Der Unbekannte - Heinrich Mann - E-Book

Der Unbekannte E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Eine Geschichte über eine unmögliche Liebe: Der 15-jährige Raffael verliebt sich in Estela, die Frau des Konsuls Vermühlen, der mit seinen Eltern befreundet ist. Doch Raffaels Gefühle gegenüber Estela sind nicht mehr als eine platonische Schwärmerei, da er jedes Mal, wenn er sie treffen könnte, vor lauter Schüchternheit Reißaus nimmt. Schließlich fädeln sein Vater und der Konsul einen Tanz zwischen Raffael und Estela ein, zu dem es jedoch nie kommen wird...-

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Heinrich Mann

Der Unbekannte

 

Saga

Der Unbekannte

 

Coverbild/Ilustration: pexels-cottonbro-6719085

Copyright © 1906, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726885552

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

I

Betäubt von sechs Schulstunden trabt durch die winkeligen Straßen ein Knabe: ein gewöhnlicher Bücherträger, der hier und da ausweicht, um einen Lehrer nicht grüßen zu müssen, dann und wann errötend den Hut abreißt vor einem kleinen Mädchen, mit dem er getanzt hat. Die Gassen steigen und fallen; der Knabe bedenkt, daß er jetzt, entgegen sämtlichen Gesetzen, sich etwas Glück stehlen wird, ein Stück Marzipan kaufen wird, obwohl es ihm den Magen verdirbt, und aus der Leihbibliothek etwas holen, auf dessen Genuß schließlich auch bloß Jammer folgt. Denn das Leben ist zu sehr verschieden von dem, was er meint, was er als Ahnung in sich spürt. Die Bücher, die er sich leiht, versagen auch und brauchen eine Ergänzung: weshalb er zeichnet. Zu Hause in seinem grünen Parterrezimmer, das Efeustöcke an den Fenstern heimisch machen, wartet auf ihn ein Kasten mit Wasserfarben, etwas rauhes Papier, einige Flaschen bunter Tusche; daran denkt er mit einer so lasterhaften Gier, daß ein vorübergehender Bürger sich fragt: ›Was macht der Junge für Augen?‹

Ein zerrüttendes Laster; denn die Zeichnung, die er, gesprengt von Herzklopfen, fertiggemacht hat, er legt sie, eine Stunde später, als halbtotes Ding in das Pult. Mit jeder Minute, die der Blick in ihr wühlte, ist sie unzulänglicher geworden. Wenn er sie heute wieder hervorreißt, wird er sie nicht einmal mehr erkennen. Die Träume sind alle vergeblich. Eine Insel aus Rosenblättern trägt einen auf rätselhafte Art einen hohen Atemzug lang. Da taucht sie unter; man ertrinkt. Täglich wieder muß man ertrinken.

In der Schule gelingt es ihm manchmal, einen Lehrer so zu sehen, als hätte er noch nie mit ihm zu tun gehabt. Furcht und Haß fallen ab; er bemerkt: ›Also dies Wesen, dies arme Wesen!‹ Und der Knabe, der nichts weiß, nichts belegen kann, hält in seinem Sinn auf einmal die Gesamtheit solcher Handwerkerexistenz.

Zu Hause klappen die Türen von Besuchen. Oft ist noch des Nachts die Luft warm und dick von Menschen; Gerüche aus Bärten und Ballkleidern verwickeln sich mit denen, die der Küche entsteigen. Musik dringt in sein Zimmer und stapft durch die Dunkelheit, in der er liegt, Tanzschritte schleifen über seinem Kopf. Manchmal das Kreischen einer Frau, auf der Treppe vielleicht; eine schnarrende Offiziersstimme; auch Rütteln am Türgriff. Rüttelt ihr nur, hier ist's für euch zu Ende, ihr als Balldamen verkleideten Wirtschafterinnen, ihr uniformierten Turnlehrer. Wenn ihr wüßtet, was ihr hier, in dem kleinen dunklen Zimmer, für eine lächerliche Entlarvung erfahrt und wie euer Anspruch darauf, Eleganz, Schönheit, hohes Leben darzustellen, hier zu kläglicher Schande wird. Ein fünfzehnjähriger Pennäler, werdet ihr sagen. Jawohl; und das Tragische ist eben dies, daß er sich, begegnete er einem von euch im Flur, in fliegender Scham über den Hof retten müßte, und daß es höchst alltäglich um ihn zu stehen scheint.

Aber drinnen ist alles anders, als ihr es sehen könnt, und der gewöhnliche Bücherträger, den jeder von der Wiege her kennt, ist ein Fremder, gestern mit dem Schiff eingetroffen und jeden Tag zur Abreise fertig. Er ist irgendwie verwandt dem Albert Bishop, der, unbesorgt um Zeugnisse, ein paar Schulstunden mitmacht und, wenn er nach eigenem Ermessen genug Deutsch kann, sein Gastspiel abbrechen und das folgende Land aufsuchen wird. Für diesen Engländer muß die Welt einen andern, bunten und zauberhaften Sinn haben. Dort ist es nicht Schicksal, daß einem zwischen acht und eins nichts freisteht außerhalb der Schulmauern; die Stadt ist offen, es führen Wege, gelassen beschreitbar, über alle Grenzen hinaus; Dinge, greifbar wie ein Schulbuch, liegen in China oder Transvaal. Und in der Tat, wenn Bishop einundzwanzig ist – es gilt dann gleich, wieviel er geschwänzt, wie oft er »Ungenügend« hat; eine Sprachprüfung muß er in London bestehen, dann wird er Dolmetsch bei einer exotischen Gesandtschaft. Solche freien Lebensläufe gibt es – indes man hier um den Einjährigen dient und weiter um das Abiturium und weiter um Gott weiß was.

Denn wohin dies einmal führen soll, weiß so gut wie niemand. Es ist doch wohl ausgeschlossen, daß solch ein Mensch, der im eigenen Elternhaus vor den Leuten davonläuft, der Marzipanessen und Zeichnen wie ein Laster treibt, der das Gemeinverständliche nur halbwach über sich hingehen läßt, mit seinen Füßen überall auf leere Luft tritt, an den Menschen nicht haften kann und sich fortwährend klein machen muß, damit es nicht herauskommt, wie es anders um ihn steht: es ist doch wohl ausgeschlossen, daß er einst erwachsen, tauglich und eingereiht sein wird. Er wird nicht älter werden, als er ist: was soll er noch? Dies verträgt keine Zukunft. An seinem vorigen Geburtstag, abends im Bett, hat er mit der Hand sein Herz befühlt, tiefstill von Erkenntnis: ›Wie sonderbar, daß ich noch lebe!‹

II

Wo der Weg sich teilte und es rechts zum Konditor, links nach Hause ging, traf Raffael auf Albert Bishop.

»Nun? Heute hat er gesagt: Laß ihn laufen. – Ich hab gesagt, du hast Kopfweh.«

»Es ist mir gleich, was euer Lehrer sagt. Ich bin heute morgen um fünf Uhr bis nach Schlutup gelaufen, an die See. Keinen Kaffee: das ist eine Willensübung. Mehr wert als die Zahlen der Punischen Kriege.«

»Kann sein. Aber er will, daß du weggejagt wirst.«

»Das soll er tun. Er ist nicht der einzige, von dem ich Deutsch lernen kann. Jetzt gehe ich und nehme im Austausch gegen Englisch eine Stunde von einem jungen Kaufmann. Heute abend habe ich im Austausch Spanisch und Französisch … Warum schielst du nach zwei Seiten, wovor hast du wieder Angst?«

»Ich möchte … Ich vertrage den Marzipan nicht.«

»Dann ist es deine Sache, ihn nicht zu essen. Ich vertrage ein halbes Kilo. Wetten?«

»Eine Wette, bei der du Darmverschlingung kriegen kannst?«

»Ich würde gleich mit dir wetten. Du wirst selber aufpassen, daß du sie nicht kriegst.«

»Komm mit nach Haus. Was soll man anfangen? Es gibt Tage, wo das Leben übertrieben flau ist. Zu Bett gehen; weiter hilft nichts mehr.«