Der Vampir vom Niederrhein - Peter Kürten - Susann Brennero - E-Book

Der Vampir vom Niederrhein - Peter Kürten E-Book

Susann Brennero

4,4

Beschreibung

Ein grausamer Serienmörder sorgt von Februar 1929 bis Mai 1930 in Düsseldorf am Rhein für Angst und Schrecken. Der gebürtige Kölner Peter Kürten sticht Kinder und Erwachsene nieder und trinkt ihr Blut. Düsseldorfer und Berliner Kriminalisten und die Presse jagen den Vampir von Düsseldorf unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Kürten spielt mit Polizei und Presse. Erst im Mai 1930 gelingt der Polizei die Festnahme. Zum Prozess und zur Hinrichtung reisen 1931 Pressevertreter aus aller Welt an.

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Susann Brennero

Der Vampir vom Niederrhein – Peter Kürten

Biografischer Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.

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www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-5130-0

1. Kapitel

»Sie ist tot«, sagte Egon Kron kaum hörbar.

»Schwarz hat bereits viermal nach dir gefragt«, warnte Karl Maaßen mit heiserer Stimme.

Kron schaute auf den Wandkalender der Redaktion. Heute war der 9. Februar 1929. »Sie ist tot!«, wiederholte er noch eine Spur leiser, ohne Maaßen anzusehen. Seine Gesichtsfarbe schimmerte trotz des Spaziergangs durch die frostklare Winterluft aschfahl. Für die kurze Strecke von seiner kleinen Wohnung am Rande der Innenstadt bis zu den Redaktionsräumen des »Rheinischen Tageblatts« war er zu Fuß eine halbe Stunde gelaufen. Sein Motorrad hatte er im Hinterhof stehen gelassen. Mit seiner NSU fuhr er den Weg durch den Düsseldorfer Innenstadtverkehr an allen anderen Tagen in nur zehn Minuten. Kron hatte gehofft, das Bild der blutüberströmten Kinderleiche an der klirrend kalten Luft wenigstens für ein paar Momente zu vergessen. Er warf einen flüchtigen Blick aus den verschmutzten Fenstern des 3. Stockwerks auf die belebte Straße. Krons Lippen bewegten sich, ohne einen Ton von sich zu geben.

Unzählige Passanten hasteten vorbei. Die Atemluft gefror in kleinen Wolken vor den Gesichtern von Mensch und Tier. Das Thermometer hatte in den vergangenen Tagen und Nächten nur noch Bereiche weit unter null Grad angezeigt. Die Prognosen für die kommenden Tage sahen nicht besser aus. Der Rhein war kurz davor zuzufrieren, obwohl er bei Kilometer 745 ein reißender Strom sein konnte. Das Jahr 1929 bescherte den Menschen einen Jahrhundertwinter, der alle Temperaturrekorde der vergangenen Jahre brach.

Kron schaute an sich herab. Die verknitterten Hosenbeine seines dunkelblauen Anzugs waren übersät mit zahllosen Schmutzflecken von lehmigem Erdreich und dunklem Dreckwasser. Über diese Flecken hatte sich eine helle Schicht Kalkstaub gelegt. Sein hellblaues Hemd war verschwitzt. Eine Kruste aus Schneematsch und Dreck bedeckte seine schwarzen Lederschuhe mit der dicken Sohle. Weste und Sakko hielt er in seinen Händen. Sein dichtes dunkles Haar war ordentlich mit glänzender Pomade frisiert.

»Wenn Kron kommt, soll er sofort zu mir!«, schrie Gustav Schwarz, der Chef-Redakteur des »Rheinischen Tageblatts« durch die sich öffnende Tür seines Büros. Mit seinem Kugelbauch erschien er im Türrahmen. Er erblickte seinen Gerichtsreporter, der Sakko und Weste achtlos auf seinen Schreibtisch geworfen hatte, statt sie am alten eichenen Kleiderständer aus Kaiserzeiten in der Ecke aufzuhängen. »Wie siehst du denn aus?«, fragte Schwarz, dessen scharfem Blick nichts entging.

Krons Augen waren rötlich geschwollen.

»Hast du den Artikel über den Prozess um den bewaffneten Postraub in Benrath fertig?«, fragte Schwarz in ungeduldigem Ton. »Die Abendausgabe muss in den Druck! Ich will die Geschichte als Schlagzeile!«

Für Schwarz bestand der Tag aus zwei Teilen. Es gab die Zeit vor dem Druck der Morgenausgabe und die Zeit vor dem Druck der Abendausgabe. »Die Leute wollen von uns Schlagzeilen, politische Skandale und grausige Mordfälle und sonst nichts!«, erklärte Schwarz bei jeder Gelegenheit. »Der Rundfunk ist unsere größte Konkurrenz. Nur ein schneller, informativer Journalismus sichert die Auflagenstärke und das Überleben unseres Blattes.«

Kron nickte, ohne ein Wort zu sagen. Aus der Innentasche seines Sakkos zog er ein auf beiden Seiten eng beschriebenes Blatt hervor.

»Zeig her!« Schwarz riss ihm das Blatt aus der Hand. »Und erzähl endlich, was dir passiert ist!« Missbilligend schüttelte er seinen feisten Kopf, auf dem die schütteren grauen Haare auf und ab tanzten, während er auf Krons verdreckte Hosenbeine und Schuhe schaute.

»Egon sollte endlich in eine bessere Wohngegend ziehen«, kommentierte Maaßen das derangierte Aussehen seines Kollegen. »Dann hat er auch eine Chance bei Marlene!«

»Dich hat keiner gefragt«, fuhr ihm Schwarz über den Mund. Er wendete sich Kron wieder zu. »Bist du unter die Räuber gekommen? Oder hat Marlene dir den Laufpass gegeben?« Forschend sah er Kron in die Augen. »Sag endlich etwas!«

Kron folgte Schwarz in sein Büro. Er sank auf einen der breiten Mahagonistühle, deren Polster mit grün eingefärbtem Rindsleder bezogen waren. Kurz schloss er die Augen, die von einer Sekunde auf die andere wütend und voller Hass funkelten. »Die kleine Rosalie ist tot!«

Erschrocken knallte Schwarz seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch aus massivem Mahagoni, der mit Stapeln von bedruckten Blättern, Fotografien und Tageszeitungen aus aller Welt bedeckt war.

»Wie?«, entfuhr es ihm. Seine Stirn lag in noch dickeren Falten als üblich, seine Augenbrauen waren nach oben gezogen, und seine kleinen dunklen Augen waren weit aufgerissen.

Aus dem neben dem neuen glänzend schwarzen Telefonapparat mit der weißen Wählscheibe stehenden blauen gläsernen Aschenbecher roch es nach abgestandenem Rauch. An jedem Vormittag und an jedem Nachmittag rauchte Schwarz eine Zigarette der Marke »Mercedes«.

»Vermutlich ein Triebtäter.« In Krons Augenwinkeln schimmerte es feucht. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, während er mehrfach schluckte. »Sie ist heute Früh gefunden worden. Ich war schon am Tatort.« Kron schaute auf den Zigarettenstummel im Aschenbecher. Er hatte sich das Rauchen erst vor wenigen Monaten abgewöhnt.

»Der Vater?«, fragte Schwarz.

Kron schüttelte energisch seinen Kopf. Eine Strähne löste sich aus seinem frisierten Haar und fiel ihm ins Gesicht. »Ich war gestern Abend bei meinen Nachbarn zu Besuch. Ich habe eine Torte für Marlenes Geburtstag bestellt.«

»Marlene hat am 12. März Geburtstag«, warf Schwarz ein. »Weshalb bestellst du am 8. Februar eine Torte?«

»Sie liebt Marzipantorte. Ich bestelle immer so früh, damit der alte Olsen alle Zutaten vorrätig hat.«

Schwarz schüttelte den Kopf. »Wir schreiben das Jahr 1929. Die Notzeiten sind doch jetzt wirklich vorbei.« Er legte seinen Kopf nachdenklich zur Seite. »Und dann?«

»Den Olsens gehört die Bäckerei im Erdgeschoss. Ihre jüngste Tochter ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen«, erklärte Kron leise. Das Sprechen fiel dem wortgewandten Journalisten heute nicht leicht. »Ich bin gegen halb neun in meine Wohnung gegangen. Da war sie noch nicht zurück. Gegen sieben hätte sie zum Abendbrot spätestens daheim sein sollen.«

»Bäckerfamilie, ich weiß.« Schwarz’ harte Stimme vibrierte für einen Moment. »Die kleine Rosalie, die sich um ihre gelähmte ältere Schwester kümmert! Du hast sie hin und wieder erwähnt.« Schwarz kramte eine Packung Zigaretten aus einer der vielen Schubladen seines Schreibtischs hervor und streckte sie Kron entgegen.

»Gekümmert hat. Jetzt liegt sie in der Gerichtsmedizin.« Kron zog eine »Mercedes« aus der Packung. Er nahm das silberfarbene ballförmige Tischfeuerzeug in seine linke Hand. Gierig zog er an der Zigarette und blies aus Gewohnheit einen Kringel in den Raum.

»Wer macht denn so etwas? Ein kleines Mädchen!« Schwarz lehnte sich im Chefsessel zurück.

»Sie lag da auf einem kleinen Erdhügel am Bauzaun zwischen der Vinzenzkirche und dem Neubau der Badeanstalt.« Kron holte tief Luft. Sein Körper schüttelte sich. »Ihre schönen blonden Haare sind fast völlig verbrannt. Auch die Kleidung. Mit geschlossenen Augen und offenem Mund lag sie da.« Kron unterdrückte ein Schluchzen. »Ihre Unterhose war zerrissen. Dieses Schwein!«, fluchte er.

»Laut Kriminalstatistik sind es fast immer Väter, Onkel und gute Bekannte der Familie«, wiederholte Schwarz seine Vermutung.

»Gilt dein Angebot noch?«, fragte Kron. Durch seinen Körper war beim letzten Zug an der »Mercedes« ein Ruck gegangen. Er setzte sich aufrecht auf den Mahagonistuhl, der bei jeder Bewegung knarrte.

»Natürlich! Wenn du unsere Auflagenstärke deutlich mit einer Sensationsgeschichte erhöhst, wirst du befördert.« Schwarz hatte sich die zweite Zigarette an diesem Morgen angezündet. »Die Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs ist immer noch frei«, fügte er hinzu. »Das habe ich euch allen in Aussicht gestellt – Karriere durch Leistung!«

»Ich habe es geschworen, als ich sie da liegen sah!«, überhörte Kron die letzten Sätze.

»Du bist Reporter, kein Kriminalbeamter!«, stellte Schwarz trocken fest.

»Ich recherchiere, ermittle und berichte. Wo ist da der Unterschied?«, flüsterte Kron und blickte Schwarz fest in die Augen.

»Du bringst uns den Täter exklusiv, und du wirst mein Stellvertreter. Wir brauchen eine höhere Auflagenstärke, um zu überleben«, erklärte Schwarz. »Vielleicht haben wir bald sogar zwei Zeitungen unter unserem Dach.«

»Du gibst mir die Zeit, den Mörder zu finden?« Diese Frage klang wie eine Aufforderung, nicht wie eine Bitte.

»Die Gerichtsreportagen und ein paar Filmkritiken, dann hast du vorerst freie Hand«, versprach ihm Schwarz. »Aber die Geschichte muss exklusiv sein.« Er stand für seine Leibesfülle erstaunlich behände auf. »Exklusiv!«, betonte er.

Im Aschenbecher häufte sich frische Zigarettenasche. Der Geruch nach feinem Tabak hing in der Luft. »Für die Abendausgabe will ich den ersten Artikel mit ein paar Sätzen der Eltern haben und dem Hinweis auf die gelähmte Schwester. Die Leser wollen mitfühlen!«

»Sie werden mitfühlen. Mitfühlen, bis wir den Täter haben. Das verspreche ich dir!«

Schwarz nickte zufrieden. »Du bist dir sicher, dass es nicht der Vater war?«

Kron deutete ein Kopfschütteln an. »Der hätte doch nicht noch einen alten Weihnachtsbaum hinter ihrem Kopf drapiert.«

»Weihnachtsbaum?«

»Ja, so ein halb vertrockneter alter Tannenbaum.«

»Vertrocknetes Holz brennt gut«, sagte Schwarz. »Aber der Baum hat nicht gebrannt?«

»Bei diesen Minusgraden brennt nichts so schnell.«

»Die Täter sind immer die Väter«, sinnierte Schwarz. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

Kron ließ den Chefredakteur allein zurück, der sich bereits wieder über seinen Berg an Blättern gebeugt hatte.

Schwere dunkle Schneewolken waren vor den Fenstern aufgezogen. Kleine Eisblumen glitzerten in den Ecken der Fenster.

Kron bemerkte erst jetzt, dass er seinen Mantel zu Hause vergessen hatte. Er war nur mit Weste und Sakko bekleidet durch die Straßen gelaufen. Seine grauen Lederhandschuhe steckten in der Sakkotasche, sein dünner cremefarbener Baumwollschal hing im rechten Ärmel seines gestreiften Sakkos.

Das Bild von Rosalies Leiche auf dem gefrorenen lehmigen Boden des einsamen Bauplatzes neben der Kirche hatte seine Gedankenwelt an diesem Februarmorgen durcheinander gebracht.

»Und?«, fragte Karl Maaßen.

»Musst du nicht zu irgendeiner Sportveranstaltung?«, fragte Kron gereizt.

»Kollege! Was für ein Ton!«, spottete Maaßen. »Ich arbeite immer zuverlässig.« Er stand auf und griff nach seinem bordeauxroten Schal. »Nur ein schneller, informativer Journalismus sichert die Auflagenstärke und das Überleben unseres Tageblatts«, äffte Maaßen Schwarz leise nach.

»Hast du noch gar nichts gehört?«, fragte Kron. »Nichts?«

»Für Mord und Totschlag bist du zuständig!«

»Eines meiner Nachbarskinder ist heute Morgen am Bauzaun zu den neuen Bäderanstalten an der Kettwiger Straße gefunden worden«, begann Kron erneut die Geschehnisse der letzten Stunden zu erzählen. »Wie ein Stück Dreck am Bauzaun.«

»Tot?«

»Ja, tot!«, fuhr Kron ihn an. »Ich werde mir ewig Vorwürfe machen, dass wir sie gestern Nacht nicht gesucht haben.«

»Hast du ihre Leiche gesehen?« Maaßen hatte sich seinen groben Strickschal um den Hals gelegt und wieder gesetzt. Er musste husten.

Hinter den dicken grauen Wolken vor den Fenstern verschwanden die allerletzten Sonnenstrahlen. Von der Straße drang Lärm von wütenden Demonstranten herauf. Die Rufe nach Brot und Arbeit waren deutlich zu hören.

»Sie lag da, und keine Macht auf der Welt kann sie wieder lebendig machen. Überall war Blut – am Körper, auf dem Boden«, beschrieb Kron den Anblick des Leichenfundortes. »Rund ein Dutzend Polizisten haben den gesamten Platz abgesucht.« Er sprach in dem Ton eines gehetzten Menschen, der vergeblich versuchte davonzulaufen. »Blut. Sie war so blass. Ihr Körper war leergelaufen. So viele Stiche, so ein kleines Mädchen.«

»Haben die Polizisten am Tatort das gesagt?«, fragte Maaßen. »Viele Stiche?«

»Hier ein Wispern, da ein aufgeschnapptes Wort, und schon waren die ersten Fakten wie ein Lauffeuer in der Menge im Umlauf. Du weißt doch, wie das mit Volkes Stimme und den Gerüchten ist. Ein wahrer Kern ist immer dran«, fasste Kron die Herkunft seiner bisherigen Kenntnisse zum Kindermord der vergangenen Winternacht zusammen. »Außerdem war überall Blut.«

»Ich habe irgendwo gelesen, dass die Täter bei Verbrechen an Kindern meistens im näheren Umfeld zu finden sind«, sagte Maaßen. »Vielleicht war der Täter sogar vor Ort, und du hast ihn gesehen.«

»Die Vermutung hat Schwarz auch schon geäußert«, entgegnete Kron. »Olsen war es nicht, da bin ich mir sicher. Er ist nicht zu solch einer Tat fähig.«

»Du bist dir bewusst, dass du für die Polizei auch zum Kreis der Verdächtigen gehörst?« Maaßen stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch auf.

»Du spinnst!«, rief Kron wütend aus.

»Tatort, Tatzeit, Alibi?«, fragte Maaßen kühl.

Kron schaute an Maaßen vorbei ins Leere. Die Tatortszenerie trat vor sein inneres Auge.

Aus der Menge der Schaulustigen hinter dem Absperrband waren leise Rufe nach Gerechtigkeit erklungen. Der Kinderkörper war die grausige Attraktion für Männer auf dem Weg zur Arbeit, für Hausfrauen, für Arbeitslose, für eine Handvoll Schulkinder und für ein paar ältere Frauen, die aus der Frühmesse in der Vinzenzkirche kamen. Kron spürte noch immer die mit Wut aufgeladene Stimmung der entsetzten Menschenmenge. Es war eine explosive Mischung, die noch kein Ventil gefunden hatte. Aus dem Nichts war diese Menschenmenge innerhalb weniger Minuten auf dem Bauplatz kurz nach halb zehn zusammengelaufen. Selbst nach mehrfacher Aufforderung der Polizei blieben Alt und Jung fassungslos stehen. Auch den Ermittlern der Kriminalpolizei war das Entsetzen über die grausame Tat an den blassen Gesichtern und ernsten Mienen anzusehen gewesen. Die älteren Kriminalbeamten hatten wie Kron, Maaßen, Schwarz und der Rest der Redaktion mit Sicherheit das eine oder andere Schreckensjahr im Feld verbracht. Der Anblick des blutüberströmten Kindes mit der zerrissenen Unterhose aber versetzte alle in einen schockartigen Zustand.

»Die Vorstellung, dass sie in den letzten Minuten ihres Lebens verzweifelt um Hilfe gerufen hat, zerbricht mich. Irgendwo zwischen Baustelle und Kirche hat sie um ihr Leben geschrien. So kurz vor ihrem Elternhaus. Keiner von uns hat sie gehört.«

»Ihr Mörder hat genau gewusst, dass ihre Hilfeschreie keiner hören kann. Er kennt das Gelände. Vielleicht doch ein Nachbar?«

»Sie war alleine unterwegs. Irgendein kranker Teufel hat diese Situation ausgenutzt.«

»Sie war ihm auf jeden Fall schutzlos ausgeliefert. Er hat sie von hinten überrascht. Sie war sofort tot und hat nicht lange gelitten. Dann hat sie auch nicht um Hilfe geschrien«, überlegte Maaßen. »Egon, du hast kein Alibi!«

Kron holte tief Luft. »Ich habe mir heute Morgen geschworen, ihn zu finden.«

»Seit wann steigerst du dich in deine Fälle so hinein?« Maaßen hörte erstaunt den ungewohnten Klang in Krons Stimme. Auf Maaßens Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte das Bild der Toten vor Augen. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte er.

»Was gibt es da nicht zu glauben?«, fragte Kron.

»Ich sehe sie noch vor mir, als ich dich vor ein paar Wochen besucht habe«, sagte Maaßen. »Sie hat ihre Schwester im Rollstuhl über das Trottoir geschoben. Diese neugierigen Augen, die so fröhlich in die Welt geblickt haben.« Maaßen versank in Gedanken an diesen Besuch in dem ärmlichen Vorstadtviertel: Wie die meisten Düsseldorfer Vororte war auch Flingern von der Innenstadt aus nur auf einsamen Wegen zu erreichen. Die schlecht befestigten Straßen waren kaum beleuchtet. Nur durch die Innenstadt zog sich das gut verzweigte Netz der modernen Gaslaternen. Das pulsierende kulturelle Leben der Stadt spielte sich nicht in diesen einfachen Arbeitersiedlungen ab, in denen Armut und Hunger an keiner Stelle zu übersehen waren. In den großen Mietshäusern roch es nach einfachem Essen und billiger Seife. In direkter Nachbarschaft zu den mehrstöckigen Wohnhäusern hatte sich auf den freien Feldern zwischen Flingern und dem nächsten ärmlichen Stadtteil Gerresheim zu allem Überfluss auf einem ehemaligen Schrebergartengelände eine wilde Siedlung aus Bretterbuden gebildet. Seit der großen Inflation wuchsen diese Siedlungen an mehreren Stellen der Stadt Tag um Tag. Eine einfache Behausung nach der anderen wurde aus Bauabfällen und gestohlenen Materialien über Nacht zusammengezimmert. Arbeitslose, die ihre Wohnung verloren hatten, und Zugereiste, die ihr Glück in der endlich wieder aufstrebenden Stadt am Rhein suchten, lebten in diesen von den Behörden und der Polizei geduldeten Siedlungen unter primitiven Bedingungen. Die wilden Bauten am Hellweg waren für ganze Familien eine letzte Zufluchtsstätte, in der sie Bett, Herd und Ofen besaßen. Niemand wusste, wie viele der Bewohner der Hellweg-Siedlung lichtscheues Gesindel war, dem selbst die Nachbarn in der Bretterbude nebenan nicht trauen konnten. In diesen unruhigen Tagen meldeten sich die Menschen, die durch eine Zwangsräumung ihre Wohnung verloren hatten, nicht einmal mehr bei den Behörden um. »Wie willst du in diesem Chaos den Täter ausfindig machen?«, überlegte Maaßen laut.

Kron hörte die Frage seines Kollegen aus dem Sportressort nicht.

Wieder klang lautes Geschrei von der Straße herauf.

Kron öffnete eines der Fenster einen Spalt breit. »Diese Kälte.«

»Du solltest dir eine neue Wohnung suchen, in einem ruhigeren Viertel. Dann wird Marlene auch endlich ›Ja‹ sagen«, schlug Maaßen vor.

»Ich geh jetzt nach Hause und zieh mich um«, sagte Kron. Seine dunkle sonore Stimme vibrierte leicht. »Dann …«

»Die frische Luft wird dir den Kopf frei machen. Den Kopf brauchst du jetzt«, unterbrach ihn Maaßen. »Von der Jagd auf den Mörder kann ich dich nicht mehr abhalten.«

Kron schaute auf den Wandkalender. »Februar 1929. Das Jahr hat gerade erst angefangen. Was wird es uns noch an bösen Überraschungen bescheren?«

»1929 wird dein Jahr, wenn du die exklusive Geschichte bringst, auf die jeder von uns hier hofft«, sagte Maaßen. »Und wenn du mich brauchst, du weißt, wo du mich erreichst.«

Kron nickte seinem Kollegen zu. »Vielleicht brauche ich dich noch. Im Alleingang werde ich den Mörder nicht finden.«

2. Kapitel

Kron zog es auf dem Weg nach Hause in seine kleine Wohnung im Mehrfamilienhaus der Olsens zurück zum Tatort. Mehrere Polizeibeamte sicherten den leer geräumten Platz. Bauschutt, primitive Bretter, die selbst in halb gefrorenem Zustand nur darauf zu warten schienen, dass man sich Splitter an ihnen einzog, und Steine jeder Größe waren auf dem öden Bauplatz von der Straße bis zum Bauzaun zu sehen.

Was hatte Rosalie hier gesucht? Hatte der Täter das Mädchen an anderer Stelle ermordet und anschließend hier verstecken wollen? In Krons Kopf schossen die Fragen ungeordnet durcheinander. Hatte der Mörder gehofft, dass das Feuer erst den Bretterzaun mitsamt der Leiche entzünden und dann auf den Rest der Baustelle übergreifen würde? Die verkohlte Leiche Rosalies wäre dann vielleicht als ein Zufallsopfer der Flammen inmitten der ausglühenden Bauruinenreste gefunden worden? Oder hätte ein Gerichtsmediziner noch die Stiche in Rosalies Brustkorb nachweisen können? Kron bedauerte in diesem Moment, sich in den vergangenen Jahren als Gerichtsreporter nie für die Details der Arbeit der Gerichtsmediziner interessiert zu haben. In seinen Artikeln waren die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen nur selten von Belang. Die Leser des »Rheinischen Tageblatts« waren nur an den Festnahmen der Übeltäter und an gerechten Urteilen interessiert.

Rund um die Absperrungen und über den gesamten Platz verteilt standen ältere Kinder und Erwachsene aus der Nachbarschaft, die die grausige Tat immer noch nicht fassen konnten. Vielleicht hofften sie auch auf ein kleines Wunder.

»Das wird einer dieser Landstreicher gewesen sein!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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