Der Todesschrei des Kohlrabi - Achim Tacke - E-Book

Der Todesschrei des Kohlrabi E-Book

Achim Tacke

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Beschreibung

Von wegen heile Welt am Jadebusen! In Dangast wird vegan gemordet. Nach "Friesen-Mafia", "Salami-Mörder" und "Ein Puff für Dangast" stehen Kommissar Tammo Poppinga aus Varel und seine Oldenburger Kollegin Swantje Bilger erneut vor einer mörderischen Herausforderung. Kaum hat eine spirituelle Gemeinschaft im Ort Quartier bezogen, geht deren Oberguru in Flammen auf. Und wie es aussieht, scheint es bei seinem Tod eher um materielle als um geistige Dinge gegangen zu sein. Dem ersten Toten folgen weitere.

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Seitenzahl: 289

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Der Todesschreides Kohlrabis

In Dangast wird vegan gemordet

Achim Tacke

Ein Nordsee - Dangast - Krimi

swb media publishing

Prolog

„Könnte ich mal ein Händchen voll Wasser bekommen?“

Der Mann stand im Lendenschurz vor Ralfs Theke im Dorfkrug. Mit seinen Händen hatte er einen Hohlkörper geformt, in dem wohl das Wasser hinein sollte. Die Nickelbrille hing fast auf der Nasenspitze und die grauen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Ein wenig Lebenselixier für die dürstende Seele.“ Der Mann schaute Ralf, der sich, was ihm bis dato noch nie passiert war, in einer plötzlichen Schockstarre befand, aus seinen grauen Augen an.

„Sie wundern sich wahrscheinlich über den Lendenschurz“, entschuldigte sich die hagere Gestalt. Und tatsächlich, alle wunderten sich, die gerade die Theke bevölkerten. Tammo Poppinga, der Kommissar, Schorsch, der ehemalige Lehrer und gefragter Schwarzarbeiter, Gunnar Klöver, der Gerichtsmediziner und Imker, Gisela, der Fels in der Brandung hinter der Theke und selbst Ralf, Philosoph und Gastwirt.

„Sie müssen wissen, es gibt noch nicht ausreichend Flachs aus artgerechter Tötung. Obgleich auch diese Thema sehr umstritten ist. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass mein Schurz eine Art Prototyp ist.“

Er strich fast liebevoll über das Stoffstück, das von seinen Hüften her abwärts baumelte. „Naturfarbe. Rote Bete aus Restgemüse. Leider noch nicht ganz farbecht. Zum Winter hin experimentieren wir gerade mit abgestorbener Baumrinde. Derzeit bröseln die Fasern allerdings auf der Haut und führt zu Juckreiz.“

Der Mann war noch einen Schritt näher an die Theke getreten und hielt seine Hände hoch. „Könnte ich jetzt um etwas Wasser bitten?“

Wortlos öffnete Gisela den Wasserhahn. Die anderen blieben regungslos sitzen. Der Mann reckte seine Hände unter den Hahn, schöpfte Wasser und trank es.

„Belebend und eine Gabe, die uns die Geister schenkten.“

Das sah Ralf anders. Er räusperte sich.

„Dann ist ja meine Wasserrechnung sone Art Kirchensteuer!“

„Shiva sei Dank!“

Der Mann deutete eine leichte Verbeugung an, zog den Schurz zurecht und ging.

Die Tür zum Dorfkrug fiel zu. Gunnar griff als Erster zu seinem Bier.

„Muss doch kalt sein mit sonem Schurz.“

Sicherheitshalber zog er seine blaue Jacke über der Brust zusammen. Sein so rundes Gesicht hatte sich in Falten gelegt.

„Jo!“ bestätigte Schorsch.

Eine Denk- und Trinkpause entstand. Die Thekenmannschaft starrte in die halbvollen Gläser.

„Und an den Füßen hat er auch nix“, meinte Gisela.

„Kann leicht zur ner Blasenentzündung führen.“

Gunnar nahm einen Schluck Bier und wusch den Schaum von seinen Lippen.

Ralf stellte das Glas ab, das er gerade trocken rieb. Es war mit einer philosophischen Betrachtung zu rechnen. Wenn Ralf ein Glas abstellte und ins Leere sah, war immer mit einer philosophischen Betrachtung zu rechen.

„Der Schurz, mal philosophisch betrachtet, ist ein wesentlicher Bestandteil der Menschwerdung. Wir waren kaum vom Baum gestiegen, da verhüllten wir unsere Geschlechtsteile. War das bereits der erste Schritt in die Prüderie oder war es die Angst vor einem entzündete Geschlechtsteil oder ...? Soweit mir die zugängliche Fachliteratur bekannt ist, hat sich bis dato niemand mit dieser Frage ernsthaft auseinander gesetzt.“

„Kannste ja mal was zu schreiben!“, gab Tammo eher gelangweilt zu bedenken.

„Wo kommt der Typ eigentlich her?“, fragte Schorsch.

„Sieht irgendwie europäisch aus! Nordeuropäisch!“

Gisela zapfte die nächste Runde.

„Vielleicht son Modemensch“, warf Gunnar ein. „Modemenschen haben ja einen Hang zum Komischen.“

Gisela schüttelte den Kopf. „Glaub ich nicht. Der Schurz war beschissen geschnitten.“

Gisela stemmte ihre Hände auf die Theke.

„Mode sieht anders aus.“

„Naja!“ Tammo hatte da so seine Zweifel.

„Tourist!“, fiel Schorsch ein.

Gunnar überlegte kurz. „Könnte hinkommen!“

Tiefe Schatten fielen durch die Fenster in den Dorfkrug. Alle reckten ihre Köpfe gleichzeitig zu den sich verdunkelnden Scheiben. Sie standen auf, um besser den Grund der plötzlichen Finsternis sehen zu können. Vor dem Dorfkrug fuhren gerade zwei Möbelwagen vorbei. Schorsch kannte den Grund.

„Der Schüttenhof. Hat wohl wer gekauft.“

„Hätte ich ja nicht gemacht. Viel zu groß.“

Auch Gisela hatte ihren Platz hinter der Theke verlassen und war zum Fenster gekommen.

„Kannste mindestens 20 Personen drin verstauen“, wusste Schorsch. Ralf war hinter der Theke geblieben. Plötzliche Veränderungen mochte er nicht.

„Vielleicht Asylanten!“

„Die kommen noch nicht mit dem Umzugswagen!“, gab Tammo zu bedenken. „Politisch Verfolgte kommen nie mit einem Umzugswagen. Koffer oder Handtasche. Rucksack oder Persilkarton, okay. Aber nicht mit einem Umzugswagen.“

Den beiden Umzugswagen folgte am linken Fensterrand ein Hanomag Baujahr 1963. Er zog einen Hänger mit Gemüsepflanzen. Danach tauchten Schubkarren auf, die von Lendenschurzmännern geschoben wurden. Ihnen folgten drei Frauen, die sich teils um zwei schreiende Kinder – auch mit Lendenschurz bekleidet – oder mit schweren Säcken, die sie geschultert hatten, beschäftigten. Die Frauen trugen weite Kleider, die die Dorfkrugmannschaft an Jutesäcke erinnerte.

„Zirkus?“ fragte Tammo.

Eine bedenkliche Pause entstand.

„Touristen sind mir lieber!“, merkte Schorsch an.

Gisela stand neben Schorsch. In ihrer Stimme klang etwas wie Erleichterung.

„Vielleicht eine neue Sendung von RTL?“

„Und wie soll die heißen?“ Gunnar war wenig überzeugt.

„Hungern auf dem Lande! Die sehen alle ziemlich ausgedörrt aus.“

Dies schien Logik zu haben. Alle nickten. Wieder entstand eine kurze Pause.

Dann hatte Tammo eine Idee.

„Oder eine neue Folge von ‚Verstehen Sie Spaß‘ im Ersten?“

Dem Tross folgten noch vier Ziegen, die von zwei pubertierenden Mädchen gezogen wurden. Die Tier-Menschengruppe schien gemeinsam schlechte Laune zu haben.

„Die trinken kein Bier und Schluck!“, beruhigte sich Ralf und nahm seine Abtrockenarbeit wieder auf. Die anderen kehrten zu ihren Barhockern zurück. Gisela suchte ihren Platz hinter der Theke.

„Und wenn die hier bleiben?“, argwöhnte Tammo und packte sein Bierglas etwas härter als sonst.

Gisela wollte ihren Optimismus nicht verlieren. „Na und? Hier wohnen doch schon Künstler und son Volk.“

Ein Argument, das die anderen beruhigte.

Als Tammo zwei Stunden später den Dorfkrug verließ, ging er einen anderen Weg nach Hause als sonst. Er schlenderte die Deichstraße hinunter. Vor dem Schüttenhof wurden seine Schritte sichtbar langsamer. Er spähte durch die Sträucher. Die Möbelwagen wurden entladen. Kiefernholz dominierte. Ein Buddha grinste in Blattgold. Shiva, dem Elefantengott, war eine gipserne Rüsselspitze abhanden gekommen. Die Neuankömmlinge hatten sich – gut 20 Meter von den schwitzenden Möbelpackern entfernt – zu einem Kreis aufgestellt und starrten grummelnd in den Himmel. Tammo sah auch hinauf, konnte aber nicht Ungewöhnliches entdecken. Die Wildgänse, die im Herbst kamen, waren noch nicht da. Die Gemüsepflanzen standen auf dem Hänger. Für ihre Zukunft sah Tammo schwarz. Wer pflanzt schon im September Tomaten, Gurken und Kohlrabi? Ein Gewächshaus, das wusste er, gab es auf dem Hof nicht. Als geschulter Polizist und Landei folgerte er daraus: Städter! Großstädter mit Bio-Spleen! Oha!

„Naaa!“, hörte Tammo hinter sich. Bauer Helmut Sauer stand breit grinsend hinter ihm.

„Die acht Hektar hätte ich ja gerne gehabt“, sinnierte er. „Jetzt muss ich nur noch was warten.“ Tammo drehte sich zu Helmut um.

„Wer sind die denn?“

Helmuts Grinsen wurde noch breiter.

„Wie ich das so überblicke, sind das Marsmännchen. So was liest man ja ab und an in der Zeitung. Aber die gibt’s ja anscheinend wirklich.“

Helmut nickte wissend.

„Und wie das so bei den Marsmännchen ist – die kommen und gehen.“

Helmut tippte kurz mit seinem Zeigefinger auf die Stirn, wünschte noch ein fröhliches „Moin“ und zog pfeifend davon. Tammo sah ihm nach. Eines war klar: Diese eigenartigen Wesen mit Himmelsblick würden im polizeilichen Sinn keinen Ärger machen. Selbst mit den Schubkarren und dem Hanomag standen keine ernst zu nehmenden Verkehrsprobleme an. Tammo ging. Er sollte sich irren.

1. Tag, 13. September, Dienstag

Tammo ging in sein Büro. Das Telefon klingelte. Swantje Bilger, die Hauptkommissarin aus Oldenburg, meldete sich. Ihre Stimme war ungewöhnlich weich.

„Hallo Tammo. Wie geht’s so?“

Tammo lächelte. Frau Hauptkommissarin hatte bei ihrem gemeinsamen letzten Fall mit dem Täter im Bett gelegen. Ausgerechnet Swantje, die nüchterne, stets nach Logik suchende Polizistin, pennte mit dem Täter. Tammo fühlte sich oben auf. Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück.

„Gut!“, gab er knapp zurück. Er hörte, wie Swantje sich räusperte.

„Ich war eine Zeit auf Tauchstation. Äh, kannst du dir ja denken.“

Tammo spürte geradezu, wie Swantje mit sich kämpfte. Ihre Stimme flatterte.

„Können wir uns mal treffen?“

Die Dame braucht also seelischen Beistand, schoss es Tammo durch den Kopf. Sein Lächeln verzog sich zu einem breiten Grinsen. Genüsslich strich er mit seiner rechten Hand über sein Gesicht. Er hatte vergessen, sich zu rasieren.

„Aber gerne. Im Moment haben wir nicht viel zu tun. Mach einen Vorschlag.“

„Nach Dangast würde ich im Moment nicht so gerne kommen. Sollen wir uns in Oldenburg treffen?“

„Was hältst du vom Loft? Morgen zum Mittag?“

„Einverstanden – und danke!“

Swantje legte auf. Seit einer Stunde war sie wieder in ihrem Oldenburger Büro. Nach der Verhaftung von Ulf Meier Scheppart, dem Anwalt, Anlagebetrüger und Mörder, mitdem sie einige aufregend heiße Nächte verbracht hatte, war sie nach Italien abgehauen. Italien schien ihr unter den gegebenen Umständen eine gute Alternative zum Selbstmord, den sie durchaus für einige Stunden in Betracht gezogen hatte. Wie viel von ihrer Liaison an die Öffentlichkeit – und darunter zählte sie auch ihre Kollegen – gesickert war, wusste sie bis dato nicht. Entsprechend vorsichtig war sie in ihr Büro geschlichen. Sofort begann sie im Internet nach allen Artikeln zu schauen, die mit der Verhaftung von Meier Scheppart in Verbindung standen. Ihr Name tauchte nicht auf. Der mordende Anlagenbetrüger schien doch über eine gewisse Diskretion zu verfügen. Blieben also noch Tammo und die Kollegen in Oldenburg und Varel. Sie sah auf ihren Schreibtisch. Staub hatte sich niedergelassen – der Staub ihrer Abwesenheit. Staub, dachte sie, hatte etwas Friesisches. Kaum drehte man sich um, machte er, was er wollte. Die Friesen machen auch immer was sie wollen! Swantje öffnete die linke Schreibtischtür. Hier stand – ordentlich – eine rosa Flasche Möbelpolitur mit dem Duft von Frühlingsblüten. Sie schraubte den Deckel ab und hielt die Flasche unter ihre Nase. Der Frühling, fand sie plötzlich, hatte sich bös industrialisiert. Ein üppiger Hauch von Chemie. Trotzdem griff sie zu dem ordentlich gefalteten Tuch, das neben der Flasche lag. Sie putzte ihren Schreibtisch. Voller Konzentration nahm sie den Kampf gegen den Staub auf. Der feuchte Frühling im Lappen sog förmlich die Schwebepartikel auf. Mit immer größerer Hingabe wischte Swantje. Behutsam und mit System räumte sie die ordentlich in Haufen gestapelten Akten beiseite, hob die Tastatur und den Bildschirm des Computer beiseite, putze und wischte die Kanten rein, bis der Staub der Vergangenheit vollends gefangen war. Dann sortierte sie ihren Schreibtisch neu. Eigentlich nicht neu, da der Schreibtisch seit ihrer Ankunft und Besitznahme in sogenannte strategische Felder von ihr eingeteilt wurde. Sehr wichtig, mittelwichtig, weniger wichtig. Das System lief von rechts nach links, weil Swantje Rechtshänderin war. Unwichtig gab es auf ihrem Schreibtisch nicht. Dafür stand der Papierkorb – ebenfalls rechts. Als sie sich schließlich wieder setzte, verspürte sie seit Wochen erstmals eine tiefe Befriedigung. Sie hatte ihre Ordnung wieder! Zufrieden ging sie zu dem Waschbecken in der hinteren Ecke ihres Büros. Als sie sich im Spiegel sah, wurde ihr klar, dass sie längst nicht ihre Ordnung wiedergefunden hatte. Ihr langes, blondes Haar war streng nach hinten gekämmt. Bei ihrem letzten Frisörbesuch hatte sie sich die Haare erheblich kürzer schneiden lassen. Warum gehen Frauen immer zum Frisör, wenn sich in ihrem Leben etwas ändert, dachte sie. Früher hat sie dies für ein Gerücht gehalten, jetzt sah sie, dass der erotische Ausflug mit einem Mörder deutliche Spuren auf ihrem Haupthaar hinterlassen hatte. Und nicht nur da. Statt figurbetonter Kleidung, die sie sonst gerne trug, hatte sie einen weiten Pulli an. Die graue Jeans darunter passte auch so gar nicht zu ihrem Selbstbild. Ihre Kleidung, mutmaßte sie, war ein Versteck und der Haarschnitt Maskerade.

Tammo war zufrieden. Er lehnte sich seinem Schreibtischstuhl, wippte damit genüsslich und hatte die Hände hinter seinem Kopf geschlossen. Selbst wenn er, mal theoretisch gesehen, noch einmal einen Fall mit Swantje gemeinsam lösen sollte, wäre seine Position gänzlich eine andere. Er und nur er würde sagen, wo es lang ging.

Zufrieden fuhr er mit seinen Händen durch die dunkelblonden Haare. Jedenfalls das, was von ihnen übrig geblieben war. Vor vier Tagen war er beim Friseur gewesen. Zuerst betrieb die Dame einen Kahlschlag an den Seiten seines Kopfes. Nach seinem Protest kürzte sie auch das Haupthaar beträchtlich. Als Tammo den Salon verließ, war er fest davon überzeugt, dass er Opfer einer Verstümmelung geworden war. Er ging zur Wache in Varel.

Kollege Onno kam herein. Normalerweise begann Onno, bereits im Türrahmen zu sprechen. Jetzt wischte er sich über sein müdes Gesicht. Er sah zu Tammo, dann suchte sein Blick hilflos den Raum ab.

„Ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe…“

Er machte eine Pause.

„Was?“, wollte Tammo wissen.

„Naja, da hat gerade jemand angerufen…“

Sein Blick wurde wirr, flackernd. Die wenigen blonden Haare auf seinem Kopf waren schweißgetränkt.

„Was?“

Tammo hatte bereits aufgehört, mit seinem Stuhl zu wippen.

„Also, der hat gesagt, dass die in Dangast gerade eine Leiche verbrennen.“

Jetzt teilte Tammo den irren Blick mit Onno.

„Waaasss?“

„Die verbrennen eine Leiche–hat er gesagt.“

„Wer hat angerufen?“

Tammo sprang auf. Onno zuckte nur mit den Schultern.

„Und wo?“

„Deichstraße.“

„Komm!“

Tammo fuhr Richtung Rallenbüschen. Seit Wochen, nein, seit Monaten war alles friedlich. Nicht einmal einen Fahrraddiebstahl gab es zu vermelden. Die Kollegen von der Streife beklagten sogar, dass die Vareler das Halte- und Parkverbot einhielten. Einige führten den Verlust von friesischer Anarchie auf den milden Sommer zurück. Knöllchen waren seit Jahrzehnten eine zuverlässige Einnahmequelle. Die vorläufige Statistik sprach von Verlusten, die bei etwa 70% lagen. Eine Katastrophe. Unter diesem Betrachtungswinkel erschien die spätsommerliche Sonne wie ein Arbeitsplatz bedrohender Feuerball im öffentlichen Dienst.

Der Qualm war schon von der Straße zwischen Moorhausen und Dangast zu sehen. Tammo hatte während der Fahrt Gunnar Klöver den Gerichtsmediziner und Hobbyimker benachrichtigt. Er versprach ebenfalls, sofort zu kommen, obwohl er gerade bei seinen Bienen war. Beim Dorfkrug bog Tammo links ab. der Qualm kam vom Hof der Lendenschurzler, dem sogenannten Schüttenhof. Zuerst hoffte Tammo auf einen Motorschaden oder etwas Vergleichbares. Eine Leiche auf einem Hof zu verbrennen, hielt er schlicht für absurd. Aber dann hörte er die dumpfen Töne des Trommelklangs. Mit quietschenden Reifen bog er in die Hofeinfahrt ein. Der Qualm kam aus dem Garten hinter dem Haus. Der Trommelklang wurde lauter. Onno und Tammo sprangen aus dem Wagen und rannten um das Haus. Wie bei Winnetou, schoss es Tammo in den Sinn. Holzpfähle waren in den Boden gerammt worden. Darauf stand aus geflochtener Weide eine Art offener Sarg in dem anscheinend ein menschlicher Körper lag, der gerade in Flammen aufging. Darunter „UHUHUHU“ tanzten die Lendenschurzmenschen bei Trommelklang im Kreis. Die Kinder der Gruppe standen mit den vier Ziegen etwas abseits.

„Wasser!“, brüllte Tammo. Gegen das „UHUHU“ kam er kaum an. Onno sah sich um, fand einen Schlauch und Wasserhahn. Gemeinsam mit Tammo stürzten sie auf die Gruppe los. Wasser marsch. „UHUHU“ war schlagartig vorbei. Die Trommler warfen sich schützend über ihre Instrumente, die Tänzer stoben auseinander. Nur eine schwarzhaarige Frau im Lendenschurz stellte sich den beiden in den Weg.

„Ich bin die Schamanin. Bitte verlassen Sie den geweihten Ort.“

„Spinnst du!“, war der kurze Kommentar von Onno, dann zielte er mit dem Wasserstrahl auf die Leiche. Die Schamanin versuchte ihn zu hindern, was wiederum Tammo verhinderte.

„Dieser Ort ist heilig!“, kreischte sie.

„Da oben liegt eine Leiche!“, brüllte Tammo zurück.

„Sie ist aus dem Samsara ausgetreten und auf dem Weg ins Nirvana“, jammerte sie und versuchte, sich von Tammos Griff zu befreien. Auch der Rest des doch eher bleichen „Indianerstamms“ formierte sich mit grimmigen Mienen. Langsam, aber nicht weniger bedrohlich kamen sie auf Tammo und Onno zu. Onno ließ sich bei seinen Löscharbeiten nicht irritieren. Tammo hielt mit einer Hand immer noch die Schamanin fest und suchte mit der anderen nach seiner Pistole, die aber wohl verschlossen in der Wache lag. Im Hintergrund hörte er ein Auto, eine Tür, die zu fiel und dann Gunnars Stimme.

„Was ist das denn für ein Scheiß?“

Ungerührt schritt Gunnar an Tammo vorbei und ging auf die grimmigen Indianer zu.

„Platz machen!“, fauchte er die Gruppe an und sie bildeten widerwillig eine Gasse. Gunnar trat, so gut es ging, an die Feuerstelle mit der Leiche heran. Gunnars grau melierter Bart wippte nervös. Seine Augen schienen noch blauer als sonst. Sein drahtiger Körper spannte sich. Onno unterbrach seine Löscharbeit. Es dampfte, zischte und Mengen Wasser tropften an dem Gestell herunter. Gunnar strich sich durch sein hellblondes mit grauen Streifen durchzogenes Haar.

„Wer ist denn auf die bescheuerte Idee gekommen, eine Leiche im Garten zu verbrennen?“

Er drehte sich zu den bleichen Indianern um. Alle sahen verlegen zur Schamanin, die noch immer von Tammo festgehalten wurde.

„Ich werde Sie wegen sexueller Belästigung verklagen!“, schrie sie. Tammo ließ sie schlagartig los. Nicht, weil er vor einer etwaigen Anzeige Angst hatte. Es war mehr die Vorstellung, dass er mit dieser Dame etwas Sexuelles haben könnte.

„Alle weg. Das ist ein Tatort.“

Gunnar blieb resolut. Die Indianer wichen bis zur Hauswand zurück.

Tammo rief die SpuSi an. Laute betonte er, dass er die Spurensicherung angerufen habe, da er nicht wusste, ob die Exoten mit der Polizeiarbeit vertraut waren. Vielleicht würde es auch etwas Ehrfurcht vor der Ermittlungsbehörde bringen. Dann ging er zu Onno und Gunnar.

„Soll Onno weiter löschen?“

Gunnar sah zur Leiche und nickte.

„Wir beginnen mit den Verhören.“

Tammo sah zur Schamanin und beugte sich zu Gunnar.

„Die Zicke kannst du bitte übernehmen.“

Gunnar lächelte und ging auf die Schamanin zu. Er zückte sein Notizbuch. Tammo hatte keines. Onno lieh Tammo zwei Zettel und einen Stift. Gunnar hatte die Frau erreicht.

„Name?“

Sie streckte ihren Körper und das Kinn nach vorne: „Hera!“

Gunnar notierte.

„Und weiter!“

„Hera, die Göttin!“

„Hä?“

„Ich bin die Reinkarnation!“, behauptete sie mit fester Stimme.

Gunnar klappte sein Büchlein zusammen, sah zu den Indianern, zu dem dampfenden Toten und sah die tibetanischen Sutren, die im Garten aufgebaut waren.

„Ist das hier sone Art esoterischer Gemischtwarenladen?“

„Die Wahrheit kennt nur einen Weg.“

Die Schamanin streckte ihre vom Haar bedeckten Brüste Gunnar entgegen. Der war von all dem wenig beeindruckt.

„Und wie hießen Sie, bevor Sie die Wahrheit fanden?“

Er klappte sein Büchlein wieder auf. Die Dame zog ihre Brüste wieder ein. Ihren Kampfgeist aber noch nicht ganz.

„Es gibt Übergangszeiten. Sie verschwinden im Nebel der Geschichte. Die Reinheit des Geistes drängt das Vergangene ins Nichts!“

Gunnar atmete tief durch.

„Kein Problem! Das Nichts der Vergangenheit erstrahlt in der Regel nach ein bis zwei Tagen in seiner vollen Pracht durch die Gitterstäbe der Zelle.“

Verlegen sah sich die Schamanin um.

„Ilse“, hauchte sie nach einem Moment.

„Und weiter?“

„Jakubowski!“, dabei verharrte ihr Blick bei den anderen.

„Wohl keine Friesin?“, fragte Gunnar weiter.

„Ne, Ennepetal!“

Die ca. 1.80 große Frau schien zu schrumpfen. Dafür war das Hochdeutsche dem Bergischen gewichen.

Tammo hatte von dem Gespräch kaum etwas mitbekommen. Er wandte sich zwei anderen Frauen zu.

„Ihre Namen bitte!“

Ein blasses Geschöpf mit grauen Augen, blonden Strähnen und einer feuerroten Nase hüstelte ihn an.

„Ich erhielt den Namen Suri.“

„Ist ja ein Ding. Suri und wie weiter?“

Tammo schrieb erst gar nicht mit.

„Nur Suri.“

„Sie sollten sich was anziehen. Bei dem Schnupfen.“

„Das ist kein Schnupfen. Shiva vertreibt die schwarzen Kolonnen in mir.“

„Und wie heißt bei euch eine Lungenentzündung?“

Tammo hatte Mitleid. Vorsichtshalber drehte er sich zu der zweiten Frau.

„Und welchen Künstlernamen tragen Sie?“

Die Frau war gut 1.75 Meter groß, trug rote, Tammo vermutete gefärbte, Haare. Ihr Gesicht und auch der Rest des Körpers waren mit Sommersprossen übersät. Deren Farbe deckte sich mit der ihrer Haare. Die schmalen Lippen waren hingegen fast weiß. Ihre Stimme klang, gemessen an ihren Körperbau, dünn, fast zerbrechlich.

„Es ist kein Künstlername. Ich heiße Romana, das bedeutet‚die Römerin‘.“

„Sie sind also Italienerin!“, schloss Tammo daraus. Romana sah ihn verwirrt an.

„Nein – Ich bin die Botschafterin des alten Roms.“

Und damit vollzog sich in Sekunden eine erstaunliche Verwandlung. Romanas Körper schien Kraft zu ziehen. Ihre Stimme wurde fest. Auch die Lippen färbten sich.

Jetzt verstand Tammo gar nichts mehr, obwohl er vorher schon wenig verstanden hatte. Romana trat auf ihn zu, hob beschwörend den Zeigefinger.

„Es gab in der gesamten Menschheitsgeschichte nur einen, nur einen einzigen Fall, wo es eine Reinkarnation vom Mensch zum Tier gab. Das war, als ich als Wölfin auf die Erde zurückkehrte, um Romulus und Remus zu säugen!“

Sie strahlte und schaute in die Runde. Leider sahen gerade die wenigsten zu ihr.

Onno hatte die Löscharbeiten eingestellt, als keine offenen Flammen mehr zu sehen waren, und sich den drei Männern zugewandt.

„Wie Estragon? Sie heißen Estragon?“

Der Mann nickte. Onno blieb stur.

„Estragon ist doch kein Name. Also kein richtiger Name.“

Der Mann wurde grundsätzlich.

„Ich bin ein Gewürz der Erde, ihr zugewandt, in ihr verwurzelt und halte die Zartheit des Sommers.“

So gesehen stimmte der Name. Der junge Mann war schmächtig bis klapprig. Pickel in unterschiedlichsten Formen und Größen stachen wie kleine Krater aus seiner bleichen Haut. Um sich vor der Macht der Sonne zu schützen, trug er einen Strohhut. Onno wurde ungeduldig.

„Und Sie – wie heißen Sie? Etwa Salbei, Kerbel oder Knoblauch?“

Der Mann neben dem Strohhut war ernährungstechnisch auf der besseren Seite. Er hatte sogar einen kleinen Bauch.

„Ich heiße Erich!“

Dies überraschte Onno nun wirklich.

„Echt?“, fragte er nach. Der Mann mit den brauen Haaren und der Stupsnase nickte eifrig.

„Ich bin neu in der Gruppe und muss meinen richtigen Namen erst finden.“

Onno zückte den Stift. Endlich schien er so etwas wie Normalität gefunden zu haben.

„Und weiter?“

Der Mann lächelte ihn an.

„Nix weiter. Meinen Nachnamen habe ich bereits verloren. Gestern zur Sonnenstunde hab ich ihn endgültig abgelegt.“

Onno schäumte. „Und, und, und wann war das?“

Der dritte Mann mischte sich ein.

„Haben Sie eine Uhr?“

Onno glotzte ihn an. „Natürlich habe ich eine Uhr!“

„Darf ich die mal haben?“

Die Stimme des dritten Mannes hatte etwas Besänftigendes. Onno zog seine Armbanduhr aus und reichte sie dem Mann im Lendenschurz. Der nahm sie, warf sie zu Boden und trat darauf. Onno glich in diesem Moment einem Karpfen, der mühselig nach Luft rang. Der Mann mit der sanften Stimme hob den Zeigefinger.

„Es ist eine Geißel der Menschheit. Die Zeit! Es gibt sie nicht. Sie sind Sklave jener Mächte, die uns aussaugen, erniedrigen und unser Blut haben wollen.“

„Sind Sie bescheuert?“ Onno stammelte. „Sind Sie total bescheuert? Die hat 450 € gekostet!“

Da log Onno. In Wahrheit hatte er sie als Schnäppchen aus Thailand mitgebracht, aber immer behauptet, sie sei Markenware.

„Die Natur lebt in Zyklen“, fuhr der Mann im Lendenschurz ungerührt fort, „die Geburt, das Sein und das Vergehen spiegeln sich darin. Jedes Wesen und jedes Ding hat seinen ureigenen Zyklus. Erst wenn wir dieses begreifen, beginnen wir die Welt und den Kosmos zu verstehen.“

„Und meine Uhr?“, kreischte Onno.

„Im kosmischen Sinne ist sie gar nicht vorhanden.“

Und damit wandte sich der Mann von Onno ab. Dessen flackernde Augen suchten verzweifelt nach Tammo. Der stand noch immer bei Romana. Seine Stimme hatte deutlich an Schärfe gewonnen.

„Wer ist der Tote – und jetzt kommen Sie mir nicht mit so einem bescheuerten Namen.“

Der scharfe Ton Tammos beeindruckte sie wenig. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und schob ihre Brüste Tammo entgegen.

„Brahma – unser Lehrmeister ist und bleibt Brahma.“

Gunnar, der Gerichtsmediziner, hatte sein Büchlein bereits entgeistert zugeklappt und sich der qualmenden Leiche zugewandt. „Brahma“ hatte er aus der Distanz verstanden und drehte sich wissend zu Tammo.

„Brahmer, das ist eine große Hühnerrasse. Etwa so groß!“, was er mit seinen Händen andeutete. Tammo glotzte ihn nur an. War der komplette Wahnsinn in Dangast ausgebrochen? Hera mischte sich ein. „Brahma hatte ein großes, ein ganz großes Herz!“

Sie sah zu den Männern mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Er hat in unserer Gruppe sogar Vegetarier zugelassen. Menschen, die auf Lebewesen herumkauen.“

Sie wandte sich zu Tammo. „Sie sehen, er hatte sogar ein Herz für Minderheiten.“

Tammos Körper zuckte unkontrolliert. Er brauchte eindeutig Hilfe und die hieß – Swantje. Seine Hände zitterten, als er sein Handy aus der Tasche zog. Swantje anrufen und sie um Hilfe bitten? Er zögerte. Niemals! Tammo sah kurz die kampfbereite Hera an, drehte sich von ihr ab und ging einige Schritte auf das Bauernhaus zu. Wenn er jetzt Swantje anrufen würde, wäre es mit seiner Autorität endgültig vorbei. Er, der Provinzbulle, rief die welterfahrene Swantje, weil es ihm nicht gelang, einen Haufen Wahnsinniger unter Kontrolle zu bringen. Tammo starrte zu dem alten Friesenhaus, ohne es genau wahr zu nehmen. Bevor er sich entschied, rief er noch die KTU. Was er im Moment mit den Kriminaltechnikern wollte, wusste er nicht genau. Es war eindeutig eine Ersatzhandlung. In Tammos Kopf rauschte es. Das Pfeifen und Klopfen wurde immer unerträglicher. Jeder Ansatz eines Gedankens zerriss, multiplizierte sich und formte eine undefinierbare Masse. Vielleicht bekam deshalb Tammo gar nicht mit, dass ein Traktor mit Hänger auf den Hof fuhr. Erst, als er die vertraute Stimme von Bauer Helmut Sauer hörte, drehte er sich wieder dem Geschehen zu. Helmut hatte gerade die Fahrerkabine seines Schleppers verlassen.

„Was stinkt denn hier zum Himmel?“

Hinter dem Schlepper tauchte Jutta Sauer auf, die Frau Helmuts.

„Die Kinder kriegen doch alle einen Schnupfen!“, fauchte sie und ergänzte, „und bei sonem Schietkram haben die Lütten hier nix verloren!“

Helmut wandte zu Gunnar. „Stinkt der so?“ und dabei deutete er auf die Leiche. Gunnar nickte nur. Jutta ging auf die Kinder zu und trieb sie so, wie sie ihre Hühner in den Stall trieb, zusammen.

„So, weg mit den Ziegen! Wir gehen jetzt ins Haus und trinken erstmal einen heißen Tee.“

Romana versuchte, ihr den Weg zu versperren. 1.75 Meter mit Lendenschurz gegen 1.62 in Baumwolle gehüllt. Romana hatte immer noch ihre Kampfespose.

„Wer ins Haus geht, bestimme ich!“

Jutta neigte etwas den Kopf, hob den Zeigefinder und tippte damit durchaus kraftvoll gegen Romanas rechter Brust.

„Kennst du Frigg? Sie war Wotans Weib und die Schutzgöttin der Ehe und vor allem der Mutterschaft. Sowas ist uns Friesen heilig!“

Mit einem Handstreich schob sie die verdatterte Romana beiseite und trieb die Kinder zum Haus.

Helmut starrte immer noch auf die qualmende Leiche.

„Ist ja echt Schweinkram. Und jetzt? Alle verhaften?“ Gunnar nickte wieder und sah zu Tammo. Der Brei in seinem Hirn löste sich. Verhaften war eine gute Idee. Warum war er selbst nicht auf die Idee gekommen? Möglicherweise war die Vorstellung, dass die Wache in Varel plötzlich von Lendenschurzträgern bevölkert wird, zu abstrakt und vor allem wenig erstrebenswert. Wie sollte er aber die Leute zur Wache schaffen? Sein Blick fiel auf den Hänger hinter Helmuts Trecker.

„Alle auf den Hänger! Das ist eine Polizeiaktion.“

Der Kampfeswille schien durch Juttas und Helmuts Erscheinen plötzlich gebrochen. Mit hängenden Köpfen bestiegen alle den Hänger.

Tammo drehte sich zu Onno. „Den Tatort weiträumig absperren.“

Damit konnte Onno endlich etwas anfangen.

Swantje saß in ihrem Büro und schaute sich mit einer gewissen Zufriedenheit ihre Ordnung an. Auf dem Stapel „wichtig“ lag, das wusste sie, ein Fall, der sie an die jüngste, ihre jüngste Vergangenheit erinnerte. Die Frau eines Brokers hatte ihren Mann mit einer Bronzestatue erschlagen. Mehr wusste Swantje bisher nicht. Sie zögerte. Die Tür zu ihrem Büro ging auf und Staatsanwalt Henning Papstein erschien. Der sonst so sicher wirkende Mann schien verunsichert, zweifelnd.

„Da ist einer im Garten verbrannt worden“, stammelte er.

„Verbrannt?“ Swantje richtete sich etwas auf.

Henning Papstein wusste nicht recht, wie er ihr den doch etwas verwirrenden Anruf aus der Vareler Wache erklären sollte. „Na ja, eben verbrannt. Auf so eine Art Scheiterhaufen.“

Jetzt stand Swantje auf und sie bekam den Gesichtsausdruck, den Henning Papstein so gar nicht bei ihr mochte. Ihre Augenbrauen wippten.

„Ein Scheiterhaufen? Ein Mann verbrannt?“

„Könnte man so sagen.“

Swantje neigte den Kopf. Ihre Augen blitzten.

„Dangast?“

Henning Papstein rieb sich verlegen die Nase.

„Hört sich so an.“

Ganz gegen Henning Papsteins Erwartung, gab es keinen Protest.

„Ich fahre hin!“, sagte Swantje nur kurz, nahm ihre Handtasche und verließ das Büro. Im Flur sah sie sich kurz an. Der weite Pulli und die graue Jeans passten jetzt plötzlich.. Das blonde Haar öffnete sie und lag locker auf ihren Schultern. Genau das richtige Outfit für Dangast und einem Scheiterhaufen.

Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn ich Tammo gleich sehe und wir wieder einen gemeinsamen Fall haben, dachte Swantje, als sie in den Dienstwagen stieg. Als sie damals mit Meier Schepphart ins Bett stieg, hatte sie grob fahrlässig gehandelt. Sie startete den Wagen. Gibt es grob fahrlässigen Geschlechtsverkehr? Juristisch gesehen anscheinend ja. Sie bog Richtung Ohmstede ab. Gibt es einen juristisch korrekten Geschlechtsverkehr und wie sähe der aus? Sie stand auf der Donnerscheer Straße im Stau. Licht aus, ausziehen und vorher eine möglichst schriftliche Vereinbarung treffen, wie der Geschlechtsverkehr mit beiderseitigem Einverständnis abzulaufen habe. Sicherheitshalber mit einer notariellen Beglaubigung. Nur langsam löste sich der Stau auf. Ihr Problem, sie hatte mit Meier Schepphart keinen juristisch einwandfreien Vertrag geschlossen, sondern wild und lustvoll auf einer Sandbank und auf seiner Yacht gevögelt. Der Faktor Lust überwog dabei bei Weitem jeder juristischen „Korrektness“. Swantje lächelte. Das Wort „vögeln“ würde sie niemals in den Mund nehmen. „Vögeln“ passte nicht zu ihrem Selbstbild. Daran zu denken erheiterte sie hingegen. Sie erreichte die Autobahnauffahrt Richtung Varel. Und genau diese Lust könnte ihr zum Verhängnis werden, wenn Tammo ... nein, Tammo war kein Plappermaul, beruhigte sie sich. Tammo war eigen, friesisch und eher von der Scholle, als von Geistesblitzen geprägt, aber eben kein Plappermaul. Rastede lag hinter ihr. Als sie an der Ausfahrt Jaderberg vorbei fuhr, stand ihr Entschluss fest: Sie musste dringend mit Tammo reden. Daraus sollte aber vorerst nichts werden. Das wusste sie aber noch nicht, als sie in Varel/Bockhorn die Autobahn verließ.

Die Wache in Varel hatte sich zu einer esoterischen Kultstätte gewandelt. Es roch nach Räucherkerzen und Moschus. Einige Lendenschurzträger hatten sich auf den Fußboden gesetzt, einen Kreis gebildet und brummten nun Unverständliches. Romana und Hera besprühten die Kaffeemaschine mit Duftöl. Die verschnupfte Suri kämpfte mit einer Niesattacke, die sich wiederum auf etlichen Unterlagen auf Onnos Schreibtisch breitmachte. Onno versuchte, das eingefeuchtete Blattwerk in Sicherheit zu bringen, was nur mäßig gelang, weil Suris Niesschübe schneller als seine Beine waren. Tammo saß – wenigstens einigermaßen abgeschirmt – im Verhörzimmer mit dem Lendenschurzträger, der Onnos Uhr auf dem Gewissen hatte.

„Wie heißen Sie?“

Das Aufzeichnungsgerät lief.

„Ganesh“, bekam er als Antwort.

„Vor- oder Zuname?“, beharrte Tammo.

„Ich bin ein Sohn Schivas.“

Dabei hob er den Kopf.

Tammo hob auch den Kopf und legte seine Stirn in Falten.

„Ich habe Sie nicht nach Ihren Familienverhältnissen gefragt, sondern nach Ihrem Namen. Also, Vor- oder Zuname?“

Der Mann beugte sich zu Tammo.

„Sie verstehen nicht. Ich bin die Reinkarnation eines Göttlichen.“

Tammo lehnte sich zurück, um der Knoblauch Wolke zu entgehen, die dem Göttlichen aus dem Mund entwich.

„Ich kann Sie und Ihre Götterdämmerung nebst Estragon auch einfach einsperren, bis Ihnen Ihre angestammten Namen wieder einfallen.“

Der Mann wich zurück. Tammo legte nach.

„Sie wissen, dass wir Sie wegen Verdunklungsgefahr für einige Tage hier behalten können.“

Erst öffnete sich der Mund, dann kam ein fast Unhörbares „Ernst Knobloch“ hervor. Tammo verdrehte die Augen. Auch das noch – mehr fiel ihm nicht ein. Mit einiger Verzweiflung hielt sich Tammo an seinem Stift fest. „Geboren – wann und wo?“

Die Stimme wurde lauter und sächsisch. „18.5.59 in Karl Marx Stadt, dem heutigen Chemnitz.“

„Beruf?“ Tammo besann sich. Bloß nicht wieder in die Götterwelt eintreten. „Ne, das lassen wir erstmal weg! Wo haben Sie vorher gewohnt?“

„In Lüchow-Wendland.“

„Waren Sie bereits dort eine feste Gruppe?“

„Nein, wir haben uns dort gefunden.“

Tammo schaute den Mann fest an. „Wer ist der Tote?“

Der Mann begann zu weinen.

„Unser Guru. Er hat die Gruppe aufgebaut, ihr Leben gegeben. Er ist göttlich!“

Tammo sah das in Anbetracht des Todesfalls anders.

„Wie war sein... bürgerlicher Name?“

„Den hat er uns nie genannt. Wir haben aber auch nie danach gefragt. Es hätte bestimmt das ganze Karma zerstört.“

„Gibt es Unterlagen?“

Die Tür ging auf. Gunnar erschien mit mürrischem Gesicht. „Kann ich dich mal sprechen?“

Tammo stand auf und verließ mit Gunnar den Raum.

„Was geht hier denn ab?“ Tammo sah sich um. „Wird die Wache zur esoterischen Thingstätte?“ Gunnar zog Tammo in einen Nebenraum, der noch nicht von hinduistischen Gottheiten besetzt war. Gunnar strich sich durch sein schütteres Haar.

„Schwer“, sagte er. „Ganz schwer. Der Mann ist vergiftet worden.“

Tammo hatte Ähnliches befürchtet.

„Also Mord!“

„Schwer, ganz schwer zu sagen“, fuhr Gunnar fort. „Tollkirsche. In manchen Kreisen wird sie als Droge genommen. Will sagen, kann auch Selbstmord oder einfach eine Überdosis gewesen sein.“

„Gab es sonst noch Spuren?“, wollte Tammo wissen.

„Wie willst du auf einem Brikett Spuren finden.“ Gunnar drehte sich zur Tür, blieb aber noch einen Moment stehen. „Ich suche weiter. Vielleicht finden wir ja was im Brikett.“

Soweit sich Tammo erinnern konnte, braucht es wenigstens mehr als zehn Tollkirschen, um einen Erwachsenen umzubringen. Im Moment interessierte es ihn mehr, wer der Tote war.

„Was ist hier denn los?“

Die durchdringende Stimme kannte Tammo und freute sich dieses Mal darüber. Swantje war da!

„Sie stehen mal sofort auf!“, harschte sie die auf den Boden Hockenden an. „Alle auf die Stühle. Und Sie hören mit der albernen Nieserei auf oder halten Sie sich gefälligst ein Taschentuch vor die Nase.“

Swantje sah Tammo, lächelte etwas verlegen und ging auf ihn zu. „Papstein hat mich hergeschickt.“

„Schön, dass du da bist!“ und dies meinte Tammo ehrlich. Er berichtete ihr kurz, was bisher geschehen ist. Swantje ging mit ins Verhörzimmer. Herr Knobloch saß immer noch versteinert am Tisch. Swantje betrachtete ihn eindringlich. Dem Mann schien es kalt zu sein. Gänsehaut zog sich über seinen Körper und die Haare standen borstig ab.

„Wollen Sie eine Decke?“, fragte Swantje. Erst jetzt sah sie, als der Mann sie verwirrt anschaute, dass seine Lippen ins Bläuliche gingen.

„Hätten Sie vielleicht eine Decke aus Flachs, der artgerecht getötet wurde?“

„Hä?“, fiel Swantje nur ein. Tammo versuchte zu erklären. „Ist sone Macke von denen. Der Lendenschurz wurde in roter Beete gebadet. Ist aber nicht ganz farbecht.“

Die Erklärung half Swantje wenig. Sie versuchte es wieder.

„Sie können sich so einen bösen Schnupfen holen.“

„Geschlossene Räume, in denen der Geist menschlicher Ignoranz herrscht sind wider die Natur. Sie machen uns krank. Die Natur kennt keine geschlossenen Räume. Menschen, die die Götter verloren haben, erdachten sie, um – wie albern – sich vor dem Zorn der Götter zu schützen.“

Der Mann bibberte am ganzen Körper. Mit glasigen Augen sah er Swantje und Tammo an.

„Eure Seelen sind auch geschlossene Räume. Ihr habt verlernt zu sehen.“

Swantje hatte Mitleid.

„Ich sehe, dass Sie mit Ihrer Gesundheit spielen. Sie können gehen.“

Fluchtartig verließ der Mann den Raum.

„Das sind keine Friesen!“, erklärte Tammo mit Nachdruck. Dann fügte er noch mit einer fast traurigen Stimme hinzu: „So bescheuert sind wir nicht.“

Auch Swantje schaute ratlos in den Raum. „Was sind das denn für Knallköpfe?“

Tammo ließ sich müde auf einen der vier Stühle fallen.