Der unendliche Gipfel - Toine Heijmans - E-Book

Der unendliche Gipfel E-Book

Toine Heijmans

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Beschreibung

Der Tag, an dem Walter Welzenbach seinen ersten Berg bestieg, sollte sein ganzes Leben bestimmen: Nie wieder würde er etwas anderes wollen. Jetzt steht er auf seinem letzten Gipfel, der 8188 Meter hoch ist, und blickt auf seine Einsamkeit. Der unendliche Gipfel ist die atemberaubende Geschichte der Bergsteigerfreunde Lenny und Walter, die in den Alpen und im Himalaja ihre Träume verfolgen und dabei ihr Schicksal besiegeln. Sie tragen die Geschichten der großen Alpinisten mit sich und suchen gemeinsam einen Weg, Geschichte zu schreiben. Aber in der dünnen Luft gelten andere Gesetze. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung seines gefeierten Bestsellers Irrfahrt entführt Toine Heijmans die Leser*innen erneut in eine unerbittliche Welt, mit einem Roman über Freiheit und Freundschaft, Stürme und Lawinen und die Folgen radikaler Entscheidungen. Was die Berge dem Menschen antun und was der Mensch den Bergen antut, darum geht es. Der Roman wurde 2022 mit dem niederländischen Boekhandelsprijs ausgezeichnet, einem der wichtigsten Preise des Landes.

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Seitenzahl: 372

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Table of Contents

Titel: Der unendliche Gipfel

Widmung

1. Kapitel: 8188 m

2. Kapitel: 8188 m

3. Kapitel: 7620 m

4. Kapitel: 3212 m

5. Kapitel: 11 m

6. Kapitel: 5650 m

7. Kapitel: 5650 m

8. Kapitel: 6310 m

9. Kapitel: 3842 m

10. Kapitel: 1252 m

11. Kapitel: Alison Hargreaves

12. Kapitel: 1252 m

13. Kapitel: 3733 m

14. Kapitel: 1252 m

15. Kapitel: 8848 m

16. Kapitel: 1608 m

17. Kapitel: 6310 m

18. Kapitel: 5650 m

19. Kapitel: 5650 m

20. Kapitel: 1395 m

21. Kapitel: Toni Kurz

22. Kapitel: 3 m

23. Kapitel: 7450 m

24. Kapitel: 7450 m

25. Kapitel: 7450 m

26. Kapitel: 7450 m

27. Kapitel: 7450 m

28. Kapitel: 1035 m

29. Kapitel: 8188 m

30. Kapitel: 7620 m

31. Kapitel: 7620 m

32. Kapitel: 7620 m

Danksagung

Quellenangaben

Videomaterial

Biografie

Impressum

Der unendliche Gipfel

Toine Heijmans

 

Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner

 

Roman

 

 

 

Für Sander, der mir beigebracht hat, zu klettern.

Für Lennaert und Don, die mir beigebracht haben, zu leben.

»Der Eindruck von Abgrund (…) kann nur entstehen durch sinnliche Wahrnehmung.«

Ludwig Hohl, Bergfahrt

 

»Ich wusste, das Ende war nahe, doch war es das Ende, nach dem es alle Bergsteiger verlangt – ein Ende, das zu ihrer Besessenheit passt. Ich dankte den Bergen, die mir an diesem Tag so schön erschienen waren, und ihre Stille beeindruckte mich ebenso tief, wie ich es in der Kirche empfunden hatte. Ich spürte keinen Schmerz und sorgte mich nicht.«

Maurice Herzog, Annapurna premier 8000

 

»Ich hatte meinen Berg bestiegen, aber ich musste noch immer mein Leben führen.«

Tenzing Norgay, Man of Everest

8188 m

Jedes Geräusch kommt von mir, und es ist ohrenbetäubend. Knirschend presse ich den Schnee zusammen zu einem Fußabdruck, dann der nächste – die Anstrengung dröhnt in meinem Innern, Blut, das sich durch dünne Adern zwängt, Herzschläge, Keuchen; die ganze Maschinerie aus zweihundert Knochen und fünf Vitalorganen flattert und bebt wie ein übertakeltes Boot.

Ich bin ein intakter, warmer Körper, der vorübergehend die natürliche Ordnung stört, der kurz, sehr kurz, die Temperatur verändert, nicht mal um ein Tausendstel Grad. Ein Körper, der Spuren in die Schneedecke zieht und verschwindet, wie auch die Gebetsfahnen verschwinden, Andenken an unbedeutende Besteigungen.

Ich bin auf dem Gipfel angekommen, und hier ist nichts. So war es schon immer, und erst jetzt wird es mir klar: Den ganzen Weg nach oben habe ich nichts anderes im Kopf, haben die Menschen, die mit mir zu schaffen haben, nichts anderes im Kopf, wochenlang, und jetzt bin ich da, hier, allein, unversehrt, pünktlich laut meines eigenen Fahrplans, und blicke ins Leere.

Hier oben zu sein hat keine Bedeutung – das zu begreifen, ist das Schwierigste.

Atmen. Ganz ruhig.

Das Schneefeld ist erstarrt in dünner, tiefvioletter Frostluft. Nichts bewegt sich außer mir; es geht kein Wind. Die Wolken, zu dünnen Nebelschwaden ausgefranst, hängen tief und fangen das erste Licht.

Hier ist der Gipfel, und ich muss noch höher, weiter.

Eins. Zwei. Drei Schritte und ausruhen, atmen. Eins. Zwei. Drei Schritte näher am Ziel.

Als Erster oben – was sonst. Früher aufbrechen als der Rest, härter pushen, mehr Schmerz aushalten, klüger sein. Meine Rechnungen gehen immer auf. Na dann, herzlichen Glückwunsch: Ich, der Fanatiker, habe wieder mal das Nichts erreicht.

Der Berg ist fünfunddreißig Millionen Jahre alt, ein Zufall zwischen zwei Erdplatten, und wächst fünf Millimeter pro Jahr – noch immer, jeden Tag wächst der Berg, während ich schrumpfe.

Hinter mir hängt fahl der Halbmond, bereit zu verschwinden. Die umstehenden Berge sehen mich an, herbeigeeiltes Publikum, sie legen die Köpfe schief, als würden sie nachdenken. Ändern die Farbe, werfen ihre Nachtmäntel ab, die Sonne steigt schon, lässt aber die Täler noch dunkel.

Die glitzernden Eiskristalle. Der Gletscher, der sich an den Berg schmiegt wie ein Kätzchen.

Ich erkenne die Felsketten, die Couloirs, die Grate, die Gendarmen, die Strecke, die ich gleich zurücklegen muss. Wie eine Bleistiftzeichnung. Näher als je zuvor.

Von Weitem ist der Berg eine Einheit, ein fast frei stehendes Element in dem Gebirgszug, den wir Himalaja nennen, aber wenn man ihm so nahekommt, zerfällt er in tausend Teile. Dann erst kann man darin verloren gehen.

Seine Form verändert sich laufend, je nach Blickwinkel und je nachdem, was man darin sieht. In dieser Höhe ist die Landschaft eine Luftspiegelung, das Ergebnis gestörter Körperfunktionen. Man kann keine Entfernungen einschätzen. Die dünne Luft fungiert als Objektiv, das die Berge näher heranholt; was ich sehe, ist nicht die Wirklichkeit, sondern ein physikalisches Konstrukt, das ich selbst ausgeheckt habe.

Das Gehirn nimmt Helligkeit als Maßstab für Entfernungen: Das Klare, das Deutliche ist nah, und umgekehrt – Maler machen sich das zunutze, indem sie Bergen im Hintergrund einen Blauton geben. So erzeugen sie die Illusion von Tiefe im zweidimensionalen Raum.

Was ich sehe, ist eine Wahnvorstellung, am trockenfrostigen Himmel, keimfrei wie ein Labor. Hier zu sein bedeutet vor allem zu glauben, dass ich hier bin.

Die höchsten Berge, die ich bestiegen habe, kommen kameradschaftlich näher. Aus dem Schwarz schieben sich als Erste der Mount Everest und der Lhotse heraus, Nuptse, Shishapangma und Manaslu warten am Horizont. Ich kenne sie. Ich kenne ihre Zugangsrouten. Ich kenne ihre Haut, ihren Atemrhythmus, ich weiß, wie sie sich während einer Besteigung verändern, wie sich auch das Fell eines Tieres im Laufe des Tages verändert, aber nicht das Tier selbst.

Mehr Gipfel als Freunde haben sich in meinem Leben angesammelt, und jetzt stehe ich wieder hier, allein.

Die sich zusammenrottenden Berge mir gegenüber sind hoch, aber nicht hoch genug. Die meisten warten noch auf ihre Besteigung: unbekannte Sechs- und Siebentausender, ein paar davon haben Namen, Lunag Ri, Langdak, Melungtse, aber viele müssen sich nach wie vor mit einer Nummer begnügen, P6064, P6589, P6037, wie unbedeutende Asteroiden. Allein in Nepal gibt es vierzehntausend Berge, die höher sind als sechstausend Meter, und warum sollte man denen Namen geben?

Gipfel sind de facto nutzlos, sie bringen nichts hervor, im Gegensatz zu den Tälern. Oder den Pässen, über die man Vieh treiben oder Handelsware transportieren kann: Die bieten Aussicht auf Fortschritt. Hier oben wird nichts hergestellt. Hier wird abgebaut, Zelle für Zelle.

Es ist warm, so schrecklich warm, aber wenn ich die Handschuhe ausziehe, frieren mir die Finger ab.

Dieser Teil des Himalaja liegt regungslos unter einer Hochdruckglocke, vom Sturm ist nichts mehr übrig, er hat den Berg sauber gefegt und sich verzogen, war nie hier. Es ist ein idealer Gipfeltag. Überall auf den höchsten Bergen der Welt stehen jetzt Menschen, und noch mehr sind unterwegs, alle im Schneeanzug, wie ich. Noch bevor sie wieder unten ankommen, schmieden sie neue Pläne für neue Berge, ich weiß das, ich war auch so.

Natürlich werden heute Bergsteiger sterben, darauf sind sie vorbereitet, sind mit dem eigenen Tod im Reinen. Wenn schon sterben, dann so hoch wie möglich auf einem Berg, an einem Ort, wo die Gehirnzellen erst nach Schwerkraft suchen und danach ein neues Gleichgewicht finden. Hier oben ist alles klarer als da unten.

Ich sehe Lenny im Augenwinkel, er wühlt sich durch den Schnee, zieht eine Spur, auf der Suche nach dem höchsten Punkt, genau wie ich.

Dieser Berg hat keine Spitze, sondern eine Ebene, ich stehe auf einem Schneeplateau, so weitläufig, dass ich die Ränder nicht sehen kann. Es ist praktisch waagerecht. Das Gegenteil von einem Berg: ein Gipfel, von dem man nicht herunterfallen kann. Ich fühle mich orientierungslos, schwanke.

Ich bin nicht zum ersten Mal hier, aber wieder genauso verwirrt.

Über mir erlöschen noch ein paar Sterne. Eins. Zwei. Drei Schritte, und ich muss Runden drehen über die Platte, um den höchsten Punkt nicht zu verfehlen. Der Schnee, sein helles, aggressives Weiß, verwischt jedes Relief. Also drehe ich meine Runden, hinterlasse Fußabdrücke, sacke ein, ziehe Kreise, geometrische Muster. So markiere ich meine Besteigung: eine kleine Zugabe, damit ich weiß, ich war wirklich oben.

Zum Beweis muss ich meine Spuren fotografieren, bevor sie untergehen zwischen den Spuren der anderen, die mit mir den Berg besteigen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie aufkreuzen: Erst Monk, der ist stark, danach die Chinesen und die Inder und die Niederländer, mit denen ich aufgebrochen bin. Die Russen. Es wird hier nur so wimmeln von Erfolg.

Auf der Erdkrümmung liegt die sterbende Nacht und darüber, zartorange, ein neuer Tag. Bald wird die Sonne mehr Kraft haben, mich ausleuchten. Bald wird es noch wärmer sein. Ich starre die Gipfel an, die mich beobachten, und muss sie davon überzeugen, dass mein Entschluss der richtige ist.

Ich konzentriere mich auf mein rauschendes Blut, meine Atmung. Höre mich in meiner dicken, überdimensionalen Daunenkapuze murmeln. Wenn ich mich bewege, rasselt die Ausrüstung an meinem Klettergurt, ein beruhigendes Klirren: die Karabiner, die Seilbremse, die Eisschrauben, Metall auf Metall. Ein Engelsgeläut, hell und zerbrechlich.

Lenny, der schnaufend, immer murrend die letzten Meter zurücklegt, stapfend in seinen Plastik-Expeditionsstiefeln. Höher. Nicht mehr atmen.

Eins. Zwei. Drei Schritte, und ich schlage mit dem Beil den festgebackenen Schnee aus meinen Steigeisen. Hab ich von Lenny, das Schlagen. Für ihn ist es Routine, ursprünglich gedacht für besseren Grip: Der Schnee setzt sich in großen Klumpen zwischen den Stahlzacken fest und macht ihre Wirkung zunichte. Es ist Technik. Aber für Lenny ist alles Rhythmus, auch das Freischlagen seiner Steigeisen: kling, kling, Metall auf Metall. Das Geräusch ist ein Lebenszeichen, prallt gegen die Felswände, echot durch die Täler, ein Beweis seiner Existenz.

Wie er mit seinen langen Armen und Beinen wüst hin und her schlackert, ganz und gar da ist. Wie seine Sohlen durch den Schnee stapfen, wie er Stufen ins Eis schlägt, wie er kling, kling haut, singt, flucht, an einer Zigarette zieht.

In den Bergen wird Lenny doppelt so groß, er schießt in die Höhe und in die Breite. In eine Wand oder ein Couloir steigt er ein, als wäre er deren rechtmäßiger Besitzer, er rudert mit den Armen, »Platz da, hier kommt Lenny«, ein Überfall. Lenny klettert nicht, er kapert einen Berg und steckt ihn sich unter den Pulli. Springt über Randkluften, zerrt am Seil, Radau, Radau, will immer wieder beweisen, dass in den leblosen Bergen Leben herrscht. Dass es heute nichts anderes gibt, nur den Berg.

Einmal, beim Abstieg von der Lenzspitze, ist er bis zu den Achseln in einer Gletscherspalte verschwunden, seine langen Arme steckten wie Widerhaken im Schnee. Eine Todesfalle, und er wartete grinsend, bis ich ihn hochziehen kam. Juli war es, warm, das Eis in der Nordwand unberechenbar, aber Lenny mogelte uns an dem Tag nach oben, zack, zack, jeder Schlag mit der Eisaxt saß, ich vertraute seinen Sicherungen, vertraute Lenny, und er vertraute mir. Wir, die Zwei-Mann-Armee, bei der Erstürmung der Alpen.

Das ist lange her. Wie lange ist das her?

Am späten Nachmittag, auf dem Rückweg vom Gipfel, schoben wir uns durch den schweren Schnee, der matschig war von der Wärme, es hatten sich schon Pfützen gebildet. Kurz nachdem Lenny angefangen hatte zu singen, brach er durch eine Schneebrücke senkrecht in die Eisspalte wie ein Stein und hing da am gestrafften Seil, am anderen Ende ich. Unter ihm tat sich ein Grabkeller auf, hundert Meter tief, vielleicht mehr, eine Unterwelt aus stahlblauem Eis. Ich hatte ihn, aber das Seil fing an, durch den Schneerand zu schneiden, und Lenny wurde immer schwerer. Was ich in dem Moment fühlte, könnte man wohl Panik nennen, Angst, dass er verschwindet, aber ich rammte meinen Eispickel in den Schnee, sicherte das Seil mit einem Toten Mann und hievte Lenny aus der Spalte, wie er es mir beigebracht hatte.

Danach sind wir weiter abgestiegen, beide beseelt von dem Gleichgewicht, das wir verkörperten.

Wie alt waren wir da? Was lag vor uns? Noch nichts. Wussten wir überhaupt, was diese Touren durch die Alpen bedeuteten, in unseren starken Jahren, die Gipfel, die sich so einfach einkassieren ließen?

Wir wussten bloß, dass wir kletterten. Nicht, dass wir Entscheidungen trafen.

Das lag vor uns: ein gleichgültiger, kopfstehender tibetanischer Berggipfel. Das habe ich jetzt davon.

Die Stille ist unangenehm, die Schneefläche unerträglich. Ich bin gern allein, das kann man lernen, aber jetzt, wo ich den höchsten Punkt gefunden habe, freue ich mich, wenn die anderen kommen, damit ich als Erster wieder aufbrechen kann.

Weiter unten klettert eine Silhouette in meiner Spur, Monk, wer sonst, er drückt auf die Tube, mit dem Ziel vor Augen geht jeder schneller. Ja, es ist unverkennbar Monk mit seiner neongelben Mütze, bei jedem Schritt zieht er die Knie hoch.

Noch weiter unten kommen die Chinesen, eine regelrechte Prozession. Deren Welt kennt kein Alleinsein: Im Rot der Nation schieben sie sich gemeinsam den Berg hoch wie ein Schweizer Zug – Gott, wie deutlich sich das Leben hier abzeichnet.

Lenny im Augenwinkel, aber wo ist Bart?

Es ist alter Schnee auf dem Gipfel und darunter altes Gestein. Das einzig Besondere an diesem Berg ist seine Höhe, sonst würde kein Hahn nach ihm krähen.

Die höchsten Berge gehören mir, oder eher gesagt: Ich befinde mich jetzt auf ihrem Niveau. Durch mich verändern sie sich nicht. Die Spuren, die ich in ihre Haut geritzt, die Kratzer, die ich auf ihrer Oberfläche hinterlassen, die Felshaken, die ich ihnen in den Leib gerammt habe, sind schon jetzt in der Gesteinsgeschichte untergegangen. Ich bin höchstens eine Fruchtfliege, die in Bernstein erstarrt ein neues Zeitalter erleben darf.

Dreißig Jahre Bergsteigen, nicht mal eine Nanosekunde im Holozän.

Aus geologischer Sicht gehören wir ins selbe Zeitalter wie die Römer. Und weiter zurück, noch weiter; die Berge lachen uns aus, so kurz sind wir erst auf der Welt.

Rechter Handschuh aus, linker Reißverschluss auf, Foto machen. Von mir selbst, die Augen hinter Spiegelglas – ich könnte jemand anderes sein, alle Gipfelfotos sind austauschbar. Aber ich mache das Foto, wie Touristen den Sonnenuntergang fotografieren, schließlich ist es ihr Sonnenuntergang.

Kamera zurück in den Anzug, Handschuhe an, kribbelnde Finger, kribbelnde Zehen; als Erstes gibt der menschliche Körper die Extremitäten auf.

In dieser Höhe schaltet er sich nach und nach ab, bis hinunter zu den Basisfunktionen, und genauso schalten Bergsteiger ihr Denken ab. Auch das begnügt sich mit dem Wesentlichen.

Alles hier scheint klar, für Zukunft und Vergangenheit reicht der Sauerstoff nicht. Aber unten im Basislager hat man das schon wieder vergessen. Was wir durchmachen, durchmachen wollen, ist die Umkehrvariante von Demenz. Darum zieht es uns immer wieder zurück.

Hier oben bleiben. Zelt aufstellen, Schnee schmelzen, den Rest meines Lebens abwarten. Oben auf dem Berg liegen und lauschen. Fußball spielen mit Lenny, Monk und den Chinesen – kommen die noch? Sie sind spät aufgebrochen; ich habe die Strahlen ihrer Stirnlampen über ein Schneefeld huschen sehen, weit weg. Sie haben Unruhe in die Nacht gebohrt.

Von meiner eigenen Expedition habe ich seit meinem Aufbruch zu Camp 3 niemanden mehr gesehen. Wahrscheinlich sind sie sauer, dass ich nicht gewartet habe. Aber ich kann keinen Ballast gebrauchen. Auch Emotionen muss man abschalten, auf diesem Terrain.

Ich reiße den Klettverschluss an meinem Anzug auf, ein Höllenlärm, die Kälte strömt herein. Zwei Thermosflaschen, die blaue und die rote; aus Angst, dass sie gefrieren, habe ich sie in den Innentaschen verstaut. Nehme zwei Züge aus der blauen, versuche mich an einem Müsliriegel, kotze ihn aus. Nicht kotzen. Drinbehalten. Eins. Zwei. Drei. Ruhe im Herzschlag finden, in dem simplen System, das einen Menschen am Laufen hält.

Lenny ist an der Nordseite des Gipfelplateaus verschwunden.

Hier stehe ich, und es ist mörderisch kalt.

In Bewegung kommen. Eins. Zwei. Drei Schritte in Monks Richtung, er hebt die Arme, ist aber noch nicht ganz da, er muss ein Stück weiter, genau wie ich; als wir uns gegenüberstehen, schweigt er und umarmt mich dann, die ungeschickte Umarmung zweier Astronauten bei einem Ausflug ins All. Monk nimmt den Rucksack ab und gibt mir seine Kamera, kramt eine Fahne mit dem Namen seines Sponsors hervor und hält sie hoch. Und ich filme ihn, genau wie er es mir beigebracht hat. Monk lächelt sein Lächeln für besondere Momente, ein Lächeln, das bei denen da unten gut ankommt, er versucht, den Daumen zu recken, aber die Geste wird von seinen dicken Handschuhen verschluckt.

Ich filme.

Und Monk geht langsam in die Knie, die Sponsorenfahne noch immer im Arm. Erst denke ich, er will den Boden küssen, aber sein Kopf kippt eher nach vorn, Monk schnappt nach Luft wie ein Ertrinkender, richtet sich wieder auf. Er fällt. Bäuchlings landet er auf dem Berg, sanft, alle viere von sich gestreckt wie ein Hampelmann, und bleibt liegen.

»Kaputt, Alter … so kaputt.« Er dreht sich auf den Rücken und sieht mich an: »Hast du das?«

8188 m

Die Chinesen halten auf dem Gipfel einen Stehempfang ab; im ersten Moment sieht es aus, als würden sie Champagner entkorken, aber sie schrauben frische Sauerstoffflaschen auf die Masken. Die Gruppe ist groß, verbreitet Wärme auf dem Schneefeld, das sich mit Fußabdrücken, Schleifspuren und Gratulationen füllt. Sherpas rollen Gebetsfahnen-Girlanden aus und verankern sie; ich werde gebeten, Fotos von Leuten zu machen, deren Freude ich nicht einschätzen kann, oder deren Erschöpfung.

Gefühle verschwinden in unserem Tiefdruckgebiet, verzerrte Gesichter, verzerrte Menschen. Aber genau das wollen wir. Grimassen ziehen; ich sehe an den Falten in ihren Gesichtern, wie viel Kraft es sie kostet. Und sie bedanken sich bei mir für das Foto, fallen mir um den Hals, oder stolpern sie bloß?

Ich kenne sie nicht. Wir sind alle anonym. Verstecken uns hinter Sonnenbrillen und Masken, tauchen ab in unsere Daunenkapuzen und in uns selbst – hier oben gibt es den Anderen nicht, jeder ist für sich allein.

Die Chinesen haben moderne mattschwarze Beatmungsgeräte, so was hab ich noch nie gesehen. Sie gehören zusammen: Manager der Aluminiumfabrik Distinct Revolution aus Hangzhou; an dem Namen führt kein Weg vorbei, der prangt vertikal auf den roten Einheits-Daunenanzügen und den Flaggen, die sie in die Kameras halten.

Ihr Expeditionsleiter, der stark an eine Kartoffel erinnert und im vorgeschobenen Basislager den ganzen Tag auf den Boden starrt, oder auf sein iPad, mit dem er die Fabrik am Laufen hält, hat mir erzählt, dass die Expedition Teil des Auswahlverfahrens ist. Distinct Revolution wächst so schnell, dass der Betrieb eine neue Managementstruktur einführt, und durch diese Besteigung hofft er, die Spreu vom Weizen zu trennen und gleichzeitig selbst den Sprung in den Verwaltungsrat der Holding zu schaffen. In Anbetracht dessen sei die Besteigung des Bergs nur ein kleines Opfer.

»Es ist unser Berg«, sagte er auch noch, »die Zeit von Leuten wie euch, europäischen Imperialisten, ist vorbei.«

Jetzt taumelt er auf mich zu, streckt seine aufgeplusterten Daunenärmchen nach mir aus und fällt mir um den Hals.

Es wird noch voller – die ersten Inder kommen an, ganz in Grün, und ein kleiner Trupp Abendländer. Manche, und das ist neu, legen Stofftiere oder in Kunststoff gegossene Fotos in den Schnee. Ein Museum der Erinnerungen, wie es das manchmal auch an Unglücksorten gibt.

Ich nehme an, sie ehren mit dem roadside memorial die Toten: eine Ahnengalerie verstorbener Eltern, Großeltern, Kinder, Freunde. Dieses Museum verleiht dem Klettern eine Dringlichkeit, als würde eine Schuld beglichen. Sie klettern nicht für sich, sondern für die Toten, und näher kommen sie den Toten nicht: Wenn man irgendwo den Himmel berühren kann, dann hier, für einen stolzen Betrag, und ich hoffe, die Erinnerungen wiegen nicht zu schwer, denn jedes Gramm extra kostet Kraft.

Vielleicht stellen sie aber auch gar nicht die Toten aus, sondern die Lebenden: Eltern, Großeltern, Kinder, Freunde. Mir fehlt die Energie, es mir genauer anzusehen.

Monk hält sich abseits. Er filmt den Everest, dessen felsiger Gipfel im Tagesanbruch erglüht, rosarot, dann ockergelb, und es scheint, als würde der Berg, während er aufwacht, ein paar Schritte nach vorn tun. Alles kommt jetzt näher. In der Umarmung des Himmels, in der Krümmung der Erde, im Sonnenlicht, in der Wärme meiner Kapuze.

Alle Kletterer blicken in dieselbe Richtung: zum Everest, der Primadonna, die ihre nächste Etappe wird, was sonst. Ich finde den Berg hässlich, ein chaotischer Steinhaufen. Wer wahre Schönheit sucht, muss zur Ama Dablam, zum Alpamayo mit seinen Schneerippen. Zum Matterhorn, das den Kopf senkt wie ein Heiliger. In die Zeit, als Berge unerreichbar waren.

Aber letzten Endes wollen alle immer zum höchsten, auch Monk, sonst hat man keine Geschichte zu erzählen.

Es ist lange her, dass wir den Gipfel des Everest erreichten, es stürmte, wir kamen von der Südseite, Lenny schwieg, genau wie jetzt. Achtzehn Zugangsrouten gibt es, aber am Ende hat man immer die gleiche Aussicht, und wenn man wieder unten ist, wenn man versucht, die Erinnerung an den Tag wachzurufen, daran, was man gefühlt hat, die Reinheit, das Glück, die Kraft, den Sieg, dann kommt nichts. Das alles verpufft.

Eins. Zwei. Drei Schritte und Schwindel. In der Daunenjacke nach den Medikamenten tasten, alles noch da. Monk ein Zeichen geben und zum Rand des Gipfelfelds gehen, durch die inzwischen ausgeleierte Spur zurück den Abhang runter. Der Abstieg ist ein Stück leichter als der Aufstieg, weil er weniger Kraft kostet – dafür braucht man mehr Mut, muss sich von der Übersichtlichkeit verabschieden.

Beim Abstieg passieren die meisten Unfälle, eine von den Weisheiten, die unter Bergsteigern kursieren, niemand hat das überprüft, aber gut, für die meisten ist das Ziel erreicht, was danach kommt, ist nicht so wichtig. Bis man wieder bei Verstand ist.

Die Hacken im Schnee freitreten, um mehr Grip zu haben, jeder Tritt dröhnt mir im Schädel. Der Hang wird steiler und mündet in eine Felswand, von der ich mich abseilen muss. Danach kommt Camp 3 mit meinem Zelt, und dann ist es nicht mehr weit bis zum Ende.

Noch mehr Kletterer ziehen auf ihrem Weg nach oben an mir vorbei, langsam wie Handkarren, sie schleppen sich am Fixseil entlang, das in der Klettersaison den Berg umspannt. Tierische Laute, Schnaufen und Scharren, der Schmerz hinter den Masken. Der animalische Schmerz. Den vergisst man auf dem Rückweg als Erstes.

Ich suche mir eine eigene Spur für den Abstieg. Sehe mich um. Monk benutzt meine Fußabdrücke; er hält zweihundert Meter Abstand, er ist stark, er wird mich überholen. Alleinsein auf dem Berg, das geht heute nicht, auch wenn ich es eigentlich vorhatte. Wir sind beide Solisten und trotzdem mehr oder weniger zusammen oben angekommen.

Das Gefälle nimmt leicht ab, wir nähern uns der Felswand, die Wärme nimmt leicht zu, und ein Stück weiter unten sehe ich einen roten Daunenanzug, gestrandet im Schnee. Bloß ein Daunenanzug, denke ich, wie Alison Hargreaves bloß einen aufgerissenen roten Rucksack in der Eiger-Nordwand sah und erst mit Verzögerung begriff, dass der Rucksack noch an jemandem dranhing. Es war ein Mann, ein Spanier, ein »entstelltes menschliches Wrack«, schreibt sie in ihrem Tagebuch, »keine Bewegung, kein Laut«. Weinend setzte sie sich neben ihn, wandte den Kopf ab, hatte Angst, seine Augen würden sie sonst für immer verfolgen.

In dem Daunenanzug steckt ein Mensch, sehe ich, und Monk sieht es auch. Eine Frau. Sie sitzt mit angezogenen Beinen gegen einen Schneebuckel gelehnt, den linken Fuß unnatürlich verrenkt. Ihre Handschuhe liegen im Schnee wie tote Vögel; die Maske mit der aufgeschraubten Sauerstoffflasche hängt ihr lose vorm Gesicht. Sie gehört zur chinesischen Expedition, und als ich mich neben sie knie, blicke ich in gefrorene Augen, weit aufgerissen. Ein schiefes Lächeln: Sie ist zur Grimasse erstarrt.

Vor der Leiche habe ich keine Angst; die Frau ist gestorben, und das wäre unten vielleicht auch passiert. Ich habe Angst, dass sie meine Pläne durchkreuzt.

Unten sterben Menschen unerwartet, hier oben kalkuliert es jeder mit ein. Dem Tod entgegengehen, das tun wir, dafür sind wir hier. Jede Sekunde stirbt etwas in mir: Zellen, Gedanken. In dieser Umgebung wird das Leben ärmer, während unsere Zuschauer, unsere Bewunderer, die Leute, die Monk auf Instagram und YouTube folgen, denken, dass unser Leben reicher wird. Dass wir, die Alpinisten, in den Bergen wachsen. Dass ein Aufenthalt in unmenschlicher Höhe jemanden menschlicher macht, dabei ist es genau umgekehrt.

Die Finger der rechten Hand sind vom Frost verkohlt, auch im Gesicht entdecke ich jetzt dunkle Flecken.

Erfrieren bedeutet Verbrennen. Alle großen Bergsteiger haben Zehen und Finger an die Kälte verloren, und sie sind stolz darauf. Ein Leben mit diesem Stigma ist ehrenhaft, man ist dem Ende entwischt.

Sie nicht. Die Chinesin ist vom Ende eingeholt worden.

»Willst du sie filmen?«, frage ich Monk, als er sich neben mich kniet, die Handschuhe auszieht und ihr den Finger auf die Halsschlagader legt. Er sieht mich böse an.

»Wie abartig ist das denn?«

Hinter uns steigt niemand mehr ab, aber es ziehen sich noch immer Daunenanzüge am Fixseil nach oben. Wir sind offenbar unsichtbar, keiner hält an, alle wollen zum Gipfel, auch wenn es schon zu spät ist. Wir knien bei einer Toten, und sie gehen weiter; wahrscheinlich haben sie recht.

Monk fragt: »Was jetzt?«

Ich nicke in Richtung Kletterer, die an uns vorbeigehen. »Ich hoffe, die warnen den Expeditionsleiter vor.«

Man kann nichts mehr tun: Sie ist tot, die Luft ist zu dünn für einen Hubschrauber, wir wissen nicht, was sie gewollt hätte. Manche Kletterer legen vorher fest, was im Todesfall mit ihnen passieren soll, die meisten bleiben lieber oben am Berg, dabei versuchen die Behörden gerade, die Leichen zu bergen – keine gute Reklame fürs Land. Die Chinesen sind zu zehnt oder zu zwölft, dazu noch die Sherpas. Genug Leute, um die Leiche mit runterzunehmen, wenn sie das wollen.

»Wir müssen weiter«, sage ich und stehe auf. »Sie ist tot.«

»Woher willst du das wissen?«

»Sie ist tot, Monk.«

»Ja, das denkst du. So oder so, es ist furchtbar.«

»Ist es das? Du kennst sie nicht. Ich kenne sie nicht.«

»Jemandem zu helfen ist menschlich, Walter. Das müsstest du doch am besten wissen! Lass uns wenigstens noch mal genau …«

»Sie atmet nicht mehr.«

»Aber sie hat sich noch bewegt, als wir sie gefunden haben. Ich hab’s gesehen. Glaub ich.«

»Man sieht hier alles Mögliche. Die Frage ist, was hat das mit uns zu tun?«

»Du weißt ganz genau, was ich meine. Beck Weathers.«

Ja, ich weiß, was Monk meint.

Beck Weathers, texanischer Pathologe in der Midlife-Crisis, starb im Frühjahr 1996 beim Unglück am Mount Everest, auf der Südroute, zusammen mit acht anderen. Es war die bis dahin größte Klettertragödie am Berg, eine Geschichte, die in diversen Büchern und Filmen nacherzählt wurde – letzten Endes entstand sogar eine Oper über das Sterben von Beck Weathers: Klassisches Drama, das haben wir Alpinisten drauf.

Er starb zweimal, und das Buch, das er vier Jahre später schrieb, heißt Left for dead; ich kannte es, weil Lenny so stolz auf sein signiertes Exemplar war, das er in Amerika zum Schnäppchenpreis ergattert hatte. Es bekam einen Ehrenplatz auf dem Regalbrett mit besonderen Büchern, inmitten der Hunderten von Kletterbüchern, die seine Wohnung bevölkerten.

Beck Weathers hatte sich in den Kopf gesetzt, ohne auch nur einen Hauch von Klettererfahrung die sieben höchsten Berge der Kontinente zu besteigen, der Versuch, so schreibt er später, seiner Depression zu entkommen. Er bezahlte Adventure Consultants, einem modernen Expeditionsunternehmen, fünfundsechzigtausend Dollar, damit sie ihm auf den Everest halfen. Er war zu langsam und kehrte um, halb blind von der Höhe und orientierungslos, er verbrachte eine Sturmnacht ungeschützt im Freien oberhalb von Camp 4, dem höchsten Camp. Andere Kletterer kamen an seiner Leiche vorbei, die langsam unter einer Schneekruste verschwand, und er hörte sie sagen: Der ist tot, und wenn er jetzt noch nicht tot ist, dann bald. Und er konnte nicht antworten, er konnte sich nicht bewegen, sein rechter Arm war wie aus Holz. Er lag da, katatonisch und unterkühlt, in einem Sturm, der inzwischen auch andere Leben forderte, unfähig, um Hilfe zu rufen, falls er die überhaupt noch wollte, denn wer will schon Hilfe, wenn er den Himmel beinah berühren kann?

Die anderen ließen ihn liegen, die waren damit beschäftigt, sich selbst oder die zu retten, die nicht ganz so übel dran waren wie Beck Weathers. Sie mussten Entscheidungen treffen auf diesem Schlachtfeld, in einem Krieg, den sie selbst angezettelt hatten.

»Ich fühlte mich gut, es war warm und gemütlich, wie im Bett«, sagte er später in einem Zeitungsinterview, »wirklich überhaupt nicht schlimm.«

Einen Tag, eine Nacht und einen Tag später stand er auf, noch immer ist unklar, wie er das geschafft hat, und auf Klumpfüßen streifte er so lange umher, bis er zu Camp 4 zurückfand, wo die anderen ihn in ein Zelt legten, damit er noch einmal starb, denn das würde er zweifelsohne tun.

Sein Fleisch war zu Porzellan geworden, von einem Gesicht konnte kaum noch die Rede sein, schwarz wie Holzkohle, keine Nase mehr. Die Gedanken, sagte er später, die Gedanken an Frau und Kinder hätten ihm Kraft gegeben.

Beck Weathers erstand ein zweites Mal von den Toten auf, torkelte zu Camp 3 und fand das Zelt des Expeditionsarztes, Ken Kamler. »Hallo Ken, wo kann ich mich hinsetzen?«, fragte er als Erstes, und ob seine Krankenversicherung die Kosten für die Behandlung übernehmen würde.

Ja, Monk, ich weiß, was du meinst, jeder kennt Beck Weathers. Aber das bedeutet nicht, dass jeder Beck Weathers ist.

»Auf dem Berg«, sage ich, etwas zu pathetisch, »gelten andere Regeln.«

»Was für andere Regeln?«, blafft Monk. »Dass man eine Halbtote einfach ihrem Schicksal überlässt?«

Er legt ihr das Ohr an die Lippen, blau und glatt wie Kiesel, hofft auf einen Atemzug. Ich fühle ihr den Puls: versteinert.

Wir können nicht länger hierbleiben, die Zeit ist uns auf den Fersen. Und bald kommen die anderen, die ganze Prozession auf einmal; besser, wir behalten unseren Vorsprung.

»Hier ist nichts mehr zu retten«, sage ich, und Monk sieht mich verstört an.

»Bestimmt hat sie Familie. Wir müssen doch was tun!«

»Müssen wir?«

»Ja.«

Sein Mitgefühl ärgert mich. Ich würde Monk gerne sagen: Man kann Ereignisse aus seinem Gedächtnis streichen, genauso wie man Ereignisse aufpolieren und in seinem persönlichen Kopfmuseum ins Rampenlicht setzen kann. Es ist sinnlos, sich zu lange mit einer Leiche zu befassen, es macht einen bloß zum Mittäter. Noch ist sie anonym, bald nicht mehr. Du musst jetzt schon mit dem Streichen anfangen, Monk, das kann man lernen, unliebsame Erinnerungen einfach rausschneiden. Ihr Tod ist nicht deine Schuld, du bist nicht dafür verantwortlich; hier oben bist du für anderes verantwortlich.

Ich würde Monk gerne klarmachen: Es ist ihr Tod, nicht deiner.

Er versucht, sie hochzuziehen, und bittet mich um Hilfe, und ich verstehe sein Unverständnis über meine Weigerung. Es scheint ganz einfach: Wir beide am Seil und die Leiche in der Mitte, so macht man es mit gefallenen Soldaten.

»Dafür reicht meine Kraft nicht mehr«, sage ich, und es ist gelogen.

»Vielleicht will sie lieber am Berg bleiben« – auch da bin ich mir nicht sicher.

»Die Chinesen nehmen es uns vielleicht übel, wenn wir die Aufmerksamkeit auf sie lenken« – Monk sieht mich kopfschüttelnd an.

Sie passt mir nicht in den Kram, aber das kann ich ihm nicht sagen.

Monk öffnet den Reißverschluss seines Daunenanzugs und holt ein Handfunkgerät heraus, hält es mir vor die Nase.

»Weißt du, wie das Teil hier funktioniert?«

Das Funkgerät hat noch genug Saft und ist auf Kanal 5 eingestellt. Ich drücke auf den Sprechknopf, warte auf das Rauschen. Monk sieht mich ermutigend an, hat der Chinesin eine Hand auf die Schulter gelegt, als wollte er die Leiche beruhigen.

»Chinese expedition, Chinese expedition, do you read, over?«

Rauschen.

»Gehen wir«, sage ich, aber Monk schüttelt den Kopf.

»Distinct Revolution, Distinct Revolution, please answer. Over.«

»Weiter versuchen!« Monk macht seinen Reißverschluss wieder zu und zerrt an dem verdrehten Fuß der Chinesin, versucht, sie in eine bequemere Lage zu bringen.

Aus dem Funkgerät kommt ein Knattern, dann einzelne Vokale und Konsonanten, die irgendwann zu einer Stimme aus dem Basislager verschmelzen. Monk reißt mir das Gerät aus der Hand und steht auf, hält die Antenne so hoch es geht.

»Who is calling Chinese expedition?«

»Eight thousand meters«, sagt Monk, »above the rock band. Climber died.«

Rauschen.

»A woman. Your expedition. Maybe still alive.«

Rauschen.

»Can we help her please? Can we take her down?«

Rauschen. Dann, klar wie der helle Tag: »Yes, yes we know. We will check and clear the body off the mountain. Please proceed. Out.«

Wortlos wirft Monk das Funkgerät in den Schnee, hockt sich neben die Tote, kreuzt ihr die Arme vor dem Bauch. Böse sieht er mich an, steht auf und stapft davon, dreht sich nicht noch mal um.

Der Steilhang zieht ihn bergab, und im aufwirbelnden Schnee sehe ich kurz, ganz kurz, einen Regenbogen aufflackern.

7620 m

Monk verschwindet, und ich gehe weiter. Die Abstiegsroute glitzert in der Sonne, ein klar erkennbarer Pfad mit deutlichem Ende, aber ich traversiere, weiter rechts geht das unberührte Schneefeld in einen Hängegletscher über, gesäumt von Séracs, schmalen Eistürmen, die ohne Vorwarnung mit einem erstickten Klirren wie von brechendem Porzellan in sich zusammenfallen können.

Mit jedem Meter talwärts steigt die Temperatur. Ich öffne meinen Daunenanzug, streife mir die Jacke von den Schultern und knote mir die Ärmel um die Taille. Der Abstieg kostet keine Kraft. Es wird immer steiler und ich kontinuierlich schneller.

Ich klettere nicht mehr auf die Sonne zu, sondern von ihr weg, und die Farben sind Mittagsfarben: hartes Weiß, hartes Blau, hartes Schwarz. Mein kurzer Schatten, gestochen scharf.

Das Tal, in das ich jetzt komme, hat keinen Namen. Hier ist noch nie jemand gewesen. Ich hinterlasse keine Fußspuren, so hart ist die Schneekruste. Die Séracs wirken wie Bäume, tatsächlich, als würde ich durch den Wald gehen; von Stamm zu Stamm hangele ich mich talwärts. Ein irres Gefühl von Freiheit durchströmt mich, ein Gefühl, das ich wiedererkenne. Das sind die Berge, und sie scheinen auch mich wiederzuerkennen, endlich vertrautes Terrain.

Die Schneebrücken über den Gletscherspalten würden mich vermutlich tragen, trotzdem springe ich über sie hinweg, ich habe niemanden, der mich sichert. Ich will den klaren, hohlen Ton der Eisschrauben hören, die an meinem Klettergurt baumeln. Ich will hören, wie sich die Steigeisen mit Schnee vollfressen. Ich will den rauen Granit unter den Händen spüren und die kratzigen Wolldecken aus den Berghütten, in denen wir übernachtet haben.

Ich kann’s noch, Lenny, ich kann’s.

Der Gletscher endet in einer Schlucht; ich bleibe stehen und höre die Bewegung. Kein Sausen, sondern ein leises Knacken, das Geräusch der geologischen Zeit.

Altes, unvorstellbar altes Eis kommt an die Oberfläche, und aus den Spalten steigt Luft nach oben wie Atem, nur kälter.

Zwei Schlucke nehme ich aus der roten Thermosflasche. Abgekühlter Tee sickert mir durch die Speiseröhre in den Magen.

Die Sonne ist groß, hat aber wenig Kraft; meine Finger kribbeln. Der Frost kriecht mir in die Füße, streicht mir übers Gesicht.

Ich nehme das Seil auf, achte auf parallele Schlaufen, binde eine Seilpuppe und lege sie vorsichtig in den Schnee. Stopfe die Handschuhe in meine Mütze und setze mich.

Alles, was ich sehe, ist der kleine Teil eines kleinen Teils des Universums.

Der Gletscher schiebt tonnenweise Eis ins Tal, wo es langsam abschmilzt, erst zu dünnen Rinnsalen, dann zu Bächen, dann zu Gebirgsflüssen wird. Es füllt die blauen Seen, die die Felder bewässern, und fließt weiter abwärts. Weißes, stürmisches Wasser rauscht sprudelnd aus dem Berg und kommt erst in der Ebene wieder zur Ruhe, wo es sich ausbreiten und zwischen die Ufer des Indus, des Ganges und des Brahmaputra fügen kann, heilige Flüsse, und wenn es unterwegs nicht aufgefangen wird, strömt das Wasser weiter, bis es im Meer landet und in der Sonne verdampft und wieder aufsteigt und sich wieder zusammenballt in Wolken und Nebeln und gefriert und von Neuem die Berge erreicht, vielleicht nicht diesen Berg, aber die Berge.

Die Urgewalt, mit der das Wasser sich bewegt, unbegreiflich kraftvoll, daran muss ich denken.

3212 m

Scheiße auch, stell mir die Frage nicht, es gibt keine Antwort. Jeder, der mit einer Antwort kommt, hat unrecht, außer Lenny.

Alles weiß ich noch – ist das eine Antwort? Nenn mir irgendwas, eine Tat, eine Sehnsucht, ein Ziel, einen Sinn, irgendwas annähernd Vergleichbares. Mit dem Gedächtnis ist es doch so: Nur die starken Szenen überleben. Die muss man sammeln, und niemand hat mehr gesammelt als ich.

Um den Gipfel geht es nicht – alle Gipfel sind erstiegen, alles ist erledigt. Meine Sammlung besteht aus Ereignissen, geordnet nach Jahreszahlen, die mich erschrecken. Immer schneller steigen sie in meine Vergangenheit ab, oder ist es umgekehrt: Entferne ich mich immer schneller von allem Wichtigen? Zeit wird erst zu einem Begriff, wenn man erkennt, dass sie unumkehrbar ist. Deswegen poliere ich die Ereignisse auf und setze sie in meinem Kopfmuseum ins Rampenlicht; bloß ein menschlicher Versuch, sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Wie Lenny einen gesteckten Achterknoten kontrolliert. Die knarzenden Lederriemen an meinen Steigeisen. Wie die Stunden verfliegen. Ein Kamm, erst blau umrandet, dann gelb, dann weiß. Das Morgengrauen und danach die tausend Sonnen im Schneefeld, der Blick auf eine Wolke unter mir. Ein alter Felshaken, halb weggerostet, vielleicht von Bonatti zurückgelassen, vor langer Zeit, vielleicht von Herzog, Harrer, Messner, Rébuffat. Eine Rundschlinge am Fels, das träge Geräusch einer Lawine, Lennys Radau.

Mein Kopf ist voller Schaukästen, alles Wertvolle steht im Licht.

Der Regen trommelte hart aufs Wellblechdach der Berghütte in dieser Nacht, die Kletterer hatten sich wie Murmeltiere im Schlafsaal zusammengerottet. Aber niemand schlief. Der Muff von alten groben Wolldecken hielt uns wach, das Schnaufen und Gurgeln einer Gruppe Italiener, unsere Aufregung, unsere Sorgen über den Regen, über die Route.

Nach Mitternacht knipsten wir die Stirnlampen an und tasteten uns auf Socken durch die dunklen Flure zum Speisesaal, das Holz der Wände und Bänke war von dem Geruch durchzogen, der alle Berghütten durchzieht: Menschen, die kommen und gehen. Viele Menschen. Altes Holz. Kletterer sind wortkarg am Morgen. Sie falten ihre Decken, verlassen das Lager, füllen ihre Feldflaschen mit Schneewasser, schaufeln sich zum Frühstück eine Schale Müsli mit eiskalter Milch rein, wischen den Tisch ab, nicken dem Hüttenwirt zu. Hieven sich in ihre Klettergurte, ziehen die schweren Treter an, schnallen die Steigeisen fest, binden sich mit den Seilen aneinander und stoßen die Tür in die kalte Nacht auf.

Als Erstes blickt man nach oben, zu den knisternden Sternen, und danach erst sieht man die Berge, Schemen im Dunkeln.

Der Fels trug eine dünne Eisschicht an diesem Morgen, ein glitzernder Panzer der Unzugänglichkeit. Von allen Bergen hatten wir uns ausgerechnet den Dent du Requin ausgesucht, diesen alten Backenzahn, mittelhoch, im

Weißen Tal des Montblanc, ein felsiger Berg mit der Silhouette eines krummbuckligen Mannes. Lenny sagte: »Dent du Requiem«, und spurtete los.

In der französischen topografischen Wanderkarte war unsere Route als assez difficile eingestuft, ziemlich schwierig, aber nicht für uns. Wir bestiegen diesen Berg, weil wir Berge bestiegen, reihenweise, einen nach dem anderen, bedeutende und unbedeutende. Dieser hier war definitiv unbedeutend, und trotzdem erinnere ich mich an alles, was auf dem Requin passiert ist.

Also stell mir diese Frage nicht. Wer so was fragt, kann nur verlieren.

Eins kann ich aber sagen: Alles funktioniert besser in den Bergen. Der Schall ist schneller, das Licht schärfer, der Stein kälter, der Körper elastischer, Gefühle tiefer. Alles erscheint nah, da oben, alles ist wichtig.

Ich stehe in einer Rinne, von der Eiszeit ausgehöhlt, einer Zeit ohne Menschen, und jahrhundertelang war die Rinne nicht mehr als eine flache Schürfwunde im Gestein der Erde, bis mein rechter Fuß dort Halt fand. Dadurch wurde das Entstehen dieser Rinne zum wichtigsten morphologischen Ereignis der Welt. Rauer Granit: eine Rinne, die mein komplettes Gewicht verkraftete und alle Berge, die ich noch vor mir hatte, gerade breit genug für die dicke, wulstige Sohle meines Bergstiefels.

Nenn mir einen anderen Ort, eine andere Geschichte, ein anderes Szenario, wo es genauso läuft. Gibt es nicht. Nirgendwo. Das versteht nur der mit dem Fuß in der Rinne.

Da oben, fast außer Sichtweite, hatte Lenny einen Standplatz gefunden, und er schmetterte sein Kommando in die Tiefe: »Stand!« Ich löste das Seil aus der Seilbremse und knüpfte das Ende mit einem Achter an meinen Gurt, wartete, bis Lenny es strammzog.

Lenny stieg vor, immer, ich war die Nachhut. So waren wir aneinandergebunden: Er am einen Ende des Seils, ich am anderen, eingespielt auf die Bewegungen und Launen des andern.

Nass und eisig war es; ich hing an einem Stand, gebaut aus einem alten, krummen Haken und zwei Bandschlingen um einen Felsvorsprung. Das reichte so gerade, um bei einem Sturz Lennys Gewicht zu halten, und meins.

Der Haken war uralt, Fünfzigerjahre vielleicht, und rostete langsam aus dem Berg, wie ein Splitter, der aus einer Hand herauseitert. Das waren andere Zeiten, damals. Bonatti schleppte kiloweise Eisenwaren in einer Canvastasche den Berg hoch und schlug jeden Haken einzeln mit einem Hammer in den Fels, wie ein Schmied. Ein Knochenjob.

Unsere Zeit bot viele Vorteile, wir kletterten mit modernem, leichtem Material, aber auch wir kletterten.

Wir hatten den Sichtkontakt verloren, Lenny war hinter einem Überhang verschwunden, und sobald er das Seil stramm gezogen hatte, löste ich mich vom Standplatz und legte los: rechte Hand um einen Vorsprung ein Stück weiter oben, linkes Bein auf einen vorstehenden Stein auf Kniehöhe, Gewicht verlagern, rechtes Bein nachziehen, linke Hand um eine scharfe Kante – Lenny sicherte unruhig, zog mich beinah in die Wand, ein Zeichen, dass der Berg schwieriger war, als wir dachten. Er hatte es eilig. »Seil, Mann!«, rief ich nach oben, aber er zog weiter, zwang mich, schneller zu klettern, als ich konnte.

Bei ihm angekommen sah ich, dass Glatteis sich über die Felsen hergemacht hatte, sie waren jetzt aus Glas: »Das Wetter schlägt um«, sagte Lenny, »und wir sind von der Route abgekommen.«

Ich klopfte mit meinem Pickel einen Steinrand frei, auf dem ich Halt fand, und verschaffte mir einen Überblick.

Wir standen direkt unter einem Überhang, der nicht kletterbar schien, aber Lenny machte sich startklar: »Ich halt mich links, da ist ein Kamin«, und weg war er.

Das Schaben seiner Steigeisen. Seine hektischen, kantigen Bewegungen, eigentlich zu grob für die fragilen Risse und Vorsprünge und Zacken, die ihm Halt boten. Schnell war er: drei, vier Kletterzüge auf einen Atem, die Beine abgespreizt, um das Gewicht besser zu verteilen, als wollte er der Schwerkraft eins auswischen. Seine sehnigen Storchenbeine, und dazwischen der graue Himmel eines unbeständigen Nachmittags.

Knapp unter dem Überhang querte er nach links, verschwand außer Sicht, und ich musste ihn nach Gefühl sichern. Lenny zerrte am Seil und kletterte immer schneller, »Seil!«, ich hielt den Kopf schief, als könnte ich ihn dann besser hören, »Gib mir mehr Seil, Mann!«. Ich gab ihm mehr Seil, und Lenny tauchte auf der anderen Seite des Kamins wieder auf, grinsend. »Sicher dich!«, rief ich ihm zu, Lenny sicherte sich nicht, er hatte es eilig. Wollte mehr Seil, schneller. Ich merkte an seinen Bewegungen, dass er unsicher war. Lenny kompensierte Unsicherheit mit Tempo, auch darum stieg er immer vor.

Nieselregen wehte gegen die Wand und gefror am kalten Fels. Ich bekam einen Krampf im Nacken vom Hochstarren. Sah, wie Lenny plötzlich im luftleeren Raum stand, die Zacken seiner Steigeisen gegen den flachen Granit gestemmt, nirgends ein Halt für seine Hände. »Sicher dich!«, rief ich wieder, aber Lenny machte einen Sprung und zog sich knurrend an einer Bergschuppe hoch. Dann verschwand er wieder.

Ich gab noch mehr Seil aus. Auf einmal kam es mir sinnlos vor, ihn zu sichern. Er war jetzt vierzig Meter über mir, mein Stand war zu schwach, um ihn bei einem Sturz zu halten, und ich stellte mir vor, wie er an mir vorbeirauscht, welches Geräusch das macht, was Lenny rufen würde, ob er etwas rufen würde. Was für einen Gesichtsausdruck hat jemand, der fällt?

Wir wussten es nicht, wir waren noch nie so gefallen.

Die Bandschlingen, mit denen ich mich gesichert hatte, würde es zerfetzen, Lenny würde mich mit in die Tiefe reißen, und gemeinsam würden wir auf der Moräne aufschlagen, zwei dumpfe Klatscher. Wie lange würde es dauern, bis uns jemand fand? Was wäre von uns dann noch übrig? Ich blickte in die Tiefe und sah die grauen Granitblöcke, ihre scharfen Kanten.

Eine Wolke verhüllte den Berg und ich sah gar nichts mehr. Der Winkel, in dem ich sichern musste, war nicht optimal, aber ein Felsdach schützte mich vor dem niedergehenden Geröll, Steinschlag vermutlich, von Lenny losgetreten mit seinen hektischen Hachsen. Es prasselte auf meinen Helm, hörte sich an wie fallender Kies. Lenny wollte mehr Seil, immer mehr. »Fünf Meter«, brüllte ich, das war der ganze Rest. Noch fünf Meter, um einen Standplatz zu finden, danach war Schluss.

»Len. Fünf Meter!«

Keine Antwort.

»Vier!«

»Drei!«

»Scheiße auch, Lenny!«

Ein kurzer Ruck, Geröll auf dem Helm. Ich wusste genau, wie Lenny da oben einen Stand suchte: mit den ausgestreckten Armen rudernd, dicht an den Fels gepresst. Er musste einen Halt finden. Zurückklettern ging nicht.

Ich zitterte. Die blanke Einsamkeit packte mich, als wäre Lenny schon abgestürzt. Ich wartete auf seinen Schrei, starrte die verschlissene Aluminium-Acht an, die wir als Seilbremse benutzten; endlose Seilmeter hatten ihre Spuren im Metall hinterlassen. Der Karabiner, der eigentlich längst hinüber war, die schmale Öse, mit der er an meinem Klettergurt hing. Ich fühlte, wie der Karabiner sich aufbiegen, das Seil reißen würde, stellte mir die Notiz in der Dauphiné