Der vergessene Tod / Todesrauschen - B. M. Ackermann - E-Book

Der vergessene Tod / Todesrauschen E-Book

B. M. Ackermann

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Beschreibung

+++ DOPPELBAND +++ "DER VERGESSENE TOD" ***Ein Mann ohne Erinnerungen an das schrecklichste Erlebnis seiner Kindheit. Ein unbekannter Feind, der dieses Geheimnis für seine mörderischen Pläne benötigt. Ein gefährliches Spiel beginnt. Die Frage: Wer wird am Ende als Sieger hervorgehen?*** Nach einer Messerattacke verliert der dreizehnjährige Nicolas alle Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Auch 21 Jahre später kann Nicolas alias Nick Holsten sich weder an seine Kindheit erinnern, noch daran, was an jenem schicksalhaften Tag geschehen ist. Im Pausenhof einer Stuttgarter Schule findet er das Skelett eines Mädchens, das Zweite von Dreien, die vor über zwanzig Jahren ermordet wurden. Ein geheimnisvoller Mann beauftragt Nick, jemanden zu finden, der vor über zwei Jahrzehnten im Alter von dreizehn Jahren verschwand. Eine Frau tritt in Nicks Leben – Alexandra. Sie behauptet, ihn von früher zu kennen, verdreht ihm den Kopf, doch auch sie hütet ein Geheimnis. Bald sieht Nick sich in ein gefährliches Spiel verstrickt. Und er hat nur eine Chance, heil aus der Sache herauszukommen, er muss sich erinnern. ******************************************************* "TODESRAUSCHEN" »Ich weiß jetzt, was damals passiert ist. Bitte ruf mich an, bevor es zu spät ist!«, sind die letzten Worte, die Edward MacCarty an seinen Sohn Matt richtet. Danach bringt er sich um … Doch Matt glaubt nicht an einen Selbstmord, denn sein Vater war etwas auf der Spur. Etwas tödlichem, etwas geheimnisvollem, etwas, das ihn womöglich das Leben gekostet hat. Aber was ist damals passiert? Hat es mit den blutigen Bildern zu tun, mit dem Mord, an den Matt sich zwar erinnert, den er sich selbst gegenüber jedoch leugnet und immer wieder verdrängt? Und was ist mit seinem Freund Paul passiert? Matt muss die Geheimnisse lüften und folgt den Spuren seines Vaters. Doch er hat nicht viel Zeit, denn der unbekannte Mörder könnte noch immer auf der Suche sein, auf der Suche nach neuen Opfern in den Wäldern über der amerikanischen Kleinstadt Coldmont.

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Zwei Thriller in einem Band

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Thriller

Handlung und Personen sind frei erfunden. Eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog - Oktober 1991

Ich hetzte durch einen schmalen Gang. An der Decke hingen Lampen, deren Licht den Weg vor mir kaum erhellte. Die Wände waren mit Moos überwuchert, sie schienen immer näher zusammenzurücken. Hinter mir hallten Schritte. Schnelle Schritte. Jemand war mir dicht auf den Fersen. Ich sah mich um, da war niemand.

Die Schmerzen in meinem Brustkorb pochten stärker. Mein Herz klopfte mit ihnen um die Wette. Ich versuchte die feuchte Luft einzuatmen, meine Lungen brannten, ich hustete. Kraftlos schleppte ich mich vorwärts, stolperte mehr, als dass ich ging. Als meine Beine mich nicht mehr tragen konnten, lehnte ich mich gegen die Wand und glitt an ihr entlang langsam zu Boden.

Eine Gestalt kam auf mich zu. Ich blickte auf den hochgewachsenen Mann. Sein Körper war in eine knöchellange, schwarze Kutte gehüllt und auf dem Kopf trug er eine Kapuze. Er sah auf mich herab, und obwohl ich sein Gesicht in dem schummrigen Licht nicht richtig sehen konnte, hatte ich den Eindruck, dass er weinte.

Er ging neben mir in die Hocke. »Was hast du getan, Junge?«, fragte er mit bebender Stimme.

Ich wusste nicht, was ich getan hatte. Mein Blick fiel auf das Messer in meiner Brust. Auch dafür hatte ich keine Erklärung. Schweigend, den Kopf voller Schmerz und Fragen, blickte ich den Mann an.

Er murmelte unverständliche Worte, die sich wie ein Gebet anhörten. Ich schnappte nach Luft, als er seine langen Finger nach mir ausstreckte und den Griff des Messers packte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht!«

Mein Jammern half nichts. Mit einem kurzen Ruck riss er die Klinge aus meinem Brustkorb. Vor Schmerzen schreiend bäumte ich mich auf. Meine Hände suchten Halt am Kittel des Mannes, rutschten ab. Ich fiel auf den Rücken, mein Kopf krachte ungebremst auf harten Stein.

»Dies ist deine von den heiligen Engeln gewählte Strafe«, hörte ich die Stimme des Mannes wie aus weiter Ferne. Ich sah ihn über mir, er blickte auf mich herab. »Nun stirb in Demut.« Dann drehte er sich um und ging fort. Blut tropfte von dem Messer in seiner Hand.

Mein Brustkorb schmerzte mit jedem Atemzug, also atmete ich möglichst flach. Meine Hände tasteten nach der Wunde. Warmes Blut rann durch meine Finger. Ich fühlte mich verloren, ich fürchtete mich, und ich fragte mich, was ich getan hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Da war nur Leere in meinem Kopf. Ich lauschte, doch außer dem Rauschen in meinen Ohren, das an einen tosenden Wasserfall erinnerte, hörte ich gar nichts.

Die Lichter über mir erloschen, es wurde stockdunkel. Der Korridor begann sich zu drehen, der Boden schwankte. Unter mir tat sich ein Loch auf. Ich fiel tiefer und tiefer hinab in ein schwarzes Nichts, das mich gefangen nahm.

***

Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesem Zustand befand. Ich erinnere mich aber, dass ich einige Zeit später ein dumpfes Pochen hörte. Ein helles Licht legte sich über meine Augen, die ich zaghaft öffnete. Ich sah mich um. Der finstere Korridor war einem hell erleuchteten Zimmer gewichen, und ich lag nicht mehr auf dem harten Boden, sondern in einem weichen Bett mit weißer Wäsche. Der Geruch nach Desinfektionsmittel drang mir in die Nase.

Ich blickte auf meine Brust. Sie war bandagiert. In meinem Arm steckte eine Nadel mit einem Schlauch daran, der in einen Plastikbeutel führte. Neben mir stand ein Mann im weißen Kittel.

»Wo bin ich?«, fragte ich mit belegter Stimme und räusperte mich. »Wer sind Sie?«

Der Mann setzte sich auf die Bettkante. »Mach dir keine Sorgen. Du bist in Sicherheit. Ich bin Arzt.« Er lächelte. »Weißt du, was mit dir passiert ist? Wer hat dir das angetan?«

Ich grübelte und berichtete über das Wenige, das mir einfiel. »Da war dieses Messer … in meiner Brust, … ein dunkler Raum. Ein Mann.« Ansonsten herrschte in meinem Kopf nur ein dunkles Nichts. »Ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts.« Tränen stiegen in mir auf, ich zitterte am ganzen Körper.

»Auch nicht daran, wie du heißt?«, fragte der Arzt.

Ich starrte ihn eine Weile an. Ein Name kam mir in den Sinn, der mir vertraut erschien, und ich sagte: »Nicolas.«

… 21 Jahre später …

1

Ich blickte durch den Sucher meiner Kamera auf die junge Blondine, die sich splitternackt auf dem roten Laken ihres Bettes rekelte. »Komm schon, zeig mir alles«, heizte ich sie an. »Wow! Großartig.«

In meinem Unterleib breitete sich ein wohliges Kribbeln aus, und während mein Finger schon beinahe automatisch den Auslöser betätigte, stellte ich mir vor, wie es sich anfühlen würde, diese Schönheit zu berühren, sie zu küssen, sie zu …

»Sind Sie bald fertig?«, unterbrach eine männliche Stimme meine Träumereien und holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen.

»Nur, wenn Sie mich in Ruhe meine Arbeit machen lassen.« Ich blickte den Mann neben mir an. Er war nicht ganz so groß wie ich, etwa einen halben Kopf kleiner. Und er war alt. Viel zu alt für diese junge Schönheit mit ihren perfekten Rundungen.

»Sie sind jetzt fertig«, sagte er zu mir und wandte sich lüstern grinsend an die junge Schönheit. »Liebes. Bleib einfach so, bis ich wieder da bin. Ich bringe nur schnell unseren Gast nach unten.«

»Beeil dich«, erwiderte sie lächelnd, zwinkerte mir zu und zog die Bettdecke über ihren Körper.

Ich unterdrückte ein Seufzen, verstaute meine Kamera und das Stativ in meiner Tasche und folgte meinem Kunden die Treppe hinunter ins Foyer der Villa. Solange er mein Honorar abzählte, betrachtete ich die Drucke von Dali, Picasso und Dix, die zahlreich an den Wänden hingen. Die mussten ein Vermögen wert sein. Ich war beeindruckt.

»Sechshundert Euro?«, fragte mein Kunde, als er mir mit einem Bündel Fünfziger in der Hand entgegentrat. »Ich hoffe, die Fotos sind ihr Geld wert.«

»Aktfotografie hat ihren Preis. Genau wie ich.« Grinsend nahm ich die Scheine entgegen und steckte sie zu meiner Nikon in die Kameratasche.

»Ich verlasse mich darauf, dass außer Ihnen und uns niemand diese Fotos zu sehen bekommt«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte Sie nicht ausgewählt, wären Sie mir nicht wegen Ihrer Diskretion und ihres besonderen Talents empfohlen worden.«

»Selbstverständlich behandle ich alle meine Aufträge diskret. Diese speziellen Hausbesuche sowieso. Wie ausgemacht bekommen Sie alle Abzüge und die Speicherkarte.« Wir schüttelten zum Abschied die Hände.

Nachdem ich das Haus verlassen hatte, ließ ich von der gekiesten Auffahrt aus meinen Blick über die hell erleuchtete Kulisse Stuttgarts schweifen. Der Abend war spät und am wolkenlosen, nächtlichen Himmel glitzerten unendlich viele Sterne. Eine kühle Brise strich über mein Gesicht. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch und machte mich auf den Weg zu meinem Auto.

Zufrieden mit dem überaus erfolgreichen Abend setzte ich mich hinters Lenkrad meines in die Jahre gekommen Volvo. Schon seit Wochen spielte ich mit dem Gedanken, mir endlich einen neuen Wagen zuzulegen. Doch immer wieder kam etwas dazwischen, und irgendwie hing ich auch an dieser alten Karre.

Ich wollte gerade den Motor anlassen, als mein Handy klingelte. Ohne aufs Display zu schauen, meldete ich mich. »Nick Holsten.«

»Ich hörte, Sie übernehmen gerne außergewöhnliche Aufträge«, sagte eine männliche Stimme.

Ein außergewöhnlicher Auftrag? Das klang verlockend. »Schon möglich. Worum geht’s?«

»Ein Fotoshooting. Es wird sich für Sie lohnen.«

»Ein Fotoshooting?« Da brauchte ich nicht lange nachzudenken. »Wann und wo?«

»Um Mitternacht«, sagte die Stimme. »Kelterstraße 52.«

»In Ordnung, ich werde da sein«, sagte ich und beendete das Gespräch.

***

Um Mitternacht fuhr ich die Kelterstraße entlang. Sie endete in einer abgelegenen Sackgasse vor einem mehrstöckigen Gebäude. Im Mondlicht konnte ich in einem Innenhof zwei Tischtennisplatten erkennen.

Ich nahm meinen Fotoapparat aus der Tasche, stieg aus und betrachtete die hohen Birken, die den Eingang zum Hof zu bewachen schienen. Der Wind fuhr durch ihre Äste und brachte das Laub zum Rascheln. Abgestorbene Blätter regneten auf mich herab. Von einem Holzschild, das an einem Pfosten befestigt war, las ich einen Namen ab: Vogelsang-Grundschule.

Ich trat zwischen den Birken und dem Schild hindurch in den Schulhof. Ganz in der Nähe des Schulgebäudes sah ich auf vier dürren, hohen Beinen ein Klettergerüst stehen. Ein Netz aus Seilen spannte sich von der Spitze des Turmes bis zum Boden hinab. Dahinter schimmerte ein orangefarbenes Licht, das meine Neugier weckte. Also ging ich auf den Kletterturm zu und kaum hatte ich ihn umrundet, sah ich eine lodernde Fackel.

Sie steckte in der Erde eines niedrigen Blumentroges, der nur spärlich mit Unkräutern bewachsen war, und beleuchtete Etwas von der Seite, das mich sofort in seinen Bann zog. Sämtliche Härchen an meinem Körper stellten sich auf, in meinem Leib breitete sich ein lange verdrängtes Gefühl aus.

In diesem Augenblick dachte ich daran, die Flucht zu ergreifen oder die Polizei zu rufen oder beides. Ich konnte nicht. Das Kribbeln in mir wurde stärker, der Drang größer, dieses mager beleuchtete Etwas genauer zu betrachten.

Ich löste die Abdeckung vom Objektiv meiner Kamera und richtete es auf das menschliche Skelett, das mir zu Füßen lag. Ich fotografierte die knochigen Hände, die gefaltet auf dem Brustkorb ruhten, die leeren Augenhöhlen und das dunkelrote Pentagramm auf der hohen Stirn des Totenkopfs.

Ein kratzendes Geräusch schreckte mich aus meiner Konzentration. Gleichzeitig fühlte ich einen warmen Luftzug im Nacken und wirbelte herum. Ein Schlagstock sauste auf mich zu, ich konnte nicht mehr ausweichen. Ein greller Schmerz raste durch meinen Kopf, ich taumelte und ging neben dem Skelett zu Boden.

Eine vermummte Gestalt beugte sich über mich. Von der Statur her ein Mann. Die Flamme der nahestehenden Fackel spiegelte sich in zwei hellgrauen Augen.

»Was willst du?« Ich stemmte mich hoch und erstarrte in der Bewegung, als der Bursche eine Pistole auf mein Gesicht richtete. Ich hielt den Atem an, mein Herz hämmerte von innen gegen meine Rippen.

Der Kerl ist verrückt. Er wird mich abknallen, ich bin tot!, rasten die Gedanken wild durch meinen Kopf.

Ganz sicher würde ich mich schon bald in einem dunklen Grab wiederfinden, aus dem es keine Rückkehr gab. Da kam mir ein vollkommen absurder Gedanke: Welches Geburtsdatum würden sie eigentlich auf meinen Grabstein schreiben? Nicht einmal mir war es bekannt. Nun, zumindest der Tag meines Todes war dann ja eindeutig, das war doch besser als nichts.

Neben mir lag der Totenkopf, ich berührte ihn beinahe. Jene Nacht vor einundzwanzig Jahren kam mir in den Sinn. Ich schloss die Augen und sah den Korridor und den Mann vor mir. Ich spürte wieder die Klinge des Messers in meiner Brust und die Leere in meinem Kopf. Lange Zeit hatte ich die beklemmenden Gefühle verdrängt, die mich immer wieder heimsuchten. Die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die Trauer und die Angst. Ich hatte gelernt, sie zu kontrollieren und mit ihnen zu leben. Doch jetzt, im Angesicht des Todes, drohten sie, mich zu erdrücken.

Ich spürte den Stahl der Pistole auf meiner Stirn, riss die Augen weit auf und sah, wie der Finger des maskierten Mannes sich um den Abzug krümmte. Ich erwartete einen Schuss, doch ich hörte nur ein heiseres Lachen. Der Kerl richtete sich auf, steckte den Revolver hinter seinen Gürtel und ging zügig davon.

Auf einmal fühlte ich, wie etwas Nasses, Warmes über mein Gesicht rann, das neben mir auf den Boden tropfte. Das war es dann auch, was mich endgültig zur Besinnung brachte und aus der Starre löste. Ich griff meinen Fotoapparat, sprang auf die Füße und rannte zu meinem Wagen. Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

2

Der Tag brach gerade an, die Morgendämmerung tauchte die Umgebung in ein mattgraues Licht, als Kriminalkommissar Eddy Krieger mit gefurchter Stirn von weitem auf den mysteriösen Fund blickte.

»Muss so was immer so früh am Morgen gefunden werden?«, murrte Krieger und blies Dunstschwaden aus dem Mund. Vor vierzig Minuten hatten sie ihn aus dem Bett gerufen, nicht einmal Zeit für eine Tasse Kaffee war gewesen. Nun stand er in der Kälte, mit klammen Fingern und einem Koffein-Defizit, während er die in weiße Overalls gehüllten Kollegen der Spurensicherung beobachtete, die wie Gespenster durch die Gegend huschten.

Inmitten des Pausenhofs einer Grundschule im westlichen Stadtbezirk von Stuttgart befand sich dieses menschliche Skelett zwischen einem Klettergerüst und einem Blumentrog. Die Schule blieb heute geschlossen, der Pausenhof war mit gelben Bändern abgeriegelt, was die Schaulustigen außerhalb des Sperrgebietes jedoch nicht abhielt, neugierige Blicke auf den grausigen Fund zu werfen.

Eddys Blick fiel auf Roland Bachmann. Der junge Tatortfotograf machte gerade Fotos von dem Totenschädel, als er über seine eigenen Füße stolperte. Er geriet ins Wanken, taumelte und trat mit seinem vollen Gewicht auf den linken Schienbeinknochen des Skeletts. Lautes Knirschen begleitete das Missgeschick.

Eddy zuckte zusammen. Verärgert ging er auf Bachmann zu. Mit seiner stattlichen Größe von knapp zwei Metern überragte er den Fotografen um einiges. Der wich ängstlich zurück.

»Kannst du nicht aufpassen?«, fuhr Eddy ihn an.

»Entschuldigung«, murmelte Bachmann, packte seine Kamera ein und trollte sich.

»Was für ein Idiot«, knurrte Krieger, streifte Einmalhandschuhe über seine kalten Hände, beugte sich über die Knochen und betrachtete sie genauer.

Das Skelett war perfekt erhalten, jeder einzelne Knochen lag an der richtigen Stelle – abgesehen von dem jetzt gebrochenen Schienbein. Auf dem Brustkorb lagen die knochigen Hände wie zum Gebet gefaltet. Sie hielten ein goldenes, mit schwarzen Symbolen verziertes Kreuz, um das sich von oben nach unten eine schwarze Schlange wand. In der Mitte des Kreuzes befand sich ein fünfzackiger Stern, in dessen Mitte zwei Zeichen – X und I. Die Stirn des Totenkopfs zierte ein blutrotes Pentagramm, dessen eine Spitze zum Nasenrücken zeigte. Außerdem waren die Gebeine des Skeletts nicht sehr lang. Eddy vermutete, dass es sich bei den Überresten um ein Kind handelte.

»Und? Was meinst du, Eddy?«, fragte Tom Bauer, Eddys jüngerer Kollege. »Hat sich hier jemand einen dummen Scherz erlaubt?«

»Vielleicht, oder wir haben es mit etwas Religiösem zu tun, wenn ich mir das Kreuz so ansehe und das Pentagramm. Schau dir an, mit welcher Genauigkeit die Knochen angeordnet worden sind. Für einen Scherz ein wenig zu genau. Da war ein Perfektionist am Werk.«

Bauer nickte zustimmend. »Ich werde mal abklären, ob die Verdächtigen der Satansszene in letzter Zeit aktiv geworden sind.«

»Meinst du, die spielen mit alten Knochen herum?«, fragte Eddy. »Ich weiß nicht. Aber überprüf das ruhig. Und finde heraus, ob auf irgendeinem Friedhof ein altes Grab geplündert wurde.«

»Mach ich.« Bauer zückte sein Handy und ging davon.

Eddys Blick fiel auf den rotbraunen Fleck, der sich dicht neben dem Skelett auf dem helleren Boden abzeichnete. Er winkte einen Kollegen von der Spurensicherung heran. »Nehmen Sie davon bitte eine Probe. Ich glaube, das ist eingetrocknetes Blut.«

Er trat zur Seite, blickte umher und hoffte insgeheim, dass es sich nur um einen makabren Scherz handelte.

***

Außerhalb des großzügig abgesperrten Fundorts des Skeletts hatten sich mittlerweile zahlreiche Schaulustige eingefunden. Eltern und Schüler. Sie tuschelten miteinander. Manche Gesichter waren kreidebleich und bestürzt. Andere wiederum scherzten und lachten, doch es klang eher nach Verlegenheit.

Zwischen all den Leuten stand regungslos ein mittelgroßer Mann, der das Treiben der Polizisten auf dem Schulhof genauestens verfolgte. Über seiner dunklen Jeans trug er eine schwarze Jacke mit einer Kapuze, die sein darunterliegendes Gesicht gut verbarg. Er atmete die frische Luft des Morgens in seine Lungen und blies sie langsam wieder aus. Beim Gedanken an die Knochen machte sich ein wohliges Gefühl in ihm breit. Es war sein Skelett, und er dachte freudig an vergangene Nacht zurück. Diesem Nick Holsten hatte er einen tüchtigen Schrecken eingejagt. Er hatte noch zugesehen, wie dieser Idiot sich Hals über Kopf in seinen Wagen gestürzt hatte und davongerast war.

Der Mann dachte darüber nach, wie er zurückgekehrt war, um dem Skelett das wertvolle Kreuz auf die Rippen zu legen. Die ganze Nacht und den frühen Morgen hatte er den Schulhof beobachtet, damit niemand die Ruhe der heiligen Knochen störte. Dann hatte er von dem ganz in der Nähe stehenden Münzfernsprecher die Polizei angerufen und den Fund gemeldet.

Sein gutes Gefühl wich schlagartig einer unbändigen Wut, als dieser Trottel von Fotograf nahe an ihm vorüberging. Der hatte dem Skelett doch tatsächlich das Bein gebrochen. Die hellen Augen unter der Kapuze verengten sich, während er dem Fotografen bis zu dessen Auto folgte, das ein gutes Stück entfernt in einer Querstraße parkte. Hier herrschte Stille, kein Mensch war unterwegs, niemand beobachte die Gegend. Und gerade eben, als der Fotograf den Kofferraum seines BMW öffnete, zog der Verfolger seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und näherte sich dem jungen Beamten von hinten. Ein gezielter Schlag in den Nacken, der Fotograf stürzte kopfüber in den Kofferraum seines eigenen Wagens. Der in schwarz gekleidete Mann schloss rasch den Deckel, hob die Autoschlüssel auf, die zu Boden gefallen waren, und sah sich nochmals um. Kein Mensch beachtete ihn. Er setzte sich hinters Lenkrad, startete den Motor des Autos und fuhr zufrieden davon.

3

An diesem Mittwochmorgen war gar nichts los in meinem Fotoatelier. Ich saß auf einem Stuhl an meinem Schreibtisch und kritzelte mit einem Bleistift die Kästchen eines karierten Blattes nach, bis ich so etwas Ähnliches wie den Fernsehturm vor mir sah. Ich zerknüllte das Papier und warf es in den Mülleimer unter dem Tisch.

Die Zeit schlich weiter dahin. Immer wieder warf ich einen Blick auf die riesige Uhr, die über der Eingangstür hing. Sie hatte einen Sprung im Glas über dem Ziffernblatt, da sie vor Kurzem beim Staubwischen auf den Laminatboden gefallen war. Aber sie lief noch.

Der kleine Zeiger stand auf der Elf, der große knapp darunter, der Sekundenzeiger schleppte sich aufwärts in Richtung der Zwölf und noch immer hatte kein Kunde den Weg in meinen Laden gefunden. Es war wie verhext. Für gewöhnlich hatte ich ausreichend Laufkundschaft, da mein Laden in einer Querstraße zur gut besuchten Königstraße in Stuttgart lag. Doch heute schien auch das nichts zu nützen.

Genervt blickte ich auf meine Kamera, die am Rand des Tisches lag. Durch den Sturz hatte die Nikon einige Kratzer am Gehäuse abbekommen und ein Riss teilte den Bildschirm in zwei Hälften. Zudem ließ sie sich nicht mehr einschalten.

Ich zog die Speicherkarte aus der Nikon. Tausend Gedanken rotierten in meinem Kopf, während ich das kleine, flache Ding anstarrte. Die halbe Nacht hatte ich mit Grübeln zugebracht. Ich hatte hin und herüberlegt, was dieses Skelett und der Überfall zu bedeuten hatten. Allerdings war ich zu keinem Ergebnis gekommen. Vielleicht hatte mir jemand einen üblen Streich spielen wollen. Wäre möglich. Andererseits, wer zeigte sich so geschmacklos und legte zum Spaß ein Skelett in einen Schulhof?

Ich steckte die Speicherkarte in den Slot meines Computers und öffnete die Bilder. Zuerst betrachtete ich den beinahe perfekten Frauenkörper, der sich mir vom Bildschirm aus entgegenreckte. Nun ja, ein paar Korrekturen sollte ich noch vornehmen, um manche Formen etwas besser hervorzuheben, andere sollte ich kaschieren. Das wollte ich später tun. Ich schloss den Ordner und klickte den nächsten an.

Nun sah ich das Skelett vor mir. Mir fiel auf, dass die Gebeine sehr kurz waren – ein Kind? Ich begann am ganzen Körper zu zittern, mein Puls beschleunigte. Mein Bürostuhl knarrte, als ich mich ruckartig erhob. Ich begann im Raum hin und her zu gehen, versuchte, den Blick nicht wieder auf den Bildschirm zu richten. Doch er zog mich magisch an.

Ich setzte mich zurück auf meinen Stuhl, den Blick starr auf die Knochen gerichtet. Meine Hand griff nach der Maus. Der Zeiger auf dem Bildschirm fuhr über das Skelett hinweg, vom kleinen Zeh über das Knie, den Oberschenkelknochen und weiter nach oben. Auf dem Totenkopf ließ ich den Pfeil liegen und klickte die linke Taste der Maus. Einen winzigen Augenblick später füllte der Schädel den ganzen Monitor aus. Das Pentagramm darauf schimmerte in einem dunklen Rot. Die Farbe erinnerte mich an Blut. In vier der fünf Zacken des Pentagramms standen Ziffern:

19 89 3 13.

Die Stimme der Nachrichtensprecherin, die aus dem Lautsprecher des Radios tönte, ließ mich aufhorchen. »Wie die Polizei berichtet, wurde heute Morgen im Pausenhof einer Stuttgarter Grundschule ein menschliches Skelett gefunden, vermutlich handelt es sich um die Überreste eines Kindes. Hinweise nimmt die Kripo Stuttgart entgegen. Und nun zum Wetter …«

Also doch ein Kind. In meinem Unterleib kribbelte es unangenehm. Dasselbe Gefühl hatte ich häufig verspürt, als ich noch für die Kripo Tatorte fotografiert und Spuren gesichert hatte. Mit jeder neuen Leiche war dieses Prickeln in meinem Leib unerträglicher geworden. Deswegen hatte ich der Polizeiarbeit vor über zwei Jahren den Rücken gekehrt. Unter dem Vorwand einer Depression hatte ich vier Wochen in einer psychiatrischen Anstalt verbracht, im Anschluss daran die Therapie ambulant fortgeführt und erfolgreich beendet.

Im Grunde stand einer Rückkehr in den Polizeidienst nichts im Wege. Meine Arbeit beim kriminaltechnischen Institut fehlte mir sehr oft. Andererseits wollte ich meine Nachtschwärmereien mit dem Fotoapparat auch nicht missen. Die waren immer wieder spannend und der Verdienst war wesentlich besser als der eines Kripobeamten. Beides konnte ich aber vermutlich nicht unter einen Hut bringen. Also verwarf ich den Gedanken.

Sachte rieb ich mit dem Finger über das Pflaster, das ich über die Platzwunde an meiner Stirn geklebt hatte. Mein Blut war auf den Boden neben das Skelett getropft. Meine ehemaligen Kollegen würden ganz schnell meine DNA entschlüsseln. Um mir Ärger zu ersparen, sollte ich den Vorfall nachträglich zur Anzeige bringen, also nahm ich mir vor, das später zu tun.

Ich schaltete meinen Computer aus und streckte meinen verspannten Rücken durch. Um meine durcheinandergeratenen Gefühle unter Kontrolle zu bringen, atmete ich tief ein, ballte meine Hände zu Fäusten und atmete wieder aus, während ich meine Finger streckte. Diese Technik hatte ich in der Klinik gelernt und tatsächlich kam ich zur Ruhe.

Voller Stolz betrachtete ich kurz darauf meine Malereien, die ich an den Wänden des Ateliers ausstellte. Freilich nur diejenigen, die ich auch einem breiten Publikum zumuten konnte. All die anderen düsteren und unheimlichen Werke – die vermutlich dem Teil meiner Seele entsprungen waren, die sich mir seit über zwei Jahrzehnten verschloss – hütete ich in meiner privaten Sammlung, die noch kaum ein Mensch gesehen hatte. Die Malerei hatte mir dabei geholfen, mein traumatisches Erlebnis einigermaßen zu bewältigen. Zumindest konnte ich mittlerweile sehr gut damit umgehen.

Das Knarren der Ladentür riss mich aus meinen Gedanken. Ein junger Mann im dunkelgrauen Anzug betrat mein Atelier. Sein blondes Haar trug er ordentlich nach hinten gekämmt, sein Teint war auffallend blass und der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen durchdringend.

»Nick Holsten?«, fragte er mit einem leichten amerikanischen Akzent.

»Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

Ohne mir eine Antwort zu geben, stolzierte der Bursche durch den Laden und betrachtete interessiert meine Gemälde.

»Wollen Sie Passfotos machen lassen oder vielleicht ein Bild kaufen?«, fragte ich.

»Weder noch. Ich hörte, Sie übernehmen gerne ungewöhnliche Aufträge?«

»Kommt drauf an. Reden wir zuerst über meinen Preis.«

»Okay.« Er fasste in die Innentasche seines Jacketts und zog einige Scheine heraus, die er mir vor die Nase hielt. »Das sind fünfhundert Euro als kleine Anzahlung. Weitere eintausend bekommen Sie, wenn Sie etwas für mich herausfinden.«

»Ich soll Detektiv für Sie spielen?« Oh, das war mal etwas Neues.

»Waren Sie früher nicht für die Polizei tätig?« Sein Tonfall klang eine Spur herablassend.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe meine Quellen.«

»Tatsächlich?« Das fand ich irgendwie verdächtig. Dennoch interessierte es mich, was er von mir wollte. »Erzählen Sie erst einmal, worum es geht, dann werde ich entscheiden, ob ich den Auftrag annehme. Fangen wir mit Ihrem Namen an.«

Der junge Mann zögerte einen Augenblick und willigte dann ein. »Nennen Sie mich Marc, das muss genügen. Wie gesagt, der Auftrag ist ein wenig ungewöhnlich.« Marc räusperte sich. »Ich suche jemanden, der vor langer Zeit verschwunden ist.« Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb auf dem Porträt eines Jungen haften, das ich erst vor Kurzem gezeichnet hatte. »Ist das Ihr Sohn?«

»Ja«, bestätigte ich. »Aber sollten wir nicht bei der Sache bleiben?«

Doch Marc ließ sich nicht beirren. »Sieht Ihnen sehr ähnlich, ein hübscher Junge, hat Ihre Augen. Wie alt ist er?«

»Zwölf. Können wir jetzt fortfahren?« Ich wurde ungeduldig.

»Natürlich.« Marc reichte mir ein altes, vergilbtes Foto. »Dieser Junge ist vor einundzwanzig Jahren verschwunden.«

Ich betrachtete es. Das Gesicht des Knaben kam mir bekannt vor. Meine Hand begann zu zittern.

»Am 19. Oktober 1991«, sagte Marc.

Ich erstarrte. An diesem Tag war ich beinahe gestorben. An diesem Tag hatte ich meine Erinnerungen verloren. Die Narbe auf meiner Brust begann zu jucken.

»Er war dreizehn Jahre alt«, erzählte Marc weiter. »Er ist heute also vierunddreißig.«

Genau wie ich! Das konnte kein Zufall mehr sein. Ich dachte daran, als ich in einem Stuttgarter Krankenhaus ohne jegliche Erinnerungen an mein früheres Leben oder die beinahe tödliche Messerattacke erwacht war. Keiner hatte mir sagen können, woher ich gekommen war. Alles, was sie über mich gewusst hatten, war mein Alter: dreizehn. Und mein Name: Nicolas. Und der Arzt, mit dem ich nach meinem Aufwachen gesprochen hatte, war ebenfalls niemandem bekannt gewesen.

Grübelnd blickte ich auf das Foto. Ob ich selbst dieser Junge war? Wusste dieser Marc etwas über mich oder war dessen Eindringen in mein Leben nur eine Fügung des Schicksals? Ich überlegte, ob ich ihn darauf ansprechen sollte, ließ es dann aber sein.

»Warum suchen Sie ihn?«, fragte ich stattdessen. Meine Stimme zitterte und mein Puls begann zu rasen. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ein Tropfen rann über meine Schläfe abwärts. Ich wischte ihn weg. Möglichst unauffällig atmete ich tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen, was mir kaum gelang.

Marc grinste mich abfällig an. »Der Junge hat etwas gestohlen.« Er zog zwei Blätter aus seinem Jackett, faltete sie auseinander und reichte sie mir. »Der Eigentümer will dies hier zurückhaben.«

»Der Eigentümer?« Ich kniff die Augen zusammen. »Sie haben also auch noch einen Auftraggeber?«

»Genau«, erwiderte Marc. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, ging im Atelier umher und betrachtete erneut die Gemälde an der Wand.

Das gab mir erst einmal die Gelegenheit, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen und mich zu sammeln. Ich riskierte einen Blick auf die Zeichnungen. Eine davon zeigte ein mittelalterliches Kreuz, das mit schwarzen Symbolen verziert war und im obersten Teil den Kopf eines Vogels trug. In der Mitte lag ein fünfzackiger Stern, in den das römische Zahlzeichen XIII gemalt war. Eine Schlange wand sich vom oberen Teil um das Kreuz nach unten. Seitlich an ihrem Kopf befanden sich zwei hypnotisierende Augen, die in der ansonsten schwarz-weißen Zeichnung knallrot hervorstachen.

Mir war, als hätte ich dieses Kreuz schon einmal gesehen, konnte aber nicht sagen, wo. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die zweite Skizze. Ein Dolch, den ebenfalls schwarze Symbole schmückten. Hier schlängelte sich das schwarze Reptil um die Messerscheide, und der Vogelkopf auf dem Schaft war derselbe, wie der auf dem Kreuz.

»Sind das Antiquitäten?«, fragte ich, während ich von dem Kreuz auf das Messer und wieder zurückblickte. Nicht nur, dass ich mir einbildete, die beiden Gegenstände zu kennen, schlich sich auch noch das Skelett mit dem Pentagramm auf der Stirn in meine Gedanken.

»So was in der Art«, erwiderte er. »Werden Sie mir helfen, den Jungen zu finden?«

Ich runzelte die Stirn und nickte »Was wissen Sie noch über ihn? Wie ist sein Name?«

»Er heißt Benjamin, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Marc warf einen Blick auf die protzige Uhr an seinem Handgelenk. »Oh. Schon so spät.« Er wandte sich zur Tür.

»Moment«, hielt ich ihn zurück. »Wie kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen habe?«

Der junge Mann befand sich schon auf dem Weg nach draußen, sah sich aber noch einmal um. »Sie hören von mir. Und noch etwas, zu Ihrem eigenen Wohl, sollten Sie die Sache für sich behalten. Wir verstehen uns?« Er drehte sich grinsend zur Tür und verließ meinen Laden.

Und ob ich ihn verstanden hatte. Mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Beunruhigt ging ich hin und her, wie ein Tier, das viel zu lange in einen viel zu engen Käfig gesperrt ist. Ein schmerzhaftes Pochen breitete sich hinter meiner Stirn aus. Da suchte ich ein Leben lang nach Antworten auf die Frage nach meiner Herkunft. Nun sah ich mich damit konfrontiert und war mir nicht mehr sicher, ob ich die Wahrheit überhaupt erfahren wollte.

4

Nachdem ich mindestens eine Stunde lang damit beschäftig gewesen war, mir eine neue Kamera zu kaufen, hatte ich mir in einem türkischen Lokal einen Döner Kebap und eine große Cola einverleibt. Mittlerweile war ich in mein Atelier zurückgekehrt und beschloss, meinen Laden für den Rest des Tages zu schließen.

Nun scannte ich erst einmal Benjamins Foto in den PC ein und betrachtete gleich darauf das unscharfe Gesicht auf dem Bildschirm. Die Qualität des Fotos zu verbessern war einfach, und so erkannte ich bald die hellblauen Augen des Jungen sowie dessen dunkelbraunes Haar.

Mein Blick fiel auf das Porträt meines Sohnes. Moritz hatte ebenfalls dichtes braunes Haar und hellblaue Augen, beides hatte ich ihm vererbt. Die Ähnlichkeit verblüffte, doch er war es nicht. Dafür fiel der allerletzte Zweifel von mir ab. Nur ich konnte dieser Junge sein.

Ich schloss die Augen, durchforstete mein Innerstes und fand wie immer nichts. Was hatte ich denn erwartet? Dass ich mich jetzt sofort an alles erinnerte? Wie sollte das denn funktionieren? Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und dachte nach. Was sollte ich als Nächstes tun? Zuerst schickte ich Benjamins digitalisiertes Foto an mein Handy, das gleich darauf klingelte.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Krieger hier«, brummte eine tiefe Stimme aus dem Lautsprecher. »Du weißt, warum ich anrufe?«

»Nein. Aber du wirst es mir sicher gleich sagen.«

Eddy Krieger war ein Freund von mir und Kripobeamter. Früher hatten wir oft zusammengearbeitet. Zudem war Eddy der Neffe meiner ehemaligen Pflegemutter Helen Holsten, deshalb kannten wir uns schon ewig.

»Du weißt aber, was heute Morgen in einem Schulhof gefunden wurde?«, fuhr Eddy mit seinem Ratespiel fort.

»Ja, das hab ich mitbekommen. Ein Kinderskelett?«

»So sieht’s aus. Du weißt nicht zufällig mehr darüber?«

Ich nahm mir kurz Bedenkzeit, ehe ich fragte: »Sollte ich mehr darüber wissen?«

»Schluss damit«, fuhr Krieger mich an. »Beweg deinen Hintern in mein Büro, wir haben etwas zu besprechen. Sofort!« Dann legte er auf.

Ich konnte es nicht fassen. Wie hatte er so schnell herausgefunden, dass ich etwas über dieses Skelett wusste? Mir war gar nicht wohl bei der Sache. Allerdings hatte ich keine Wahl, also machte ich mich mit einem unangenehmen Grummeln im Magen auf den Weg.

***

Irgendwie fühlte ich mich auf dem Polizeipräsidium fehl am Platz. Obwohl ich in diesem Gebäude, jedenfalls teilweise, viele Jahre meines Arbeitslebens verbracht hatte, verspürte ich keine Vertrautheit. In der Eingangshalle fristeten noch immer die unterschiedlichen Zimmerpflanzen ihr Dasein in diesen viereckigen Hydrokulturbehältern. Und hinter einer schusssicheren Plexiglasscheibe entdeckte ich das bekannte Gesicht der Empfangsdame.

»Herr Holsten«, sagte sie erfreut. Sie lächelte. »Kommissar Krieger erwartet Sie bereits.«

»Danke.« Ich lächelte zurück und ging an ihr vorbei zum Fahrstuhl, der mich rasch ins vierte Stockwerk beförderte. Um zu Eddys Büro zu gelangen, musste ich allerdings durch einen größeren Raum, in dem mehrere Beamte an vielen Tischen arbeiteten. Einige grüßten mich freundlich, andere weniger.

Die Tür zu Eddys Büro stand offen. Ich klopfte gegen den Türrahmen.

»Komm rein«, rief er hinter seinem Schreibtisch hervor und betrachtete mich mit ernster Miene.

»Kein Hallo, wie geht’s dir denn?«, scherzte ich, darum bemüht, locker zu wirken.

»Setz dich!«, sagte er grimmig. Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich mich ihm gegenüber auf dem Stuhl niederließ.

»Hattest du ne Schlägerei?« Sein Blick haftete auf meiner Stirn.

»Nicht direkt.« Meine Finger trommelten auf meinen Oberschenkel.

»Ein eifersüchtiger Ehemann, der dich verdroschen hat?« Eddy schmunzelte.

»Sehr witzig.«

»Ja, finde ich auch.« Eddy stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich nach vorn. »Was hattest du letzte Nacht in der Kelterstraße zu suchen?«

»Wieso?«

»Nick.« Seine Augenbrauen rückten immer näher zusammen. Dazwischen bildete sich eine tiefe Falte. »Was hast du ausgefressen?«

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. »Nichts. Aber ich gebe zu, dass ich dort war. Woher weißt du das?«

Er schmunzelte. »Ein anonymer Anrufer hat den Fund gemeldet. Und dabei hat er das Kennzeichen deines Autos genannt.« Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. »Ich habe Blut gefunden, neben dem Skelett. Ich gehe davon aus, dass es von dir stammt?«

»Okay«, lenkte ich ein. »Ich war dort wegen eines Auftrags, hab mich auf dem Schulhof umgesehen und das Skelett entdeckt. Danach hat mir jemand eins übergebraten.«

»Hast du diesen Jemand gesehen?«

Ich dachte kurz nach. Sollte ich Eddy einweihen? Ich entschied mich dagegen. Solange ich nicht wusste, in welche Sache ich da hineingeraten war, würde ich schweigen. »Nein, habe ich nicht.« Vermutlich glaubte er mir nicht, so zweifelnd, wie er mich ansah.

»Du hältst mich für ziemlich blöd, was?«, stellte er fest.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Krieger musterte mich mit einem durchdringenden Blick aus seinen dunklen Augen.

Ich hielt ihm stand. »Hör zu, ich habe mit diesem Skelett nichts zu tun. Ich bin nur aus Versehen darüber gestolpert. Können wir es bitte dabei belassen? Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Klar?«

»Wie du meinst«, brummte er. »Dann nehme ich deine Zeugenaussage so in meinen Bericht auf. Sollte dir doch noch was einfallen, weißt du, wie du mich erreichst.«

Solange Eddy seinen Bericht schrieb, sah ich mich im Raum um. Er war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Aber immerhin genoss mein Kumpel den Luxus eines eigenen Büros. Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Aktenordner in schwindelnde Höhen. Eddy war noch nie ein besonders gut organisierter Kommissar gewesen, aber er machte seine Arbeit trotz allem gewissenhaft, und er löste die meisten seiner Fälle.

Der Drucker ratterte. Kaum war der Zeugenbericht ausgedruckt, setzte ich meine Unterschrift darunter und erhob mich.

»Moment«, hielt Eddy mich zurück. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als fürchtete er, jemand könne uns belauschen. »Hast du es fotografiert?«

Ich sank zurück auf den Stuhl. »Was soll ich fotografiert haben?«

Er stand auf, ging um den Tisch herum und baute sich in voller Größe vor mir auf. »Nick. Ich kenne dich. Du hast überall deinen Fotoapparat dabei. Falls du also Fotos von diesem Skelett gemacht hast, will ich sie sehen. Der Fotograf aus der Spurensicherung ist verschwunden.«

»Bachmann?« Ich kannte ihn.

»Ja. Bachmann. Seit heute früh hat ihn keiner mehr gesehen. Er hat den Schulhof verlassen, nachdem er die Fotos gemacht hatte. Ich bin davon ausgegangen, dass er gleich in die Gerichtsmedizin fährt. Doch da ist er nicht angekommen, und er hat sich auch nicht krank gemeldet oder so.«

»Das klingt gar nicht gut«, stellte ich fest. »Und deshalb fehlen jetzt auch die Fotos?«

Eddy nickte. »Genau.«

»Und was bekomme ich dafür, sollte ich irgendwelche Fotos haben?«, fragte ich.

»Wie wär’s mit einem Bier? Heute Abend?«, schlug er vor.

»Okay. Treffen wir uns um acht im Zapfen.«

Er nickte, und ich verließ gleich darauf sein Büro.

Auf dem Parkplatz vor der Polizeidirektion kam mir eine Frau entgegen, die mir auf Anhieb gefiel. Ihr hellbraunes, lockiges Haar reichte ihr bis zu den Schultern, einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Ihre braunen Augen besaßen eine geheimnisvolle Tiefe und sahen mich abschätzend an. Ich blieb stehen.

»Hi«, sagte ich lächelnd. Mein Blick wanderte über ihren Körper, der in schwarzen Jeans und aufgeknöpftem Blazer steckte. Darunter trug sie ein enges T-Shirt, was ihre weiblichen Kurven perfekt zur Geltung brachte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Arbeiten Sie hier?«

»Oh nein, um Himmels willen.« Ich hob abwehrend die Hände nach oben. »Ich kenne hier nur ein paar Leute. Suchen Sie jemanden?«

Sie schien beunruhigt, ihr Blick haftete auf meinen Augen. »Ich glaube, das hat sich gerade erledigt«, antwortete sie. »Verraten Sie mir Ihren Namen?«

»Nick.« Mein Grinsen wurde breiter. »Nick Holsten. Verraten Sie mir auch Ihren?«

»Nein.« Sie drehte sich um und ging davon.

Ich runzelte die Stirn und beobachtete, wie sie in einen silberfarbenen VW-Golf stieg, ausparkte und davonfuhr. Normalerweise hätte ich mir ihr Kennzeichen gemerkt, um etwas über sie herauszufinden, aber ich war so verdattert, dass ich es leider vergaß.

5

Der Zapfen war meine und Eddys Stammkneipe. Zudem ein gemütliches Lokal im östlichen Stadtbezirk und ein Geheimtipp. Nicht nur wegen des Bieres, das unten im Keller gebraut wurde, sondern auch wegen der leckeren Speisen, die sich zwar auf Kleinigkeiten wie Maultaschen oder Käsespatzen beschränkten, aber allesamt großartig schmeckten. Außerdem war die Wirtin für ihren ausgesuchten Musikgeschmack bekannt. So spielte auch in dem Moment, nachdem ich es mir in einer Ecke des Raumes mit meinem ersten Bier gemütlich gemacht hatte, Rockmusik in einer angenehmen Lautstärke.

Ich beobachtete die Leute um mich herum. Sie lachten, diskutierten und manche stritten, zwar leise, aber unmissverständlich. In der anderen Ecke des Raumes, in einer lauschigen Nische, sah ich eine Frau und einen Mann, die sich gerade stürmisch küssten. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und entdeckte an der Bar eine mir bekannte Frau. Zumindest erinnerte ich mich sehr gut an die Nächte mit ihr. Sie sah mich ebenfalls, winkte mir zu, erhob sich und kam mit einem frechen Grinsen im Gesicht schnurstracks auf mich zu.

»Hi Nick«, begrüßte sie mich und setzte sich unaufgefordert an meinen Tisch. »Hab‘ dich schon lang nicht mehr gesehen. Wo hast du dich rumgetrieben?«

»Mal hier, mal dort«, erwiderte ich lächelnd. »Und was treibst du so, Tanja?«

»Leider nichts.« Sie zuckte mit den Achseln und wickelte eine lange Haarsträhne um ihren Finger. »Vielleicht hast du Lust, dich mal wieder mit mir zu treffen?«

Ob ich Lust hatte? Was für eine dumme Frage. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, heute Abend nicht alleine nach Hause zu gehen. Ihre Hand lag bereits auf meinem Oberschenkel.

»Von mir aus noch heute.« Mein Lächeln wurde breiter.

Ihre Augen fixierten mich, ihre Hand wanderte aufwärts. Ich genoss die wohlige Wärme, die sich in meinem Unterleib ausbreitete. Bis ich eine imposante Gestalt durch den Raum auf mich zukommen sah. Groß, breitschultrig, mürrisches Gesicht. Eddy. Er warf mir einen missbilligenden Blick zu.

»Nick ist leider schon verabredet«, sagte er.

Tanja nahm ihre Hand von meinem Oberschenkel und erhob sich. »Schade. Vielleicht ein ander mal.« Sie zwinkerte mir zu und ging mit schwingenden Hüften davon.

»Na, schönen Dank auch«, sagte ich, während Eddy sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzte und ein Bier bestellte.

»Gern geschehen.« Er grinste. »Und? Hast du die Fotos?«

»Was denkst du wohl?« Ich war sauer, reichte ihm aber dennoch einen USB-Stick, auf den ich die Fotos gespeichert hatte.

Er nahm ihn mir aus der Hand und steckte ihn in seine Hosentasche. »Danke. Ich wollte dir dein Techtelmechtel nicht verderben, aber du solltest endlich mal deinen Frauengeschmack überdenken.«

Ich wechselte das Thema. »Und dein Fotograf ist immer noch verschollen?«

»Ja. Und das gefällt mir ganz und gar nicht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Eddy nahm einen Schluck aus seinem Bierglas, das die Bedienung ihm gerade in die Hand gedrückt hatte. »Hast du mal drüber nachgedacht, wieder für die Kripo zu arbeiten? Wir brauchen fähige Leute wie dich. Ganz unabhängig davon, ob Bachmann wieder auftaucht.«

»Du wirst dich wundern, erst heute Morgen habe ich darüber nachgedacht. Aber ob die mich noch haben wollen?«, gab ich zu bedenken.

»Sicher wollen die. Erst heute Mittag hat sich dein ehemaliger Chef nach dir erkundigt. Er scheint dich zu vermissen.«

»Wer? Der alte Edwin Nägele? Dieses Fossil? Der ist noch im Dienst? Der muss doch mindestens siebzig sein.« Ich verzog ungläubig das Gesicht.

Eddy schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, der ist erst sechzig geworden. Und ob der jemals in Rente geht?«

»Wahrscheinlich nicht.« Ich grinste bei dem Gedanken an meinen ehemaligen Vorgesetzten. Immer hatte er diese braunen Strickpullunder getragen, auch im Sommer. Und ja, ich musste mir eingestehen, dass ich Nägeles schrullige Art vermisste. »Reizen würde mich mein alter Job auf jeden Fall. Ich weiß nicht.«

»Im Moment wäre eine Rückkehr ganz sicher möglich. Und gib deine extravaganten Aufträge auf. Die bringen dich irgendwann in Teufels Küche.«

»Meinst du?«

»Du bist über ein Skelett gestolpert.«

»Das stimmt. Ich denk drüber nach, okay?«

»Gut!« Eddy packte seine Geldbörse aus und legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tisch. »Gönn dir noch ein Bier. Ich muss jetzt nach Hause. Marita wird mir ohnehin die Hölle heißmachen, weil ich sie mit dem Essen versetzt habe.«

»Grüße sie von mir, ja?« Ich lächelte beim Gedanken an seine Ehefrau. Sie hasste Unpünktlichkeit, und ich stellte mir vor, wie sie Kochlöffel schwingend hinter der Wohnungstür lauerte.

»Mach ich«, meinte Eddy und ging davon.

Ich sah mich um, doch Tanja konnte ich nirgendwo mehr entdecken, so ein Pech. Dafür erblickte ich eine Frau mit hellbraunen Locken, und ich erinnerte mich, dass ihre Augen tiefbraun waren. Sie saß alleine an einem kleinen Tisch in der Nähe der Eingangstür. Unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte mich an, hob ihr Smartphone in die Höhe und schien ein Foto von mir zu knipsen. Eilig stand ich auf und ging schmunzelnd zu ihr.

»Verraten Sie mir jetzt Ihren Namen?«, fragte ich.

»Kommt drauf an.« Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr.

»Und worauf?«

Sie schwieg, musterte mich aber von oben bis unten.

Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in mir aus. »Darf ich mich wenigstens setzen und Ihnen einen Drink ausgeben?«

Sie nickte, ich setzte mich. Wir bestellten zwei Martinis.

»Haben Sie da eben ein Foto von mir gemacht?«, wollte ich von ihr wissen.

»Nicht nur eins. Haben Sie etwas dagegen?« Sie sah mir tief in die Augen. »Ich fotografiere alles, was mir gefällt.«

»Ach so, ich gefalle Ihnen also.« Na, wenn das kein guter Start war. Ich rückte meinen Stuhl näher an ihren und warf einen Blick auf das Display ihres Handys. Unsere Schultern berührten sich, was sich sehr gut anfühlte.

»Nun ja. Sie haben beeindruckende Augen. Dazu der Dreitagebart, wie verwegen.« Sie lächelte verschmitzt und errötete ein wenig. »Und die Schramme auf der Stirn macht Sie außerordentlich interessant. Wo haben Sie die denn her?«

»Ach die, das war ein kleines Missgeschick.«

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und betrachtete mich aus dem Augenwinkel.

»Wollen Sie mir nicht endlich Ihren Namen verraten?«, forderte ich sie auf. »Sie kommen mir bekannt vor. Aber ich komme nicht drauf, woher.«

»Hattest du schon so viele Frauen, dass du dich nicht mehr an alle erinnerst?« Sie schmunzelte.

Das war offensichtlich eine Fangfrage. Würde ich ihr offenbaren, dass ich lockere Beziehungen bevorzugte, würde sie vermutlich gleich die Flucht ergreifen. Aber sie duzte mich plötzlich. Ich bildete mir ein, dass dies etwas zu bedeuten hatte. »So viele waren es nicht. Aber an dich würde ich mich sicher erinnern.«

Wieder sah sie mir tief in die Augen. Dabei wurde sie ernst. »Anscheinend nicht«, seufzte sie.

Ihre Hand zitterte. »Ich muss jetzt gehen.« Sie erhob sich. »Danke für den Drink.«

So schnell konnte ich gar nicht reagieren, da war sie schon durch die Tür. Hastig bezahlte ich meine Rechnung und hetzte nach draußen. Zu spät, von der jungen Frau war nichts mehr zu sehen. So ein Mist.

Enttäuscht klappte ich den Kragen meiner Jacke hoch, vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Jeans und machte mich auf den Weg nach Hause. So sehr ich es auch versuchte, diese Frau aus meinen Gedanken zu drängen, es gelang mir nicht. Ich sah ihr Gesicht und ihre Augen vor mir, hörte ihre Stimme. Sie hatte mich sehr beeindruckt.

Erst als ich nach zwanzig Minuten die abgelegene Seitenstraße erreichte, in der meine Wohnung lag, kam ich auf andere Gedanken. Sofort fiel mir auf, dass im Wohnzimmer in der ersten Etage Licht brannte. Ganz leise öffnete ich die Eingangstür und schlich in den ebenerdig liegenden Ausstellungsraum der ehemaligen Kunstgalerie. Nachdem ich diesen durchquert hatte, verharrte ich am unteren Absatz der Wendeltreppe. Ich lauschte den Stimmen, den Geräuschen und der dramatischen Musik, die von oben zu mir herunter drangen.

Ich eilte die Stufen hinauf. Mich traf beinahe der Schlag, als ich die Wohnzimmertür öffnete. Der Fernseher lief. Aus den Boxen dröhnten laute Geräusche. Auf dem schwarzen Ledersofa gegenüber lümmelte mein Sohn. In der einen Hand hielt er eine Tüte, mit der anderen steckte er sich gerade mehrere Chips in den Mund. Er sah mich an. Seine Augen waren gerötet, sein Haar so sehr zerzaust, als wäre er gerade erst aus dem Bett geklettert.

»Moritz? Wie kommst du hier rein?«, fragte ich verwundert. »Warum bist du nicht zu Hause bei deiner Mutter?«

Er setzte sich auf und blickte mich wütend an. »Erstens, du hast mir für den Notfall einen Schlüssel gegeben, hast du das vergessen? Und zweitens, Mama will mich nicht mehr.«

»So ein Quatsch«, widersprach ich. Nachdem ich meine Jacke über einen Stuhl geworfen und meine Schuhe ausgezogen hatte, ließ ich mich neben Moritz auf dem Sofa nieder. »Warum sollte sie dich nicht mehr wollen?«

»Weil das so ist«, stellte er schmollend fest.

»Ist ihr Freund da?« Tröstend legte ich meine Hand auf den Arm meines Sohnes, der mit jedem neuen Freund seiner Mutter ein Problem hatte. Sie hatte sich oft genug bei mir über meinen Sprössling beschwert. Natürlich war er immer mein Sohn, wenn er sich unmöglich benahm.

»Michael«, sagte Moritz in einem verächtlichen Tonfall und verzog angewidert das Gesicht. »Er kann mich nicht leiden. Und ich ihn auch nicht.«

In dem Augenblick vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Der Refrain von Bon Jovis Runaway ertönte.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Katharina hier«, tönte die aufgeregte Stimme meiner Ex an mein Ohr. »Ist Mo bei dir?«

»Ja, er ist hier«, antwortete ich. »Und er sieht sehr unglücklich aus. Was hast du mit ihm gemacht?«

»Was ich mit ihm gemacht habe? Frag ihn, was er mit mir macht. Seit Wochen ist er aufsässig, er hört nicht mehr auf mich. Vielleicht willst du ihn mal für eine Weile?«

Mit einem Satz sprang Moritz auf die Füße, die Chips flogen in hohem Bogen durch den Raum und regneten auf das dunkel gebeizte Holzparkett. Er hatte jedes Wort mit angehört, da ich dummerweise den Lautsprecher des Telefons auf Mithören gestellt hatte.

»Von mir aus gerne«, brüllte er.

»Kati, hör doch einfach mal zu«, beschwichtigte ich. Meinem Sohn warf ich einen maßregelnden Blick zu. »Ich habe keine Ahnung, was mit euch beiden los ist. Wie wäre es, wenn du herkommst, und wir in Ruhe besprechen, was passiert ist?«

»Ja. Ich komme.« Und schon legte sie auf.

»Setz dich«, wies ich Moritz an, der sich sofort zurück aufs Sofa fallen ließ. »Du hast zwanzig Minuten Zeit, mir zu erklären, was vorgefallen ist, bevor sie hier ankommt.«

In seinen Augen lag eine unbändige Wut und tiefe Trauer. »Sie versteht mich einfach nicht. Und ihr neuer Macker mischt sich in alles ein.«

»Dann bist du also eifersüchtig?«

»Worauf? Weil sie keine Zeit mehr für mich hat, und nur noch mit diesem Penner rumhängt?« Wieder zog er eine Grimasse. »Ich will zu dir zieh‘n.«

»Das geht aber nicht!«, widersprach ich.

»Warum seid ihr Erwachsenen bloß so kompliziert? Warum ziehst du nicht einfach zu uns? Für dich wird sie den Idioten sicher abservieren.«

»Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?«

»Sie schaut sich andauernd eure alten Fotos an. Dabei sieht sie immer so traurig aus.«

»Du hast Ideen.«

Ich stand auf, ging im Zimmer auf und ab und dachte nach. Meine Beziehung zu Katharina war schon immer schwierig gewesen. Als sie schwanger gewesen war, hatte ich darüber nachgedacht, sie zu heiraten, doch sie hatte es ebenso wenig gewollt wie ich. Sie hatte schnell begriffen, dass ich für eine lebenslange Verbindung nicht geschaffen war. Ich konnte ihr das nicht geben, was sie erwartete, obwohl wir einige Jahre lang zusammenlebten. Schließlich brach unsere Beziehung entzwei, da war Moritz gerade fünf Jahre alt. Auch danach gingen wir noch hin und wieder aus und landeten jedes Mal in meinem Bett. Mittlerweile gehörten aber auch diese Treffen der Vergangenheit an, denn Katharina wollte eine feste Beziehung. Ohne mich.

»Also, wann kann ich hier einziehen?«, unterbrach Moritz meine Gedanken.

»Gar nicht, weil ich selten zu Hause bin. Und du gehörst nun mal zu deiner Mutter.«

»Mama ist auch kaum mehr zu Hause. Ich kann mittlerweile selbst auf mich aufpassen. Ich bin alt genug.«

»Du bist zwölf!« Ich raufte mir die Haare. Der Junge hatte unverkennbar meinen Dickkopf geerbt.

»Fast dreizehn«, kam prompt seine Antwort. »Euch ist es doch eh egal, was aus mir wird.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Fernseher.

»Das ist nicht fair, was du da sagst«, stellte ich fest.

Durch das Fenster warf ich einen Blick auf die Straße und hoffte, dass Katharina bald hier sein würde. Diese Sache wuchs mir über den Kopf. Zweifellos liebte ich meinen Sohn, doch zum Erziehungsberechtigten taugte ich definitiv nicht.

Zum Glück parkte Katharina keine zehn Minuten später ihr Auto am Straßenrand und stieg gleich darauf die Treppe zu meiner Wohnung empor. Zuerst warf sie mir, danach Moritz gereizte Blicke zu.

»Junger Mann«, fuhr sie ihn an. »Du kannst nicht einfach abhauen, ohne mir Bescheid zu geben.«

»Ach nein?«, fauchte Moritz zurück. »Aber du darfst das, ja?«

Sie blickte ihn zornig an. Doch in ihrem Blick lag auch eine Spur Trauer.

»Wie wäre es mit einem Gespräch? Was zu trinken?«, ging ich dazwischen. »Wir setzen uns in die Küche und unterhalten uns wie zivilisierte Menschen.«

»Du und ich!«, herrschte sie mich an. »Moritz. Du wartest im Auto. Ich habe mit deinem Vater zu reden.«

Das klang gar nicht gut. Warum hatte ich plötzlich das Gefühl, etwas ausgefressen zu haben? Das gefiel mir ganz und gar nicht.

Moritz gab den Widerstand auf. »Wie du willst, ich habe ja doch keine andere Wahl.«

Zornig verließ er die Wohnung und stampfte über die Wendeltreppe nach unten. Ich hörte, wie die Eingangstür krachend ins Schloss fiel. Durchs Fenster beobachtete ich, wie Moritz sich in Katharinas Auto setzte. Anschließend wandte ich mich an meine Ex. »Willst du was zu trinken?«

Kati nickte und folgte mir in die Küche. Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder und nahm dankbar ein Glas Wasser entgegen. Ich beobachtete sie dabei, wie sie in kleinen Schlucken trank. Dabei zuckte ihr Kehlkopf auf und ab. Sie hatte einen kleinen Kropf, den man kaum sehen konnte. Oft genug hatte ich ihren Hals gestreichelt und kannte ihren Körper in und auswendig. Manchmal vermisste ich sie.

»Was ist mit euch passiert?«, fragte ich. »Ihr hattet früher nie Probleme miteinander.«

»Ich weiß es nicht. Seit Wochen benimmt er sich unmöglich. Ich komm nicht mehr an ihn heran.« Sie atmete tief durch. »Er prügelt sich in der Schule mit anderen Jungs.« Ihr Blick wanderte zu meiner Stirn. »Hattest du auch eine Schlägerei?«

»Nein. Nicht direkt.«

»Na schön, was auch immer.« Sie zog einige Blätter aus ihrer Handtasche und breitete sie auf dem Küchentisch aus. »Die habe ich in Moritz‘ Schulranzen gefunden.«

Ich betrachtete die Zeichnungen und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Er hat Talent.«

»Von mir hat er das nicht.« Sie seufzte. »Mehr fällt dir nicht dazu ein?«

»Na ja, was soll ich sonst sagen?« Erneut betrachtete ich die Bilder. »Na schön. Die Zeichnungen sind ein bisschen schräg, aber sonst? Absolut genial. Sieh dir nur diese Details an.« Da war ein Friedhof mit Grabsteinen, Kreuzen und blätterlosen Bäumen. Auf einem anderen Blatt ein Monster mit Hörnern und funkelnden Augen. Das dritte Bild zeigte ein Skelett. »Nun, das ist mehr als schräg. Vielleicht hat er von dem Fund gehört.«

»Die Zeichnung habe ich schon vor Tagen gefunden. Und das hier,«, sie zog ein letztes Blatt aus ihrer Tasche, »macht mir am meisten Sorgen.«

Ich blickte auf die Zeichnung und schauderte. Moritz hatte einen Mann mit einem Messer im Rücken gemalt. Dunkelrotes Blut lief über seinen Körper und ergoss sich auf den Boden, wo es sich in einer Pfütze sammelte. Das war nun wirklich heftig.

»Wen will er denn tot sehen?«, fragte ich.

»Hoffentlich niemanden. Aber er treibt sich auf zwielichtigen Internetplattformen herum.« Katharina wischte sich mit der Hand über die Augen und erhob sich. »Ich glaube, die unterhalten sich da über Tod und Teufel. Was soll ich tun? Sind Jungs in dem Alter so?«

Ob Jungs in dem Alter so waren? Das fragte sie ausgerechnet mich. Mein Leben hatte begonnen, da war ich dreizehn, etwas älter als Moritz, gewesen.

»Dabei kann ich dir leider nicht helfen«, sagte ich.

»Du hast recht, entschuldige.« Sie zögerte kurz. »Nimm dir zumindest mehr Zeit für ihn. Er braucht dich. Kann er Samstag bei dir übernachten?«

»Na, ich weiß nicht.« Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig.

»Er ist auch dein Sohn!« Ihr Blick drohte mich zu durchbohren.

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein, hast du nicht.« Sie lächelte. »Ich verlass mich drauf, dass es klappt, Nick.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich brachte sie zur Tür, sah zu, wie sie in ihr Auto stieg und davonfuhr.

Grübelnd blickte ich durch den Raum. Die vielen Scheinwerfer an der Decke tauchten die Ausstellungsfläche in gleißendes Licht. Hier stellte ich meine düstersten Bilder aus, meine geheimsten Gedanken und Visionen. Von einer Düsterkeit überschattet jagten mir meine eigenen Gemälde und Skulpturen einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Nur eines erfüllte mich mit Freude. Das Abbild eines Mädchens mit lockigen Haaren und dunklen Augen, das ich nun genauestens betrachtete. War dieses Mädchen die Frau, die ich heute kennengelernt hatte, die mir aber so vertraut erschien? Ich blinzelte, rieb mir über die Augen und wandte mich ab. Allmählich konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Ich schritt weiter durch den Raum und verweilte vor einem meiner besten Bilder im hintersten Winkel der Galerie. Rechts und links auf der Kohlezeichnung sah ich eine Ansammlung von Bäumen, deren kahle Kronen eng aneinander standen. Darüber ragte ein Felsen auf, dessen Gipfel die Überreste einer mittelalterlichen Burgruine trug. Auf den Mauern saßen Krähen, deren Schnäbel geöffnet waren. Neben der Ruine stand eine Person, ganz in Schwarz. Dunkle Wolken schwebten bedrohlich über die Szene hinweg. Ich konnte mich nicht daran erinnern, diesen Ort jemals besucht zu haben. Auch hatte ich diese Ruine trotz intensiver Recherchen in keinem Buch und auch nicht im Internet gefunden. Keine Ahnung, ob sie überhaupt existierte.

Vertieft in meine Gedanken verließ ich den Raum und stieg die Wendeltreppe nach oben. In der Küche lagen noch Moritz‘ Bilder. Ich betrachtete das von ihm gezeichnete Skelett. Mein Sohn hatte kein Detail ausgelassen und – was mir erst jetzt auffiel – auf den Rippen lag ein Kreuz, das mir doch sehr bekannt vorkam.

6

Mitten in der Nacht trug ein Mann einen schwarzen Leinensack durch den Wald. Für einen kurzen Moment huschten die silbernen Strahlen des Mondes über den Waldboden, ehe die vorüberziehenden Wolken den Himmel verdunkelten. Kein Licht war mehr am Himmel, als der Mann den Sack vor einem hölzernen Spielhaus vorsichtig ablegte, sich niederkniete und das Bündel vor sich ausbreitete. Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtete die Knochen, den Totenschädel, ein vollständiges, perfektes Skelett. Der Bursche zog mehrere Vogelfedern aus seiner Jackentasche und steckte sie gebündelt zwischen die knochigen Finger, die bereits gefaltet auf dem Brustkorb lagen.

Er öffnete eine Plastikdose, tauchte seinen Finger in eine dunkelrote Flüssigkeit, malte einen fünfzackigen Stern auf die hohe Stirn des Totenkopfes und schrieb mit dem Stiel einer schwarzen Feder mehrere Ziffern in die Zacken des Pentagramms.

Er kniete auf dem feuchten Waldboden. Sein Blick wanderte prüfend über das Skelett. Seine Kopfhaut kribbelte. Es fühlte sich an, als ob dort ein Ameisenvolk sein Unwesen trieb. Die Insekten machten sich auf den Weg über seinen Nacken, sein Gesicht und immer weiter abwärts. Sie krochen durch seinen Leib, seine Beine und verließen seinen Körper an den Zehenspitzen. Der Mann stöhnte auf. Er murmelte ein Gebet und zwang seinen Körper zur Ruhe. Das Kribbeln verschwand, er richtete sich auf.

Er nahm den schwarzen Leinensack, faltete ihn sorgfältig zusammen und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er in einiger Entfernung am Wegesrand abgestellt hatte. Er öffnete den Kofferraum, legte den Sack hinein, schloss den Deckel und setzte sich hinters Steuer. Er hatte noch etwas zu erledigen. Voller Vorfreude auf das, was er geplant hatte, ließ er den Motor an und fuhr langsam davon.

***

Roland Bachmann erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Finsternis, in die er blickte. Er versuchte, sich aufzurichten. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Seine Hände waren mit einem Strick so fest auf seinem Rücken zusammengebunden, dass er seine Arme nicht bewegen konnte. In seinem Mund steckte ein Knebel, der ihm das Atmen erschwerte. Er würgte.

Ruhig bleiben, dachte er und sah sich um. Die Umgebung war ihm vertraut. Ohne Zweifel befand er sich in dem Wochenendhaus, das er erst vergangenes Frühjahr für sich und seine Verlobte gekauft hatte. Viele Wochenenden hatten sie im Sommer hier verbracht, in lauen Nächten hatten sie auf der Terrasse gesessen und dem Geräusch zirpender Grillen gelauscht. Aber wie war er hierher gekommen? Er erinnerte sich an ein Krachen in seinem Kopf, an seinen Kofferraum, Dunkelheit. Wie lange war das her? Egal. Er musste etwas tun, ehe derjenige, der ihn gefesselt und hergebracht hatte, zurückkehren würde.

So schnell es ihm möglich war, schob er sich in Richtung Küche. Endlos lange Minuten vergingen, ehe er sein Ziel endlich erreichte. Sein Haar klebte nass auf seiner Stirn. Mehrere Strähnen hingen ihm in die Augen. Er konnte kaum atmen. Doch er musste sich zusammenreißen. So lehnte er sich mit dem Rücken gegen einen Küchenschrank, streckte die Beine durch und stand. Die erste Hürde war genommen. Nun zog er mit seinen tauben Fingern die Schublade auf, griff hinein und bekam den Griff eines Messers zu fassen. Diesen klemmte er zwischen Schublade und Arbeitsplatte. Das Messer steckte so fest, dass Bachmann die Fesseln an der Klinge reiben konnte.

Er hörte einen Motor. Ein Auto? Es wurde still. Bachmann hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Schritte! Der Kies auf dem Weg knirschte unter den Schuhen von wem auch immer. Sie kamen näher. Hielten auf die Tür zu.

Verdammter Mist! Errieb die Fesseln fester über die scharfe Kante der Klinge. Immer wieder rutschte er ab. Das Messer schnitt in sein Fleisch. Er spürte keinen Schmerz. Schweiß rann über seinen Körper.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Eingangstür, Bachmann hielt den Atem an. Hektisch rieb er weiter. Die Stricke lockerten sich. Die Tür fiel ins Schloss – ein letzter Schnitt. Seine Hände waren frei. Er riss den Knebel aus seinem Mund, atmete mehrmals tief durch und betrachtete bestürzt seine blutenden Hände.

Er lauschte den Schritten. Sie kamen auf die Küche zu. Bachmann schleppte sich zur Wand hinter der Tür. Sein Blick fiel auf das Messer, das noch immer in der Schublade klemmte. Er musste es holen, sofort, doch er zögerte. Die Tür schnellte auf ihn zu, prallte gegen sein Gesicht. Der Schmerz raste von seiner Nase über sein Jochbein in seinen Kopf. Funkelnde Sterne tanzten um ihn herum. Sie nahmen ihm die Sicht. Er blinzelte sie fort, griff nach seiner Nase, überall war Blut. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel.

Er hörte hektisches Atmen, sah einen Mann vor sich. In der Hand hielt er einen Gegenstand. Bachmann versuchte noch, sich zu ducken. Es war zu spät. Er spürte, wie ein spitzer Gegenstand seitlich in seinen Hals eindrang. Ein Brennen folgte. Es breitete sich in seinem Muskel aus. Bachmann stürzte nach vorn. Seine Finger griffen nach der Maske, die der Angreifer über dem Gesicht trug, und rissen sie herunter. Bachmanns Fingernägel gruben sich tief in die Haut am Hals des Mannes. Dann verließ ihn die Kraft, und er sackte einfach so zusammen.

»Warum tust du das?«, fragte er verzweifelt. Langsam glitt er zu Boden.

»Du hättest besser aufpassen und dem Skelett nicht das Bein brechen sollen«, knurrte der Kerl. »Sie war ein Engel!«

Was sollte das nun? Wie irre war dieser Kerl?

Bachmann versuchte, sich aufzubäumen, seine Muskeln streikten. Das Knie des Mannes drückte ihn fest gegen den Boden. Ein Messer schwebte durch die Luft. Bewegungsunfähig starrte Bachmann an die Decke und bemerkte, wie ihm sämtliche Kleider vom Leib geschnitten wurden.

Entsetzen packte ihn, eine grässliche Kälte ergriff von ihm Besitz. In der Gewissheit, dass er sterben würde, bat er im Stillen um rasche Erlösung. Er wurde erhört. Die Klinge des Messers sauste herab. Bachmann schloss die Augen, um sie nie wieder zu öffnen.

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