Ein Puff für Dangast - Achim Tacke - E-Book

Ein Puff für Dangast E-Book

Achim Tacke

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Beschreibung

„Dann mache ich einen Puff auf!“ tönt Helene von der Dangaster Reethaus Pension, während einer Ratssitzung. In dem Kurort soll ein Yachtclub-Resort entstehen und die meisten Dangaster finden das gar nicht gut – im Gegensatz zur Ratsmehrheit. Kommissar Tammo Poppinga hat andere Sorgen. An der Reling einer Yacht baumelt die Leiche eines Bremer Kaufmanns – erdrosselt mit der eigenen Krawatte. Dann taucht auch noch Hauptkommissarin Swantje Bilger auf. Kaum nehmen sie ihre Arbeit auf, landet Tammo mit seinem Hintern auf ein Nagelbrett. Auch Helenes „Puffdrohung“ gegen den Stadtrat beginnt Formen anzunehmen. Friesische Formen! Ganz anderes sieht es beim geplanten Resort aus. Welche Verbindungen gibt es zwischen den Toten und den Investoren? Hat die Bürgerinitiative etwas damit zu tun? Welche Rolle spielen einige Landwirte dabei? Tammo ermittelt – notgedrungen – im Stehen. Das schafft mit der Zeit Übersicht – auch wenn es höllisch brennt.

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Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden.Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist zufällig.

1. Tag

2. August – Dienstag

»Dann mach’ ich einen Puff auf!« Helene stand als einzige im großen Sitzungssaal des Vareler Rathauses – aufrecht wie eine griechische Statue und mit glockenklarer Stimme. Der Satz galoppierte durch den Raum. Einige, der hundert Anwesenden, schluckten. Andere glotzten nur blöde. Wieder andere mühten sich, diesem Satz eine praktische Bedeutung zu geben. Nach einem langen Moment grinsten die Ersten verstohlen. Ein Puff in Dangast? War das ein intellektueller Ausrutscher, ein Wutschnauber oder etwa ernst? Helene stand völlig still mit erhobenem Kopf. Selbst ihre Augenlider zuckten nicht. Wohl doch ernst – oder?

Das roch nach Ärger. Kommissar Tammo Poppinga schob sich langsam Richtung Ausgang. Tammo schätzte die Ratsfrauen und -herren ab. Wie lange würde es dauern, bis er eingreifen sollte? Reichte die plötzliche Starre, um unbemerkt die Flucht zu ergreifen? Es waren gute sechs Meter bis zur Tür. Tammo drückte sich an die Wand. Vorsichtig schob er seine Füße Richtung Ausgang.

Zuerst fing sich der Bürgermeister Julius Brömmer. Er zupfte an seinen Hosenträgern. Julius Brömmer zupfte immer an seinen Hosenträgern, wenn er nervös war. Er hatte eine ganze Sammlung an Hosenträgern. Breite, rote, grasgrüne und auch welche mit kecken Figürchen. Heute trug er hellblaue. Die Hosenträger umspannten seinen massigen Körper und schoben sich des Bauches Willen zur Seite. Wunderlich war nur, dass er auch stets einen Gürtel umgeschnallt hatte. Einige vertraten die Theorie, dass er dies aus Sicherheitsgründen tat. Andere, und das war die Mehrheit, glaubte, dass er seiner Hose genauso wenig traute wie seinen Fraktions- und Parteimitgliedern. Sein blondes Lockenhaar hatte er kurz geschoren – schon seit vier Jahrzehnten. »Friesenneger« hänselten ihn die Kinder wegen seiner Lockenpracht in der Schule. Er aß gegen die Beleidigungen an und studierte BWL.

»Wir wollen doch jetzt nicht polemisch werden. Es geht hier um eine nachhaltige (die Ersten begannen zu kichern), zukunftsweisende Investition für unseren Kurort.«

»Hört, hört!«, war von der Mehrheit der Besucher der Rats­sitzung nicht ohne Hohn zu hören.

»Meinen Sie damit Helenes Puffidee?«, rief jemand aus der hinteren Reihe. Das beflügelte Helene zum nächsten Angriff.

»Wenn zwei bis drei Jahre lang Baufahrzeuge an meiner Pension vorbeiknattern, nehme ich den Verkehr wörtlich! Ich lasse mir nicht vom Rat der Stadt meine Existenz kaputt machen.« Helene strich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Das rote Kleid war voll prallem Leben.

Tosender Applaus aufseiten der Besucher, die Helenes Idee plötzlich bedenkenswert, gar für revolutionär hielten. Die Mehrzahl der Besucher hatte sich vor Tagen zu einer Bürgerinitiative formiert. Helene gehörte auch dazu. Der Stadtrat hatte zwei Wochen zuvor ein Yachthafenresort nebst einer gigantischen Freizeitanlage in Dangast der Öffentlichkeit vorgestellt. Jetzt sollte das Projekt angeschoben werden – verwaltungstechnisch. Eine 1200-Bettenanlage mit zwei Restaurants, einer Saunaoase, einer Wellnesslandschaft, fünf Tennisplätzen und einem Golfplatz sollte entstehen. Investoren, wie der Bürgermeister versicherte, scharrten bereits mit den Hufen. Dangast war nach seiner Ansicht auf dem besten Weg, sich mit Sylt, Marbella und vielleicht auch St. Tropez messen zu können. Die Investoren hatten einen Kaufpreis von 12,4 Millionen Euro für die vierzig Hektar Land in Aussicht gestellt. Investoren, so die einhellige Meinung der meisten Ratsmitglieder, waren Götterboten, die für Wohlstand und Zukunft sorgten. Wer diese Götterboten waren, wollte der Bürgermeister allerdings nicht verraten.

Noch drei Meter, dachte Tammo, noch drei Meter bis zur rettenden Tür.

»Ich bitte um Ruhe und verbiete mir solche Provokationen!«, tönte Berta Zwiefel, die heute die Ratssitzung leitete. Zitternd strich sie mit ihrer rechten Hand durch ihre Dauerwellen und suchte Schutz hinter dem Bürgermeister. Ein Johlen ging durch den Saal.

»Ich werde den Saal sofort räumen lassen!«, brüllte sie in den Saal und in Brömmers Ohr.

»Herr Poppinga!«

Tammo hatte es geahnt, zuckte trotzdem zusammen. Blick nach rechts schien der Befehl zu lauten. Alle starrten Tammo an. Er war nur bis zur Tür gekommen. Sein Blut schien sich in seinem Kopf zu Ketchup zu verdichten und blubberte gegen seine Schläfe. Nur mit Mühe konnte er sich auf seinen Beinen halten. Zum Glück legte der Bürgermeister beruhigend seine Hand auf den Arm von Frau Zwiefel.

»Wir wollen doch sachlich bleiben. Das Konzept, das uns vom Vorsitzenden des Dangaster Yachtvereins erarbeitet wurde, ist schlüssig, finanzierbar und alternativlos! Damit werden wir Dangast in eine neue touristische Zukunft führen. Die Mehrheit des Rates sieht es genauso!«

Bei »touristischer Zukunft« war Tammo durch die Tür entwichen. Der Ketchup in seinem Kopf löste sich allmählich auf. Er atmete tief durch. Nix wie weg, dachte er, blieb aber trotzdem stehen. Seine Dienstpflicht hielt ihn zurück. Er kannte Helene. Aufbrausend, spontan, aber leider auch ungemein konsequent. Wenn sie sich in eine Idee verbiss, zog sie sie bis zum Schluss durch. So gesehen standen Dangast bewegte Zeiten bevor.

Hatte er noch freie Urlaubstage? Zeit für eine Antwort gab es nicht. Die Saaltür flog auf. Ralf, der Besitzer des Dorfkrugs, kam als Erster heraus.

»Das Ding zieht Helene durch. Wetten?«, und damit war er verschwunden. Jan Breitenbach, der Reporter der Jade-Zeitung, tauchte auf. Nachdenklich putzte er seine Brillengläser, als würden sie in dem Puffchaos für Durchblick sorgen. Missmutig sah er Tammo an. »Was macht Helene da nur?«

»Wirst du etwas über die Puffidee schreiben?«, wollte Tammo wissen.

»Im Moment wohl nicht. Damit würde ich wohl eine Lawine lostreten, die kaum zu überschauen ist. Ich warte ab.« Typisch Jan, dachte Tammo. Immer korrekt.

Gunnar Klöver, der Gerichtsmediziner und Hobbyimker, blieb bei Tammo stehen. Beide sahen, wie sich der Saal leerte. Amüsierte und wütende Gesichter zogen an ihnen vorbei. Nur die Ratsmitglieder blieben im Saal zurück.

»Und du?«, fragte Gunnar.

»Wie ich?«

»Deine Meinung?«

Hatte Tammo überhaupt eine? Er kratzte sein blondes Haar.

»Gibt Ärger!«

Gunnar nickte. »Ganz viel Ärger!«

»Und jetzt?«, wollte Tammo wissen.

»Erst meine Bienen und dann zum Dorfkrug!«, meinte Gunnar Klöver, der Bienenfreund und Leichenbeschauer.

In Dangast und Varel wurde dies jedoch durchaus unterschiedlich gesehen. Eine nicht unerhebliche Fraktion vertrat die Ansicht, dass er eher Hobbyarzt, als Hobbyimker war.

Gisela und Ralf standen bereits hinter der Theke, als Tammo und Gunnar ankamen.

»Die erste Runde geht auf mich!« Ralf öffnete den Bierhahn. Schorsch, der pensionierte Lehrer und gefragte Schwarzarbeiter, kam zur Tür herein.

»Na, wie war’s? Ich konnte nicht kommen!«

»Helene will einen Puff aufmachen!«, meinte Ralf lakonisch, während er ein neues Glas füllte.

»Ein Puff für Dangast?« Schorsch schüttelte den Kopf. »Da würde ich erst einmal eine Marktanalyse machen. So ’n Puff kostet ja. Die meisten Dangaster sind verheiratet oder stehen unter Kontrolle und bei den Touris ist da auch nicht viel zu holen.«

Gunnar hatte sein erstes Glas geleert. Er leckte genüsslich den Schaum von seinen Lippen.

»Ich sehe da vor allem Probleme mit der Hygiene.«

»Gesundheitspolitisch oder eher philosophisch?«, wollte Ralf wissen.

»Na ja, so ’n Puff muss ja gewisse hygienische Standards erfüllen. Da kannst du dir ganz schnell den Ruf versauen.« Gunnar bekam das nächste Glas Bier.

»Ich hatte mal einen Tripper – ganz unangenehm!«, gestand Schorsch. Gisela blinzelte ihn von der Seite an, wandte sich dann zu Ralf.

»Was soll denn an einem Puff philosophisch sein?«

»Im übertragenen Sinn könnte man Descates ›Cogito ergo sum!‹ ›Ich denke, also bin ich!‹ auch im Puffsinn so deuten: Ich ficke, also bin ich.«

»Ziemlich primitiv!«, befand Gunnar.

»Gar nicht!«, widersprach Ralf. »Im Puffkontext ergibt das eine absolut patriarchale Denkstruktur, die das erotische Sein der Frauen ausklammert. Descartes hat da einen Fehler gemacht. Nicht das Bewusstsein, sondern das Sein bestimmt den Menschen – eben das Ficken – in diesem Fall eher das der Männer!«

»Brauch man nicht eine Lizenz für einen Puff?« Mit Schorschs Frage kehrten sie zur Realität zurück. Sie ging an Tammo.

»Bestimmt, aber ich habe mich noch nie mit Pufffragen beschäftigt.«

»Und wie sieht es mit dem Yachthafenprojekt aus?«, wollte Schorsch weiter wissen.

»Das wird wohl durchgezogen. Die Mehrheit im Rat ist eindeutig dafür.«

»So ein Bauwerk passt doch gar nicht nach Dangast!«, meinte Gisela.

»Die Stadt ist pleite. Die brauchen Geld.« Tammo trank sein zweites Bier. Gunnar war bereits beim Dritten.

»Und ein paar andere verdienen auch daran. Weideland, Maisland, Bauland – eine alte Bauernregel. Sechs Hektar gehören der Stadt und der Rest Bauer Petersen. Das ergibt richtig viel Kohle.«

»… aber für das Dorf …«, protestierte Gisela.

»Da liegt Helene gar nicht so verkehrt: Mindestens drei Jahre Bauverkehr, die Infrastruktur muss gänzlich verändert werden und das Verkehrsaufkommen könnte sich leicht verdoppeln. Helenes Watt en Hus liegt genau an der Straße. Die kann dicht machen.«

»Ich will hier keine Gäste, die Cocktails und so ’n Zeug bestellen.« Ralf sah schwarz für seine Zukunft und die seiner Kneipe. Er trank ein Bier.

»Vielleicht ist ein Puff gar keine schlechte Idee«, philosophierte Gunnar.

2. Tag

Mittwoch – 3. August

Es regnete. Tammo sah um 7.30 Uhr aus dem Fenster seines Schlafzimmers. Breite Rinnsale flossen über die Scheibe. Er zeichnete mit dem Finger den Fluss des Wassers nach. Zum Glück waren die Sitte und das Ordnungsamt für Pufffragen zuständig. Er mochte Helene. Die Frau hatte aus dem Watt en Hus in den letzten Jahren eine schicke Pension mit Café gemacht und jetzt sollte sie kampflos das Feld räumen? Tammo ging ins Bad. Er entschloss sich, den Drei-Tage-Bart stehen zu lassen. Es gab noch mehrere in Dangast, die bei dem Bau des Yachtresorts in einer ähnlichen Situation wie Helene stecken würden. Dangast als Puffmeile? Eine exotische Vorstellung. Tammo maß 1,89 Meter und der Spiegel hing seit Jahren eindeutig zu tief. Sollte mal geändert werden, dachte er und ging zur Dusche. Der Widerstand gegen den Bau am Hafen wuchs auf jeden Fall. Für den Bürgermeister und den Leiter des Yachtvereins standen ungemütliche Zeiten bevor. Tammo schloss den Hahn der Dusche und trocknete sich ab. Das Telefon vibrierte auf dem Nachttisch. Tammo kräuselte die Stirn. Es war kein gutes Omen, wenn um diese Zeit das Telefon klingelte.

Swantje Bilger, Hauptkommissarin aus Oldenburg, saß im Präsidium an ihrem Schreibtisch und formulierte ihren Antrag auf Versetzung nach … Wo wollte sie eigentlich hin? Weg! Einfach weg von diesen eigenartigen Friesen und vor allem weg von Tammo Poppinga! Sie sah auf die Uhr – zehn nach acht. Seit einer Stunde war sie in ihrem Büro und kaum einen Schritt vorangekommen. Immer wieder galoppierten ihre Gedanken durch die jüngste Vergangenheit. Zwei Morde hatte sie mit Tammo gelöst und sie fast wahnsinnig werden lassen. Umgeben von unberechenbaren Friesen, die andere mit geräucherter Salami erschlugen oder Mitstreiter in Güllefässer schubsten. Sie war Polizistin. Sie war im Austausch in New York und Paris gewesen. Sie war auf keinen Fall eine Gummistiefel tragende Landpomeranze, die sich mit den Ethnospleens der Friesen herumschlagen wollte.

Ganz weit weg! Dachte sie. München? Nee, das war auch nix. Die Bayern hatten ganz viel grünes Hinterland, seltsame Bauern und eine gänzlich unverständliche Sprache. Die waren noch mehr Eingeborene. Frankfurt? Kannte sie, mochte aber kein Äppelwoi. Außerdem gingen ihr Bänker auf die Nerven. Köln oder Düsseldorf? Hatten gewisse Vorteile. Man war schnell in Brüssel oder Paris. Der Kölsche Klüngel und Düsseldorfer Schickimicki sprachen dagegen. Blieb noch Berlin. Gab es in Berlin Bauern, wenn ja, warum und welchen Hang hatten die, andere umzubringen? Sie sollte sich eine Statistik kommen lassen.

Die Tür ging auf. Staatsanwalt Henning Papstein kam herein.

»Moin!«

Swantje sah in sein Gesicht und las Unheil.

»Nee!«, sagte sie nur.

»Was ist denn?«

»Nicht Dangast!«

Henning Papstein setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs.

»Sehen Sie das nicht etwas eng? Sie haben doch bisher dort hervorragende Arbeit geleistet.«

»Ich habe mir dort Salmonellen eingefangen, habe mich mit einer Kampfsau herumgeschlagen, habe einen Kollegen, der lieber in der Kneipe als in der Wache sitzt, habe … habe … ich habe keine Lust!«

Henning Papstein stand auf. Er fixierte Swantje.

»Wir haben einen Toten.«

Swantje schlug die Hände vors Gesicht.

Onno, der Kollege aus der Wache in Varel, war am Telefon. Tammo sah wieder aus dem verregneten Fenster.

»Moin!«

»Moin!«

»Ein Toter im Hafen.«

»Welcher?«

»Dangaster Hafen. Gunnar ist unterwegs!«, teilte Onno kurz mit. Tammo legte auf. Kein Frühstück, aber eine Leiche. War Swantje noch im Urlaub oder lungerte sie schon wieder in Oldenburg herum? Tammo zog sich seinen Regenmantel an. An der Haustür hielt er inne. Vielleicht war es besser, sein Notizbuch und einen Stift einzupacken. Falls Swantje kommen würde, wäre das wieder ihre erste Frage. Seine erste Frage war, wo ist das verdammte Notizbuch und wo ist ein Stift, der auch schreibt? Er ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen, aber nichts von dem, was er sah, erinnerte ihn an ein Notizbuch oder an einen Stift. Seine letzte Rettung war der Laden von Jochen Pieper. Der lag auf dem Weg zum Hafen.

Der Tote trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte, mit der er anscheinend erdrosselt wurde. Tammo wusste, warum er keine Krawatten mochte.

Der Tote hing kopfüber an der Reling seiner Yacht. Seine Beine hatte der Mörder festgebunden. Tammo kannte den Toten nicht. Die Yacht auch nicht. Zwei Fremdkörper in Dangast – das stand fest.

Drei Polizisten zogen auf Anweisung von Gunnar die Leiche an Bord. Der Regen nahm zu. Tammo erreichte die Yacht und ging auch an Bord.

»Moin, wie lange?«

Gunnar schätzte den Toten ab.

»Würde mal sagen – so sieben bis zehn Stunden.«

»Mit der Krawatte?«, erkundigte sich Tammo.

»Sieht so aus.«

Tammo zog sich Handschuhe an und durchsuchte die Anzugtaschen. Er fand die Brieftasche und ging in den Steuerstand der Yacht. Endlich im Trocknen, zog er einen Ausweis aus der Brieftasche. Sven von Brink stand darauf. Tammo kramte weiter. Führerschein, diverse Kreditkarten und Bargeld holte er hervor. Also kein Raubmord. Tammo sah sich auf der Yacht um. Das gute Stück war mindestens 18 Meter lang und wie es aussah schweineteuer. Das Design ließ darauf schließen, dass die Yacht höchstens vier bis fünf Jahre alt war.

Tammo stand in einer Pfütze, die von seinem Regenmantel gespeist wurde. Vielleicht sollte er besser die weiteren Untersuchungen der SpuSi überlassen. Gunnar kam in den Steuerstand. Der Gerichtsmediziner strich sein schütteres Haar aus dem Gesicht mit den blauen Augen und der markanten Nase.

»Scheißwetter!«

»Sonst noch was Auffälliges?«

»Versace!«, meinte Gunnar und schüttelte sich wie ein Pudel.

»Mit einem Anzug auf einer Yacht ist doch irgendwie doof«, sinnierte Tammo.

»Vielleicht ein neuer Trend!« Gunnar schienen Anzug und Yacht wenig zu interessieren.

»Der ist ein ›von‹!«, dabei hielt Tammo den Ausweis hoch.

»Und von wo?«

Tammo drehte den Ausweis zu sich um.

»Von Bremen. Ein von Brink aus Bremen.«

»Ein Investor?«, fiel Gunnar ein.

»Ich weiß nicht, wie Investoren aussehen.« Tammo zuckte mit den Schultern.

»So ähnlich könnte ich mir die vorstellen.« Gunnar hatte möglicherweise recht. Tammo sah aus dem Fenster zur Leiche. Er erinnerte sich an die Ratssitzungen und die Ausführungen des Bürgermeisters. Da hatten die Investoren noch kein Gesicht, nur einen ratsbeschlossenen Heiligenschein. Oder haben Götterboten keinen Heiligenschein? Der von Brink hatte keinen Heiligenschein – oder der war vom Scheißregen weggewaschen worden.

»Ich werde den mal googlen!« Tammo hörte den Wagen, der vorfuhr. Das nächste Drama nahte. Er zückte das frisch erworbene Notizbuch und den Stift. Hastig schrieb er einige Erkenntnisse hinein. Als Swantje ins Steuerhaus kam, schrieb er bewusst langsam weiter.

»Du?«, fragte Tammo, als wäre es eine Überraschung.

»Ich kann mir auch Schöneres vorstellen.« Der Krieg konnte beginnen.

»Welche Erkenntnisse gibt es bisher?«, fragte Swantje mit scharfer Stimme.

Tammo schlug sein Notizbuch auf und las laut vor. Er genoss den Auftritt. Swantje schien nicht beeindruckt.

»Handy?«, fragte sie.

Nach einem Handy hatte Tammo bisher noch nicht Ausschau gehalten. Er war peinlich berührt. Warum gelang es dieser Hexe immer, ihn bei seinen Versäumnissen zu erwischen? Tammo sah sich um und entdeckte ein Handy in der Bordküche. Swantje folgte ihm.

»Seit wann liegt die Yacht hier im Hafen?«

»So weit sind wir noch nicht!« Tammo spürte die ihm mittlerweile gut bekannte Wut, die in ihm hochkochte. Was bildete sich diese dumme Gans ein? Nur weil sie Hauptkommissarin war und er nur Kommissar? Es war Zeit, das Feld zu räumen. Er drückte Swantje das Handy in die Hand.

»Ich geh zur Schleuse.«

»Was willst du denn an der Sielschleuse?« Ihr Ton ging Tammo auf den Nerv.

»Die Schiffe hüpfen nicht in den Hafen, die fahren durch die Schleuse – und die ist nur bei Flut offen.«

Damit verließ Tammo den Steuerstand.

An der Schleuse traf er Gustaf Hennes mit seinem Rad. Gustaf war mit seinen 84 Jahren immer mit dem Rad in Dangast unterwegs.

»Hast du zufällig gesehen, wann die Yacht in den Hafen gekommen ist?«

Gustaf stellte sich gegen den Wind und den Regen, zog sein Handy, tippt auf Notizen und las.

»Gestern, Dienstag, der 2. August. Ankunft Yacht HEIKE um 20.54 Uhr. Besatzung: Mann und Frau. Weitere Personen wurden nicht gesichtet.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Tammo.

Dann wollte er noch wissen, welche Kleidung die beiden trugen. Gustaf hielt sein Gesicht in den Regen, wohl damit seine Erinnerung freigewaschen wurde.

»Der Mann trug einen hellblauen Pullover, Jeans und Turnschuhe. Die Frau hatte ein buntes Kleid an. Mit Blumen drauf, so wie in den 50er-Jahren. Ich hab noch gesehen, wie sie festmachten, dann bin ich weg.«

Gustaf tippte auf sein Handy.

»So ’n Ding solltest du dir auch kaufen. Hilft ungemein.« Gustaf stieg auf sein Rad und war weg. Tammo hatte zwar ein Handy, war aber über die Nutzungsfunktion als Telefon nie hinausgekommen. Er wollte die Aussage notieren. In vier Sekunden war sein Notizbuch durchnässt. Er steckte es wieder ein und kehrte zur Yacht zurück. Gunnar und Swantje standen bei der Leiche. Vielleicht sollte er sich einmal in einer ruhigen Stunde mit seinem Handy beschäftigen, um auch Notizen aufschreiben zu können.

»Da soll noch eine Frau mit an Bord gewesen sein«, begann Tammo.

»Wissen wir bereits!« Swantje sah ihn nicht einmal an. Gunnar hob ein Glas hoch, an dem deutliche Lippenstiftspuren zu sehen waren.

»Na dann!« Tammo ging von Bord. Der Regen kam jetzt in Böen und peitschte gegen sein Gesicht. Bloß weg, brodelte es in ihm, aber die zwei anderen Yachten, die neben den vielen Sportbooten im Hafen lagen, weckten seine Aufmerksamkeit. Yachten gehörten nicht zum Standartbild des Hafens – jedenfalls bis jetzt nicht. Tammo bestieg die »Soul«.

»Hallo«, rief er. Es dauerte. Endlich kam ein dicklicher Mittvierziger und öffnete die Glastür zum Salon.

»Was wollen Sie?«, ranzte er Tammo an.

»Kripo Varel!«

»So kommen Sie mir nicht ins Schiff!« Der Mann wollte die Tür zuschieben. Tammo setze seinen Fuß dazwischen.

»Ich hätte da einige Fragen.« Der Mann mit dem anscheinend teuren, aber geschmacklosen Ringelhemd musterte Tammo.

»Ich weiß nichts und alles, was ich weiß, können Sie über meinen Anwalt erfahren. Und jetzt verschwinden Sie, sonst gibt es eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch.«

»Morgen früh um 10 Uhr auf der Wache in Varel, sonst komm ich Sie persönlich abholen!« Tammo zog seinen Fuß zurück und ging.

Auf der anderen Yacht schien niemand zu sein. »Schwalbe« hieß sie.

»Und?«, fragte Onno, der am Empfang der Vareler Wache saß.

»Adel aus Bremen.«

»Können die nicht da sterben?« Onno widmete sich wieder seinem Sudoku. Tammo ging in sein Büro. Er gab Sven von Brink, Bremen in seinen Computer ein. Der Mann von Adel war Schiffsmakler und 39 Jahre alt, das dritte Mal verheiratet und gehörte zur Bremer Society. Vorbestraft war er nicht. Tammo wählte die Telefonnummer, die er unter Adresse fand. Eine Frauenstimme meldete sich.

»von Brink!«

Tammo räusperte sich. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste nicht, womit er gerechnet hatte, aber damit nicht.

»Sind Sie mit Sven von Brink verwandt oder verschwägert?«, fragte er vorsichtig.

»Weder noch. Ich bin seine Frau! Wer sind Sie eigentlich?«

»Poppinga, Tammo Poppinga. Kripo Varel!«

»Ist was mit meinem Mann?«

»Äh, ja, er ist – wie soll ich sagen? Waren Sie mit ihm an Bord der HEIKE?«

»Nein, er wollte die Yacht überführen. Hat er jedenfalls gesagt. Was ist mit meinem Mann?«

»Ich schicke gleich einige Bremer Kollegen zu Ihnen.«

»Wasist …«,hörteTammonoch,bevorerdasGesprächunterbrach.VerstörtrieferinBremenanundbatdieKollegen,dieTodesnachrichtzuüberbringen.DreiMalverheiratetundschonwiedereineGeliebte.Er,Tammo,warnochnieverheiratetundhatteauchkeineGeliebte.IrgendwasliefdaschiefinseinemLeben!Andererseitslebteernoch,wasmanvonBrinknichtbehauptenkonnte.DasberuhigteTammoetwas.WowardieGeliebteabgeblieben?DieFragewollteerspäterklären.Wemgehörtedie»Soul«undwemdie»Schwalbe«?Esdauerteetwas,biserfündigwurde.Die»Soul«warimBesitzvoneinemHans-H.Kleefisch.UnternehmerausMoers.Die»Schwalbe«warunterdemNamenAstridWernerregistriert.Beruf:Fehlanzeige.DieDamestammteausKassel.

Die Tür flog auf. Bürgermeister Julius Brömmer stand vor Tammo. Seine sonst so ordentlich ondulierten Haare standen klitschnass in Stecknadellänge von seinem Kopf. Das Haargel schien in Verbindung mit Wasser eine betonartige Masse zu werden. Er hatte beide Daumen unter seinen Hosenträgern und trommelte mit den Zeigefingern darauf.

»Keine Presse! Einen Toten – einen Mord – können wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Schon gar nicht am Hafen!« Jedes Wort kam wie eine Presswehe. Der Mann war eindeutig fertig. Noch nie hatte Tammo beobachtet, dass Brömmer derart auf seine Hosenträger eintrommelte.

»Tote und Mord passen eigentlich nie – mal so gesehen!«, gab Tammo zu bedenken. Julius Brömmer glotzte ihn verständnislos an. Dann hatte er verstanden.

»Ja, natürlich, passt nie! Aber in diesem Fall ist es eine Katastrophe. Stellen Sie sich vor – ein Toter, ein Ermordeter im Dangaster Hafen! Da ist doch allen Spekulationen Tür und Tor geöffnet.«

»Einen Mord kann man schlecht verheimlichen. Kannten oder kennen Sie einen gewissen Sven von Brink?« Tammo war auch aufgestanden, damit er keinen Krampf im Nacken bekam. Der Bürgermeister stand bedrohlich nahe bei ihm.

»Ist das der Tote?«

Tammo nickte.

»Adel – ganz unangenehm.« Bürgermeister Bömmer zog seine Daumen unter den Hosenträgern hervor. »Ich glaube, ich werde das mit ihrem Vorgesetzten in Oldenburg besprechen.«

Tammos Wutpegel war noch nicht ganz hochgefahren.

»War Sven von Brink einer der Investoren?«

»Ich glaube nicht, dass die Geschäfte der Stadt Sie etwas angehen. Und unterlassen Sie gefälligst solche hanebüchenen Theorien.«

»War er einer der Investoren?«, beharrte Tammo.

»Nein, eindeutig nein!« Er bekam ein rotes Gesicht. Der Bürgermeister bekam oft ein rotes Gesicht und es geschah in den unterschiedlichsten Situationen. Ob das eine Stoffwechselerkrankung war, schoss es Tammo durch den Kopf. Der Bürgermeister drehte sich um und verließ das Büro. Tammo klopfte eine Weile mit einem Stift auf das Holz seines Schreibtisches. Morsesignale seiner Wut.

Swantje hatte sich, bevor sie nach Dangast fuhr, bewusst sportlich umgezogen. Jeans, T-Shirt, Windjacke und Turnschuhe. Die Windjacke war eine Wind-, aber keine Regenjacke. Fast ungehindert liefen die Regenmassen über ihren Körper und sammelten sich in ihren Schuhen. Gunnar trug Gummistiefel und Ölzeug. Mitleidig sah er Swantje an.

»GehdochindenSteuerstandodersetzdichindenWagen.«

Gunnar hatte die Leiche weiter untersucht. Swantje stand die ganze Zeit daneben. Typisch friesisch, dachte sie. Da wird einer mit einer Krawatte erdrosselt und an den Füßen aufgehängt. Können die nicht normal morden? Messer, Pistole oder Gift. Krawatte! Nur albern!

Im Inneren der Yacht war die SpuSi bei der Arbeit. Einer der Kollegen kam hinaus. In einem kurzen Zwischenbericht erklärte er, dass allem Anschein nach auch eine Frau an Bord gewesen ist, dass sie eine Flasche Champagner und zwei Gläser gefunden hatten, und dass ansonsten nichts auf eine Durchsuchung der Yacht deutet.

Swantje starrte immer noch auf die Leiche. Sie fror. Gunnar nahm sie an die Hand.

»Mach, dass du dich umziehst. Im Moment kannst du hier nichts erreichen.«

Er brachte Swantje zu ihrem Auto, öffnete die Tür und drückte Swantje sanft auf den Sitz. Sie sah Gunnar abwesend an.

»Ich war vorhin ziemlich doof zu Tammo.«

»Wir wissen doch, wie du bist. Keiner kann über seinen Schatten springen.« Was Gunnar als Beruhigung verstand, hörte sich aber ausgesprochen und ziemlich unverschämt an. Swantje nickte aber nur, schloss die Tür. Sie griff nach dem Handy von Sven von Brink. Es war auch feucht, funktionierte aber. Auf dem Display erschienen verschiedene Nummern und Namen. Eigenartig, staunte Swantje, der letzte Anruf lag vier Tage zurück. Sie sah sich die Daten der letzten Telefonate an. Der Mann von Adel aus Bremen schien kein ausgesprochener Handy-Nutzer gewesen zu sein. Eigenartig, dachte sie noch einmal und fuhr ab. Onkel Heini fiel ihr ein. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie einige Kleidungsstücke bei ihrem letzten Aufenthalt bei Onkel Heini gelassen. Indem sie es dachte, stellte sich sofort ein schlechtes Gewissen ein. Seit dem überstürzten Abgang aus Dangast hatte sie sich bei ihm nicht mehr gemeldet – bis auf eine lausige Postkarte. Sie mochte, nein, sie liebte ihren Onkel mit dem großen Herz. Warum gelang es ihr nicht, ihrem Onkel die Aufmerksamkeit zu schenken, die er verdient hatte? War sie wirklich die egoistische Zicke, für die sie Tammo hielt?

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Onkel Heini, als er die Tür seines Bauernhauses öffnete. Er nahm Swantje in die Arme. Sie umschlang ihn und drückte ihn fest an sich.

»Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe«, flüsterte sie.

»Schon gut, mein Mädchen! Du solltest dich umziehen. In deinem Zimmer hängen noch Kleider im Schrank!«

Swantje sah mit verweinten Augen Onkel Heini an.

»Sag mal, bin ich eine Zicke?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Bin ich eine oder nicht?« Ihre Augenbrauen wippten. In diesem Moment wusste sie, dass ihre Frage eindeutig zickig war. Beide lachten.

Sie erschrak vor sich selbst, als sie sich im Spiegel des Bads sah. Die Schminke hatte sich gespenstig über ihr Gesicht verteilt. So muss eine Zickenseele aussehen, dachte sie. Die blonden Haare hingen in langen Strähnen über ihrem Gesicht und den Schultern. War ein Stück ihrer Seele aus dem Körper gesprungen und spiegelte sich nun als Grimasse im Badezimmerspiegel? Sie starrte in ihr Ebenbild, klimperte mit den Augen, verzog das Gesicht zur Fratze und lachte.

Wo war die Frau? Tammo hatte sich etwas beruhigt. Er starrte auf seinen Computer. Sven von Brink war auf mehreren Society-Fotos in der Bremer Lokalpresse zu sehen. Seine derzeitige Frau war eine schwarzhaarige Schönheit, die, wie aus den Artikeln hervorging, ihren Lebensunterhalt vorher als Eventmanagerin in München verdiente. Mit der Heirat sprach sie dann nur noch über sich und ihren Mann – vorzugsweise vor Journalisten. Sven von Brink, fand Tammo heraus, hatte eine durchschnittliche Ehedauer von 2,3 Jahren. Demzufolge stand die nächste Scheidung unmittelbar bevor. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine eher dünn wirkende Schönheit ihren Gemahl mit einer Krawatte erwürgt, hielt Tammo für relativ unwahrscheinlich. Den Toten dann noch kopfüber an die Reling zu hängen, für gänzlich unmöglich. Das Telefon klingelte. Es war Staatsanwalt Henning Papstein.

»Moin, was ist denn da in Dangast los?«

»Ein toter Adliger im Hafen«, war Tammos Antwort.

»Die Politik versucht, Druck zu machen.«

»Und?«, fragte Tammo.

»Keine Rücksicht! Ihr habt meine volle Unterstützung. Ich will nur wissen, was ihr macht!«

»Kein Problem!«

Tammo legte auf. Sein Notizbuch war mittlerweile einigermaßen trocken, aber das Papier unangenehm gewellt. Er notierte die Ankunft der Yacht und die Namen der beiden anderen Yachten. Dann stand Swantje plötzlich vor seinem Schreibtisch. Es war mittlerweile 13.45 Uhr, er hatte noch nichts gegessen und war somit allen Angriffen nüchtern ausgesetzt. Automatisch schob er sich auf seinem Stuhl zurück.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Swantje. Tammo schätzte ihre Kampfeslust ab, sah aber in friedlich gestimmte Augen. Den Regen hatte sie aus ihrem Haar geföhnt, die Schminke dezent wieder aufgetragen und sich mit einer Jeans, einer weißen Bluse und einer Regenjacke neu eingekleidet. Er berichtete ihr von dem Gespräch mit Henning Papstein und seinen Recherchen im Internet.

»Wo ist die Frau abgeblieben?«, fragte Swantje. Soweit war Tammo auch schon.

»Sie hat nachts die Yacht verlassen. Ein Auto hatte sie mit Sicherheit nicht dabei. Ein Bus fuhr auch nicht mehr. Vielleicht ein Taxi.«

Tammo hatte schon den Hörer in der Hand. Er rief die Taxi-Zentrale in Varel an. Es gab in der letzten Nacht keine Fahrt von Dangast.

»Folglich muss sie irgendwo in Dangast Unterschlupf gefunden haben«, stellte Swantje fest.

»Sollen wir uns aufteilen und die Vermieter der Pensionen und Hotels abtelefonieren?«

»Ist es nicht besser, wenn wir sie abfahren? Falls wir fündig werden, können wir die Frau gleich verhören. Ist sie weg, können wir wenigstens Spuren sichern.«

Dagegen war ausnahmsweise mal nichts zu sagen.

»Ich beginne am Dorfeingang. Übernimmst du die Häuser am Strand?«, schlug Tammo vor.

Zuerst klapperte Tammo die Privatunterkünfte in der Deichstraße ab. Erfolglos. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Die dunklen Wolken hingen jetzt über Wilhelmshaven. Der Straßenrand, befand er, müsste mal gemäht werden. Wehmütig sah er zum Dorfkrug. Der war noch zu. Vorbei an dem Antiquitätenladen ging es zu Helene. Tammo nahm den Weg ums Haus. Das Café war geöffnet, das wusste er. Weil Helene sich seit zwei Jahren aus dem Service zurückgezogen hatte, steuerte Tammo gleich auf die Küche zu. Im Vorraum hörte er aufgeregte Stimmen.

»Ich kündige! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich im Puff putze.« Das war Doreens Stimme. Sie arbeitete bereits über zwei Jahre bei Helene.

»Bleib mal entspannt. Das war nur so eine spontane Reaktion von mir.«

»Ein Puff ist keine spontane Reaktion – nie! Du hast da Hintergedanken. Ich kenne dich!«

Tammo blieb an der Tür stehen und horchte. Wie er Helene kannte, musste jetzt ihr Temperament in Wallungen kommen. Recht hatte er.

»Ich lass mir doch nicht von den Ratsfuzzies meine Lebensgrundlage versauen.«

»Siehste! Hab ich doch gesagt!«

»Doreen! Der Puff ist erst einmal politisch!«

»Ich lach mich tot! Was soll denn an einem Puff politisch sein?« Ihre Stimme überschlug sich.

So wie Tammo Helene kannte, würde sie jetzt grundsätzlich. Sie wurde grundsätzlich.

»Mit dem Puffprojekt setze ich den Rat unter Druck. Stell dir das doch mal vor. Am Ortseingang von Dangast ein Puff. Auf dem Dach eine riesige Leuchtreklame – ›Zum flotten Präser‹ oder ›Die rote Peitsche‹ – Rot steht da für Revolution und ›Peitsche‹ für Kraft und Energie – oder vielleicht ganz profan ›Zur geilen Katze‹ oder …« Helenes Stimme hatte durchaus etwas Schwärmerisches.

»Spinnst du?«, kreischte Doreen. »Wie naiv bist du? Ich kenne die Ratsmitglieder. Es ist eine reine Frage der Zeit, bis die Ersten bei dir auftauchen, um zu fragen, wann du den Puff aufmachst und ob es Rabatt für Ratsmitglieder gibt! Das musst du mal ganz pragmatisch sehen.« Es war Zeit, dass sich Tammo zu erkennen gab.

»Moin!«

Die beiden Frauen starrten ihn an. Doreen verließ die Küche wutschnaubend.

»Hat sich zufällig in der letzten Nacht eine Frau bei dir eingemietet?«

»Nicht zufällig! Bei mir mietet sich nie zufällig jemand ein.« Helene stand noch unter emotionalem Druck.

»Also, eine Frau hat bei dir ein Zimmer gemietet?«

»Sag ich doch! Zwei Tage wollte sie bleiben, jetzt packt sie gerade. Hat aber für die beiden Tage gezahlt.«

»Welches Zimmer?«

»Zimmer 5!«

Schon war Tammo aus der Küche. Die Tür von Zimmer 5 ging gerade auf. Was er sah, ließ seinen Atem stocken.

Swantje war bis zum Parkplatz am Quellbad gefahren. Sie sah aus dem Seitenfenster. Der Regen schien noch mehr nachzulassen. Warum hatte sie keinen Regenschirm im Auto? Sie stieg aus und zog den Kopf zwischen die Schultern. Der Wind pfiff ungehemmt auf der freien Fläche am Parkplatz. Sie lief zum Hotel am Deich. Kaum war sie in dem schützenden Wintergarten, kam ein korpulenter Mann mit grauem Haar auf sie zu.

»Sind Sie die Polizistin?«

»Was heißt denn ›die‹ Polizistin?«

»Na, die, die den Toten auf der Yacht untersucht!« Swantje stand kurz davor, diesem Mann einen Vortrag über den Gebrauch der deutschen Sprache zu halten. Sie untersuchte nicht den Toten, sondern den Mordfall – war das so schwer zu begreifen? Stattdessen sagte sie: »Im Prinzip ja! Und wer sind Sie?«

»Ich?«, verwirrt sah er Swantje an.

»Wer sonst!«

»Ach so! Man kennt mich hier. Ich bin Hinnerk Uppendiek, Vorsitzender des Yachtvereins und das seit 24 Jahren. So ’ne Sauerei hat’s bis jetzt hier nicht gegeben – will ich mal sagen!«

»Und weiter?«

»Delikat, will ich mal sagen! Ganz delikat!«

»Was ist denn an einem Mord delikat?« Swantje ließ ihre Augenbraue wippen.

Hinnerk Uppendiek sah sich nervös um.

»Können wir uns vielleicht – da in der Ecke – mal unterhalten?«

Sie gingen zu dem Tisch in der angedeuteten Ecke.

»Wir stehen kurz vor dem Durchbruch – will ich mal sagen!« Hinnerk Uppendiek beugte sich zu Swantje über den Tisch. »Ganz delikat, die ganze Sache. A und B passen nicht zusammen. Auch wenn da so ganz per Zufall … das müssen Sie mal trennen.«

Swantje gab sich alle Mühe, in dem Wortgewirr einen Sinn zu finden. Es gelang einfach nicht. War das wieder was Friesisches oder einfach nur bescheuert?

»Ich verstehe nicht ganz!«, gab sie zu.

»Der Yachtverein hat einen ganz hervorragenden Ruf. Da hab ich an erster Stelle … also mein Werk. Und jetzt kommt da so ’n Toter daher. Geht doch gar nicht – will ich mal sagen!«

Swantje ahnte, was der Sprachkünstler meinte, wollte aber sichergehen.

»Und was soll ich ihrer Ansicht nach machen?«

Uppendiesks graue Augen wurden schmal. Seine Nasenlöcher bebten. »Ganz tief hängen, die Geschichte. Wenn ich mir die Sache so ansehe, ist der Tote ja nur zufällig auf einer Yacht umgekommen. Hätte ja auch im Park oder hinter einem Gebüsch passiert sein können. Ich würde da die Yacht gar nicht groß erwähnen. Und wenn – will ich mal sagen – vielleicht doch eine Yacht. Da komm ich Ihnen entgegen, aber doch nicht der Dangaster Hafen. Der hat doch wirklich nichts damit zu tun. Allein von der Logik her.«

»Welche Logik?«

»Na, die Logik! Seit 1884 hat es im Dangaster Hafen keinen Mord gegeben. Das ist doch Beweis genug. Hier handelt es sich eindeutig um einen Zufall.«

»Wo waren Sie eigentlich vorletzte Nacht? So zwischen 23 und 4 Uhr früh – will ich mal fragen.«

Hinnerk Uppendiek lehnte sich zurück. War die Polizistin zu doof, seinen Ausführungen zu folgen – oder wollte sie ihn ablenken. Wo war er vorgestern Nacht? Oh, natürlich wusste er, wo er vorgestern Nacht war, aber das ging die Tussi gar nichts, aber wirklich gar nichts an!

»Verdächtigen Sie mich etwa?«

»Ich möchte eine Antwort!«

»Im Bett!« In welchem, verschwieg er.

»Haben Sie dafür Zeugen?«

»Ich schlafe nicht mit Zeugen.«

»Sind Sie verheiratet?«

Sollte er ihr etwa verraten, dass ihn seine Frau seit zehn Monaten betrog? Wenn er mal zur Entspannung … nee, das ging die Polizei nichts an.

»Ich bin verheiratet, aber meine Frau macht Urlaub.«

»Sie waren also alleine?«

»Sag ich doch«, log er.

»Und was möchten Sie jetzt konkret von mir?« Das hatte Hinnerk Uppendiek schlagartig vergessen.

Sie war groß, schlank, trug ihr braunes Haar offen und sah Tammo mit einer gewissen Panik an, als er plötzlich vor ihr stand. Grüne Augen und ein Grübchen! Ihre Schönheit hatte Tammo verwirrt. Er räusperte sich mehrere Male.

»Sie wollen abreisen?«

»Was dagegen?«

»Sie haben doch bis morgen gebucht!« Der Kloß war noch immer in seinem Hals. Die Frau musterte ihn misstrauisch. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Poppinga – Tammo Poppinga – Kripo Varel«, stammelte er, suchte nach seiner Dienstmarke, aber fand sie nicht. Sie sah darüber hinweg.

»Ich habe es mir anders überlegt!« Sie sah Tammo in die Augen, drückte den Atem aus ihrer Nase und ließ die Reisetasche fallen.

»Was soll’s. Ich war vorhin am Hafen. Es ist grauenhaft!« Ihre Augen flackerten etwas.

»Sie kannten Sven von Brink?«

»Natürlich. Ich bin doch mit ihm auf der Yacht hierhergefahren.«

»Was ist an Bord geschehen?« Tammo hatte seine Stimme noch immer nicht im Griff.

»Können wir uns irgendwo hinsetzen?« Tammo nickte.

»Sollen wir ins Café gehen?« Er nahm ihre Tasche.

Im hinteren Zimmer fanden sie eine stille Ecke. Je länger er diese Frau ansah, desto mehr spielten seine Hormone verrückt. Es war Zeit, dass er Fragen stellte, damit das ausgeschüttete Testosteron sein Hirn nicht gänzlich vernebelte.

»Wie heißen Sie?« Er wollte sein Notizbuch zücken, fand es aber nicht. Es lag in der Wache in Varel, fiel ihm ein. Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. Yvonne Bergfeld stand darauf.

»Frau Bergfeld, erzählen Sie mir, wie der gestrige Tag abgelaufen ist?«

Sie sammelte sich einen Moment.

»Wir sind gegen 10 Uhr auf die Yacht gegangen und dann Richtung Dangast gefahren. Die Weser herunter und dann in den Jadebusen. In Bremerhaven haben wir noch eine Pause gemacht. Herr von Brink war kurz in der Stadt. Ich blieb an Bord. Gegen 21 Uhr waren wir dann im Hafen von Dangast. Er wollte mir an die Wäsche, da bin ich gegangen.«

»Ich verstehe nicht recht? Seit wann kannten Sie Sven von Brink?«

»Seit vorgestern früh!« Sie schlug die Beine übereinander. Beine, solche Beine, wenn sie übereinandergeschlagen werden, führen unweigerlich zu einem Vakuum in Tammos Hirn. Sein Kopf wackelte albern. Er wusste, dass er jetzt besonders dusselig aus seinen Augen schaute.

»Ich begreife immer weniger!«

»Ich bin selbstständig.«

Tammo sah ins Café. Hatte er irgendwas überhört? »Der Zusammenhang wird mir nicht klar!«