eines Hobbyfilmers, der von einer Terrasse aus die Explosion gefilmt haben wollte. Allerdings war fast nichts darauf zu erkennen ausser einem braunen Etwas, das, so erklärte der Sprecher, eine Staubwolke aus Dreck und Konfetti sei.

Am PC klickte sich Kilian Derungs durch die diversen Online-Portale und entdeckte schliesslich auf «Aktuell»-Online gestochen scharfe Bilder des Fasnachtsumzugs. Ebenso perfekt war der Ton. Pfeifende und trommelnde Fasnächtler in Kostümen, die farbig und fröhlich aussahen, worüber Kilian Derungs sich allerdings nicht freuen konnte. Er wartete auf den Moment 01:22 – an dem die Explosion laut Anrisstext der «Aktuell»-Re- daktion stattfinden sollte. Und tatsächlich: Etwa zwanzig Meter vom Filmer entfernt war ein kleiner Feuerball zu sehen, begleitet von einem lauten Knall. Dann waren Schreie zu hören, das Bild war komplett verwackelt, ein mit Konfetti übersäter Boden war zu erkennen, rennende Füsse, dann ein Schwenk nach oben gegen den Himmel, dann Menschen, die davonrannten, dann wieder ein wildes Durcheinander. Schliesslich wurde es schwarz, und das Video war zu Ende.

Kilian Derungs ging zu seinem Giftschrank, wie er die antike Kommode nannte, holte sich ein grosses, bauchiges Glas hervor und schenkte sich einen Cognac Camus XO Elégance ein, schwenkte das Glas, liess den bernsteinfarbenen Edelweinbrand kreisen und roch den leichten Duft nach Vanille, der für diesen Cognac charakteristisch war. Er nahm einen Schluck. Dann lächelte er zufrieden, setzte sich und schaute sich das Video auf «Aktuell»-Online noch einmal an.

GREIFENGASSE, BASEL

Wie ein Kriegsreporter hielt Alex Gaster seine Fotokamera vor sich und schlich an den Sanitäts- und Polizeiwagen und den aufgebauten Zelten vorbei. Alex spähte hinein und sah, wie Menschen sich umarmten oder an Tischen sassen und redeten. Alex war sich sicher, dass es sich um Care-Teams handelte, die Opfer und Angehörige betreuten. Alex machte einige Aufnahmen und ging weiter. Schliesslich erreichte er das Zentrum der Katastrophe. Er fotografierte die weissen Menschen, die hinter den Absperrbändern auf den Knien mit allerlei technischen Geräten nach Spuren suchten. Alex entdeckte die zerborstenen Schaufenster des Warenhauses Manor und fotografierte sie. «Wer sind Sie?», fragte plötzlich eine Stimme. Alex drehte sich um und blickte in das grimmige Gesicht eines Polizisten.

«Ich suche meine Frau, also meine Freundin.» Alex versuchte, so traurig wie möglich dreinzuschauen.

«Gehen Sie zu diesem Zelt. Dort ist ein Care-Team. Das hilft Ihnen weiter. Hier können Sie nicht bleiben.»

Glück gehabt, dachte Alex und war froh, dass er nicht seinen Sohn, den er in Wirklichkeit gar nicht hatte, sondern seine Lebensgefährtin erwähnt hatte. Wie geheissen, ging er Richtung Zelt, entdeckte dann aber einen Fasnächtler in einem giftgrünen Heuschrecken-Kostüm, der mit einem Mann sprach, der einen Cashmere-Mantel trug. Er fotografierte die beiden aus sicherer Distanz mit dem Gefühl, dass die beiden irgendeine wichtige Funktion hatten. Dann steckte er die Kamera in seine Tasche. Er rannte los. Er schrie: «Wo ist meine Frau? Wo ist meine Frau? Ist sie tot?»

Alex lief direkt auf die Heuschrecke und den Mann im Cashmere-Mantel zu: «Hilfe!» Die Heuschrecke reagierte zuerst. Sie kam ihm entgegen und sagte mit angenehm sonorer Stimme: «Beruhigen Sie sich. Ich bin Kommissär Kaltbrunner. Sie suchen Ihre Frau?»

«Ja, ist sie tot? Ist sie tot? Sagen Sie es mir, bitte!»

«Nein, nein, sie ist sicher nicht tot. Es gab keine Toten ausser der Attentäterin.»

«Ich muss die Tote sehen, vielleicht ist es meine Frau. Wer ist die Attentäterin? Wo ist sie?»

«Beruhigen Sie sich. Ich begleite Sie zu unserem Care-Team!»

«Ich brauche keine Scheiss-Psychologen. Ich brauche meine Frau! Mara, wo bist du?» Alex schrie aus Leibeskräften und liess sich dabei auf die Knie fallen: «Mara!»

«Hören Sie, Ihre Frau ist nicht tot. Die Frau, die getötet wurde, muss um die fünfzig gewesen sein, das konnten die Gerichtsmediziner bereits feststellen. Ich nehme nicht an, dass Ihre Frau so alt ist. Zudem gehen wir davon aus, dass es sich um eine geistig behinderte Frau handelt.»

«Sie müssen diese verdammte Fasnacht abstellen, bitte!»

«Ja, wir werden versuchen, sie abzustellen. Aber jetzt kommen Sie bitte mit.»

Alex liess sich von der Heuschrecke mit dem Namen Kaltbrunner hochziehen und versuchte, Tränen in die Augen zu drücken, was ihm aber nicht gelang. Dafür stöhnte er laut.

«Gehen wir?», fragte Kaltbrunner. «Ja, ich gehe. Ich gehe ins Spital. Wo muss ich mich melden?» Alex riss sich los und rannte Richtung Zelt des Care-Teams. Er blickte zurück und sah, wie sich die Heuschrecke wieder dem Mann im Cashmere-Mantel zuwandte. Dann rannte er Richtung Claraplatz und passierte die Polizeisperre ohne Probleme. Er rannte über den ganzen Platz und stoppte erst beim Restaurant Holzschopf. Er kramte sein Handy hervor und rief seinen Chef Peter Renner, die Zecke, an. Zehn Minuten später piepste sein Smartphone und meldete eine Breaking-News der «Aktuell» -App: «Attentäterin ist tot. Es soll eine geistig behinderte Frau um die fünfzig sein. Polizei will Basler Fasnacht abbrechen.» Nach wenigen Minuten piepste sein Handy mehrmals: Die anderen Online-Portale hatten die neuste Information ebenfalls per Breaking-News-App verbreitet und sich auf «Aktuell»-Online berufen.

Dann ging er den Claragraben entlang zum Wettsteinplatz, verliess das fasnächtliche Getümmel, erreichte die Grenzacherstrasse, wo Busse der Basler Verkehrsbetriebe standen und von Fasnächtlern und Besuchern gestürmt wurden. Alle wollten so schnell wie möglich aus der Innerstadt hinaus. Alex ging weiter und sah die ersten TV-Übertragungswagen, die mit «International Broadcast» oder mit bekannten TV-Stationen wie «ZDF» oder «Südwestfunk ARD» angeschrieben waren. Alle Katastrophen-Reporter waren da. Aber er, Alex Gaster, hatte gewonnen. Seine News über die Attentäterin war exklusiv. Wenigstens für kurze Zeit. Bald würde irgendein anderer Reporter eine neue Exklusivität vermelden.

CLARAPLATZ, BASEL

Auch Joël Thommen hatte die «Aktuell»-App abonniert und musste feststellen, dass sein Kollege Alex die Nase vorn hatte. Er war zwar als einer der ersten Reporter vor Ort gewesen, aber er war entweder am falschen Ort gewesen oder an die falschen Leute geraten. Vielleicht hatte er einfach Pech gehabt, oder er war zu wenig abgehärtet und brutal für solche Einsätze. Er war eigentlich ein Promi-Fotograf, für die Boulevard-Zeitung «Aktuell» war er erst seit Kurzem im Einsatz.

Die vielen Anrufe seines Chefs Peter Renner waren wenig erbaulich. Mach das und dies, hatte dieser ins Telefon gebrüllt. Aber für Joël war an jeder Polizeisperre Ende. Er hatte zwar viele Fotos geschossen und Videos gedreht, aber, und das wusste er, mit diesen Aufnahmen konnte er keinen Blumentopf gewinnen. Er war frustriert. Bis er hörte, wie ein Mann einem anderen Mann erzählte, er habe gesehen, dass eine Frau mit Stofftieren förmlich explodiert sei.

Als Joël den Mann ansprach, stellte sich dieser als Thomas Neuenschwander vor und erzählte, ohne dass ihn Joël danach fragte, dass er die Frau gekannt habe, die mehr oder weniger vor ihm explodiert war. Er sei Buschauffeur bei den Basler Verkehrsbetrieben und habe die Frau schon mehrfach in seinem Wagen gehabt. Sie sei eigentlich nett. Sie habe immer gesagt, sie würde nie jemandem etwas zu Leide tun. Und sie habe immer Stofftiere dabei gehabt. Im Arm einen Teddybären, im Rucksack einen Elefanten. Aber heute sei ein Hase im Rucksack gewesen, was ihn gewundert habe. Dann sei der Hase explodiert.

Joël notierte alles und machte ein Foto von Thomas Neuen- schwander. Dann rief er Peter Renner an, der an diesem Tag zum ersten Mal ein gutes Wort für ihn übrig hatte: «Gut gemacht!»

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

«Die Aktion ist bestens angelaufen, wie ihr sicherlich den Medien entnommen habt», tippte Kilian Derungs. «Wir starten Phase zwei.» Er klickte auf Senden. Rund fünfundzwanzig Empfänger in aller Welt, hauptsächlich aber in Europa, würden in diesem Augenblick die Nachricht empfangen. Wie ein Mail. Es war ja irgendwie auch ein Mail. Aber eben: Nur irgendwie. Kilian Derungs gönnte sich einen zweiten Cognac.

HOTEL BASEL, BASEL

Im fasnächtlichen Bermudadreieck rund um das Hotel Basel, am Fusse des Spalenbergs, hatte sich um 21.55 Uhr etwas wie eine Fasnachtsvollversammlung gebildet. Hunderte von Fasnächtlern standen da und diskutierten aufgeregt, wie es nun weitergehen solle.

Zuvor hatten sich die Regierung, die Staatsanwaltschaft, die Polizei und das offizielle Fasnachts-Comité an einer gemeinsamen Medienorientierung dafür ausgesprochen, die Fasnacht sofort abzubrechen. Da man sich bewusst sei, dass ein eigentliches Fasnachtsverbot kaum durchzusetzen wäre, handle es sich um eine dringende Empfehlung. Bis die grauenhafte Tat, die eine Tote und fünfunddreissig Verletzte gefordert habe – darunter dreizehn Kinder und Jugendliche – geklärt sei, müsse man mit erhöhter Terrorgefahr rechnen. Per sofort werde ein Grossaufgebot des Nordwestschweizer Polizeikonkordats im Einsatz stehen. Diskutiert werde auch, ob die Schweizer Armee zur Unterstützung angefordert werden solle. Kommissär Kaltbrunner hatte sich gegen den Ausdruck «Terrorgefahr» gewehrt, weil er nicht an einen Terroranschlag glaubte. Aber Staatsanwalt Fässler wollte es so. Kaltbrunner vermutete, dass Fässler sich damit profilieren wollte, immerhin wäre er dann ein Terroristenjäger.

Vor dem Hotel Basel waren die Meinungen über den Fasnachtsabbruch geteilt. Die einen standen unter Schock oder hatten Angst, die anderen wollten sich von einer Amokläuferin oder einer Terroristin oder einer gestörten Alten nicht einschüchtern lassen. Schliesslich sei die Basler Fasnacht schon immer etwas Aufmüpfiges gewesen, ein Ventil des Volkes gegen die Obrigkeit. Was das mit der jetzigen traurigen Lage zu tun habe, fragten die anderen.

Um 23.39 Uhr kam es fast zu einer Schlägerei, weil ein Politiker aufgetaucht war, dessen Name zwar niemand wirklich kannte, der aber auf eine Festbank vor dem Hotel Basel gestiegen war und schrie, dass die Fasnacht unbedingt weitergehen müsse, man solle auch an das lokale Gastgewerbe denken, dessen Verdienstausfall bei einem vorzeitigen Ende der Fasnacht viele Betriebe in den Ruin treiben würde.

Daraufhin wurde der Mann von mehreren Männern attackiert. Der Kerl konnte aber ins Innere des Hotels Basel flüchten und getraute sich nicht mehr hinaus. Um 23.55 Uhr leerte sich der Platz. Es waren aber immer noch einzelne Trommel- und Pfeiferklänge zu hören. Auch eine Guggenmusik zog irgendwo durch die Strassen.

«Respektlose Arschlöcher», sagte ein Mann in einem Ueli-Kostüm mit vielen kleinen Schellen daran. Er ging bimmelnd und fluchend den Spalenberg hinauf.

23. Februar

INNERSTADT, BASEL

Buschauffeur Thomas Neuenschwander war seit 05.46 Uhr auf der Linie 34 im Einsatz. Die Greifengasse war wieder freigegeben. Spuren des Anschlags waren kaum noch zu sehen. Bloss die Markierungen der Polizei waren noch deutlich erkennbar. Ansonsten sah die Stadt so aus wie fast jeden Morgen: verschlafen und sauber geputzt. In den Kleinbasler Beizen hingen noch einige Fasnächtler herum. Im Grossbasel war von Fasnacht fast gar nichts zu merken. Auffällig waren nur die vielen Polizisten, die auf Streife waren.

Im Radio gingen ab sechs Uhr auf den lokalen und nationalen Sendern die Diskussionen los, wie es in Basel nach der nach wie vor ungeklärten Tat weitergehen solle.

Ab sieben Uhr stiegen in den Vorortsgemeinden, die vom 34er-Bus bedient wurden - Riehen, Binningen und Bottmingen - die ersten Kostümierten in Neuenschwanders Bus. Sie sahen ziemlich frisch aus. Thomas war sich sicher, dass sie zu Hause geschlafen hatten, um nun den zweiten Tag Fasnacht in Angriff zu nehmen. Aus dem von den Behörden ausgerufenen, freiwilligen Fasnachtsverzicht wird wohl nichts, dachte Thomas.

Kurz nach neun Uhr hatte er Pause. Er holte sich eine «Aktuell» aus einem Zeitungskasten und las die Berichterstattung über das Attentat von Basel. Seine Stellungnahme gegenüber dem Reporter Joël Thommen war Teil eines doppelseitigen Artikels. Beim Lesen blieb er an der Stelle hängen, an der er zitiert wurde, dass er sich gewundert habe, warum die geistig behinderte Frau für einmal keinen Plüschelefanten im Rucksack gehabt habe, sondern einen Hasen. Auch jetzt empfand er dies nach wie vor als sehr seltsam, denn er hatte die Frau in all den Jahren noch nie ohne den Elefanten gesehen. Das Stofftier war auch dementsprechend abgewetzt und schmutzig. Er überlegte sich, ob er das der Polizei mitteilen solle.

Als er anrief, wunderte er sich ein bisschen, weshalb der Beamte am Telefon sagte, die Staatsanwaltschaft habe ihn bereits gesucht, man müsse sich sofort treffen, ob er in den Waaghof an der Heuwaage kommen könne, er solle sich umgehend bei Kommissär Olivier Kaltbrunner melden. Das gehe nicht, er müsse in einer halben Stunde an der Schifflände auf die Linie 36. Darüber solle er sich keine Sorgen machen, man werde das mit den Basler Verkehrsbetrieben organisieren.

Neuenschwander erkundigte sich trotzdem zehn Minuten später beim Personaldisponenten der Leitstelle. Dieser bestätigte: «Die Polizei hat mehrfach angerufen. Wir wollten dich anfunken oder gleich ablösen, sobald du den zweiten Dienstteil in Angriff genomm…»

Thomas klickte den Disponenten weg und schlenderte über die Mittlere Brücke. Es wehte ein leichter Wind, der Himmel war bedeckt, aber – das hatte Thomas in den Nachrichten des Lokalsenders Basilisk gehört - es sollte trocken bleiben, teilweise könnte sich sogar die Sonne durchsetzen. Was für ein tolles Wetter für die heutige Kinderfasnacht und die abendlichen Guggenkonzerte. Vorausgesetzt, die Fasnacht würde überhaupt weitergehen.

Thomas blieb beim Käppelijoch, der kleinen Kapelle in der Mitte der Brücke, stehen und schaute, ob auch dieses Jahr eine Fasnachtsfigur darin platziert worden war. Ja, es war eine alti Dante, eine alte Frau, eine klassische Figur der Basler Fasnacht. Sie war allerdings kaum zu sehen. Denn an den Gitterstäben vor der Figur hingen unzählige Liebesschlösser, von Verliebten, die ein Schloss mit ihren Namen am Gitter festmachten und den Schlüssel in den Rhein warfen. Neuenschwander fand diesen Brauch albern.

«Neuenschwander?», rief jemand. Thomas drehte sich um. Ein Polizeiauto hatte angehalten. Ein Mann, nicht all zu gross, mit rundlichem Kopf und einer Brille mit feinem Goldrand stieg aus und kam auf ihn zu: «Herr Neuenschwander?».

«Ja …»

«Ich bin Olivier Kaltbrunner, Kommissär. Wir haben mit Ihnen telefoniert.»

«Ja …»

«Wie geht es Ihnen?» Der Mann nahm seine feine, goldene Brille von der Nase und schaute ihn mit grün-blauen Augen freundlich an. Der Mann hat etwas Sympathisches an sich, dachte Thomas. «Es geht gut.»

«Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich an den Claraplatz fahren und Sie uns schildern, was Sie wie gesehen haben? Sie können uns damit ganz gewaltig helfen.»

«Meinen Sie?»

«Natürlich. Sie sind derzeit unser wichtigster Zeuge.»

Thomas konnte es nicht fassen, dass er plötzlich so wichtig war. Er kramte sein Handy hervor und wollte seine Frau anrufen. Doch der Kommissär schaute ihn immer noch an. Deshalb liess er es bleiben und stieg mit dem Kommissär in den Wagen.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Peter Renner sass in seiner Nachrichtenzentrale und starrte auf den mittleren Bildschirm der drei Monitore auf seinem Pult. Renner sass bereits seit sechs Uhr hier und hatte mittlerweile rund dreissig Zeitungen aus dem In- und Ausland gelesen. Nun überprüfte er die grössten News-Portale im Web auf irgendwelche Informationen, die er noch nicht hatte.

Peter Renner sass reglos da. Sein massiger Körper und sein kleiner Kopf bewegten sich kaum. Nur sein rechter Zeigefinger, der die Computermaus bediente, regte sich ab und zu, die Augen folgten den Buchstaben und Zeilen, hin und her. Peter Renner hatte seinen Übernamen nicht umsonst: Die Zecke lauerte auf Nachrichten, in die sie sich reinbeissen konnte.

Das grosse Thema war in allen Medien der Bombenanschlag an der Basler Fasnacht. Einig waren sich die Journalisten, dass es eine Katastrophe war. Uneinig dagegen, ob es sich um einen Terrorakt oder einen Amoklauf handelte. «Aktuell» war die einzige Zeitung, die dank Renners Reportern Alex Gaster und Joël Thommen Informationen hatte, die auf die Tat einer geisteskranken Frau hinwiesen. Diese wurden von den Nachrichtenagenturen, die ständig neue Meldungen verbreiteten, vielfach zitiert.

Da die offiziellen Mitteilungen der Basler Behörden sehr dürftig waren, hatten viele Medienleute Experten befragt. Peter Renner hatte diese sogenannten Strategieexperten alle schon am Vorabend auf diversen Fernsehstationen gehört und gesehen. Ihre Aussagen waren aber vage. Auch in Interviews mit Zeitungs- und Online-Journalisten waren sie nicht konkreter geworden. Doch die Tendenz war klar: Mit dieser «unfassbar grausamen» Tat habe der Terror endgültig die Schweiz erreicht. Oft waren die Fragen so gestellt, dass es genau darauf hinauslief. Beispielsweise wurde ein Vergleich mit dem fürchterlichen Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo angestrebt, weil die Basler Fasnacht ja auch aktuelle und brisante Themen karikiere. Einige Experten nahmen diesen Zusammenhang dankbar auf. Natürlich wollte niemand vordergründig auf Panik machen, aber dass nun selbst die heile und friedliche Schweiz nicht mehr von Terroranschlägen verschont wurde, war einfach eine zu ungeheuerliche Tatsache – da konnten selbst seriöse und besonnene Journalisten nicht widerstehen, die Tat in den Kontext des internationalen Terrors zu stellen. Viele Kommentatoren kamen zum Schluss: Nun hat der Terror die Schweiz erreicht.

Peter Renner zweifelte daran und nahm sich vor, seine Reporter heute auf die vermeintliche Attentäterin anzusetzen beziehungsweise auf deren Umfeld. Wenn es eine Geisteskranke war, dann müsste es für seine Leute ein Leichtes sein herauszufinden, was da passiert und wie sie zu dieser Bombe gekommen war.

Um 09.52 Uhr, acht Minuten vor der grossen Redaktionssitzung, rief er Sandra Bosone an, die eigentlich Politik-Journalistin war, sich wegen dem Anschlag aber immer noch in Basel aufhielt. «Hey, wie weit bist du?», wollte Renner wissen. «Hast du mit Verletzten reden können?»

«Nein, noch nicht.»

«Scheisse, warum nicht?»

«Ins Spital kommt man nicht rein. Zu viel Polizei und Security.»

«Kauf dir einen Doktorkittel und ein Stethoskop! Dann versuchst du es nochmals! Das Zeug kannst du in einem Geschäft am Bernoullianum … ach, wie heisst das dort? … da, wo diese Wissenschaftlerin ihr Zeugs holte, als damals dieses Virus ausgebrochen war … Warte kurz …» Renner googelte sich auf dem rechten Monitor durch die Basler Läden für Spitalbedarf. «Klingelbergstrasse. Dort kannst du solche Sachen kaufen.»

«Und was soll ich damit?»

«Was wohl?! Sandra, wo ist dein Problem?

«Ich mach das nicht.»

«Aussergewöhnliche Storys brauchen aussergewöhnliche Recherchen.»

«Das kannst du nicht von mir verlangen.»

«Und ob. Keine Diskussion jetzt!»

«Peter, ich gebe mich nicht als Ärztin …»

«Ende der Diskussion, Sandra!», sagte Renner in seinem gefürchteten Befehlston. «Oder muss dich unser Kotzbrocken Haberer darum bitten?»

«Sehr witzig», kommentierte Sandra und brach die Verbindung ab.

In diesem Augenblick flog die Türe zum Newsroom auf: Klack – klack – klack! Chefredaktor Jonas Haberer tappte herein und schlug Renner mehrfach auf die linke Schulter: «Ha! Hast von mir, dem Kotzbrocken, geredet, was, Pescheli? Um deinen Sklaven Beine zu machen? Das gefällt mir!» Er schlug noch einmal auf Renners Schulter, diesmal so heftig, dass die Zecke am ganzen Körper bebte.

CLARAPLATZ, BASEL

«So, so», murmelte Olivier Kaltbrunner immer wieder. Manchmal machte er auch nur «Hmm, Hmm.» Der Kommissär hörte der Schilderung des Buschauffeurs Thomas Neuenschwander aufmerksam zu. Manchmal nahm er die Brille von der Nase, setzte sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Sein Kollege Giorgio Tamine machte Notizen.

Neuenschwander erzählte, dass er die geisteskranke Frau schon mehrfach im Bus gehabt habe. Sie sei immer friedlich gewesen, auch wenn sie manchmal leise geflucht habe. Er konnte auch eine ziemlich gute Personenbeschreibung abgeben: kleine, rund fünfundfünfzigjährige Frau, kurze, graumelierte Haare.

«So, so», machte Kaltbrunner. Das, was von der Leiche übriggeblieben war, passte auf die Frau, von der Buschauffeur Neuenschwander erzählte. «Geht es noch?», fragte Kaltbrunner plötzlich. «Oder brauchen Sie eine Pause?»

Der Buschauffeur schaute etwas verdutzt, sagte dann aber: «Nein, alles klar. Was wollen Sie noch wissen?»

«Erzählen Sie mir von den Stofftieren, die die Frau immer dabei hatte.» Neuenschwander schilderte so genau wie möglich, dass die Frau normalerweise immer einen Bären und einen Elefanten mit sich trug und sich mit den beiden unterhielt. Gestern sei aber ein weisser Hase mit lustigen Lampiohren in ihrem Rucksack gewesen.

«So, so», machte Kaltbrunner.

«Meinen Sie, die Frau hat sich wirklich selbst in die Luft …»

«So, so», murmelte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»

STOCKERENWEG, BERN

Um 10.33 Uhr fuhr Kirsten Warren ihren Computer hoch. Die alleinerziehende Mutter eines zwölf Jahre alten Jungen konnte ihre Arbeitszeiten selbst einteilen, da sie als freischaffende Internetspezialistin praktisch sämtliche Aufträge in ihrem Homeoffice erledigen konnte. Nebst der Entwicklung von Internet- und Intranet-Lösungen für diverse Firmen, schrieb die Amerikanerin für die Gratiszeitung «Aktuell» regelmässig Artikel für die Computer-Spezialseiten. Sie testete auch die neusten Spiele, die auf den Markt kamen. Allerdings war sie keine begeisterte Gamerin. Mittlerweile konnte sie ihren Sohn Christopher für diese «Arbeit» einspannen. Er konnte besser beurteilen, ob ein neues Spiel bei den Jungen ankam oder nicht. Der einzige Nachteil dieser Mutter-Sohn-Zusammenarbeit war, dass sie ihn kaum mehr von seinem PC wegbrachte.

Christophers Vater war der Grund gewesen, warum sie überhaupt in die Schweiz gekommen war. Er war Diplomat und arbeitete bei der US-Botschaft in Bern. Nach ihrer Trennung und einer beruflich unrühmlichen Geschichte wurde er versetzt. Kirsten hatte nie genau erfahren, worum es in dieser Affäre gegangen war. Sie wusste nur, dass ihr Mann, Jeff Warren, im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Schweizer Banken auf einer ominösen schwarzen Liste der New Yorker Staatsanwaltschaft aufgetaucht war. Und plötzlich war er weg. Kirsten wusste nicht, ob er zurück in die USA oder in eine andere Botschaft versetzt worden war. Doch die Alimente flossen. Direkt von den US-Behörden.

Sie hatte sich als Webspezialistin schon vor ihrer Heirat einen Namen gemacht und ein eigenes Geschäft aufgebaut. Die US-Botschaft gehörte seit der Sache mit ihrem Mann zu ihren wichtigsten Kunden. Das wunderte sie zwar. Doch sie war auch dankbar, damit halbwegs wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Erst später kamen «Aktuell» und hin und wieder andere Verlage dazu.

Sie vermisste ihre Heimat Texas. Ihre Familie. Und ihre Freunde. Aber ihr Sohn wollte in Bern bleiben. Und irgendwie wusste sie auch nicht, ob sie weg gekonnt hätte, wenn sie weg gewollt hätte. Botschaftsvertreter hatten ihr mehrmals angetönt, dass sie die Alimente und die Aufträge nur auf sicher habe, solange sie in der Schweiz wohne. Zudem gab es noch «the others», wie Kirsten sie nannte.

Schweizer Freunde hatte sie wenige. Es waren im besten Fall Bekannte. Aber vielleicht würde sich das irgendwann ändern. Allerdings tat sie nicht viel dafür. Sie ging kaum aus, engagierte sich auch in keinem Verein oder Club. Nur Golf spielte sie regelmässig. Meistens allerdings mit Amerikanerinnen, deren Ehemänner wochenlang auf Geschäftsreisen waren. Und auch mit diesen Frauen pflegte Kirsten eine distanzierte Beziehung, lehnte die meisten ihrer Einladungen ab oder ging einfach nicht hin. Es war ihr lästig, dass alle sie mit irgendwelchen Männern verkuppeln wollten. Ein so attraktives und nettes Girl könne doch nicht alleine leben, meinten die Damen.

Sie war hübsch. Lange, blonde Haare, lange Beine, schlank und mit tollem Busen und wohlgeformtem Po. Wenn sie Jeans, Boots, eine kurze Lederjacke und einen Hut trug, verkörperte sie das perfekte Cowgirl. Boots und Jeans hatte sie oft an, die restlichen Cowgirl-Accessoires nur zweimal im Jahr. Wenn sie mit ihrem Sohn ans Country- und Truckfestival nach Interlaken fuhr. Und an die Countrynight in Gstaad. Dann genoss sie es, mit ihrem Sohn als Dreamgirl aufzutreten. Christopher war das mittlerweile allerdings peinlich.

Sie holte einen wässrigen Filterkaffee aus der Kanne – mit Kapselkaffee konnte sie nichts anfangen – und loggte sich im Internet ein. Ihre Mailbox zeigte zweiundvierzig neue Mitteilungen an. Eine davon war ein Hinweis, dass sie ins Newnetnet reinschauen solle. Newnetnet war ein geschlossenes Netz, ein sogenanntes Darknet im Deep Web, ausserhalb des bekannten World Wide Web, das nur mit spezieller Software zu erreichen war. Wie andere solche Netze war Newnetnet nur mit Username und mehreren Passwörtern zugänglich. Wer sich anmelden wollte, musste einen Bekannten haben, der bereits im Newnetnet Mitglied war und für das Neumitglied bürgte. Selbst professionelle Hacker konnten sich nicht in diesen geheimen Zirkel einschleichen. Kirsten selbst war aus Recherchezwecken – sie musste vor einem halben Jahr für die US-Botschaft in Bern einen Bericht über das Deep Web und seine Auswirkungen auf die Schweiz verfassen – darauf gestossen und war schliesslich zu Newnetnet eingeladen worden. Von wem und warum wusste sie bis heute nicht. Da ihre Aufnahme im Gegensatz zu vielen anderen Usern völlig reibungslos und schnell vonstattenging, war Kirsten überzeugt, dass die Leute, die sie eingeladen hatten, irgendwie mit den US-Behörden verbandelt waren. Sie hatte keine Angst vor diesen Leuten, aber ein ungutes Gefühl. Deshalb nannte sie sie einfach nur «the others».

Ob sich in diesem Newnetnet auch so viele Spinner, Spione, Drogendealer, Waffenschieber und Pädophile tummelten wie in anderen Schattennetzen des Deep Webs, wusste sie ebenfalls nicht. Aber spannend war es auf alle Fälle. Sie loggte sich also ein und erhielt sofort eine Mitteilung von einem User namens John Fox. Der Mann schrieb: «Möchtest du eine Story?»

«Yes», gab Kirsten ein. Sie trank ihren Kaffee und hoffte, der Kerl, der sich «John Fox» nannte, wäre online.

«Melde meinem alten Freund Haberer, dass Basel nur der Anfang war …»

«Soll das ein Joke sein? Wer bist du?»

«Kein Joke. Ich bin John Fox.»

«Sehr witzig.»

«Haberer steht sicher auf dich, Cowgirl …»

UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Irgendwie hatte sie Freude an ihrem Job als Boulevard-Ratte entwickelt. Sandra Bosone stand mitten in der Intensivstation des Universitätsspitals und hatte in ihrem Ärztinnen-Outfit Zugang zu sämtlichen Patienten. Sie klapperte alle Zimmer ab, immer auf der Suche nach den am schwersten verletzten Opfern des Bombenanschlags. Die, die sprechen konnten, erzählten ihr sämtliche Details ihrer Odyssee. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, hatten meist Angehörige, die weinten und ihr vertrauensvoll das ganze Elend schilderten. Für Sandra war es ein «Yeah-yeah- yeah»-Effekt, so viele Schicksale auf engstem Raum zu treffen, war für eine Reporterin aussergewöhnlich. Jedes davon eine eigene Geschichte wert. Doch in der Masse gingen die meisten unter, denn unter diesen Umständen war nur noch das grösste Elend interessant. Eine schwerverletzte Mutter, der beide Beine amputiert werden mussten, und deren zwei Kinder, ebenfalls durch Splitter der Bombe verletzt, gab von der journalistischen Relevanz aus gesehen die beste Story. Peter Renner, die Zecke, würde sie lieben für diese Story. Selbstverständlich mit Bild und Video, denn Sandra hatte nicht gezögert, ihre Kamera beim Interview auszupacken und die Szenerie aufzunehmen. Ob die arme Frau je in «Aktuell» erscheinen würde, darauf hatte sie keinen Einfluss. Das würden Peter Renner, Jonas Haberer oder die Anwälte entscheiden. Sie machte nur ihren Job.

Die Idee mit dem gekauften Arztkittel und dem Stethoskop war zwar gut gewesen, aber nicht genügend. Das hatte Sandra schnell gemerkt. Ihr hatte der Ausweis gefehlt. Diesen hatte sie sich allerdings schnell angeeignet. Sie hatte sich einen Kaffee geholt, dann gezielt eine Ärztin angerempelt und ihr den Kaffee über den Kittel geschüttet. Dann hatte sie der «Kollegin» geholfen, sich zig-mal entschuldigt, den riesigen Kaffeefleck verwischt, ihr dabei den Ausweis aus der Brusttasche geklaut und damit den Namen «Dr. Elfriede Kasalski» angenommen. Die Security-Leute hatten sie seither freundlich gegrüsst und ihr sämtliche Türen aufgehalten.

Jetzt hatte sie alles im Kasten. Sie verliess das Spital, zog den Arztkittel aus, versenkte das Stethoskop in ihrer Tasche und rannte zum Kiosk an den Blumenrain hinunter. Dort kaufte sie sich Zigaretten, rauchte zwei und rief Peter Renner an. Er sagte ihr, dass er sie liebe. Danach stürzte sie sich in die Fasnacht. Es war 11.55 Uhr. Der Publikumsaufmarsch hielt sich allerdings in Grenzen, obwohl am Dienstag jeweils Kinderfasnacht war.

Verrückte Welt, dachte Sandra. Aber das war egal. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Pervers. Aber gut. Sandra lächelte.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Kirsten was?», schnauzte Chefredaktor Jonas Haberer seinen Nachrichtenchef an. «Ich kenne diese verdammte Kirschtorte nicht!»

Peter Renner regte sich nicht auf. Er wusste, dass sein Chef sämtliche Namen verhunzte und wunderte sich deshalb nicht im Geringsten. Hauptsache, sein Chef hämmerte nicht schon wieder auf seiner Schulter herum.

«Sie schreibt für uns die Computer- und Game-Kolumne.»

«Was?»

«Ja, mein Lieber, wir haben eine Computer- und Game-Kolumne in unserer Zeitung.»

«Ach, die Schach- und Halma-Tante.»

«Ja, ja, mein Lieber, Schach und Halma spielte man noch kurz nach dem Krieg, du alter Schafseckel!» Jonas Haberer lachte drauflos. So heftig, dass er einen Hustenanfall bekam und zu ersticken drohte. Sein langes, fettiges Haar vibrierte.

«Geht’s, Jonas?», fragte Peter Renner.

Haberer beruhigte und räusperte sich. Dann sagte er: «Los, was will die Halma-Tante, diese Kirschtorte?»

«Sie hat eine Nachricht aus dem Darknet erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass der Anschlag von Basel nur der Anfang wäre. Und dass du auf die Halma-Tante stehen würdest, falls du sie mal sehen würdest.»

Haberer bekam erneut einen Lachanfall. Er dauerte rund zwanzig Sekunden. Danach fragte er: «Wie war das mit der Nachricht? Mit diesem Darknet-Zeugs? Was ist das überhaupt, verdammt?»

«Das ist ein Schatten-Internet. Oder so ähnlich. Jedenfalls etwas Obskures.»

«Und warum soll ich auf die Kirschtorte stehen?»

«Weiss ich nicht.»

«Sie soll herkommen! Sofort!»

«Bist du sicher? Interessiert dich die Story? Ist das nicht zu unseriös?»

«Pescheli, was ist los? Wir sind unseriös! Also her mit der Kirschtorte! Ich geh mich mal rasieren.» Haberer verliess den Newsroom. Renner hörte noch lange seine Schritte und vor allem sein ordinäres Lachen.

CLARAPLATZ, BASEL

Anders als in anderen Jahren füllte sich die Innerstadt nur langsam mit Fasnächtlern. Der Dienstag, der als der schönste Tag der Basler Fasnacht galt, weil kein offizieller Umzug stattfand, war irgendwie kein richtiger Fasnachtsdienstag. Das Attentat überschattete den Tag der Kinderfasnacht und der Guggenmusiken. Cliquen mit Kindern waren nur wenige unterwegs. Die Guggenmusiker trugen Transparente mit Parolen wie «Jetzt erst recht!», «Wir lassen uns die Fasnacht nicht nehmen!» und «Wir haben keine Angst!» Überall standen Polizisten. Nicht nur aus Basel. Das Nordwestschweizer Polizeikorps war aufgeboten worden. Es herrschte Ausnahmezustand.

Um 13.33 Uhr zog eine Gruppe von rund dreissig Personen vom Claraplatz kommend durch die Rheingasse. Die schwarz angezogenen und mit Totenkopftüchern maskierten Menschen trommelten auf Konservendosen und Bratpfannen herum, einige schlugen Pfannendeckel zusammen. Ein Wachtmeister der Polizei fragte einen der Maskierten, zu welcher Clique er gehöre. Der Mann, der ununterbrochen auf eine grosse Büchse klopfte, sagte, sie seien ein «Zyschdigszyygli», ein Dienstagszug, zusammengestellt aus mehreren Trommlern diverser Cliquen. Der Wachtmeister gab diese Information an die Zentrale weiter. Mit dem Hinweis, dass der Mann kein Basler, sondern Zürcher Dialekt gesprochen habe.

WAAGHOF, KRIMINALKOMMISSARIAT, BASEL

Im Büro von Kommissär Olivier Kaltbrunner gab es eine heftige Diskussion. Anwesend waren neben Kaltbrunner Staatsanwalt Hansruedi Fässler, Stadtpräsident Serge Pidoux und Bundesanwalt Filipo Rizzoli. Am Telefon zugeschaltet waren Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann, Vorsteherin des Justizdepartements, sowie Bundesrat Georg Bernauer, Chef des Verteidigungsministeriums. Kaltbrunner war bei dieser Konstellation alles andere als wohl. Er versuchte, sich in seinem Bericht auf das Wesentliche zu beschränken. Die vermeintliche Attentäterin sei vermutlich eine Frau namens Hildegard, genannt Hilde, Haberthür, sie war geistig stark behindert gewesen, hatte im Heim Sonnenstrahl gewohnt und in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Ein Bombenattentat wurde ihr nicht zugetraut, wie die ersten Befragungen der Betreuer ergeben hätten. «Das heisst?», wollte Staatsanwalt Fässler wissen.

«Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen, wir haben noch …»

«Besteht die Gefahr für weitere Attentate?», fragte Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann.

«Also …», begann Kaltbrunner.

«Nein», unterbrach Staatsanwalt Fässler. «Wir haben es mit einer kranken Person zu tun.»

«Unsere Leute sind notfalls bereit», warf nun Militärminister Bernauer ein. «Wir sollten jegliche Panik verhindern. Wir lassen die Fasnacht laufen.»

«Ich finde das keine gute Idee, weil …»

«Danke, meine Damen und Herren, wir haben die Lage im Griff», sagte Stadtpräsident Serge Pidoux.

«So, so, die Armee steht bereit», murmelte Kaltbrunner und lächelte. «Was sagen Sie?», wollte Fässler wissen und hielt sein Ohr zu Kaltbrunner.

«Ich sagte nur: Die Armee steht also bereit.» Fässler schaute den Kommissär einen Moment an. Erst dann prustete er los.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Chefredaktor Jonas Haberer war beim Anblick von Kirsten Warren nicht mehr hundertprozentig zurechnungsfähig. Die Computer- und Gameredaktorin trübte seine Sinne, das wusste Nachrichtenchef Peter Renner sofort. In ihren engen Jeans, den Boots und den langen Haaren verkörperte sie alles, worauf sein Chef stand. Und er selbst eigentlich auch. Obwohl er vor allem auf die Verlegerin Emma Lemmovski stand. Aber Kirsten glich Emma. Sie war zwar etwas jünger, aber vom Typ her …

«Warum arbeitest du nicht in unserem schönen Büro, sondern zu Hause?», säuselte Jonas Haberer zu Kirsten Warren. Peter Renner sass einmal mehr wie in Gips gegossen da, innerlich ärgerte er sich allerdings über Haberer.

«Ich habe einen Sohn», sagte Kirsten Warren in ihrem Deutsch mit amerikanischem Akzent.

«Das macht mir nichts aus …» Haberer lächelte.

Kirsten Warren schaute ihn verdutzt an.

«Also, Jonas, Kirsten ist hergekommen, weil …»

«Ich weiss, Pescheli», unterbrach Haberer und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Unsere süsse Kirschtorte hat eine obskure Nachricht aus dem geheimen Internet erhalten.»