Der verbannte Unsterbliche - Ha Jin - E-Book

Der verbannte Unsterbliche E-Book

Ha Jin

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Beschreibung

Ein »verbannter Unsterblicher« wurde Li Bai (701–762) schon zu Lebzeiten genannt: In der offiziellen chinesischen Literatur kaum gewürdigt, erlangten seine Gedichte, die von daoistischem Gedankengut geprägt sind und sich durch Leidenschaft und Lebenslust auszeichnen, bereits in der gesamten Tang-Dynastie über die Rezitationen von Hofunterhaltern, Tavernensängern, Soldaten und Schriftstellern großen Ruhm und landesweite Verbreitung. Noch heute werden seine von tiefer Sehnsucht nach einer höheren, vollkommeneren Welt geprägten Verse chinesischen Schulkindern beigebracht und bei Festen als Trinksprüche aufgesagt; längst sind sie untrennbarer Teil der chinesischen Sprache. Doch wer war dieser Jahrtausenddichter? Mit seinem Gespür eines meisterhaften Romanciers gelingt es Ha Jin, aus den uns überlieferten historischen und literarischen Quellen die Lebensgeschichte des großen Dichters als ein Porträt seiner Zeit zu erzählen. Er folgt Li Bai von seiner Kindheit an der westlichen Grenze bis hin zu seinen Wanderungen als junger Mann, die von Strebsamkeit, aber auch von fröhlicher Unbekümmertheit und lustvollen Ausschweifungen geprägt waren. Er folgt dem Dichter durch seine späten Jahre, in denen er in eine umwälzende militärische Rebellion verwickelt wurde, die den Lauf der chinesischen Geschichte veränderte – und erzählt von den mysteriösen und von Legenden umrankten Umständen seines Todes.

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Ha Jin

Der verbannte Unsterbliche

Das Leben des Tang-Dichters Li Bai

Aus dem amerikanischen Englisch vonSusanne Hornfeck

Inhalt

Einleitung

1. Herkunft

2. Fern von zu Hause

3. Zurück in der Heimatstadt

4. Abschied von Sichuan

5. Abschweifungen

6. Heirat

7. Eheleben

8. In der Hauptstadt

9. Fern der Hauptstadt

10. Im Norden

11. Im Süden

12. Umzug nach Lu

13. Frauen

14. Zurück in der Hauptstadt

15. Politische Verstrickungen

16. Zwei Sterne begegnen einander

17. Leben im Übergang

18. Wieder unterwegs

19. Eine neue Ehe

20. An der Nordostgrenze

21. Auf dem Weg in den Süden

22. Ein unerwarteter Gast

23. Flucht vor den Rebellen

24. Im Gefängnis

25. Enttäuschung und Ende

26. Nachtrag

Li Bai übersetzen – Nachbemerkung von Susanne Hornfeck

Anmerkungen

Literatur

Quellennachweis

Danksagung

Einleitung

Er hat viele Namen. Im Westen nennt man ihn Li Po, und die meisten ins Englische übersetzten Gedichte führen diesen Namen, der manchmal auch Li Bo transkribiert wird. Doch in China kennt man ihn als Li Bai. Zu seinen Lebzeiten (701–762) hatte er noch weitere Namen – Li Taibai, Einsiedler vom Blauen Lotos oder Li Zwölf. Letzterer ist ein familiärer Kosename, der besagt, dass Bai der zwölfte unter den Brüdern und Cousins väterlicherseits war. Seine Freunde und Dichterkollegen redeten ihn gern so an; manche widmeten ihm sogar Gedichte mit dem Titel »Für Li Zwölf«. Bei seinem Tod galt er als berühmter Dichter, und seine Bewunderer bezeichneten ihn als zhexian, als Verbannten Unsterblichen. Dieser Beiname legt nahe, dass er als Bestrafung für schlechtes Benehmen vom Himmel auf die Erde verbannt wurde. In den zwölf Jahrhunderten seit seinem Tod wurde er aber auch bewundernd shixian genannt, Unsterblicher der Dichtkunst. Weil er gern und exzessiv trank, bekam er außerdem den Beinamen jiuxian, Unsterblicher des Weins. Noch heute ist es unter den Bewunderern seiner Lyrik üblich, Hunderte von Kilometern auf den Spuren seiner Wanderschaft zurückzulegen, eine Art Pilgerreise. Viele Schnaps- und Weinsorten tragen seinen Namen; er ist zu einer allgegenwärtigen Marke geworden, mit der Hotels, Restaurants, Tempel, ja selbst Fabriken für sich werben.

Im englischen Sprachraum ist er außer als Li Po noch unter den Namen Li T’ai Po und Rihaku bekannt. Der erste ist eine alternative phonetische Transkription seines ursprünglichen chinesischen Namens Li Taibai, den die Eltern ihm gaben. Und Ezra Pound nennt ihn in Cathay, seiner Sammlung von Übertragungen klassischer chinesischer Lyrik, Rihaku, denn er übersetzte diese Gedichte mithilfe nachgelassener Notizen des amerikanischen Orientalisten Ernest Fenollosa, der Li Bais Werk während eines Japan-Aufenthalts auf Japanisch kennenlernte. Pounds freie Übertragung von Li Bais »Die Frau des Flusshändlers: Ein Brief« ist in vielen Lehrbüchern und Anthologien enthalten und gilt als Meisterwerk der modernen Lyrik. Es ist für Pound zu einer Art Markenzeichen geworden, sein womöglich bekanntestes Gedicht. Aus Gründen der Einheitlichkeit und Klarheit wollen wir uns im Folgenden auf den Namen Li Bai beschränken.

Dem Dichter werden auch mehrere Tode zugeschrieben. Seit Jahrhunderten gab es immer wieder Leute, die behaupteten, er wäre gar nicht gestorben und sie hätten ihn da und dort gesehen.1 Über das genaue Datum und die Umstände seines Todes herrscht Unklarheit. Im Januar 764 erließ der frisch inthronisierte Kaiser Daizong ein Dekret, das Li Bai als Berater an den Hof berief, eine Stellung, die trotz des hochtrabenden Titels mit wenig Einfluss verbunden war. Für einen Mann von Bildung und Ambition bedeutete sie dennoch eine große Auszeichnung, einen Beweis für kaiserliches Wohlwollen und Großherzigkeit – und im Fall von Li Bai war es eine teilweise Wiedereinsetzung in die hohe Position, die er einst am Hof innegehabt hatte. Als das kaiserliche Dekret im Kreis Datung in der Provinz Anhui eintraf, wo Li Bai sich angeblich aufhielt, gerieten die dortigen Beamten in große Verlegenheit, denn sie konnten ihn nicht ausfindig machen. Bald stellte man fest, dass er seit mehr als einem Jahr nicht mehr lebte. Woran er gestorben war und an welchem Tag, ließ sich nicht mehr feststellen. Daher lässt sich heute nur sagen, dass Li Bai trotz seiner Berühmtheit irgendwann im Jahr 762 unbemerkt für immer eingeschlafen sein muss.

Doch einen so unspektakulären Tod wollten die Verehrer seiner Poesie nicht hinnehmen. Bald kamen unterschiedliche Versionen über sein Ableben in Umlauf, Geschichten, die zum romantischen Image seiner Dichterpersönlichkeit passten und einen stimmigen Abschluss für sein turbulentes Lebens bildeten. In einer Variante starb er an Alkoholvergiftung, was gut zu seiner lebenslangen Trunksucht passte. Eine andere ließ ihn an chronischem Lungenabszess sterben – einer Eiterung in Lunge und Brustraum. Diese Version taucht erstmals bei Pi Rixiu (838–883) in dessen Gedicht »Sieben Lieben« auf: »Verfaulte Rippen zwangen ihn nieder / und schickten seine trunkene Seele ins Jenseits.« Auch wenn wir diese Behauptung nicht belegen können, klingt sie plausibel. Eine solche Krankheit könnte tatsächlich durch Alkoholmissbrauch begünstigt worden sein. Möglicherweise hatten sich in seinen letzten Jahren Trunksucht und Armut auf die Lunge geschlagen. Die dritte Todesart ist weitaus fantastischer. In dieser Version ertrank er, als er betrunken das Spiegelbild des Mondes im Fluss umarmen wollte; er sprang aus dem Boot, um die ewig wandernde Mondscheibe zu erhaschen.

Auch wenn diese Szene einen Beigeschmack von Suizid hat und zu romantisch klingt, um glaubhaft zu sein, ist sie bei weitem die populärste – nicht zuletzt, weil Li Bai, wie seine Gedichte belegen, den Mond besonders liebte. Schon als kleines Kind war er von ihm fasziniert. In seinem Gedicht »Nächtliche Wanderung in Gulang« schreibt er: »Als Kind wusste ich nicht, was der Mond war / und nannte ihn die weiße Jadescheibe. / Dann fragte ich mich, ob er vielleicht ein Spiegel wäre, / der von der Jaspis-Terrasse wegflog und auf grünen Wolken landete.« Li Bai ist der erste in der chinesischen Lyrik, der das Bild des Mondes vielfältig eingesetzt und dessen Erhabenheit, Reinheit und ewige Wiederkehr gefeiert hat. Er stellte sich den Mond als heitere Landschaft vor mit großartigen Behausungen für die xian, die Unsterblichen, die dort umgeben von göttlicher Fauna und Flora und eigenen Haustieren lebten. Im alten China unterschied man nicht zwischen göttlich und menschlich; der imaginierte Himmel war in seiner Landschaft, seiner Architektur und seinen Bewohnern der Menschenwelt durchaus ähnlich, bloß fantastischer. War ein Mensch kultiviert genug, so konnte er in die Reihen der Göttlichen aufsteigen und ein xian werden. In vielen chinesischen Tempeln wurden derlei Gottheiten verehrt, und der Himmel war von ihnen bevölkert – mächtige, sorglose, unsterbliche Übermenschen.

In Li Bais Gedichten steht der Mond auch für das eigene Zuhause oder den Geburtsort, ein himmlischer Leuchtturm, allgegenwärtig und verlässlich, der selbst von jenen gesehen und geteilt wurde, die sich fern der Heimat aufhielten. In seinem wohl bekanntesten Gedicht »Nachtgedanken«* heißt es: »Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde, / das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs.« Die Legende von seinem Versuch, den Mond zu umarmen, kann als die ultimative Erfüllung dieses Wunsches und dieser Vision gelten – eine geistige Himmelfahrt in umgekehrter Richtung. Manche seiner Zeitgenossen glaubten, er sei in seinem vorherigen Leben ein Stern gewesen und durch die Vereinigung mit dem Mond im Wasser in jene himmlische Sphäre zurückgekehrt, die er einst bewohnte. In der knappen »Biografie des Li Bai«, die in die Neueren Tang-Annalen aus dem 11. Jahrhundert Eingang gefunden hat, heißt es: »Als seine Mutter Li Bai zur Welt brachte, träumte sie von der Venus und gab ihm den Namen Taibai (Morgenstern).«

Die nachgeborenen Dichter haben diesen mondhellen Tod weitergetragen. Obgleich sie wussten, dass er nicht der Wahrheit entsprach, feierten sie diesen strahlenden Moment in ihren Versen. Noch heute schwelgen die Liebhaber von Li Bais Gedichten in diesem Mythos. Ein zeitgenössischer Biograf behauptet gar, Li Bai »ritt auf einem Wal und schwamm auf den Wellen dem Mond entgegen«.2 Die Himmelsreise wird aus der Sicht des enttäuschten, trunkenen Dichters geschildert, so als würde Li Bai auf diese Weise an seinen angestammten Platz im Himmel zurückkehren. Diese Romantisierung zeigt, dass selbst die Forschung um Li Bai solchen Legenden und Mythen nicht widerstehen konnte. Weil die Menschen mit dem Dichter ein glorioses Ende verbanden, schrieben sie die Legende von der Umarmung des Mondes eifrig fort.

Neben solch fantasievollen Glorifizierungen ist uns eine einzige deutliche Stimme erhalten, die noch zu Lebzeiten des Dichters dessen Exilsituation klar benennt. Sein treuer Freund und Dichterkollege Du Fu klagt in seinem Gedicht »Träumen von Li Bai«:

冠蓋滿京華斯人獨憔悴

孰云網恢恢將老身反累

千秋萬歲名寂寞身後事

《夢李白》

In der Hauptstadt wimmelt es von Kutschen und Amtstrachten,

nur du musst trotz deiner Gaben im Elend leben.

Wer sagt, die Wege des Himmels seien gerecht,

wo du selbst im Alter dem Unheil nicht entgehst?

Obgleich dein Ruhm zehntausend Jahre währen sollte,

wird es still sein um dich, nachdem du gegangen bist.

*Übersetzt von Günter Eich, in: Wilhelm Gundert, Annemarie Schimmel u. Walther Schubring (Hg.), Lyrik des Ostens, München 1978, S. 296.

1. Herkunft

Wenn wir über den Dichter sprechen, sollten wir im Auge behalten, dass es drei Li Bais gibt: den tatsächlichen Li Bai, den Li Bai der Autofiktion und jenen Li Bai, den die historische und kulturelle Imagination hervorgebracht hat. Es sollte unser Ehrgeiz sein, den tatsächlichen Li Bai so klar wie möglich hervortreten zu lassen, zugleich aber die Beweggründe und Folgen seiner Selbsterfindung zu verstehen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass ein solcher Ehrgeiz notwendigerweise vom Mangel an belastbarem Material über sein Leben in die Schranken gewiesen wird.

In den vergangenen Jahrzehnten sind etliche Chronologien zu Li Bais Leben erschienen. Sie sind einander in Inhalt und Herangehensweise sehr ähnlich und führen die wichtigsten biografischen Ereignisse auf, wie sie sich aus dem Werk – der wichtigsten Quelle seiner Selbsterfindung – ablesen lassen. In jeder dieser auf Chinesisch verfassten Biografien wird das Leben des Dichters auf der Grundlage solcher Ereignisse rekonstruiert. Drei der aufeinander rekurrierenden Arbeiten liegen meinen Ausführungen hauptsächlich zugrunde: die Kritische Biografie des Li Bai von Zhou Xunchu; dieBiografie von Li Bai von Li Changzhi; und Li Bai: Eine Biografie von An Qi. Auf Englisch hat Arthur Waley vor fast siebzig Jahren sein Buch The Poetry and Career of Li Po vorgelegt. Wenngleich die Informationen in diesem schmalen Bändchen unvollständig und in mancher Hinsicht überholt sind, basiert die Monografie doch immer noch auf solider Forschung und enthält kluge Einschätzungen, auf die ich zurückgreifen konnte. In den letzten Jahrzehnten hat das Li-Bai-Institut in der Stadt Ma’anshan regelmäßig Sammelbände mit akademischen Aufsätzen herausgebracht, von denen mir einige für dieses Buch hilfreich waren. Wie die Biografen stützen sich auch die Wissenschaftler vornehmlich auf die Originalgedichte. Über die Jahrhunderte hinweg haben Leser aus ihnen Geschichten und Episoden gesponnen, die Hinweise in den Gedichten aufgreifen. Glaubt man allerdings Li Bais Onkel Li Yangbing, so sind »neun von zehn seiner Gedichte« verloren gegangen. Das überlieferte Werk besteht lediglich aus zwei Sammlungen, die sein Schüler Wei Hao und Li Yangbing zusammengestellt haben – insgesamt etwa tausend Gedichte und Essays –, und sie sind nur ein Bruchteil der enormen Arbeitsleistung des Dichters.

Li Bais eigene Gedichte stellen natürlich unsere wichtigste Quelle dar, doch auch einige seiner Freunde haben über ihn geschrieben. Wir besitzen eine Handvoll Gedichte und kurze Prosastücke, die sich zu seiner Persönlichkeit und Erscheinung äußern. Die Zeitgenossen beschreiben seine imposanten Gesichtszüge und sein unbekümmertes Wesen. Wei Hao schildert ihn mit strahlenden Augen und einem kraftvollen, entschlossenen Mund: »Seine Augen waren von durchdringender Helligkeit, und sein Mund glich dem Rachen eines hungrigen Tigers. Oft hatte er eine Schärpe um den Leib, was ihm eine lässige, aber elegante Note gab. Weil er in Qi (dem heutigen nordöstlichen Shandong) als Taoist initiiert worden war, trug er eine bestickte schwarze Kappe.«1 Solche Kappen waren in der damaligen Zeit bei taoistischen Meistern üblich. In den darauffolgenden Jahrhunderten entstanden einige Porträts von Li Bai, die sich ganz offensichtlich an Wei Haos Beschreibung orientieren. Gao Shis Verse zeigen uns einen großen, stattlichen Mann mit gebieterischer Ausstrahlung: »Herzog Li besitzt angeborene Größe. / Ein starker Mann stark mit geradem Rücken. / Sein Geist streift durch unterschiedliche Welten, / doch seine Kutte und Taoisten-Kappe entsprechen der hiesigen Mode.«2 Li Bai muss heiter und extravagant gewesen sein; mehrfach hat er sich selbst eine »unbekümmerte Wesensart« bescheinigt und sich als jemanden beschrieben, der sich nicht wirklich für die ihm vorbestimmte Beamtenlaufbahn eignete. Auch die Geschichten über seine Alkoholexzesse zeugen von einem eher unkonventionellen Charakter. Du Fu preist ihn als standfesten Trinker und sagt: »Selbst wenn der Sohn des Himmels ihn riefe, / würde er kein Boot besteigen.« In einem anderen Gedicht spricht Du Fu von »einem bewundernswerten Knochenbau«, was zu Gao Shis Zeile passt: »Ein starker Mann mit geradem Rücken.«

Außerdem verfügen wir über ein seltenes materielles Zeugnis, das uns direkten Einblick in Li Bais Charakter und seine Fähigkeiten gewährt: Eine kleine Schriftrolle mit vierundzwanzig Schriftzeichen in eigenhändiger Kalligrafie. Mao Zedong schätzte sie sehr und hatte sie jahrelang in seinem Besitz, bevor er sie 1958 dem Palastmuseum in der Verbotenen Stadt übergab. In China galt Kalligrafie schon immer als Ausdruck der literarischen Verfeinerung und des Künstlertums; die Handschrift sagte viel aus über den Charakter, ja selbst über die äußere Erscheinung eines Menschen. Bais kleine Schriftrolle besagt: »Der Berg ist hoch und die Wasser sind weit; nur ein kraftvoller Pinsel kann ihre Schönheit und Größe wiedergeben. Geschrieben von Taibai auf der Shangyang-Terrasse am 18. Tag.« Offenbar handelt es sich um ein Gelegenheitswerk, dessen Kontext ungeklärt ist. Der Duktus ist zupackend, harmonisch und fließend und zeigt die innere Ausstrahlung des Schreibenden. Die Schriftzeichen sind das Werk eines meisterlichen Kalligrafen mit einem bemerkenswerten, unverwechselbaren Stil. Die kühne Schönheit von Li Bais Kalligrafie lässt auf einen freien Geist und einen kraftvollen Körper schließen.

Über Bais Kindheit und seinen familiären Hintergrund gibt es kaum Informationen. Das Wenige, was wir über ihn wissen, entstammt dem Bestreben der Forschung, sein Leben konkreter auszugestalten. In seinen eigenen Schriften kommen die Eltern oder Geschwister so gut wie nicht vor. Erstaunlicherweise erwähnt er seine Mutter mit keinem Wort. Man geht davon aus, dass sie keine Han-Chinesin war, sondern einer Minderheit, vermutlich einem Turkvolk, angehörte. Ethnisch gemischte Ehen waren üblich in den entlegenen Gebieten an Chinas Westgrenze, wo die Li-Familie seit zwei oder drei Generationen gelebt hatte, bevor sie wieder ins Landesinnere nach Sichuan zog. Damals waren Chinas Außengrenzen noch nicht eindeutig festgelegt, und die unermessliche Weite der westlichen Peripherie wurde von Mongolen, Persern, Türken und Uiguren bewohnt. Auch der Grenzverlauf zwischen den einzelnen westlichen Königreichen veränderte sich ständig, von denen manche mit dem Kaiserreich verbündet waren. Kriegerische Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung, Kleinstaaten formierten sich und verschwanden wieder. Auf diese Weise kamen die unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Kontakt, und Mischehen waren unvermeidlich. Es ist zwar nicht hinreichend belegt, aber Zeitgenossen behaupteten, er sei zu Teilen hu gewesen, also ein Barbar. Die Tang-Dynastie war ein vergleichsweise tolerantes Regime – sehr viel offener als das China unserer Tage –, und Fremde konnten geeignete Stellungen in Gesellschaft und Verwaltung einnehmen. Selbst unter den führenden Generalen der chinesischen Armee gab es Ausländer.

Auch wenn er niemals direkt von seiner Mutter spricht, darf man annehmen, dass sie eine bemerkenswert starke Frau mit viel Energie und Stehvermögen gewesen ist. Sie schenkte ihrem Mann zahlreiche Kinder, und Bai muss, obwohl er mehrere ältere Brüder hatte, ein wildes, tatendurstiges Kind gewesen sein. Über seine älteren Brüder lässt sich kaum etwas sagen. Wir wissen, dass Bai eine jüngere Schwester namens Runder Mond hatte. Allerdings ist unklar, ob sie mit der Familie nach Sichuan zurückkehrte oder dort erst geboren wurde. Sie heiratete später einen Einheimischen. Ihr Grab befindet sich in Jiangyou, der Heimatstadt der Lis in Sichuan; es ist auch heute noch gut gepflegt und von Blumen und Pflanzen umgeben. Bai hatte noch einen jüngeren Bruder, der vermutlich in Sichuan auf die Welt kam. Bevor die Familie wieder ins Landesinnere zog, lebte sie in der Gegend von Suyab (das heutige Tokmok in Kirgisistan), das während der Tang-Dynastie zum Gerichtsbezirk Anxi gehörte, einer regionalen Verwaltungs- und Militäreinheit.3 Bais Vater war ein erfolgreicher Kaufmann, der mit Getreide, Stoffen, Alkoholika, Trockenfrüchten, Haushaltsgeräten und Papier handelte. Papier war im China jener Zeit weithin erhältlich; es gab viele verschiedene Sorten, hergestellt aus unterschiedlichen Materialien wie Hanf, Stroh oder Baumrinde, wobei das strapazierfähige, glänzende Bambuspapier das bei Weitem kostbarste war. Über die Seidenstraße – jenes berühmte Netzwerk an Verkehrswegen, dessen Anfänge in der Han-Zeit liegen (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) und das China mit Indien, Zentralasien, Arabien, Afrika und Europa verband – wurde Papier zunächst in Arabien, dann in Europa eingeführt. Li Bais Vater gehörte zu jenen Kaufleuten, deren Kamelkarawanen in China hergestellte Waren in den Westen brachten. Er ließ aber auch Produkte aus den entlegenen westlichen Gebieten ins Landesinnere transportieren, vor allem Felle, Heilpflanzen und Trockenfrüchte. Oft nahm er die älteren Söhne auf seine Handelsreisen dorthin mit und führte sie in die Geschäfte ein. Entlang des Jangtse besaßen die Lis mehrere Handelsniederlassungen, und ihr Unternehmen wuchs stetig. Vieles weist darauf hin, dass sie beträchtliche Reichtümer ansammelten.

Li Bais Vater hieß Li Ke, ein Name, der für chinesische Ohren ungewöhnlich und exotisch klingt. Ke bedeutet auf Chinesisch »Gast«, und nur sehr wenige Leute dürften zu jener Zeit und in jener Gegend einen Namen getragen haben, der Konnotationen wie »Fremder« oder »Außenseiter« nahelegte. Auch der Familienname Li ist nicht verbürgt. Es gibt die Vermutung, dass Bais Vater ihn angenommen hat, als er ins Landesinnere zurückkehrte. Erfundene Familiennamen waren damals keine Seltenheit. In der Hoffnung auf Schutz und gesellschaftlichen Aufstieg versuchte man sich dadurch den mächtigen Familien einzugliedern. Lebenslang sollte Li Bai eine gewisse Nähe zum kaiserlichen Klan beanspruchen, denn Kaiser und Prinzen trugen denselben Familiennamen. Obgleich alle Kaiser der Tang-Dynastie Li hießen, manipulierte selbst die Kaiserfamilie ihre Herkunft, um einen rein chinesischen Stammbaum präsentieren zu können. Der erste Tang-Kaiser Taizu hatte durch seine Mutter, eine Angehörige des Tartarenvolks der Sien-pi aus dem südlichen Hebei, fremdes Blut in den Adern. Später behaupteten die kaiserlichen Historiografen dann, die kaiserliche Familie stamme ursprünglich aus Guanlong, einer Region zwischen den Provinzen Gansu und Shanxi; die Lis aus Hebei gehörten dort nämlich einer Minderheit an, während die Lis aus Guanlong ein angesehener, mächtiger und rein chinesischer Klan aus Zentralchina waren. Das könnte zumindest teilweise erklären, warum die Kaiserfamilie niemals dementiert hat, dass Li Bai einer der ihren war; auch ihre Genealogie ließ offenbar Raum für Selbsterfindung.

Li Ke war ein kluger, geschäftstüchtiger Mann. Li Bai schreibt in der Vorrede zu einem Gedicht4, sein Vater sei gebildet gewesen (vermutlich Autodidakt) und vertraut mit den Klassikern, die er auch seinen Kindern nahebrachte. Li Ke behauptete, das Stammbuch seiner Familie sei auf der Reise ins Landesinnere verloren gegangen, gleichwohl stammten sie aber von dem großen General Li Guang (184–119 v. Chr.) ab, der vor mehr als acht Jahrhunderten in der westlichen Grenzregion stationiert gewesen war. Li Guang war ein legendärer Feldherr, der die westliche Peripherie gegen die Aggression fremder Mächte – vornehmlich Hunnen aus Zentralasien – verteidigte. Viele Gedichte und Geschichten feiern seinen Mut und seine Taten. In einem Gedicht heißt es: »Solange der Fliegende General dort ausharrt, / trauen sich die Pferde der Barbaren nicht über den Berg Yin.« Der Berg Yin war der Übergang von den westlichen Landesteilen nach Zentralchina und der »Fliegende General« ein Ehrentitel, den die Hunnen Li Guang wegen seiner schnellen, unvorhersehbaren Manöver gegeben hatten. In einer Geschichte, die uns durch den Historiker Sima Qian überliefert ist, heißt es, Li Guang und seine Leibgarde seien einmal im Wald einem Tiger begegnet. Der General schoss einen Pfeil auf die Raubkatze ab. Als seine Männer die Beute am nächsten Tag heimholen wollten, erkannten sie, dass es sich nicht um ein Tier, sondern um einen braunen Stein handelte, in den der Pfeil eingedrungen war – ein Beweis dafür, dass der General stark genug war, um eine Pfeilspitze in einem Fels zu versenken. Trotz aller Bemühungen gelang es ihnen nicht, den Pfeil herauszuziehen. Dennoch brachten seine Siege und die Loyalität gegenüber dem Kaiserhof der Han Li Guang nicht die verdiente Anerkennung durch die Zentralregierung; er durfte nicht einmal ins Landesinnere zurückkehren. Diese schmähliche Behandlung seitens seiner Vorgesetzten enttäuschte ihn so sehr, dass er sich schließlich selbst die Kehle durchschnitt.

Li Kes Behauptung, in der 16. Generation mit dem berühmten Vorfahren verwandt zu sein, ließ sich schlecht widerlegen, denn der General hatte im westlichen Grenzgebiet Chinas tatsächlich einen Familienzweig hinterlassen. Doch damit nicht genug. Die revidierte kaiserliche Genealogie der Tang legte nahe, dass die Mitglieder des Kaiserhauses und General Li Guang gemeinsame Vorfahren hatten, die einst in Guanlong in der zentralen Ebene lebten, was Li Kes Familie – ihren eigenen Aussagen zufolge – zu Blutsverwandten des Tang-Hofes machte. Über diese Linie wäre Li Ke dann auch mit einer früheren Generation dieses Stammbaums verbunden gewesen, der noch viel weiter zurückreichte als die damalige Kaiserfamilie. Daher konnte Li Bai später auch andeuten, der derzeitige Kaiser Xuanzong sei sein Großneffe.

Selbsterfindungen dieser Art konnten verwirrend sein. Zusätzlich kompliziert wurde die Sache dadurch, dass Li ein sehr häufiger Name war, der durch die Verbindung zum Kaiserhaus zusätzlich an Attraktivität gewann. (Heutzutage gibt es auf der Welt schätzungsweise hundert Millionen Lis.) Auf Reisen traf Li Bai zahllose Menschen mit demselben Nachnamen, die er aus Gewohnheit und im Sinne einer höflichen Geste als seine Blutsverwandten betrachtete. Vor allem wenn es sich um einflussreiche Beamte handelte, redete er sie gern mit »Cousin« oder »Neffe« oder »Onkel« an und widmete einigen sogar Gedichte. Er hatte daher praktisch überall »Verwandtschaft«, und es lässt sich kaum sagen, wer davon tatsächlich blutsverwandt war.

Li Bai war fünf Jahre alt, als der Vater die Familie von Suyab zurück ins Landesinnere umsiedelte. Ihr Weg führte sie über das Tianshan-Gebirge und durch Wüsten, und sie erreichten Sichuan erst ein gutes halbes Jahr später. Li Bai scheint sich Erinnerungen an die entbehrungsreiche Reise bewahrt zu haben, denn seine Gedichte erzählen oft von einer unermesslichen Wildnis, ein Topos, der sich nur bei ihm findet. »Mond am Bergpass«, eines seiner berühmtesten Grenzland-Gedichte, beginnt mit der Schilderung einer solch majestätischen Landschaft:

明月出天山蒼茫云海間

長風幾萬里吹度玉門關

《關山月》

Der Mond geht auf über dem Tianshan,

segelt durchs Wolkenmeer.

Der Wind, zehntausend Meilen lang,

bläst über den Yumen-Pass.

In Sichuan angekommen, ließen sich die Lis im Kreis Changming (das heutige Jiangyou) nieder und errichteten ihren Stammsitz im Dorf Qinglian. Es lag etwa dreißig Kilometer nördlich der Kreisstadt, und die Landschaft dort hatte einen mystischen Charakter. Gelbe Blüten hingen in den Bäumen, zwischen denen Bambus wucherte, und weil die Flüsse Fu und Jian das Gebiet nach Süden hin begrenzten, waren Land und Himmel stets in Dunst- und Nebelschwaden gehüllt.5 Es war ein abgelegener, einsamer Ort; der gesamte Kreis zählte nicht mehr als ein paar tausend Haushalte. Warum ließ sich Li Ke mit seiner Familie ausgerechnet in einem so verlassenen Dorf nieder? Das war weder vorteilhaft fürs Geschäft noch für die Erziehung seiner Kinder. Die Frage muss offenbleiben. Einige Forscher vermuten, dass Li Ke damit den Folgen einer Fehde oder einem Konflikt mit lokalen Beamten aus dem Weg gehen wollte.6 Da in Jiangyou die Seidenstraße begann, muss Li Ke vorher schon auf Geschäftsreisen durch die Gegend gekommen und mit Land und Leuten vertraut gewesen sein. Seine Standortwahl – abgelegen, aber doch mit der Außenwelt verbunden – dürfte also durchaus überlegt gewesen sein.

Von ihrem neuen Wohnort aus nahmen Li Ke und seine Söhne den Handel in Sichuan und entlang des Jangtse wieder auf. Reich und geschäftstüchtig, wie er war, verlieh er auch Geld. Bald darauf begann er für den Daming-Tempel zu arbeiten, eine zur damaligen Zeit bekannte buddhistische Pilgerstätte. Vermutlich fungierte er als eine Art Mittelsmann für Geldgeschäfte und als Zins- und Schuldeneintreiber, denn offiziell durften Tempel sich nicht aktiv am Geschäftsleben beteiligen. So konnte er nahtlos an seine bisherigen Erfolge anknüpfen und wurde in der Gegend bald zu einer angesehenen Persönlichkeit.

Es war damals üblich, dass große, wohlhabende Haushalte ihre Söhne in unterschiedlichen Berufen ausbilden ließen. Auf diese Weise konnte man den Einfluss der Familie ausdehnen, den Reichtum mehren und Sicherheit für ihre Mitglieder und Besitztümer schaffen. Durch Diversifizierung war man gegen Rückschläge und soziale Unruhen besser gewappnet. So hielt es auch Li Ke mit seinen Söhnen: Einige stiegen mit in den Handel am Unterlauf des Jangtse ein, doch für Li Bai hatte er andere Pläne; er sollte die Beamtenlaufbahn einschlagen, denn der Junge hatte einen wachen Geist und ein gutes Gedächtnis und wäre dazu bestens geeignet. Um dieses Ziel zu erreichen, musste Li Bai die Klassiker studieren und eine solide Schulbildung erhalten. Sein Vater ließ sich Bais Ausbildung also wesentlich mehr kosten als die seiner anderen Söhne.

Zur damaligen Zeit zählten Händler und Geschäftsleute zu den unteren Schichten der chinesischen Gesellschaft. Der Staat konnte – und kann es auch heute noch – ihr persönliches Vermögen einziehen und sie willkürlich zu Kriminellen erklären, obwohl überhaupt kein Verbrechen vorlag. Wann immer die Regierung in Geldnöten war, schröpfte sie Geschäftsleute und Grundbesitzer und ließ ihnen keinerlei Raum für Sicherheit und Wachstum. Reichtum galt daher nicht unbedingt als adäquates Mittel zur eigenen Absicherung. Eine in China über Jahrtausende bewährte Methode zur Wahrung der eigenen Interessen war daher die Annäherung an die politische Macht, indem man sich etwa mit hohen Beamten anfreundete oder gleich selbst die Beamtenlaufbahn einschlug. Die Karriere, die die Familie Li für Bai vorsah, scheint diesem Muster gefolgt zu sein. Der Vater mag damit zugleich die Absicht verfolgt haben, das Ansehen der Familie zu mehren, indem er Bai in die Lage versetzte, ihr durch seine Taten dauerhaft Ehre zu machen.

Obwohl das System der Beamtenprüfung bereits seit über einem Jahrhundert etabliert war, blieb der Weg in den Staatsdienst weiterhin mit Beschränkungen und hartem Wettbewerb verbunden. Als Sohn eines Händlers war es Li Bai eigentlich nicht gestattet, die Prüfungen abzulegen. Geschäftsleute galten als unehrliche Elemente und ihre Söhne als ungeeignet für die Beamtenlaufbahn. Nur junge Leute aus Beamten- oder Adelsfamilien oder die Söhne von Großgrundbesitzern wurden zu den Prüfungen zugelassen. Zu jener Zeit gab es in China etwas mehr als zehntausend Beamte. Doch jedes Jahr standen den Prüflingen nur rund dreißig neue Posten offen, und die wurden nicht ausschließlich aufgrund der Prüfungsergebnisse vergeben. Man brauchte darüber hinaus einen Fürsprecher, einen Beamten in möglichst hoher Stellung, der den Bewerber unterstützte. Daher kamen viele Absolventen trotz ihrer Intelligenz und Bildung niemals zum Zuge.

Es gab allerdings noch einen anderen Weg, Beamter zu werden, eine Prozedur, die sich zhijiu nannte und aus Empfehlungen und Bewerbungsgesprächen bestand. Seit der Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.) waren hohe Beamte angehalten, dem Hof talentierte Leute vorzuschlagen, worauf sie der Kaiser persönlich befragte, um ihre Fähigkeiten zu evaluieren. War der Herrscher entsprechend beeindruckt und zufrieden, erhielt der Kandidat einen bedeuteten Posten. (Diese Methode wird bis heute praktiziert, etwa in staatlichen Programmen wie »Der Plan der hundert Personen« und »Der Plan der tausend Personen«, mit denen man weltweit Experten aus allen Fachrichtungen rekrutiert.) Indem sie möglichst viele fähige Personen in ihren Dienst stellte, konsolidierte die Tang-Regierung ihre Macht und stärkte ihre Herrschaft. Ein Kandidat, der sich dem Prozess der Empfehlung und Befragung unterzog, musste außergewöhnlich gebildet und intelligent sein und wurde, wenn er erfolgreich war, idealerweise zu einer Stütze der Gesellschaft. Da Li Bai zum eigentlichen Prüfungssystem nicht zugelassen war, schlug er diesen traditionellen Weg in den Staatsdienst ein, der meisterhaftes Können in einigen zentralen Bildungsbereichen voraussetzte: Staatskunst, Philosophie, Klassiker, das Abfassen von Texten und der Schwertkampf.

Bereits im Alter von zehn Jahren hatte er die meisten verfügbaren Klassiker studiert; unterrichtet wurde er vornehmlich durch seinen Vater und Privatlehrer in Gruppen von höchstens vier oder fünf Schülern. Sichuan lag weit vom chinesischen Kernland entfernt und war damals noch nicht von bürokratischen Strukturen durchdrungen, die die kaiserliche Zentralgewalt repräsentierten. Daher war man in Punkto Bildung nicht ganz auf der Höhe der Zeit und legte mehr Wert auf ältere Schriften, die in der Periode der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) entstanden waren, als sieben Staaten um die Kontrolle über das Kernland kämpften, um das Reich unter einer zentralen Herrschaft zu einen. Die konfuzianischen Klassiker übten wenig Anziehungskraft auf Li Bai aus; ihre Regeln und Riten für gute Staatsführung vertrugen sich schlecht mit seinem renitenten Charakter. Einer dieser Klassiker, das Buch der Riten, beschreibt die archaischen Riten und Formen des Hofzeremoniells; ein anderer, die Frühlings- und Herbstannalen, enthält historische Aufzeichnungen aus dem Staat Lu. Die Klassiker vermitteln außerdem formelle Umgangsformen und Etikette, wie sie im Buch der Urkunden festgehalten sind. Zusammen bilden die konfuzianischen Texte – die Vier Bücher und Fünf Klassiker – eine Erziehung in staatstragendem Verhalten. Li Bai fand sie langweilig. Auch die Geschichtswerke sagten ihm nicht zu, vor allen jene der Hofhistoriografen. Er bevorzugte die taoistischen Texte, besonders das Buch Zhuangzi, das die Schriften des Philosophen Zhuang Zhou (369–286 v. Chr.) enthielt.

Bai war beeindruckt von Zhuangs grenzenloser Vorstellungskraft, die ihn zu eigenen wilden Träumen inspirierte. Immer wieder nahm er Bezug auf das Eingangskapitel des Zhuangzi, »Xiaoyao you« (»Frei und ungehindert umherschweifen«). Dort heißt es: »Im nördlichen Meer lebte einst ein Fisch namens Kun. Er war von so gewaltiger Größe, dass er sich über zehntausend Meilen erstreckte. Später wurde er zu einem Vogel mit Namen Peng. Pengs Rücken war so riesig, dass er tausend Meilen maß. Wenn er aufflog, bewegten sich seine Schwingen wie Wolken über den Horizont. Der Vogel folgte den Wellen des Ozeans bis zum Südmeer, welches ein großes natürliches Wasserbecken ist.« Der Vogel Peng bezieht sich auf die Legende vom Vogel Rokh, ein riesiger Raubvogel, mit dem Li Bai sich in einem seiner frühen Prosagedichte, »Der Große Peng«, beschäftigt hat. In dieser epischen Dichtung bringt er den Wunsch zum Ausdruck, wie ein Vogel Rokh im Flug »den Himmel zu stürmen, während die Berge erzittern und der Ozean unten brandet und wogt.« In einem späteren Prosagedicht identifiziert er sich noch einmal mit dem mystischen Rokh; er stellt sich vor, zu fliegen und die Menschenwelt von oben zu betrachten. Es war Zhuang Zhou, der ihn zu solchen fantastischen Bildern angeregt hat.

Die Gattung des Prosagedichts fu ist eine archaische Form der episch rhapsodischen Dichtung von unbegrenzter Länge und bietet daher mehr Raum für Dramatisierung, Beschreibung und die Entfaltung eines Stoffes. Li Bai liebte diese Form; in einem seiner Gedichte rühmt er sein eigenes Talent für diese Gattung: »Mit fünfzehn begann ich seltene Bücher zu lesen / und übertraf Xiangru beim Schreiben von Prosagedichten«, (»Für Zhang Xianggao«). »Xiangru« bezieht sich auf Sima Xiangru (179–117 v. Chr.), einen Beamten und Gelehrten am Hof, der in China als einer der größten Meister des Prosagedichts gilt. (Obwohl Li Bai diese Form besonders schätzte, machen die Prosagedichte nur einen kleinen Teil seines literarischen Werks aus. Er widmete sich mehr der Versdichtung und zeigte schon in früher Jugend eine außerordentliche Begabung für die lyrische Komposition.) Für den jugendlichen Li Bai war Sima ein Vorbild, ein Mann, der ebenfalls aus Sichuan stammte und sowohl als Beamter wie als Literat reüssiert hatte.

Wie alle Schüler zur damaligen Zeit musste Li Bai viele klassische Gedichte und Essays auswendig lernen und sie nachahmen. Einer der Texte, die er studierte, war die frühe Anthologie Zhaoming wenxuan (Ausgewählte Meisterwerke); sie wurde im Jahr 526 zusammengestellt und enthält über 700 kanonische Gedichte und Essays. Angeblich hat Li Bai jeden Text drei Mal nachgeahmt. Versuche, die er nicht für gelungen hielt, soll er weggeworfen haben und über seine langsamen Fortschritte oft frustriert gewesen sein. Eines Tages begegnete er in seiner Heimatstadt am Ufer eines Baches einer alten Frau. Sie wetzte einen Eisenstab an einem Stein, und er fragte sie, was sie da tue. Sie antwortete, sie wolle aus dem Eisenstab eine Nähnadel machen. Wie war so etwas möglich?, fragte er sich laut. Wenn sie ihn nur lange genug schliffe, erwiderte sie, werde sie den Stab eines Tages auf die Größe einer Nadel reduziert haben, die sie dann zum Sticken verwenden könne. Er war so beeindruckt von ihrer Antwort und ihrem Durchhaltevermögen, dass er von da an fleißiger und geduldiger lernte. Noch heute gibt es in der Stadt Qinglian, im Kreis Jiangyou, einen Bach, der Nadelschleif-Bach heißt.

Li Bais Vater ermutigte ihn, Gedichte zu schreiben. Obgleich das Verfassen von Gedichten nicht zu den für Beamte vorgeschriebenen Fähigkeiten gehörte, konnte es der Karriere dienlich sein, wenn man sich in den Künsten hervortat. Es gab einige berühmte Beispiele von Dichtern aus bescheidenen Verhältnissen, die bedeutende Beamte geworden waren, ohne die Staatsprüfung abgelegt zu haben. Chen Zi’ang (661–702) – ebenfalls ein Dichter aus Sichuan, allerdings eine Generation älter als Li Bai – wurde als Berater an den Hof geholt, nicht als Prüfungsabsolvent, sondern auf Empfehlung der Kaiserin Wu (624–705), der Großmutter des regierenden Kaisers. Chens Gedichte waren in aller Munde, und einige Zeilen daraus wurden zum sprichwörtlichen Ansporn für ehrgeizige junge Männer, so etwa »Zum Dienst fürs Vaterland gerufen / ziehe ich kampfbereit mein Schwert« oder »Erfolgreich helfe ich anderen, / verarmt wahre ich Anstand«. Zeilen wie diese prägten Li Bais Weltbild.

Für mehr als ein Jahrtausend war die Poesie in den Palästen wie auch in Städten und Dörfern eine wichtige Form der Unterhaltung gewesen. Gedichte wurden zu vielen Anlässen verfasst und entweder mündlich vorgetragen oder schriftlich niedergelegt. Die Hofbeamten waren in aller Regel eitel und hielten große Stücke auf die eigene Dichtkunst; ihre Monarchen luden sie daher oft ein, festliche Gelegenheiten mit ihren improvisierten Versen zu bereichern. War ein Gedicht besonders gelungen, wurde es vertont und als neues Lied in das höfische Repertoire aufgenommen. Doch im Lauf der Jahrhunderte war die Hofdichtung immer abgedroschener geworden und verkam zur Routine, auch wenn gelegentlich das eine oder andere gut gemachte Gedicht entstand. Zwei Jahrhunderte vor Li Bais Zeit hatte im Königreich Liang (der heutigen Provinz Henan) ein General namens Cao Jingzong (457–508) die Truppen in einen siegreichen Krieg gegen das feindliche Königreich Wei geführt. Beim Siegesbankett ließ König Liangwu Paare von Reimwörtern an die Höflinge verteilen, damit sie ein Gedicht daraus machten. Cao wurde nicht berücksichtigt, da man von ihm als Krieger kein dichterisches Talent erwartete. Nachdem er König Liangwu jedoch drei Mal um ein Reimpaar gebeten hatte, erhielt er schließlich das übriggebliebene Reimpaar: jing (»wetteifern«) und bing (»Krankheit«). Es war nahezu unmöglich diese inhaltlich so gegensätzlichen Wörter in einen sinnvollen Vers einzubinden, und die Leute warteten schon darauf, Cao auslachen zu können. Doch nach kurzem Nachdenken griff er zum Pinsel und schrieb folgendes Gedicht:

去時兒女悲歸來笳鼓競

借問行路人何如霍去病

Als wir aufbrachen, trauerten unsere Kinder.

Jetzt, wo wir zurück sind, wetteifern Flöten und Trommeln.

Meine Soldaten, ich frage euch,

wart ihr so tapfer wie Huo Qubing?

Huo Qubing (140–117 v. Chr.) war ein tapferer General, der für seine siegreichen Schlachten gegen die Hunnen bekannt war. Caos Gedicht verblüffte sämtliche Teilnehmer des Banketts, und König Liangwu war so beeindruckt, dass er ihn zum Herzog ernannte. Später hat man das Gedicht vertont, und es wurde zum Klassiker. Unzählige Dichter haben Cao seither um diesen Geniestreich beneidet, mit dem er sich in die chinesische Literatur einschrieb.

Am Tang-Kaiserhof gab es einen Beamtenposten mit dem klangvollen Namen Harmonischer Regulator (xie lü lang), dessen Inhaber mit dem Studium und der Verfeinerung des Versbaus befasst war. So wie die gesellschaftlichen Regeln und das höfische Zeremoniell mittlerweile genau festgelegt waren – ein Prozess, der sich seit der Etablierung einer Zentralregierung während der Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) beschleunigt hatte –, war auch die Lyrik standardisiert worden, und zwar so sehr, dass die immer neuen metrischen Regeln sie stark einengten und formalisierten. Bei vielen verkam die Lyrik daher zu rein handwerklichem Verseschmieden, anstatt lebendiger Ausdruck menschlicher Gedanken und Erfahrungen zu sein. Dies sollte sich jedoch ändern, sobald Li Bai die Szene betrat. Nur ein Genie besitzt die Kraft, sich gegen den Status quo zu stellen.

Schon in seinen dichterischen Anfängen schätzte Li Bai den reglementierten Vers nicht besonders – obgleich er ihn virtuos beherrschte –, denn er war nicht der Typ, der sich gern von Regeln einschränken ließ. Am meisten bewunderte er drei poetische Traditionen: gufeng, Gedichte in alter Manier, eine Art früher Volksdichtung, die lange vor der Tang-Dynastie entstanden war und weder eine feste Metrik noch ein Reimschema hatte; yuefu, Volkslieder oder Balladen, die Li Bai selbst sein Leben lang schrieb; und die Sammlung Chuci (Elegien von Chu), ein Konvolut von Gedichten, die zum großen Teil von Qu Yuan (340–278 v. Chr.) verfasst worden waren. Gufeng ist eine ziemlich freie Form, die dem Dichter viel Raum lässt. Gedichte dieser Art können beliebig lang sein und ein Thema in all seiner Dramatik und Anschaulichkeit entfalten. Volkslieder in der yuefu-Tradition existierten schon lange vor Li Bais Zeit. Er liebte sie wegen ihrer Lebendigkeit und Vitalität, entsprangen sie doch unmittelbar der menschlichen Erfahrung. Lebenslang hat er sich von den Liedern inspirieren lassen, wie sie in Tavernen und Teehäusern dargeboten wurden. Die Dichtung aus dem Chuci entsprach ganz besonders Li Bais Naturell, seiner Sichtweise und seinem taoistisch geprägten Weltbild.

Qu Yuan, der Verfasser des Chuci, war einst Hofbeamter im Staate Chu gewesen, wo er für religiöse Angelegenheiten zuständig war, trat jedoch wegen seiner abweichenden politischen Ansichten, vor allem seiner entschiedenen Kritik an der Appeasement-Politik gegenüber dem expansionistischen Staat Qin, von seinem Amt zurück und ging ins selbstgewählte Exil und auf Wanderschaft durch abgelegene Gebiete. Zwei Jahrzehnte später wurde sein Land vom Staat Qin annektiert, jenem Feind, vor dem Qu Yuan so nachdrücklich gewarnt hatte. Als ihn die Nachricht vom Verlust der Heimat erreichte, ertränkte er sich im Fluss Miluo. Seither wird am 5. Tag im 5. Monat des traditionellen Kalenders seines Todes gedacht, ein Feiertag für den großen Dichter. Weil an diesem Tag traditionellerweise die in Schilfblätter gewickelten Klebreisbällchen zongzi gegessen werden, heißt er auch Zongzi-Tag oder Drachenbootfest. Die Menschen hofften angeblich, mit den Reisbällchen die Fische im Miluo-Fluss sättigen zu können, damit sie den Körper des ertrunkenen Dichters verschonten. Auch einige andere Länder in Asien begehen den 5. Mai (»Doppelfünf«) als Feiertag, indem sie zongzi essen und Drachenbootrennen veranstalten, wobei der eigentliche Ursprung des Festes weitgehend vergessen ist.

Was Li Bai an Qu Yuan so schätzte, waren die himmlischen Gefilde, die sich in seinen Gedichten auftaten, und er versuchte, diese Tradition in seinem eigenen Werk fortzuführen. Im Gegensatz zu westlicher Dichtung, die göttliche Inspiration durch eine poetische Muse erhält, kennt die chinesische Kultur das Konzept der Muse nicht und hat ein eher schamanistisches Verständnis von Lyrik. Sie bleibt im Weltlichen verhaftet und speist sich aus den Dramen und Erfahrungen der Menschenwelt. Auch werden keine Götter als Schicksalslenker heraufbeschworen – Qu Yuan stellt hier allerdings eine Ausnahme dar. In einem Gedicht aus dem Kapitel »Neun Gesänge« des Chuci schildert er die Begegnung mit einer Göttin folgendermaßen:

浴蘭湯兮沐芳華采衣兮若英

靈連蜷兮既留爛昭昭兮未央

蹇將憺兮壽宮與日月兮齊光

龍駕兮帝服聊翱遊兮周章

靈皇皇兮既降猋遠舉兮雲中

覽冀洲兮有餘橫四海兮焉窮

思夫君兮太息極勞心兮忡忡

《雲中君》

In duftendem Wasser bade ich, wasche mein Haar

und lege Kleider an, die wie Jade schimmern.

Oben schwebt die Wolkengöttin, will nicht weichen,

ihr strahlender Glanz grenzenlos.

Über uns ragt der Palast der Unsterblichkeit,

majestätisch leuchtend wie Sonne und Mond.

Ausgestattet mit Drachenwagen und buntem Gewand

fährt sie über den weiten Himmel.

Sieh nur, sie will herabkommen, dann wieder

schwingt sie sich auf, verschwindet in den Wolken.

Sie blickt auf unser Land hinab,

hinter dem sich der Ozean in alle Richtungen dehnt.

Ich denke an dich, meine Göttin,

und kann, sorgenbeladen, nicht aufhören zu seufzen.

»Frau in den Wolken«

In seiner Fantasie bewegt sich der Dichter frei zwischen Himmel und Erde; seine Dichtung eröffnet eine himmlische Sphäre, zu der er sich hingezogen fühlt. Den banalen Gesetzen der profanen Welt enthoben versinnbildlicht sie eine andere Art der Existenz. Auch Li Bai war fasziniert von solch überirdischen Räumen, die er in seinen Gedichten immer wieder aufsucht. Betrachtet man die drei poetischen Traditionen, aus denen sich sein Werk speist, wird deutlich, dass Bai sich ganz bewusst einen eigenen dichterischen Resonanzraum geschaffen hat.

Neben dem Unterricht durch Hauslehrer und den Vater hielt Li Bai sich im Teenageralter auch eine Zeitlang im Daming-Tempel auf dem Berg Kuang auf, wo er von den buddhistischen Mönchen unterrichtet wurde. Seine Studien dort beschränkten sich nicht nur auf Bücher; von einem Mönch namens Meister Kong Ling erhielt er auch Unterweisung im Schwertkampf, der zu einer lebenslangen Leidenschaft wurde. Bais Aufenthalt im Tempel passt nicht so recht ins Bild, denn er hat diese Religion nie praktiziert und wurde später ein überzeugter Taoist. Obgleich er sich immer wieder mit dem Buddhismus beschäftigte, war er kein gläubiger Anhänger, allein schon, weil dies mit politischer Abstinenz verbunden gewesen wäre und er doch nach einer Position als Staatsbeamter strebte.

Im Verlauf der chinesischen Geschichte sind während der verschiedenen Dynastien nur Taoismus und Konfuzianismus zu Staatsreligionen avanciert; zu Lebzeiten Bais war der Taoismus die Religion der Tang-Kaiser und damit auch die ihrer Untertanen. Obwohl der Taoismus kaum etwas zur Staatskunst zu sagen hat (er ruft vielmehr dazu auf, dem Lauf der Natur und der Dinge, ihrem zyklischen Wandel zu folgen), erachteten die Tang-Herrscher es offenbar als vorteilhaft, sich mit Lao Tse, dem Autor des Tao Te King in Verbindung zu bringen, dessen persönlicher Name – Li Dan – derselbe war wie ihrer. In anderen Bereichen war es der Konfuzianismus mit seiner Betonung auf Riten und Hofzeremoniell und seiner ethischen Ausrichtung von Familie und Gesellschaft, der den Staat prägte und die Voraussetzungen für die bürokratische Kultur schuf. Beide Glaubensrichtungen waren säkularer als der Buddhismus, der sich nie mit der regierenden Macht gemein machte und daher auch nicht zur Staatsreligion wurde.

Der für Li Bai so untypische Aufenthalt in dem buddhistischen Kloster schrie nach einer Erklärung, und so entstand die Legende, dass der Halbwüchsige mehrfach in Schwierigkeiten geriet und sogar Leute umgebracht haben soll, weshalb sein Vater ihn eine Zeitlang in dem Tempel verstecken musste.7 Bai könnte in der Tat ein problematischer Jugendlicher gewesen sein, denn in seinen späteren Gedichten ist häufig von Raufereien die Rede. Doch die Geschichte von dem Totschlag wird mit solcher Übertreibung vorgetragen, dass sie eher nach Prahlerei klingt. In mehreren seiner Gedichte erscheint der Totschlag als Mittel, die eigene Tapferkeit und Schwertkunst hervorzuheben – eine in der damaligen Gesellschaft durchaus nicht anstößige Sichtweise. Zeilen wie diese wurden oft als belastbare Beweise gelesen: »Nach drei Bechern begann ich, mit meinem Schwert zu spielen / und mähte die Menschen nieder wie Unkraut.« (»Lied vom weißen Pferd«); »Umzingelt von weißen Klingen, / tötete ich Männer im roten Staub.« (»Für Bruder Hao, den Magistrat des Kreises Xiangyang«) und »Alle zehn Schritte streckte ich einen Mann nieder / und machte die nächsten tausend li nicht Halt« (»Lied eines Edelmanns«). Ein li sind fünfhundert Meter, und seine Behauptung, über eine Strecke von »tausend li« gemordet zu haben, ist unmöglich, eine maßlose dichterische Übertreibung, wie sie sich auch in anderen Gedichten findet, zum Beispiel in Sätzen wie diesen: »In der Gegend von Yan fallen Schneeflocken groß wie Matten« oder »Mein Haar wächst weiß, dreitausend Klafter lang.«

Zweifellos war Li Bai ein Heißsporn, impulsiv und mit ausgeprägtem Unrechtsbewusstsein; er mag durchaus Leute mit seinem Schwert verletzt haben, das er immer bei sich führte. Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass er straffrei ausgegangen wäre, hätte er tatsächlich einen Menschen umgebracht, denn Mord wurde in der Tang-Zeit als außerordentlich schweres Verbrechen geahndet. Die damaligen Gesetze sahen für Mörder in jedem Fall die Todesstrafe vor: »Vorsätzliche Tötung im Kampf – Tod durch den Strang; Tötung mit einer Klinge – Enthauptung; Tötung mit einer Waffe im Kampf, auch unabsichtlich – wird behandelt wie vorsätzliche Tötung.«8 Außerdem hätte ein buddhistisches Kloster wie der Daming-Tempel wohl kaum einen Mörder beherbergt, und nach seinem Aufenthalt durchwanderte er unbehelligt und ohne Angst vor Strafe das Landesinnere.

Bais Prahlerei scheint vielmehr eine Affinität zu Destruktion und Verbrechen nahezulegen, wie sie in Verbindung mit künstlerischer Kreativität häufig vorkommt. Ihm selbst mag diese Nähe gar nicht bewusst gewesen sein. Viele große Dichter teilen die Faszination mit der dunklen und gewalttätigen Seite der menschlichen Seele, so zum Beispiel Goethe in seinem Faust oder Dostojewski in seinen großen psychologischen Romanen.9 Zugleich verdankt sich Bais poetische Übertreibung einer allgemeinen Tendenz der chinesischen Sprache zu unrealistischen Vergleichen. Gefühle werden oft mit großer Geste ausgedrückt. So kann man zum Beispiel seinen Schmerz beschreiben, indem man sagt: »Mein Herz wird von zehntausend Pfeilen durchbohrt.« Im Englischen, einer eher zurückgenommenen, genauen Sprache, würde ein solcher Vergleich übertrieben klingen, aber für das chinesische Ohr wirkt er durchaus angemessen, ja sogar glaubhaft. Um die Trinkfestigkeit eines Mannes zu beschreiben, sagte Du Fu: »Er säuft wie ein langer Wal, der hundert Flüsse einsaugt« – ein unmögliches Bild, das dem chinesischen Leser dennoch natürlich und schön erscheint. Von der Schönheit einer Frau heißt es, dass sie die Fische tiefer tauchen und die Gänse zu Boden fallen lässt (vor Beschämung). Auch Li Bais Mordgeschichten gehören in diese Tradition, sie sollten nicht als buchstabengetreue Wahrheit verstanden werden, sondern als Betonung seiner Außergewöhnlichkeit.

2. Fern von zu Hause

Li Bais Vater war durchaus beeindruckt von den fantasievollen Gedichten seines Sohnes. Auch viele Besucher des Hauses priesen sie, doch Li Ke war klar, dass Bai die nötige Lebenserfahrung fehlte, um wahrhaft eigenständige Werke zu schaffen: Seine Verse waren Nachschöpfungen, gekonnte Fingerübungen. Ohne eigenen Erfahrungsschatz würde er sein einzigartiges dichterisches Talent nicht entwickeln können. Sein Vater stattete ihn also mit einem großzügigen Taschengeld aus und erlaubte ihm, sich in der Gegend umzusehen, damit er Land und Leute kennenlernte. Das Reisen galt traditionell als ebenso bildend wie das Bücherstudium. In einem alten Sprichwort heißt es, erst wer zehntausend Bücher gelesen habe und zehntausend Meilen gereist sei, könne sich als gebildet erachten. Und so begab sich Li Bai, kaum zwanzigjährig, auf eine Wanderschaft durch die benachbarten Kreise und Städte.

Die meisten Chronologien, wie etwa die von An Qi und Yu Xianhao, nennen 718 als das Jahr seines ersten Aufbruchs von Zuhause. An einem Frühlingstag bestieg er ein Boot, das ihn flussabwärts in die Präfektur Zi brachte, deren administratives Zentrum der Kreis Chang war, ein wichtiger Handelsplatz im Norden der Provinz Sichuan. Der Marktplatz der Stadt lag direkt am Fluss. Bai hielt sich dort allerdings nicht lange auf, denn seine Interessen lagen anderswo. Er hatte von einem bemerkenswerten Mann gehört, der am nördlich der Stadt gelegenen Changping-Berg wohnte, und wollte ihn besuchen. Zhao Rui (659?–742?) sollte eine bedeutende Rolle für Li Bais weitere Entwicklung spielen. Zhao war weithin als gelehrter Einsiedler bekannt, der mit Frau und Kindern in einer Felsenhöhle lebte. Er entstammte einer angesehenen Familie und galt als Kenner der Klassiker. Als Jugendlicher hatte er sich intensiv auf die Beamtenprüfung vorbereitet, war aber immer wieder durchgefallen und gab schließlich auf. Er kehrte nach Hause zurück und verfasste ein eigenes Werk mit dem Titel Lange und kurze Schriften, ein weniger bedeutender Klassiker der pragmatischen Philosophie, auch als Umgekehrter Klassiker bekannt. Er verachtete den konfuzianischen Kanon, auf dessen Studium er zur Vorbereitung für die Staatsprüfung so viele Jahre verschwendet hatte, und wollte seinen eigenen Text als Gegenentwurf verstanden wissen. Er lebte und dachte wie jemand, der ein Jahrtausend früher gelebt hat, in der Periode der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.). Die meisten seiner Ansichten gingen auf die legalistischen Denker dieser turbulenten Epoche zurück wie Han Feizi, Shang Yang und andere. Zhao war außerdem ein Meister des Schwertkampfs. Nachdem sich sein Ruf verbreitet hatte, wurde ihm von der Zentralregierung mehrfach ein Amt in der Hauptstadt angeboten, doch er weigerte sich, den Berg Changping zu verlassen.

Die Zhaos empfingen Li Bai mit Zurückhaltung, da sie sich über seine Absichten zunächst nicht im Klaren waren. Bai hingegen war tief beeindruckt von Zhao Ruis Fähigkeit, sich in der Wildnis durchzuschlagen. Nach Bais eigenen Worten1 hatte Zhao sich mit mehr als tausend Vögeln aller Art angefreundet und vielen von ihnen Namen gegeben. Wenn er sie mit ausgestreckter Hand anlockte, ließen sie sich auf seinem Arm nieder. Sie umflatterten ihn und fraßen ihm ohne Scheu aus der Hand. Seine Verbindung zu den Vögeln war ein Indiz dafür, dass er ein frommer Taoist war, der sich dem Ideal der Einheit mit der Natur bereits angenähert hatte.

Zhao schenkte Bai eine Ausgabe von Lange und kurze Schriften, die seine Frau eigenhändig abgeschrieben hatte und deren geheftete Bögen noch die Anmutung eines Manuskripts hatten. Li Bai, beeindruckt von den darin geäußerten Ansichten und der Eloquenz des Autors, bat ihn, sein Schüler werden zu dürfen. Zhao und seine Frau schätzten die Aufrichtigkeit und Begeisterungsfähigkeit des Siebzehnjährigen, der zudem von eindrucksvoller Statur war. Aus Bais eigenen Schriften wissen wir, dass er über einen Meter achtzig groß war2, einen kräftigen Knochenbau, einen wilden Blick und eine ausgeprägte Nase hatte. Seine Gedanken waren kühn, und er wusste schlagfertig auf Fragen zu antworten.

Zhao Rui nahm ihn als Schüler auf, und Li Bai begann, unter der Anleitung des Meisters zu lernen. Der Schwerpunkt der Lektionen lag auf der Politik. Zhaos Lange und kurze Schriften ist ein Buch über Strategeme, Taktiken und Praktiken des politischen Handelns; es enthält Kapitel wie »Die Tugenden des Herrschers«, »Das Verhalten der Höflinge«, »Wege zur Dominanz«, »Kaiserliche Herrschaft«, »Militärisches Training«, »Versagen und Erfolg«, und sogar einen Abschnitt zur »Physiognomie«. Um Richtig und Falsch oder Gut und Böse geht es dabei nicht. Vielmehr erfährt der Leser, wie man überzeugt, erobert, verwaltet und regiert.

Im alten China gab es einen eigenen Begriff für solche pragmatischen Denker, man nannte sie zonghengjia (Strategen). In der Vergangenheit hatten einige dieser Männer hochrangige Beraterposten innegehabt und das Schicksal der Reiche geprägt, denen sie dienten. Doch im Gegensatz zu anderen derartigen Texten wurde Lange und kurze Schriften niemals dem Praxistest unterzogen. Insgesamt ist das Buch voller Widersprüche, es ist wenig originell und kann seine Anleihen bei bedeutenden Staatsmännern aus der Periode der Streitenden Reiche nicht verleugnen. Zhao betont die Bedeutung der absoluten Macht des Herrschers und die Notwendigkeit einer schlagkräftigen Truppe. Solche Theorien waren allenfalls für Gesellschaften nützlich, in denen Chaos herrschte und die einen machtvollen Herrscher brauchten, der für Ordnung und Zusammenhalt sorgte. Das Tang-Reich hingegen befand sich im 8. Jahrhundert auf seinem Gipfelpunkt; die politische Ordnung war fest etabliert, und es bestand kein Bedarf für Zhaos überholte Ideen.

Dennoch hat Li Bai sie bedingungslos übernommen und sich bereits als künftigen Politikberater gesehen, dem ein Platz an der Seite des Kaisers gebührte. Während seiner Lehrzeit bei Zhao Rui wanderte sein Geist ein Jahrtausend zurück, und er träumte von den antiken Helden und ihren ruhmreichen Taten. Für beide Männer schien der höchste Lebenszweck darin zu bestehen, an entscheidender Stelle Einfluss auf die Politik zu nehmen, um anschließend heimzukehren und ein einfaches, zurückgezogenes Leben in der Natur zu führen. Darin waren sie sich trotz des Altersunterschieds von vierzig Jahren sehr ähnlich.

Zhao unterrichtete Li Bai aber auch in praktischen Fächern wie militärischer Taktik, Landbau und Medizin. Gemeinsam widmeten sie sich der Schwertkunst, der Kalligrafie und der Instrumentalmusik. Manchmal gab Zhao seinem Schüler sogar arithmetische Aufgaben, damit er sich mit der Organisation und Abwicklung von Verwaltungsaufgaben vertraut machte. Und natürlich nahm auch die Poesie einen breiten Raum ein. Auf diesem Gebiet tat Li Bai sich besonders hervor. Ganz gleich, welches Thema ihm sein Lehrer vorgab, er verfasste dazu rasch und mit großer Leichtigkeit im Kopf ein Gedicht. Im Gegensatz zu anderen Dichtern, die oft Tage über einer Zeile brüteten, entstanden seine Texte spontan; mühelos schuf er Verse voll Expressivität und Überschwang. Normalerweise trug er seine Werke zunächst mündlich vor und notierte manche davon später. Manchmal schrieb er sie aber auch gleich nieder, was ihrem improvisierten Charakter keinen Abbruch tat. Hatte ihn der Schaffensrausch erst einmal gepackt, konnte er gar nicht mehr aufhören, und oft ging ein Gedicht nahtlos in ein zweites oder sogar drittes über. Anschließend musste er seinen schöpferischen Ausstoß dann entwirren und in einzelne Gedichte gliedern.

Zhao Rui und seine Frau beeinflussten Bai auch in religiöser Hinsicht. Der Taoismus betrachtet das Tao als Grundprinzip des Universums, das überall existiert und alles Lebendige durchdringt. Aus diesem Prinzip entsteht Yun, die Bewegung oder der Prozess, der die Wechselfälle des Schicksals in Bewegung setzt. Alles hat sein Yun: das Steigen und Fallen, die Zu- und Abnahme, die Existenz und das Verschwinden. Taoisten glauben, dass das Leben begrenzt und mit dem Tod zu Ende ist. Der Mensch kann, vor allem wenn er Taoist ist, allenfalls versuchen, sein Leben zu verlängern. Aus diesem Konzept entstanden unterschiedliche Praktiken zur Lebensverlängerung. So soll man Körper und Geist möglichst wenig verausgaben, damit die Vitalität erhalten bleibt und ihr Maximum erreichen kann. Zu diesem Zweck folgt der Taoist dem Weg der Natur, indem er nicht gegen sie, sondern mit ihr lebt.

Dem Streben nach einem möglichst langen Leben entsprang die Kunst, Unsterblichkeitspillen herzustellen, in der sich viele überzeugte Taoisten versuchten. Weil es dafür weder feste Formeln noch ein Standardrezept gab, pilgerten die Anhänger zu den verschiedenen Meistern, um sich in dieser Kunst unterweisen zu lassen. Die traurige Ironie an der Sache ist, dass diese Pillen oft giftig waren, und viele durch die Einnahme ihre Gesundheit ruinierten oder starben. Als Zhao Ruis Schüler wurde Bai nicht nur in religiösen Praktiken unterwiesen, sondern lernte auch die Herstellung solcher Pillen.

Bald ließen sich die Vögel auch auf Bais Armen nieder und fraßen ihm aus der Hand. Einige Ortsansässige waren von der Zutraulichkeit der Vögel so beeindruckt, dass sie die örtlichen Behörden informierten, damit man den beiden eine Stellung anbot. Daraufhin stattete ihnen der Präfekt einen Besuch ab, und nachdem er der ornithologischen Darbietung beigewohnt und mit den beiden geredet hatte, empfahl er sie seinen Vorgesetzten für ein Amt. Doch Zhao Rui und Li Bai lehnten ab. Die genauen Gründe sind nicht überliefert, aber vermutlich hielten sie den Zeitpunkt zum Verlassen des Berges noch nicht für gekommen. Offenbar hatten sie ehrgeizigere Pläne und wollten nicht den Rest ihres Lebens im niederen Beamtendienst verbringen. Eine Präfektur, die nur aus einer Handvoll Kreisen bestand, war als Wirkungskreis für ihre hochfliegenden Visionen vom Dienst am Vaterland einfach zu klein.