Der Traum des Apothekers von Locarno - Max Frisch - E-Book

Der Traum des Apothekers von Locarno E-Book

Max Frisch

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Beschreibung

Max Frischs Tagebuch 1966-1971 enthält mehrere Erzählungen und Erzählskizzen. Jeder dieser Texte hat für das Tagebuch seine Funktion, für sich erzählt jeder eine je eigene Geschichte: Vom Traum des Apothekers, der nur weiß, »daß es nicht stimmt, was er denkt, was er sagt, was er tut, was er weiß«; vom alternden Goldschmied, der in einer Bodega sitzt und von dem es schon gleich zu Beginn heißt, »er wird ein schlimmes Ende nehmen«; von den seelischen Voraussetzungen eines Unfalls und damit von einer nicht gerade einfachen Liebesbeziehung zwischen einem Arzt und einer Philologin; oder vom 53jährigen Professor für Statik, der sich eines Morgens, kurz nach acht Uhr, an irgendeinem Schalter meldet, weil er sich schuldig meint.

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Seitenzahl: 70

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Max Frisch

Der Traum des Apothekers von Locarno

Erzählungen aus dem Tagebuch 1966-1971

Suhrkamp

Inhalt

Der Goldschmied

Der Traum des Apothekers von Locarno

Skizze eines Unglücks

Glück

Statik

DER GOLDSCHMIED

Er wird ein schlimmes Ende nehmen. Das weiß er, wenn er in der Bodega sitzt. Der spanische Kellner, wenn er den Dreier Clarete auf den Tisch stellt, blickt anderswohin, spricht schon zum nächsten Tisch. Sein Vater starb einfach an Herzschlag; im Bus. Kommt jemand in die Bodega, der den Goldschmied von früher kennt, so bleibt der Goldschmied nicht lang, legt sein Geld hin, sowie der alte Bekannte sich setzt. Er versteht's nicht, daß ein Lehrling ihn fertig macht. Als junger Mann, damals nach der Kunstgewerbeschule, arbeitete er im Ausland (Straßburg); 1939 kehrte er zurück. Er hat den Lehrling entlassen und einen andern genommen: auch der neue läßt den Wasserhahn tropfen. Vermutlich ist er ein Pedant nicht nur in seiner Werkstatt; 27 Jahre Arbeit mit der Lupe. Kommt er von seiner Arbeit nach Hause, hält er eine schmutzige Küche nicht aus. Zum Beispiel. Manchmal denkt er an Brandstiftung. Sie weiß es, daß er eine schmutzige Küche nicht aushält, und findet es nachgerade lächerlich, daß das sein Problem ist. Der spanische Kellner in der Bodega behandelt ihn freundlich, aber nachlässiger als alle andern Gäste. Er wagt nicht zu verlangen, daß sie die Küche in Ordnung hält. Sie hat es auch früher nie getan; offenbar ist er empfindlicher geworden, seit er als Mann ein Versager ist. Schon seine Bitte, sie möge das Geschirr nicht tagelang stehen lassen, weil es ihn einfach ekle, führt zu Spannungen. Schließlich ist sie diplomierte Kindergärtnerin und nicht seine Magd. Die Küchen-Spannungen enden jeweils damit, daß ihm seine Lächerlichkeit bewußt wird; wenn es soweit ist, wäscht sie wortlos das Geschirr, aber nicht vorher. Sein Laden mit Werkstatt liegt in einer Gasse der Altstadt, wo Brandstiftung viel ausrichten würde vorallem nach Mitternacht. Wenn der Goldschmied, allein zuhause, das Geschirr wäscht und trocknet und auch den Boden der Küche reinigt, weiß er, daß sie keinen Grund hat zu danken; es ist ein offener Vorwurf. Dann und wann tut er's trotzdem, weil ihn das ungewaschene Geschirr ekelt. Wieso nimmt sie keinen anderen Mann? Tut er's nicht und wartet er, bis sie das Geschirr wäscht, so muß er sich zusammen nehmen, daß er sich nicht bei ihr entschuldigt; sie ist ja wirklich nicht seine Magd. Einigermaßen wohl fühlt er sich nach dem ersten Zweier in der Bodega; er trinkt selten mehr. Aber der Zweier hält nicht lange an. Nachher geht er nochmals in die Werkstatt, wenn die Angestellten weg sind; er stellt den tropfenden Wasserhahn ab. Einmal ein schwerer Fehler in der Buchhaltung, den sie gemacht hat; er sagt ihr nichts davon. Er erwirbt sich keine Achtung, wenn er sie kränkt. Wenn sie eine Woche bei ihren Eltern ist, stört ihn das ungewaschene Geschirr in der Küche nicht; er spült es erst am letzten Abend, bevor sie zurückkommt. Sein Einkommen ist nicht groß, aber es reicht. Wäre es nicht das Geschirr in der Küche, so wäre es etwas anderes, was ihm zeigt, daß sie seine Wünsche zu erfüllen kein Bedürfnis hat. Das weiß er. Natürlich geht es nicht um das Geschirr. Das alles weiß er. Es ist lächerlich. Er tut ihr leid. Sie kommt nicht mehr in die Bodega, um ihn zu holen; er empfindet es als Entmündigung, wenn sie ihn holt. Er ist schwierig. Das war immer so: wenn er einmal krank ist, gibt sie sich rührende Mühe. Das bleibt. Früher hatte er Freunde; er ruft sie kaum noch an, scheut sich, weil es lächerlich ist, was ihn beschäftigt. Was man eheliche Auseinandersetzungen nennt, kommt vor, aber er meidet solche Auseinandersetzungen; dann sagt er genau, was er nicht hat sagen wollen: die Sache mit dem ungewaschenen Geschirr. Zum Beispiel. Zeitweise gibt sie sich Mühe. Sein Interesse an öffentlichen Angelegenheiten (Sanierung der Altstadt) ist erloschen; zwar liest er den TAGESANZEIGER, wenn er in der Bodega sitzt. Verglichen mit allem, was in der Zeitung steht, ist es lächerlich, was ihn beschäftigt. Es ist unter seiner Würde. Wenn es je zu einer Brandstiftung kommt, so darum.

Früher brauchte er sich nichts gefallen zu lassen; ein Draufgänger, Erfolg bei Frauen usw. Noch vor kurzem brauchte er sich vieles nicht gefallen zu lassen, weil es gar nicht dazu kam. Zum Beispiel: sie hat das Foto von Straßburg einfach von der Wand genommen, verschwinden lassen. Seine Frau fürchtet jetzt immer, daß er sich lächerlich mache. Wenn jemand bei einem Fehlanruf einfach aufhängt, ohne sich zu entschuldigen, nimmt er's persönlich; er sagt nochmals: Huber! obschon der andere eben aufgehängt hat. Hinten in seinem Laden (vormittags) sitzt er bei Neon-Licht, die Lupe in die Augenhöhle geklemmt; seine Frau spricht mit den Kunden, er fast nicht mehr, oder wenn ein Kunde mit dem Goldschmied selbst sprechen will, beugt er sich über den Tisch, damit der Kunde nicht sein Gesicht sehe. Es gibt noch Leute, die seine Broschen kaufen. Meistens sagt er nichts, überhaupt nichts, wundert sich nur, was eigentlich los ist, daß er sich alles gefallen läßt. Vielleicht meint sie, daß der Goldschmied es nicht einmal merkt. Dann fragt sie jedesmal: »Hast du wirklich die Wohnung abgeschlossen?« Manchmal blickt der Goldschmied sie einfach an: als wäre er imstande sich aufzuhängen. Einer der Kellner, der junge Spanier, hat es auch gemerkt, wird freundlicher, seit der Goldschmied seinen Mantel nicht mehr auszieht; dazu trägt er die Baskenmütze, packt Fleischkäse aus einem knisternden Papier; offenbar geht er zum Abendessen nicht nachhause. Wenn der Goldschmied mit jemand Streit hat, weiß er, daß sie auf der Seite der andern ist von vornherein; da braucht er gar nichts zu erzählen. Sie will immer sein Bestes und tut, als mache er nur noch Fehler. Manchmal will er Schluß machen. In der Bodega macht es ihm nichts aus, wenn die Aschenbecher schmutzig sind. Einmal muß sie's sagen: »Der ganze Schmutz kommt ja von dir.« Das kann man ihm beweisen. Es ist immer besser, wenn er nichts sagt. Eine Stunde nachdem er aus der Toilette gekommen ist, merkt der Goldschmied, daß seine Hose nicht zugeknöpft ist; vielleicht ist das schon öfter vorgekommen und der Goldschmied hat's überhaupt nicht bemerkt. Im Mantel fühlt er sich sicherer. In der Bodega erinnert er sich an einen Fall, von dem er als Schüler gehört hat: ein Arbeiter, Mineur, der Speiseröhrenkrebs hatte, legte sich eine Zündkapsel in den Mund; sein Hirn verspritzte in den Arkaden beim Hechtplatz. Der wollte es gräßlich, wie der Goldschmied es eigentlich nicht will. Gegen 6 Uhr wird die Bodega voll, dann macht er Platz; er sitzt ja schon im Mantel, und es fällt nicht auf, wenn er geht. Das Geld legt er vorher auf den Tisch. Ein andrer Fall: als Kunstgewerbeschüler, als er in Wiedikon mit seiner Mutter wohnte, hörte er beim Zähneputzen im Badezimmer einen ungewöhnlichen Ton aus dem unteren Badezimmer, nicht sehr laut, ungefähr so wie wenn jemand mit einem kleinen Hammer den Spiegel zerschlagen hätte, nur ohne Klirren danach; ein Schuß; nach zwei Stunden trugen sie den Sarg aus dem Mietshaus. Je älter man wird, umso schlichter möchte man's. Auf dem Albis kennt er Plätze genug, die sich eignen; es braucht ja nicht am Sonntag zu geschehen, wenn es viele Spaziergänger gibt, Familien mit Kindern. Manchmal denkt er: Ich häng mich auf! beispielsweise wenn sie sagt: »Rede nicht, sondern denke.« Er kommt immer regelmäßiger in die Bodega. Wenn er sich gesetzt hat, sieht er sich die Leute vorerst an; dann denkt er. Was eigentlich? Ein junger Bart mit Langhaar am runden Tisch sagt: