Familienhotel am Park 2 - Susann Brennero - E-Book

Familienhotel am Park 2 E-Book

Susann Brennero

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Beschreibung

Fast zwei Jahrzehnte haben drei Generationen der Familie Königsrot nach der verschwundenen kleinen Chris gesucht. Als sie endlich ihre Familie wiederfindet, ist die Freude bei allen groß. Doch Chris hadert mit dem Verhältnis zu ihren leiblichen Verwandten, die sie ohne ihren Freund Derek nie kennengelernt hätte. Als sie es schafft langsam Vertrauen zu ihrem Bruder Finn aufzubauen, gerät dieser unter einen bösen Verdacht. Chris Spürsinn ist wieder einmal herausgefordert, während sich die Welt um das zum Familiendomizil umgebaute alte Cityhotel am Park rasant verändert.

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Susann Brennero

Familienhotel am Park 2

Familienhotel am Park 2Serial von Susann Brennero

Inhaltsverzeichnis

STIPENDIUM NEUSTART KULTUR

Copyrights

Vorwort

Figurenregister Familie Königsrot

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

EPILOG

Nachtrag

Werbung zum Schluss

Impressum

STIPENDIUM NEUSTART KULTUR

Für die Entwicklung des Serials „Familienhotel am Park“ sowie für die Fertigstellung der ersten drei Teile des Serials hat die Autorin Susann Brennero ein Stipendium der VG WORT und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von Neustart Kultur 2021/2022 erhalten.

Die drei folgenden Logos hat die VG Wort freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Copyrights

FAMILIENHOTEL AM PARK

„Wenn es ums Erben geht, kommen sie alle!“ Dieser Ansicht ist der Patriarch der Familie Königsrot. Während Günter und Waltraud Königsrot sich bereits auf ihr Leben im eigenen Altersdomizil an der spanischen Küste freuen, kochen die Emotionen bei ihren Kindern Sven, Annette und Torsten wegen der Erbfolge hoch. Schließlich sind die Enkelkinder Pit, Lea, Kim, Chris, Finn und Nico die erklärten Lieblinge ihrer Großeltern. Dann verschwindet auch noch ein Enkelkind für fast zwei Jahrzehnte und alle schönen Lebenspläne scheinen aus den Fugen zu geraten. Schaffen es die Königsrots wieder eine intakte Familie zu werden?

Teil 2

Fast zwei Jahrzehnte haben drei Generationen der Familie Königsrot nach der verschwundenen kleinen Chris gesucht. Als sie endlich ihre Familie wiederfindet, ist die Freude bei allen groß. Doch Chris hadert mit dem Verhältnis zu ihren leiblichen Verwandten, die sie ohne ihren Freund Derek nie kennengelernt hätte. Als sie es schafft langsam Vertrauen zu ihrem Bruder Finn aufzubauen, gerät dieser unter einen bösen Verdacht. Chris Spürsinn ist wieder einmal herausgefordert, während sich die Welt um das zum Familiendomizil umgebaute alte Cityhotel am Park rasant verändert.

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Deutsche Erstausgabe April 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 2022 by Susann Brennero

Impressum:

Susann Brennero

Oberbilker Allee 296a

40227 Düsseldorf

E-Mail: [email protected]

Homepage: www.susannbrennero.de

Coverdesign by A&K Buchcover

verwendete Bildlizenzen:

[email protected]

Susann Brennero, Jahrgang 1969 aus Düsseldorf, ist Autorin zahlreicher kurzer Liebesgeschichten und einiger Krimis. Der Rhein ist ihre Inspirationsquelle, denn dieser Fluss birgt für sie von seinem Ursprung in der Schweiz bis zur Mündung in die Nordsee zahllose Geschichten und menschliche Schicksale.

Vorwort

Beim Schreiben der ersten Sätzen des zweiten Teils des Serials „Familienhotel am Park“ waren die sechs Hauptfiguren der Familie Königsrot mit all ihren Ideen und Träumen für mich als Autorin inmitten einer Zeit, in der Soziale Medien selbstverständlich zum Alltag dazugehören, rundum lebendig geworden.

Die Besonderheit, die die dritte Generation der Familie Königsrot ausmacht ist genau diese Selbstverständlichkeit. Ein Leben ohne Smartphone, ohne ständige Erreichbarkeit und ohne ständige Vernetzung in immer wieder neuen Plattformen, die Bilder, Videos und Sprachnachrichten zum Mittelpunkt haben, ist für viele Menschen nicht mehr vorstellbar.

Natürlich ist es wunderbar bequem jederzeit im Internet oder in den Sozialen Medien eine Antwort auf alle Fragen, die sich im Alltag ergeben, zu bekommen. Von der praktischen Anleitung zum Braten von Rühreiern, zum Zupfen der Augenbrauen bis zum Drehen von Kurzfilmen mit dem Smartphone gibt es eine Vielzahl an Anregungen sieben Tage in der Wochen 24 Stunden lang zu entdecken. Solange der Internetanschluss funktioniert, gibt es immer eine Antwort für Fragende. Jeder Mensch lebt inmitten seines sozialen Umfelds nach Bedarf informationstechnisch autonom. Die Gefahr des Tunnelblicks liegt nah, aber in diesen schwierigen Tagen ist rasch klar geworden, wie schnell die virtuellen Informationsquellen die Menschen in die Realität katapultieren können.

So sehr die Bedingungen, unter denen Kim, Pit, Lea, Finn, Nico und Chris aufgewachsen sind, sich bereits in Teil 1 des Serials unterscheiden, aber auch sie leben mitten in dieser Realität.

Schließlich habe ich als Autorin die Realität am Ende von Teil 2, in dem Finn im Mittelpunkt steht, zum Thema für die Königsrots werden lassen.

Sie wissen doch schon: Wenn Sie der Familie Königsrot wider Erwarten - obwohl alle Figuren nur erfunden sind - doch noch irgendwo auf der Welt begegnen sollten, dann grüßen Sie sie alle von mir!

Mit freundlicher Unterstützung durch ein Stipendium der VG Wort im Rahmen des Programms Neustart Kultur 2021/2022 und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien konnte ich in sechs Teilen die Geschichte der Familie Königsrot und insbesondere des herausfordernden Lebens der Enkelgeneration entwickeln.

Teil 3 des Serials mit Lea im Mittelpunkt der Geschehnisse wird auch wie Teil 2 eine Spur unserer Realität enthalten. Ich bin der Ansicht, dass die Geschehnisse in keinem Moment unseres Lebens außer Acht gelassen werden können!

* * * * * * * * * *

Figurenregister Familie Königsrot

Günter-Alois Königsrot

Waltraud Sophie Köngisrot, geborene Bandmann

Sven-Markus Königsrot

Linda Köngisrot-Weber

Peter-Patrick Günter Königsrot-Weber

Adele-Lea Waltraud Königsrot-Weber

Annette-Martina Raasch-Königsrot

Stefan Obergraf

Christiana-Melissa Obergraf-Königsrot

Dirk Raasch-Königsrot

Finn-Philipp Raasch-Königsrot

Nico-Leander Raasch-Königsrot

Torsten-Marco Beller-Königsrot

Lisa Beller-Königsrot

Kim-Marie Beller-Königsrot

* * * * * * * * * *

Prolog

Immer wieder Chris

„Wo hast du das her?“, flüsterte Nico. Ein leises Poltern hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Gerade hatte er noch friedlich in seinem Bett geschlafen. Im Traum hatte er mit dem Schwert einen Drachen mitten in einem fast undurchdringlichen und dunklen Dschungel aus Nadelbäumen bezwungen. Als er die Augen aufschlug sah er vor sich statt des feuerspeienden Drachens mit den beiden Köpfen seinen Zwillingsbruder Finn. Wirr hingen seinem Bruder ein paar Haarsträhnen im Gesicht. Während ihr Friseur Nico vor einer Woche die Haare wieder einmal zu einem kurzen Igel geschnitten hatte, waren bei Finn nur die Spitzen der Schere zum Opfer gefallen.

„Vielleicht ist den beiden das ständige Verwirrspiel langweilig geworden?“, hatte ihr Stiefvater Stefan vermutet, als er sie nach dem Schneiden der Haare im Frisiersalon abgeholt hatte.

Doch auch trotz der beiden unterschiedlichen Frisuren fiel es den Zwillingen immer noch leicht, Nachbarn, Lehrer und viele andere Menschen mit kleinen Streichen hinter das Licht zu führen. Schließlich konnte außer ihren Eltern niemand genau wissen, wer von den beiden die Haare kürzer oder länger trug.

„Wenn uns gar nichts anderes mehr einfällt, lasse ich mir die Haare auch wieder kurz schneiden. Ganz einfach!“, hatte Finn seinem erstaunten Bruder erklärt, als er sich spontan gegen die übliche Kurzhaarfrisur entschieden hatte.

Beim Anblick von Finn mit einem rosafarbenen Schal in seinen Händen fiel aber in diesem Moment Nico nichts mehr ein. Die Wolle des Schals war mit glitzernden Partikeln verziert, die im Mondlicht in allen Farben des Regenbogens schillerten. Schlagartig war er hellwach. „Du bist nicht wieder heimlich in ihrem Zimmer gewesen? Wenn Stefan das merkt, gibt es mächtig viel Ärger.“

„Uns fehlt sie doch genauso wie Mama und Papa“, reagierte Finn trotzig. „Wenn ich doch eine Erinnerung von ihr hier bei uns im Zimmer haben möchte.“

„Du weißt genau, wie empfindlich Stefan in letzter Zeit wieder reagiert“, gab Nico zu bedenken. „Seit dieser neue Privatdetektiv auch keine neuen Erkenntnisse hat, ist alles noch viel schlimmer geworden.“

„Aber uns fehlt sie doch auch“, begehrte Finn wieder auf.

„Du kennst doch Stefans Sätze“, erinnerte Nico seinen Zwillingsbruder. „In seinen Augen haben wir keine echte Erinnerung an Chris. Wir sollen uns deshalb keine Gedanken mehr machen. Und unser Leben leben.“

„Unser Leben leben“, fauchte Finn. „Wenn ich das schon höre. Wir leben im ständigen Schatten unserer verschwundenen Schwester. Dieses ganze Haus kommt mir manchmal vor wie ein Museum.“

„Unfug! Nur in Chris Zimmer hat sich in den letzten Jahren nichts verändert“, sagte Nico. „Weil Stefan das so will. Der Rest unseres Lebens ist so normal wie bei unseren Schulfreunden auch.“

„Ich habe gestern ein Gespräch im Supermarkt mitgehört.“

„Im Supermarkt? Seit wann interessieren dich Gespräche im Supermarkt?“ Nico gähnte genervt.

„Totenkult hat Frau Blum gesagt. Sie hat es ganz leise gesagt. Aber ich bin sicher, dass sie dieses Wort gesagt hat. Und diese andere Frau hat dann etwas von Geisterhaus erwidert.“

„Stop!“, sagte Nico. „Chris ist nicht tot. Deshalb ist unser Zuhause auch kein Geisterhaus.“

„Warum darf in ihrem Zimmer nichts verändert werden? Wer sind wir denn für Stefan?“

„Wir sind ihm wichtig, weil wir zwei Jahre mit Chris fast rund um die Uhr zusammengelebt haben. Und es gibt niemand, der so nah mit ihr verwandt ist wie wir. Wir sind für ihn ein bisschen sie.“

„Irre ist das!“ Finn legte den Kinderschal auf sein Kopfkissen. „Wir sind nicht Chris. Kein einziges bisschen!“

„Vergiss Melissa Blum“, forderte Nico seinen Bruder auf. „Die Frau lauert ständig irgendwo herum und schnüffelt. Und sie liebt Klatsch und Tratsch. Deshalb kannst du so gut wie jeden ihrer Sätze gleich wieder vergessen.“

Finn nahm Chris Schal wieder in die Hände. „Es muss endlich etwas geschehen. So geht es doch nicht weiter!“

„Sie ist nicht tot. Das werde ich nie glauben. Nie! Und jetzt versteck den Schal, wenn du ihn unbedingt behalten willst. Aber versteck ihn gut, damit Stefan ihn nicht bei dir findet! Und jetzt schlaf gut!“ Nico zog sich seine Decke über den Kopf und sank nur wenige Minuten später wieder in den Schlaf.

„Vermutlich lebt sie jetzt in einer dunklen Höhle bei einem bösen Drachen, der sie gefangen hält“, schimpfte Finn leise vor sich hin. Er rollte den Schal zusammen und legte ihn in die Schublade mit seinen Sportsocken. Dann trat er ans Fenster und zog zwei Jalousien mit den Fingern auseinander. Es war Vollmond. „Wo bist du?“, flüsterte er. Er hörte die regelmäßigen Atemzüge seines Bruders. „Hoffnungsloser Träumer“, dachte er laut. „Spürst du wirklich, dass sie lebt oder reden Mama und Stefan dir das ein?“

Kapitel 1

2022 - Im Krankenhaus

Finn lag mit offenen Augen im Krankenhausbett. Sein Kopf schmerzte. Trotz der starken Schmerzmittel ließ das dumpfe Klopfen in seinen Ohren nicht nach. „Ich bin ein kompletter Vollidiot!“, flüsterte er vor sich hin. Das mit einem hygienischen Plastiküberwurf geschützte Krankenbett neben ihm war leer. Jeden Moment konnte die Türe des Krankenzimmers sich mit einem Neuzugang öffnen. Immer wieder blitzte vor seinen Augen das grelle Licht des Silvesterböllers auf. Wieder und wieder verfluchte er seine Dummheit. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er sich sein Leben zerstört.

„Sie haben Glück gehabt, dass Sie so schnell ärztlich versorgt werden konnten“, hatte ihm der Arzt in der Notaufnahme gesagt. „Es ist auf jeden Fall ein Knalltrauma. Das rechte Ohr ist wesentlich mehr in Mitleidenschaft gezogen als das linke Ohr. Die Wunden an Ihrer rechten Schulter und an Ihrem rechten Arm werden verheilen. Sie sind noch jung. Die Narben verblassen mit etwas Glück.“

„Alle Geräusche klingen so dumpf!“, hatte Finn gesagt. Zumindest hatte er das gedacht. Sein Gehör war dermaßen vom lauten Knall des explodierenden Silvesterböllers in Mitleidenschaft gezogen worden, dass er kein Gefühl mehr für leises und lautes Sprechen hatte.

Schließlich hatte der Arzt ihm ein Blatt Papier und einen Stift gegeben. Finn hatte sein Problem mit dem Gehör auf das Blatt geschrieben.

„Wir können Ihnen erst in ein paar Wochen sagen, ob Ihr Gehör sich noch einmal erholt. Auf jeden Fall helfen die Infusionen, das Schlimmste zu verhindern.“

„Was ist das Schlimmste?“, hatte Finn nicht zu fragen gewagt. Er kam sich nicht nur grenzenlos dumm vor. Er kam sich auch feige vor. Er hatte nicht den Mut über Taubheit nachzudenken. Er hoffte auf ein Wunder. Vielleicht würde sein Gehör sich noch einmal komplett erholen. Er mochte nicht über Hörgeräte nachdenken. Wie sollte er beim Triathlon mit diesen Dingern in den Ohren Kilometer um Kilometer schwimmen?

Finn kämpfte mit den Tränen. Der Vollmond vor dem Fenster schien hell ins Zimmer hinein. Finn hatte eine der Krankenschwestern gebeten, die Vorhänge aufzuziehen. Er fühlte sich eingeengt und eingesperrt. Der Blick aus dem Fenster über die Baumwipfel am Horizont wirkte auf ihn wie die große Freiheit.

„Hätte ich doch nein gesagt“, sagte er so laut, dass er sich selbst gut hören konnte. Vor seinem inneren geistigen Auge sah er seinen Freund Mark. Im Hobbykeller von Marks Vater hatten sie alte Silvesterböller gefunden.

„Wie wäre es mit einem Experiment?“, hatte Mark gefragt. Mit einem Messer hatte er in den alten Böllern herumgeschnitten. Das Schwarzpulver ließ er in eine Schüssel rieseln. „Daraus machen wir den großen Knaller!“

„Und dann?“, hatte Finn gefragt. „Wen beeindrucken wir damit?“

„Der Knall wir so laut sein, dass die ganze Straße uns hören wird.“

Finn hatte zugeschaut, wie sich die Schüssel mit immer mehr Pulver gefüllt hatte. Aus den Resten der alten Silvesterknaller hatte Mark ein seltsames Gebilde mit Zündschnur gebastelt. Finn kam das Ding vor wie ein alberner Blindgänger. „Und damit sollen wir die ganze Straße aufwecken?“

„Naja“, sagte Mark. „Vielleicht sollten wir unser Experiment nicht gerade morgens um 05:00 Uhr krachen lassen.“

„Wann willst du das Ding testen?“

„Jetzt!“, hatte Mark gesagt.

Nur fünf Minuten später hatte Mark die Zündschnur im Garten seiner Eltern angesteckt. Finn hatte zwei Meter von ihm entfernt gestanden. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich das Leben der beiden Freunde für immer verändert.

In Finns Erinnerungen hatte ein grelles Licht aufgeblitzt. An den Knall hatte er keine Erinnerungen mehr. Dafür war der brennende Schmerz in seinen Ohren und an seinen Armen umso lebendiger in ihm wach. Er schaute auf die Verbände an seinem Körper. Die Krankenschwestern und Pfleger waren sehr vorsichtig beim Wechseln dieser Verbände. Trotzdem schmerzten große Bereiche seiner Schulter und ein Oberarm. Bei der Explosion waren größere Hautflächen verbrannt. Finn waren die bleibenden Narben egal. Unter einem langärmeligen Pullover oder Hemd konnte er diese roten Flecken gut verstecken. Nur sein schlechtes Gehör würde er nie verstecken können. Finn griff mit seiner linken Hand nach seinen kurzen Haaren. Er dachte an seinen Versuch vor vielen Jahren, sein Haar länger zu tragen als sein Bruder Nico. Damals waren ihm die langen Haare schon nach wenigen Tagen peinlich gewesen und er hatte den Weg zum Friseur innerhalb kurzer Zeit zweimal gefunden. Jetzt aber kam ihm die Idee gar nicht mehr peinlich vor. Viel peinlicher fand er den Gedanken an deutlich sichtbare Hörgeräte. Mehr als eine bloße, vage Hoffnung war ihm nicht geblieben.

„Wir machen alles, was medizinisch möglich ist“, hatte ihm seine Mutter versprochen. Über ihre Lippen war kein einziges Wort des Vorwurfs gekommen. Dafür würde er ihr ewig dankbar sein.

Nur sein Stiefvater Stefan, der eigentlich gar kein richtiger Stiefvater war, hatte die bisher größte Dummheit seines Lebens bitterböse kommentiert. „Typisch Finn“, hatte er gesagt. „Immer eine Extrawurst, die ihm nicht bekommt. Wie können Zwillinge nur so verschieden sein? Deinem Bruder wäre das nicht passiert.“

Am liebsten hätte Finn ihm gesagt, dass er sich aus seinem Leben raushalten soll. Aber solche Sätze prallten ohnehin an Stefan ab. Seine Mutter wusste genau, wie unwichtig der leibliche Vater seiner nur ein Jahr älteren als Kind auf tragische Weise verschwundenen Schwester Finn vorkam. Vermutlich gab es diese familiäre Konstellation auch nur einmal auf der ganzen Welt. Seine Mutter war nach dem Unfalltod seines Vaters Dirk und nach dem Verschwinden seiner Halbschwester Chris mit Finn und seinem eineiigen Zwillingsbruder Nico wieder zu ihrem Ex-Mann Stefan gezogen. Angeblich hatte sie das Leben ohne ihren geliebten Dirk in ihrem gemeinsamen Haus nicht verkraftet. Finn hatte diese Argumentation nie verstanden. Wahrscheinlich hatte Finn sich deshalb auch immer bei seinen Großeltern in Spanien am wohlsten gefühlt. In der Finca Königsrot gab es zwar ein Foto von Chris an einer fast unüberschaubaren Fotowand, aber bei seinen Großeltern hatte er nie den Schatten seiner Halbschwester gespürt. Am allerliebsten hätte er genau in diesem Moment seine Tasche gepackt und wäre nach Spanien gereist. Dummerweise war die einzige Hoffnung auf eine Erholung seines Gehörs die medizinische Behandlung in dem Krankenhaus, in dem er seit dem schrecklichen Unfall lag.

Dann fiel ihm plötzlich ein, dass es keinen Schatten mehr gab. Seine große Schwester Chris war wieder da. Auf seltsamen Wegen hatte ihr Großvater sie wiedergefunden. Finn hatte sie ein paar Mal seit ihrer Rückkehr wiedergesehen. Egal an was er gerade dachte, alles fühlte sich so unwirklich an. Zu allem Überfluss lag Mark noch auf der Intensivstation und kämpfte mit seinem Leben. Der Silvesterböller hatte bei seinem Freund eine schwere Kopfverletzung verursacht. Niemand wusste, in welcher Verfassung er nach dem Koma aufwachen würde.

„Denk jetzt an dich. Nur an dich!“, hatte sein Bruder Nico ihn gestern noch aufgefordert. „Dann kommst du auch bald ins Trainingslager. Ich schicke dir jeden Tag alle Neuigkeiten. Dann bist du auf dem Laufenden, wenn du kommst.“

Zum ersten Mal in ihrem Leben gingen die Zwillinge getrennte Wege. Und Finn selbst war alleine Schuld daran. Es war nicht mehr zu ändern. Er hätte Mark sofort von der albernen Idee mit dem Schießpulver abbringen sollen. Er hasste das Wort „hätte“ genauso wie er bisher den Schatten von Chris gehasst hatte.

Am Horizont flackerten die Lichter eines Flugzeugs auf. Wie gerne wäre er einfach auf und davon geflogen. Es gab für ihn kein Entrinnen mehr. Er musste sich den Folgen seiner Dummheit stellen. Zu allem Überfluss hatte er auch nicht in dem schönen alten Hotel in Lampenburg mit seinen Geschwistern Silvester feiern können. Ein einziger Moment, der Bruchteil einer Sekunde hatte seine Welt für immer verändert. Ausgerechnet nur wenige Wochen nach der Rückkehr von Chris.

Seine Gedanken blieben bei seiner Halbschwester hängen. Chris war ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Sie erschien allen anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Trotzdem wirkten alle so glücklich wie noch nie. Eine nach menschlichem Ermessen unerfüllbarer Wunsch war in Erfüllung gegangen. Seine Schwester, die bei einer Massenkarambolage in strömendem Regen vor fast zwei Jahrzehnten verschwunden war, war wieder aufgetaucht.

Chris hatte von dem Ehepaar erzählt, das sie damals entführt hatte. Die beiden hatten sie geliebt wie ein eigenes Kind. „Sie waren extrem streng. Sie haben mich eingesperrt aus Angst, dass mich jemand erkennen könnte.“ Chris hatte von einem seltsamen Leben hinter hohen Hecken berichtet.

Mittlerweile war auch die Polizei, die vor so vielen Jahren die Suche nach ihr aufgegeben hatte, wieder in den Fall involviert. Schließlich waren die Eheleute Eder, bei denen Chris aufgewachsen war, bei einem Überfall in ihrem Haus ermordet worden. Es gab wilde Spekulation über einen möglichen Zusammenhang mit der Mafia, die Babys verkaufte. Selbst Chris leiblicher Vater Stefan stand für ein paar Tage unter Verdacht, die Eders engagiert zu haben. Aber eine arrangierte Entführung konnten die Kriminalbeamten Stefan nicht nachweisen. Nach derzeitigem Stand schien eine Sekte hinter der ganzen Geschichte, deren Einzelheiten noch fast komplett im Dunkeln lagen, zu stecken.

Finn lehnte sich im Krankenhausbett zurück. Er atmete tief durch. Chris Rückkehr im letzten Jahr mitten in der Corona-Pandemie war, wenn er die gesamte Situation betrachtete, ein gutes Omen. Vielleicht hatte Nico Recht und er sollte nur noch an sich und an seine Genesung denken. Finn freute sich über jede Textnachricht von Nico. Die wichtigen Informationen über das Trainingslager, auf die er sich noch vor Kurzem wie ein Verrückter gestürzt hatte, berührten ihn seltsamerweise wenig. Er war stolz auf Nicos Trainingsergebnisse. Aber sein eigener unbändiger Wille, bei einem Triathlon zu siegen, war ihm abhandengekommen. Seit er zum ersten Mal im Krankenhaus alleine in diesem Zimmer aufgewacht war, schien nichts wichtiger zu sein als seine Gesundheit. Schon bei dem Gedanken an einen Startschuss fehlte ihm die Kraft für die mentale Vorbereitung auf den Wettkampf. Ausgerechnet er, der als der ehrgeizigere Athlet der beiden Zwillinge galt, hatte die Motivation verloren. Bisher hatte er mit niemandem darüber geredet. Nicht einmal Nico wusste, dass Finn ihm nicht mehr ins Trainingslager folgen wollte. Wie auch sollte er seinem Bruder erklären, dass eine Profi-Karriere als Sportler nicht alles im Leben sein konnte?

In der Notaufnahme und bei den Gesprächen mit den Ärzten war ihm eine alte Erzählung seiner Großmutter eingefallen.

„Ich will Notarzt werden“, sollte Chris schon als 3-jähriges Kind kurz vor ihrem Verschwinden gesagt haben. „Wie mein Papa Dirk.“

„Papa Dirk“, flüsterte Finn leise. Warum nur musste ausgerechnet sein Vater bei der Massenkarambolage ums Leben kommen?

Vielleicht stimmten die bösen Sätze von Melissa Blum doch. Die alte Frau aus dem Nachbarhaus hatte einmal gesagt, dass Annette Königsrot und ihre ganze Familie verflucht sein mussten. „Erst wird sie so kurz nach der ersten Hochzeit von einem anderen Mann schwanger. Dann stirbt ihr zweiter Ehemann und das Kind aus erster Ehe verschwindet. Die armen Jungen müssen jetzt bei einem fremden Vater aufwachsen, der doch eigentlich nur ihre Schwester geliebt hat. Das ist doch keine normale Beziehung mit einem Ex-Mann.“

„Unfug!“, flüsterte Finn. Die Sätze der Nachbarin waren nichts weiter als hässlicher Tratsch einer einsamen, gelangweilten alten Frau.

Finn fühlte sich hilflos. Er konnte nichts tun außer abwarten. Vielleicht würde sein alter Ehrgeiz doch noch wiederkommen. Irgendwie würde dieses Leben auf jeden Fall weitergehen. Wenn sogar ein Mensch nach fast zwei Jahrzehnten wieder auftauchen konnte, dann würde das Schicksal auch für ihn noch eine positive Wendung bereithalten. Die Hoffnung wollte Finn auf keinen Fall aufgeben, ob nun mit oder ohne Hörgeräten in den Ohren.

Kapitel 2

Als Zwilling allein

„Ich will nach Hause“, sagte Finn mantraartig vor sich hin.

---ENDE DER LESEPROBE---