Der Verlust - Siegfried Lenz - E-Book

Der Verlust E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

Am Schicksal des Fremdenführers Ulrich Martens, der in seinem Stadtrundfahrt-Bus die ganze Welt zu Gast hat, stellt Siegfried Lenz die Folgen eines Verlustes dar, der jeden von uns treffen könnte: Der Verlust der Sprache. Während einer Tour durch seine Heimatstadt Hamburg trifft Ulrich Martens ein Hirnschlag. Erst kann er nicht mehr klar sehen, bald kommt ein Krampf hinzu. Mit Mühe flüchtet er sich in die Wohnung seiner Freundin, aber noch während er zu erklären versucht, was ihm geschieht, verliert er die Sprache ... "Der Verlust" ist ein Roman, den man nicht aus sicherer Distanz lesen kann, zeigt er doch, wie zerbrechlich unser auf das Reden gegründetes Verhältnis zur Welt ist. Diese E-Book-Ausgabe von "Der Verlust" wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz' ergänzt.

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Seitenzahl: 320

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Siegfried Lenz

Der Verlust

Roman

Literatur

Hoffmann und Campe Verlag

I

Es traf ihn unvorbereitet. Auf einem Parkplatz, nahe am Strom, ließ Ulrich den Bus halten, hob das Mikrophon an den Mund und forderte die Passagiere auf, sich der weißgrauen Bark zuzuwenden, die gerade unter wenigen Segeln zur Mündung hinabglitt. Es war ein Dreimaster, schlank wie ein Teesegler, das Tuch leuchtete in der Sonne, und aus den Rahen grüßten Matrosen in weißgewaschenem Drillichzeug. Die Passagiere spähten durch die getönten Scheiben, und der Fremdenführer erläuterte ihnen, was sie feierlich vorbeigleiten sahen: ein auslaufendes Schulschiff also, das einmal als schneller Tiefsee-Segler gebaut worden war, einer der letzten Windjammer, die sich mit Passat und Monsun gut gestellt hatten und nun dazu dienten, Seemannschaft zu erlernen unter tausendsechshundert Quadratmetern Segel.

Plötzlich sah Uli den Dreimaster doppelt. Noch bevor er die Passagiere mit seiner eigenen Methode bekannt gemacht hatte, das Gehalt des Kapitäns zu errechnen, beunruhigte sich das Bild vor seinen Augen und riß, riß in der Mitte durch. Das ganze Panorama faltete und teilte sich, doch die beiden Hälften trieben nicht auseinander, sondern füllten sich nur in einem Augenblick auf, so daß er, verwirrt und ungläubig, auf einmal alles doppelt vor sich sah: die lautlos gleitende Bark und den fernen verankerten Bagger und das jenseitige, im Dunst aufschwimmende dünne Ufer.

Ulrich glaubte da einen kleinen Schmerz zu spüren, ein Erschauern; er schluckte mehrmals, wischte sich über die Augen und blickte stromaufwärts zu den zielstrebig kreuzenden Barkassen und Schleppern: auch dieser Teil des Stroms erschien ihm doppelt, ein sanft geriffeltes, übereinandergelegtes Band, markiert von den gleichen roten Seezeichen, aufgerührt und gequirlt von den gleichen Heckwassern. Er merkte, daß der Fahrer zu ihm aufsah, er fühlte, daß die Passagiere der Großen Stadtrundfahrt auf seinen Kommentar warteten, auf eine seiner launigen Bemerkungen, für die sie bereits ein vorsorgliches Lächeln aufgesetzt hatten; doch anstatt weiterzusprechen, bückte er sich nach einer Flasche, goß etwas Mineralwasser in einen Pappbecher und trank mit geschlossenen Augen; mit dem letzten Schluck nahm er eine Migränetablette. Er griff nach der warmen Metallstange, er schüttelte sich. Das Doppelbild glitt übereinander, ruckweise zuerst, dann wie ebenmäßig geschoben, glitt übereinander und vereinigte sich zu einer einzigen lichtvollen Ansicht des gleitenden Dreimasters. War was? fragte der Fahrer, und Ulrich legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, hob das Mikrophon an die Lippen und wandte sich den Passagieren zu.

Der Fahrer ahnte, was Uli Martens sagen würde, seit einem halben Jahr hörte er ihm zu, täglich dreimal und sonntags sogar viermal, er hörte dem Teamgefährten mit genießerischer Aufmerksamkeit zu, obwohl er die meisten Wendungen auswendig kannte, und es gelang ihm immer noch, über die Lästerungen zu schmunzeln und Vergnügen zu empfinden, wenn Ulrich die Stadt auf seine Art im Futter wendete und unterhaltsam in Verruf brachte. Mitunter, ohne die Lippen zu bewegen, sprach der Fahrer die verzögerten Pointen mit, die kalkulierten Anspielungen und Selbstbezichtigungen, und wenn dann von den Kunstledersitzen das erwartete Gelächter antwortete, hatte er das Gefühl, die Heiterkeit mit hervorgerufen zu haben. Dennoch konnte er es sich nicht vorstellen, selbst mit dem Mikrophon vor vierundvierzig Passagieren zu stehen und die Stadt und die Dinge so auszulegen, daß sie dem Fremden plötzlich bekannt und sogar anheimelnd vorkamen.

Er blickte zu Uli auf, der den Passagieren weniger aufgeräumt und listig als trocken und überhastet erklärte, wie sie das Gehalt eines Segelschiffkapitäns ermitteln könnten; rezepthaft schlug er vor: man nehme die Anzahl der Segel, multipliziere sie mit der Zahl der Besatzungsmitglieder, zähle das geschätzte Alter der Galionsfigur hinzu und ziehe von dieser Summe die Zahl der Möwen ab, die sich gerade auf Mast und Rahen niedergelassen haben. Danach hängte er abrupt das Mikrophon in die Halterung, senkte sich mit einer Drehbewegung in seinen Sessel ab, legte, wie um einem Druck zu begegnen oder das schmerzende Licht abzuwehren, eine Hand auf die Augen und schien darauf zu warten, daß der Bus sich in Bewegung setzte. Der Fahrer beugte sich zu ihm heran, der Fahrer flüsterte: Was issen los, Uli? Es geht schon wieder, fahr weiter.

Der Fremdenführer legte sich zurück, hob seinen Blick und suchte im Rückspiegel die Gesichter der Passagiere; vorn saßen, ausnahmslos blau gekleidet, einige Japaner, die ergeben ihrem Dolmetscher zuhörten; er sah das steinerne Gesicht des Iren, der bei Beginn der Stadtrundfahrt, als jeder das Land seiner Herkunft nannte, nur »Motorschiff Kilkenny« geantwortet hatte; die Diakonissinnen auf den hintersten Sitzen, die erfolgreich einen ermäßigten Gruppentarif ausgehandelt hatten, unterlegten ihr Schmunzeln mit einem schwachen Seufzen. Die meisten Passagiere waren Historiker, wie Ulrich erfahren hatte; aus zweiundachtzig Ländern waren sie zu ihrem Kongreß in die Stadt gekommen, insgesamt elfhundert Historiker, die allerdings nur dann auffielen, wenn sie ihm als Teilnehmer der Großen Rundfahrt detailsüchtige und oft genug knifflige Fragen stellten. Er nahm jede Frage mit Verblüffung und Dankbarkeit auf, gerade als hätte sie sich im jeweiligen Augenblick als einzig mögliche Frage aufgedrängt. Der Bus fuhr erschütterungsfrei die einstige Prachtstraße hinab, die parallel zum Strom lief, niemand zeigte sich in den Gärten, auf den Veranden, hinter den Fenstern der überalterten weißen Villen, die sich erhaben über das Unglück ausschwiegen, dessen Zeugen sie geworden waren, und die auch jetzt noch ihren hochmütigen Anspruch aufrechtzuerhalten schienen, einen Anspruch auf Dauer und Verschontheit.

Noch bevor der Fahrer ihn mahnend anstieß, angelte Ulrich sich das Mikrophon – sie hatten bereits den winzigen, eingeklemmten Friedhof passiert, auf dessen Höhe er sonst wie auf Stichwort das Mikrophon nahm –, und über seine Sitzlehne gewinkelt, lud er seine Passagiere zum Zielspringen ein und erläuterte, was er ihren Blicken zuwies. Er zitierte aus der überschaubaren Geschichte der Häuser, nannte die Namen der ersten Bewohner, nannte ihre Berufe und Tätigkeiten und ihre mutmaßlichen Einkommen, alles mit trockenem Respekt, ohne Unterton selbst da, wo er Konkurse, Vergleiche, selbstverschuldete Schiffbrüche feststellen mußte.

An einem Zebrastreifen, wo ein alter Mann sich den Übergang erzwang, einfach dadurch, daß er seinen Spazierstock drohend in die Waagerechte hob, blickte der Fahrer besorgt zu Ulrich hinüber, besorgt und zugleich anfragend, da er eine enthüllende Anekdote vermißte, die noch jedesmal ein Lächeln hervorgerufen hatte; außerdem kam es ihm vor, als ob Uli heute nicht zu der Form fand, die er sonst bei ihm gewohnt war, zu dieser mühelosen Aufgeräumtheit, mit der er für die Stadt warb, indem er sie bloßstellte.

Etwas ist los mit ihm, er ist nicht so aufgelegt wie sonst, wenn das nur nicht bedeutet, daß er auch diesen Beruf über ist, wie er alle anderen überbekam, sobald sie ihm nichts mehr abverlangten.

Der Fahrer musterte den Mann auf dem Nebensitz, den Gefährten, den Teamkollegen, der soviel jünger aussah als er selbst, obwohl auch er über vierzig war; der Fahrer suchte nach einem Hinweis, nach einer wenn auch noch so geringen Unstimmigkeit, die ihm Ulis Konzentrationsschwäche hätte erklären können, doch er entdeckte nichts, was seiner Erfahrung entsprach, kein Zeichen für Müdigkeit oder Überdruß oder Nervosität. Ulrich Martens saß wie immer da in seinem taubengrauen Anzug, der Knoten des Halstuchs war wie immer verrutscht, und wie so oft lag auf seinem schmalen Gesicht dieser leise dauerhafte Ausdruck von Vorfreude, als halte er etwas listig in petto, womit er alle Anwesenden im nächsten Augenblick angenehm überraschen werde. Etwas Ankündigendes ging von ihm aus, noch ehe er das Wort nahm; er brauchte sich nur zu erheben, und Erwartung stellte sich wie von selbst ein. Mit keinem anderen Fremdenführer – und er kannte sie alle – wäre der Fahrer lieber unterwegs gewesen, nie zuvor hatte er die Überlegenheit eines Teamgefährten so spontan anerkannt.

Eine ungewohnte, eine feindliche Sonne hellte die Stadt auf, brannte auf den Bus herab; sie rollten an verdorrten Grünflächen vorbei, auf denen Betrunkene und Liebespaare reglos lagerten, umrundeten den künstlichen Teich und fuhren zur höchsten Erhebung der Stadt empor, einer abgeflachten Kuppe, auf der in düsterem, herrscherlichem Brüten das Gerichtsgebäude lag. Ulrich stellte den weitläufigen Bau unter dem oxydierten Kupferdach vor, machte auf die Spatzen aufmerksam, die sich auf Justitias Waage versammelt hatten, wies auf die bronzene Porträtgalerie hin, auf der Richter von entlegenen Verdiensten starräugig den Passanten überprüften, lenkte dann, weil es sich gerade ergab, das Interesse der Passagiere auf eine schwarzgekleidete Gruppe von Männern, die ausgelassen, womöglich schon zum Feiern entschlossen, die Freitreppe herabsprangen, und behauptete ruhig: Sieger, so bewegen sich bei uns die Sieger nach einem Prozeß, in dem wegen Versicherungsbetrugs verhandelt wurde.

Der Fahrer blickte in den breiten Rückspiegel, sah, wie die Polen lächelten, wie, mit einiger Verzögerung, selbst auf den Gesichtern der japanischen Gäste ein behutsames Lächeln entstand; und nun geschah es, daß Ulrich exakt aussprach, was der Fahrer dachte, wie ein Gedankensouffleur übermittelte er dem Sprechenden die bewährten Formulierungen, gab geheimnisvoll die Einsätze, da wurde nichts übersprungen, vergessen, durch Beiläufigkeit verschenkt. Ulrich hielt sich an das erfolgreiche Muster, ließ sich kenntnisreich über die Möglichkeiten des Versicherungsbetrugs aus, nannte den Versicherungsbetrug das Haupt- und Lieblingsvergehen der Stadt, jedenfalls das populärste und einträglichste Delikt, das insbesondere von der einheimischen Intelligenz bevorzugt wurde; schließlich verblüffte er seine Zuhörer mit der Feststellung, daß die gewöhnlichen Eigentumsdelikte, die sich fast überall in der Welt auf Platz eins der Kriminalitätsskala breitmachten, hierorts längst auf den zweiten Platz verwiesen worden seien.

Ja, Uli, jetzt läufst du wieder zu gewohnter Form auf, so muß es weitergehen, und nun bring ihnen bei, daß unsere Witwen und Waisen an der Kriminalitätsstatistik überdurchschnittlich beteiligt sind, zur unüberwindbaren Enttäuschung unserer Jura-Studenten.

Ein Schweizer Historiker meldete sich zu Wort, er glaubte gelesen zu haben, daß in dieser Stadt, und zwar noch im vergangenen Jahrhundert, nicht nur straffällige Bürger, sondern auch stumme Dinge verurteilt wurden, mißliebige Bücher zum Beispiel: ob das zutreffe? Ulrich bestätigte die Anfrage, tauschte einen Blick mit dem Fahrer und nannte die Jahreszahl der Exekution und den Titel des Buches: Neueste Nachrichten aus der Französischen Küche – ein dürftiger Tarntitel selbstverständlich, unter dem liberale Ideen eingeschmuggelt werden sollten. Einer der Polen fragte schnell, unter welchem Tarntitel er denn seinerzeit versucht haben würde, liberale Ideen in die Stadt zu bringen, und Ulrich darauf, fast ohne sich zu bedenken: Über die günstige Entwicklung des Krankentransports; das wäre mein Titel gewesen.

Sie fuhren zu den Brauereien hinab und dann zum Fischereihafen, wo gerade das Meer verkauft wurde, wo im Schatten der Kühlhallen Auktionatoren einen Kreis von unbeteiligt wirkenden Männern unter eine Sturzflut von Zahlen und Wörtern setzten; die Auktionatoren standen breitbeinig, fein ausbalanciert auf den Ecken der Holzkisten, während die Käufer auf die unter Eisgrus liegenden Fische blickten, auf Kabeljau, Seezunge und Rotbarsch, und ihr Interesse durch einen kurzen Augenaufschlag oder durch ein Zucken der Lippen bekundeten. Die Raspelstimmen der Auktionatoren wurden übertönt vom Pochen in seinen Schläfen, Ulrich lauschte den hallenden Schlägen, unter denen ein fühlbarer Druck entstand, ein schnürender Reif, der sich um seinen Kopf legte und einen Schmerz entstehen ließ, den er am empfindlichsten im Augenhintergrund wahrnahm. Er sehnte sich nach Dämmerung.

Wir müssen die Rundfahrt abkürzen, ich muß Walter ein Zeichen geben, wir könnten die Fahrt am Rathausplatz beenden oder, was noch günstiger wäre, bei den Tennisplätzen. Jemand, der nicht aussah wie ein Historiker, fragte den Fremdenführer nach einigen Büchern zur Geschichte der Stadt; Uli nannte gleich fünf Titel, langsam, offenbar zum Mitschreiben, und für den Fall, daß die noch nicht genügen sollten, zitierte er einige Spezialtitel, etwa Die Kunst der Flutregulierung im17. Jahrhundert und Vom Nutzen anonymer Stiftungen. Ulrich nahm den Dank nicht zur Kenntnis, er entwickelte bereits, da der Bus hielt, seine persönliche Charakterkunde der Fischesser, die er im Unterschied zu binnenländischen Fleischessern als friedfertiger, blut-ärmer, auch verschlossener und temperamentloser kennzeichnete; Fischesser, und darin bestätigten ihn die Einwohner dieser Stadt, seien bis zur Unerträglichkeit vernünftig und dauerhaft in den Kompromiß verliebt, was andererseits aber bedeute, daß sie ein Risiko sorgfältiger kalkulierten als jeder andere. Er wolle keinem seiner Gäste zu nahe treten, doch wo Fleischesser leichte Entflammbarkeit zeigten, Ungeduld und folgenreiche Überreaktionen, da stellten sich Fischesser als kühl und ausgewogen dar, als chronisch tolerant, und das besonders dann, wenn zum Fisch Bier getrunken würde.

Die Diakonissinnen klatschten zustimmend in die Hände, die Japaner indes bekamen, nachdem ihr Dolmetscher sie ins Bild gesetzt hatte, einen verlorenen Blick und ließen auf ihren Gesichtern ein gequältes Erstaunen entstehen.

Na also, dachte der Fahrer und hielt Ulrich die Zigarettenpackung hin, nicht allein zufrieden mit seinem Partner, sondern einmal mehr beeindruckt durch die Art, wie er das Wesen der Stadt ermittelte, wie er aus unscheinbaren Neigungen und bescheidenen Tatsachen einen Charakter zusammensetzte, der ja auch für ihn selbst galt; ja, der Fahrer mußte sich eingestehen, daß er nach den sechs Monaten mit Uli ein ganz neues, unerwartetes Verhältnis zu seiner Stadt bekommen hatte: er begann sie zu lieben, und zwar um so entschlossener, je tiefer er sie mit Ulis Blick durchschaute in ihrem verborgenen Geflecht. Er übersah Ulrichs ablehnende Geste, steckte die Zigarettenpackung wieder ein und fuhr an.

Der Bus klomm die steile Straße zur Seefahrtsschule hinauf, hier war Halbzeit der Großen Stadtrundfahrt, doch da diesmal keine Seefahrtsschüler zu sehen waren, die in Gruppen Spleißen und Knoten übten und von Brüstung zu Brüstung Flaggensignale wechselten, fuhren sie, ohne zu halten, weiter, vorbei am Hydrographischen Institut, am Verwaltungsbau der Elektrizitätswerke vorbei, dessen hochreichende Fenster ihnen den metallenen Glanz des Busses zurückgaben. Der Fahrer nickte zum Hochhaus hinüber, er mußte daran denken, daß Uli hier einmal gearbeitet hatte, in der Presseabteilung der Elektrizitätswerke. Da, schau mal rüber, da vermissen sie dich.

Dies war seine ständige Befürchtung: daß Uli, der mehrere Berufe und Fähigkeiten für sich ausprobiert hatte, eines Tages nur erscheinen könnte, um sich zu verabschieden – so, wie es ja häufig genug geschehen war: in der wissenschaftlichen Buchhandlung, in der er nach einem abgebrochenen Studium begonnen hatte, in der Agentur, für die er als Reiseführer Pilgerzüge nach Lourdes brachte, in der Abendzeitung, in der er neben der Fernsehkritik die Wanderspalte betreute, Wanderwege erkundete, festlegte und sie gemeinsam mit überraschend hochgestimmten Lesern beging. Und auch hier, in der Presseabteilung der Elektrizitätswerke, war er tätig gewesen, hatte sich nach dem morgendlichen Schwimmen an seinen Schreibtisch gesetzt, die Presse gesichtet, allgemeine Mitteilungen und Leserbriefe entworfen, die Direktoren ausländischer Elektrizitätswerke stadtkundig ausgeführt, den Pressechef selbst oft vertreten, so lange, bis nicht Arbeit, sondern – wie Uli selbst hervorhob – Gewöhnung ihn erschöpfte, die Gewöhnung in ihrer betäubenden Macht. Jetzt ein Bier, sagte der Fahrer; was meinst du, Uli? Jetzt Feierabend und ein Bier.

Ulrich Martens hörte ihn nicht, da er nach einem Wort suchte, nach einem seemännischen Ausdruck, den er plötzlich schmerzhaft entbehrte, jetzt, während sie durch die schmale Straße der Schiffsausrüster fuhren; der Inhalt des Wortes war ihm vollkommen gegenwärtig, er stand als regsames Bild vor ihm – leuchtendes Plankenholz, das mit Hilfe von Werg und gegossenem Pech miteinander verbunden und dicht gemacht wird; dennoch wollte ihm der umfassende Ausdruck nicht einfallen, obwohl er immer wieder nah an ihm vorbeistreifte und seine Erinnerung ihm sogar die eigentümliche Vokalfolge zutrug. Er gab es einstweilen nicht auf, nach dem Wort zu suchen, einmal hielt er seinen Atem an und versenkte sich so heftig in das Bild, daß er das Gefühl hatte, seine Augen seien in bestimmter Stellung stehengeblieben, selbst die begleitenden sinnlichen Wahrnehmungen, die sich wie von selbst einstellten – das schillernde Werg, das heiße zähflüssige Pech, dem der Wind einen feinen Rauch entriß –, begünstigten die Suche nicht, diese peinigende Fahndung, die er erst abbrach, als sie die alten Kasernen passiert hatten und auf das Kuppelgebäude der Universität zuhielten.

Da entfaltete sich etwas, da organisierte sich etwas unter dem großen weißen Transparent, das, nicht allzu hoch über der Terrasse aufgespannt, die Teilnehmer am Internationalen Historiker-Kongreß willkommen hieß: mehrere Gruppen von jungen Leuten entrollten da kleine Transparente, reckten Papptafeln am Stiel in die Höhe, probierten Sprechchöre aus, keineswegs drohend oder zornig, sondern eher vergnügt und darum bemüht, die Wünsche der anwesenden Photographen zu erfüllen. Die Passagiere, und besonders die Historiker unter den Passagieren, hatten den Aufzug bemerkt, noch bevor Ulrich sie übers Mikrophon darauf hinwies; einige erhoben sich schon von ihren Sitzplätzen, wollten mehr erfahren, wollten vor allem die Texte entziffern, die ihrem Kongreß galten. Nur die Japaner schwiegen und photographierten. Der Bus fuhr sehr langsam, und Ulrich gab bekannt, was er von seinem Platz aus erkennen konnte; es waren Forderungen, Erwartungen, die er stockend von den Transparenten ablas, Forderungen etwa nach einer progressiven Geschichtsschreibung, Erwartungen, die bisherige Geschichte als bürgerliche Konkursmasse abzutun. Ein Plakat fragte: Wer baute die Sieben Tore Thebens? und lieferte sogleich auch die Antwort: Arbeiter! Ein Pappschild warb für eine objektive, für eine Sozialgeschichte. Ein Transparent, das seinen Spruch nicht vollständig enthüllen wollte, da es anscheinend verwickelt oder verklebt war, verlangte: Die Phantasie an … Bakunin.

Die bulgarischen Historiker – zwei beleibte Männer, eine athletische Frau in Lederkluft – gaben Ulrich dringende Zeichen vom Mittelgang, sie wollten aussteigen, sie hielten bereits Taschen und Tüten in den Händen, entschlossen, das, was auf der Terrasse geschah, aus der Nähe zu erleben. Der Bus hielt. Ulrich stellte jedem frei, die Reisegesellschaft zu verlassen, doch außer den Bulgaren stieg keiner aus, außer den korpulenten schweigsamen Neugeschichtlern, die sich widerspruchslos den Anweisungen ihrer Kollegin fügten. Alle blickten ihnen nach, wie sie durch den kümmerlichen Garten gingen, und als sie, auf dem Weg zur Terrasse, vorübergehend hinter dichtem Gesträuch verschwanden, machte Uli auf einen Schatten aufmerksam, auf die vage Silhouette eines Standbilds, das, überwachsen und von einem Gewirr von Ästen verdeckt, von niemandem zur Kenntnis genommen wurde. Da ihn ein leichter, rasch vorübergehender Drehschwindel erfaßte – der Garten begann sich plötzlich wie in einer Dünung zu heben und zu senken, und gleichzeitig hatte er das Empfinden, eine Achse zu sein, um die alles in schwerfällig rotierende Bewegung geriet –, nahm der Fremdenführer nach einer längeren Pause das Wort, was die Passagiere als stille Aufforderung auslegten, sich zunächst selbst eine Vorstellung von dem verborgenen Standbild zu machen. Keiner wäre darauf verfallen, daß dort in natürlichem Versteck ein General stand, der Kommandeur einer kolonialen Schutztruppe, ein kleinwüchsiger, ausgedörrter Mann, dem sich die Stadt einst so verpflichtet gefühlt hatte, daß sie ihm im Universitätsgarten ein Denkmal setzte; und nicht nur dies: Ulrich konnte ergänzen, daß im dunklen Erdteil immer noch ein Wasserfall den Namen des Generals trug, desgleichen die Bucht, in der er, am Ende aller List, seinen Fluchthafen gefunden hatte.

Jetzt die Geschichte vom gestohlenen Standbild, dachte der Fahrer, da sackte Uli auf den Nebensitz, und anstatt die Abenteuer des geraubten Denkmals zu schildern, machte er nur eine wedelnde Geste und sagte unduldsam: Los, Walter, los, fahr zu, ich schaffe es einfach nicht. Oder willst du? Hier, nimm das Mikrophon und mach weiter, du kannst es. Wo stimmt’s denn nicht? fragte der Fahrer und Uli darauf, ratlos: Schau dir mal meine Augen an, schiel ich? Ich hab das Gefühl, ich schiele. Leise bat er: Abkürzen, Walter, wir müssen die Rundfahrt abkürzen, bitte.

Sie fuhren über eine Brücke und weiter durch eine Straße, in der Fluggesellschaften ihre Büros unterhielten, lichte Räume, in denen uniformierte Mädchen grauweiße Kommandobrücken besetzt hielten; in den Schaufenstern hingen Flugzeugmodelle, einige waren offen in den Flanken, zeigten glückliche Modellpassagiere, bewiesen, daß das Familienleben auch während des Flugs nicht zu leiden braucht.

Am Rathausplatz, ich werde vor der Apotheke am Rathausplatz halten, mehr als zwei Minuten wird Uli nicht brauchen, sie werden ihm schon etwas verschreiben, das ihn über die Runden bringt, und wenn er sich dann im Warteraum eine halbe Stunde hinlegt, wird er heute auch die letzte Tour durchhalten.

Der Fahrer mußte an Ulis Wohnung denken, an das blaßgelbe Zuhause im elften Stock eines Hochhauses; er stellte sich die anthrazitfarbene Couch vor, auf der Uli schlief, versuchte sich die Bilder in Erinnerung zu rufen, zu denen der Liegende aufsah – Gesichter, die in Pflanzen und Blumen aufgingen; es stand nur ein schöner, gepolsterter Stuhl neben der Couch, sonst war das Zimmer leer. Alles war ihm so vorläufig erschienen, wie in Wartestellung, alles ein halbausgeführter Entwurf, und er mußte diesen Eindruck wohl offen zur Schau getragen haben, denn Uli sagte unvermittelt, daß er bewußt alles unfertig lasse, bei ihm dürfe nichts endgültig sein; wo nichts mehr hinzuzufügen sei, da halte er es nicht aus.

Der Fahrer blickte aus den Augenwinkeln zu Uli hinüber, der saß aufrecht in seinem Sitz, nicht apathisch, sondern angestrengt, das Mikrophon in der Linken, mit der Rechten massierte er seinen Nacken. Um auf die Straße zu gelangen, die um den flachen Binnensee lief, mußten sie sich die Vorfahrt erzwingen. Keine Fallböen warfen das Wasser auf, kein dunkler Schleppzug versehrte das Panorama, der Binnensee lag still und ermattet da, nur am jenseitigen Ufer ereignete sich etwas, dort zerschnitten zwei Vierer mit Steuermann das Spiegelbild der Häuser; von den Kommandos der leichtgewichtigen Steuerleute angetrieben, walkten und schaufelten blonde Riesen das Wasser. Ulrich nannte das Rennen der gleichauf liegenden Boote einen Trainingslauf für die große Regatta, er wies darauf hin, daß der Vierer mit Steuermann die Bootsklasse war, der man in der Stadt das größte Interesse widmete, kein anderer Typ war so beliebt, rief die gleiche engagierte Erregung hervor, nicht der Einer, nicht der Zweier, nicht einmal der Achter konnte auch nur annähernd soviel Aufmerksamkeit auf sich versammeln. All seine Bemühungen, dieser aufschlußreichen Bevorzugung auf den Grund zu kommen, seien umsonst gewesen, sagte Ulrich, die Stadt hielt es einfach mit dem Vierer mit Steuermann: der allein trug die Hoffnungen oder ließ aus gestautem Kielwasser Enttäuschung aufsteigen.

Gerade wollte er in oft erprobten Formulierungen den heimlichen Charakter der Stadt an den Regeln des Ruderns erläutern, gerade legte er sich die Zitate aus den Aufnahmestatuten des traditionsreichsten Ruderclubs zurecht, als die Hand, die das Mikrophon hielt, zu zucken begann; sie zuckte und schlug hart aus, als empfinge sie berechnete Stromschläge, er konnte das Mikrophon nicht mehr vor den Lippen halten, konnte aber auch die metallene Haltestange nicht loslassen, um das Mikrophon der ruhigen Hand zu übergeben. Jetzt sah Ulrich erschrocken auf seine Hand, sie kam ihm wie ein fremdes Wesen vor, selbständig und aufsässig, ein Wesen, das seine Kontrolle nicht anerkannte; selbst als er sie gegen die Sitzlehne drückte und mit seinem Körper einklemmte, hörten die zuckenden Schläge nicht auf.

Du mußt übernehmen, Walter, du mußt mich hier rauslassen und übernehmen. Hier ist überall Halteverbot, sagte der Fahrer, und Uli dringend: Am kleinen Fährhaus kannst du halten, nimm jetzt das Mikrophon und fang an.

Uli wandte sich ab und starrte auf das kleine Fährhaus am Ende des Binnensees, er glaubte die Verzagtheit des Mannes zu spüren, der neben ihm saß und auf dessen unterdrückte Anrufe er nicht reagierte, er merkte aber auch, wie der Fahrer nach einer Weile das Gas wegnahm und es dann noch einmal dauern und dauern ließ, ehe er ins Mikrophon hineinsprach. Zu laut, Walter spricht zu laut.

Zuerst gab der Fahrer einen Schichtwechsel bekannt, eine fällige Ablösung, danach äußerte er seine Hoffnung auf ein gutes Einvernehmen für den Rest der Fahrt, und mit einer Stimme, die zunehmend an Festigkeit gewann, zitierte er sodann, sicher die Stafette ergreifend, aus den Aufnahmestatuten des traditionsreichen Ruderclubs, der zum Beispiel keinen Bewerber willkommen hieß, der ein offenes Ladengeschäft führte. Ein schneller, besorgter Blick in den Rückspiegel brachte ihm Zufriedenheit: er erkannte auf einigen Gesichtern den gleichen Ausdruck amüsierten Befremdens, den er immer hatte feststellen können, wenn der Fremdenführer aus den Aufnahmestatuten zitierte.

Als er am kleinen Fährhaus hielt, um Uli aussteigen zu lassen, gelang ihm nicht mehr als »Gute Besserung«.

II

Die Suchkartei war angewachsen. Nora sah es auf den ersten Blick, als sie den länglichen Holzkasten, den der Bibliotheksleiter ihr nach Hause mitgegeben hatte, auf den Schreibtisch stellte und den Deckel abhob. Noch erschöpft vom Weg, zog sie probeweise eine der rosafarbenen Verleihkarten heraus, überflog stehend Signatur, Verfassernamen, Titel, kontrollierte flüchtig die grünen Datumstempel in der Rubrik »ausgeliehen am« und die datumlosen Linien in der Rubrik »abgegeben am«, fächelte sich, in ihrem Verdacht bestätigt, mit der Karte Luft zu und legte sie nachdenklich auf die Schreibunterlage.

Sie ging auf den Flur, hängte die leichte Jacke auf einen Bügel und öffnete die Tür zum Badezimmer. Strumpfhosen auf dem Trockenständer, der die Wanne besetzt hielt, hingen verschrumpelt, verformt und verdreht da, sie kamen Nora erbarmungswürdig vor, und sie hob sie sorgfältig von den Schnüren ab und klappte den Trockenständer zusammen. Sie zog beide Fensterflügel nach innen auf und barg von dem schmiedeeisernen Griff, der das Fenster sicherte, ihren übergroßen Waschlappen, der an der Sonne getrocknet war. Das smaragdfarbene Ungetüm mußte weg, die Badekappe; Nora pflückte sie von einem Haken herunter und stopfte sie mit kleiner Gewalt in ein lackiertes Wandschränkchen. Wie hatte er die Badehaube genannt? Einen Kopfschoner, der Blüten treiben will. Sie lächelte, erneuerte die Handtücher, kämmte mit der Bürste dem Kamm und dann mit dem Kamm der Bürste verlorenes Haar aus, fand den Granatring wieder, den sie am Morgen abgestreift hatte, wischte dem Spiegel ein paar getrocknete Spritzer weg und begutachtete ihr Gesicht unter dem altmodischen Mittelscheitel. Zupfend öffnete sie die Schleife ihrer grauen, hochgeschlossenen Bluse, doch nicht, um sie offenzulassen, sondern um sie von neuem und akkurat zu binden.

Sie ging ins Schlafzimmer, zog die trockenen Strumpfhosen glatt, faltete sie zu Päckchen zusammen und legte sie in den großen Wäscheschrank, aus dem ein Duft von Lavendel strömte. In der Gardine wütete eine gefangene Biene. Nora nahm vom Nachtschränkchen ein Papiertaschentuch, lockerte es und brachte es zugleich entschlossen und behutsam über das Insekt, das nicht aufhörte, wütend und in hoher Tonlage zu sirren, während sie es ans Oberlicht hob und in die Freiheit hinausschüttelte.

Der Wecker und das bräunliche Photo, das ein altes Paar in einem Boot zeigte – auf beiden Gesichtern lag eine wohlige Furcht –, standen so zueinander, als hätten sie sich etwas zu sagen; Nora rückte sie auseinander und drückte sie ein wenig fest, wie um ihnen die erwünschte Position anzudeuten. Obwohl der aus Bast geflochtene Wäschepuff nur zur Hälfte gefüllt war, mußte er seinen Platz unter dem Fensterbrett räumen und wurde in eine Nische zwischen Wand und Wäscheschrank abgeschoben. Sie versuchte, den Ring von Feuchtigkeit zu tilgen, den das Wasserglas auf ihrem Nachtschränkchen hinterlassen hatte, konnte ihn jedoch nicht wegreiben und trug das Wasserglas in die Küche.

Der Tee in der Thermoskanne war noch warm; bevor Nora sich eine Tasse einschenkte, warf sie sämtliche Drucksachen und Reklameschriften ungelesen in den Abfalleimer, blies von der Transportfläche der Brotschneidemaschine die Krümel ab, ließ den lenkbaren Strahl so lange durch die Metallspüle wandern, bis angeschwemmte Fasern, gequollene Teekrümel und identitätslose glasige Brocken erfolgreich durch das Abflußsieb gepreßt worden waren. Versehentlich schloß sie die beiden Kochbücher in den Kühlschrank ein, befreite sie jedoch, als sie ihr Einkaufsnetz auspackte und für die mitgebrachten Milchtüten Platz suchte, für die Honiggläser und für ihr Lieblingsgemüse, den schorfig pockigen Sellerie. Nachdem sie den breitmäuligen Brotkasten zugeworfen hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf, von dem Bedürfnis erfaßt, alles, was sie seit dem Betreten ihrer Wohnung vorsorglich getan hatte, wieder rückgängig zu machen. Es genügte ihr jedoch, sich selbst dazu zu verurteilen, von nun ab alles zu übersehen und nichts mehr zu ordnen, zu verändern. Mit einer Tasse Tee in der Hand kehrte sie an den Schreibtisch zurück.

Zweimal im Jahr sichtete und überprüfte Nora die Sünderkartei der Öffentlichen Bücherhalle. Viele Entleiher kannte sie persönlich, kannte auch ihre eigentümliche Art, mit den entliehenen Büchern fertig zu werden, und während sie eine Karteikarte nach der anderen aus dem Holzkasten fischte, traten ihre Kunden noch einmal einzeln vor ihren Tisch – so, wie sie in Noras Erinnerung an den Tisch traten –, blickten auf sie herab und benutzten die Zeit der Eintragung, sie mit den gesammelten Eindrücken der letzten Lektüre zu beregnen oder ein Lesefazit auf sie herabzuschleudern, das nur aus verkürzten Ausrufen bestand. Wieder waren es einige alte Bekannte, die nicht nur den Ausleihtermin überschritten hatten, sondern auch nach mehreren Mahnungen hatten bekennen müssen, daß ihnen die entliehenen Bücher abhanden gekommen waren, spurlos. Und wieder war es der gleiche Typ von Hausfrau und Rentner, der für die empfindlichsten Verluste sorgte.

Nora versuchte sich vorzustellen, wie überhaupt ein Buch, das den Stempel der Bibliothek trug, verlorengehen könnte, bei seinem Umfang, bei seinem Gewicht, in einer immerhin überschaubaren Wohnung.

Beim Aufstellen der Verlustliste sah sie wieder den alten hochfahrenden Mann vor sich, den noch jede Lektüre enttäuscht hatte, der sich jedoch so zufrieden darüber äußerte, als sei Enttäuschung überhaupt das einzige, worauf er aus sei; wo mochte er Krieg und Frieden vergraben haben und Die Kartause von Parma? Sie dachte sich eine sparsam möblierte Altmännerwohnung, in der die elektrischen Kochplatten eingeschaltet waren, um bei offener Küchentür dem Zimmer zusätzliche Wärme zu geben, einem winkellosen Raum, in dem offenbar nichts übersehen werden konnte, was er barg; wie sollten Bücher hier abhanden kommen? Sie würde ihn bei seinem nächsten Bibliotheksbesuch zu abermaliger Suche auffordern, ihn, der süchtig nach Enttäuschungen war, so wie die meisten der anderen Kunden; sie würde ihnen aus gesicherter Erfahrung raten können, wo sie zu suchen hätten, einfach, indem sie die Verstecke aufzählte, in denen säumige Entleiher nach eigenem Geständnis schließlich doch fündig geworden waren; das galt für die Taschen der Wintermäntel ebenso wie für die Gemüsefächer der Kühlschränke, für die Pappkästen der Gesellschaftsspiele nicht weniger als für den schmalen Raum zwischen dem Kopfende des Betts und der Wand.

Nora blickte in den Garten hinaus und entdeckte jetzt erst ihre Vermieterin, die in weißem Kleid an einem runden Metalltisch saß, im Schatten des Kirschbaums. Sie schrieb; das heißt, in diesem Augenblick setzte sie zum Schreiben an, stockte, schien abgelenkt und unschlüssig zu werden, hob das Gesicht und sah Nora an ihrem Schreibtisch; beide lächelten. Beide deuteten nickend auf das Papier hinab, vergnügt darüber, daß man sich in gleicher Beschäftigung gefunden hatte. Fast gleichzeitig gelang ihnen die entschlossene Hinwendung zu ihrer Arbeit, doch der heftige Aufwand an Konzentration ließ schon vermuten, daß es schwierig sein würde, im Blick des andern weiterzuschreiben; und konsequent wegzusehen war vielleicht noch anstrengender.

Nora wunderte sich nicht, sie war nur erleichtert, als Frau Grant aufstand, hinter den Baum trat, einen Strohhut aufhob und sich zum Rand des Gartenbildes bewegte, zu der Weißdornhecke. Sie zweifelte nicht, daß die hochgewachsene, schwere Frau, die von ihren Kollegen zum dritten Mal zur Schulleiterin gewählt worden war, den Platz lediglich ihretwegen geräumt hatte, um ihr die Konzentration bei der Arbeit zu erleichtern. Jetzt fühlte sie sich geradezu genötigt, das Gesicht zu senken und allein durch den Anblick, den sie bot, das kleine Opfer aufzuwiegen. Sie zog aus den Karteikarten die Namen der Sünder aus und schrieb sie auf die Verlustliste, fügte die Buchtitel hinzu, die Signatur der Bücherei; sie selbst sah die Liste nur als vorläufig an – gewiß, daß ihr etliche Titel mit dem unvermeidlichen Triumph zurückgebracht werden würden.

Plötzlich stand Frau Grant vor ihrem Schreibtisch, stand da und lächelte und hielt ihr bekümmert den rechten Zeigefinger hin. Feine Dornen, sie hatte sich wiederum feinste Dornen oder Splitter eingezogen, die sich zwar nicht bei der Küchenarbeit, wohl aber beim Schreiben bemerkbar machten, sobald sie den Halter zwischen die Finger nahm. Unwillkürlich erhob sich Nora und räumte einen Stuhl ab, wollte gleich eine zweite Tasse Tee holen – nicht mehr ganz heiß, aber noch trinkbar –, doch Frau Grant, die nun selbst die Tür zum Garten schloß, durch die sie gekommen war, winkte dankbar ab; nur dies: ob Nora noch einmal versuchen wollte, ihr zu helfen?

Diese Befangenheit – immer litt Nora unter einer unerklärlichen Befangenheit, sobald sie Frau Grant nah gegenüberstand; erfolglos wehrte sie sich dagegen, daß sich ihre Sprache verringerte und das Gefühl aufkam, nur unzureichende Antworten zu geben. Es glückte ihr einfach nicht, den Eindruck von Beflissenheit zu vermeiden, als sie, kaum darum gebeten, auch schon ins Badezimmer ging, um Pinzette, Alkohol und Watte zu holen, und nachdem Frau Grant sich doch gesetzt hatte, reichte es nur zu einer scheuen, stummen Aufforderung, den Zeigefinger halbhoch ins Licht zu halten. Bevor sie den hingestreckten Finger in ihre Hand nahm, sah sie in das helle sommersprossige Gesicht der Frau, ließ sich auffordern, ermutigen, ließ sich im voraus jeden Schmerz vergeben, der entstehen könnte. Es macht Ihnen doch nichts aus? fragte Frau Grant, und Nora eilfertig: Oh, nein, im Gegenteil.

Sie musterte den Finger, fand die winzigen schwarzen Eindringlinge in der Kuppe und sogar am Rand des Nagelbetts, die meisten hatten sich schräg eingezogen, waren hart und haarfein in die Haut eingedrungen und ragten nirgends auch nur so weit hervor, daß man sie gleich mit der Pinzette erwischen konnte. Sie mußte pressen, mußte die Nägel ihrer beiden Daumen zu Hilfe nehmen, bis sich der Splitter unter genauem Druck aus der Haut hervorschob. Es wird gleich weh tun, sagte sie. Nur zu, sagte Frau Grant, ich warte darauf. Instinktiv drehte Nora der Frau den Rücken zu, drückte den fleischigen Arm gegen ihre Hüfte und nahm sich den Zeigefinger vor, grub ihre eigenen Fingernägel berechnet in die blasse, bald rötlich anlaufende Kuppe, ließ die Pinzette zuschnappen und ziehen und wartete ständig auf den ersten Schmerzenslaut; doch anstatt, und wenn auch nur einverständig, zu klagen, sagte Frau Grant nach einer Weile: Sanfter kann man es nicht tun. Sogleich wollte Nora ihre Arbeit unterbrechen. Nein, nein, sagte Frau Grant, ich ertrag es schon, es ist nicht so schlimm.

Nora war es unangenehm, daß sie so beschleunigt und gepreßt atmete, sie entschuldigte sich einmal sogar für ihr Ächzen und für einen leisen Fluch, den sie ausstieß, als ein Splitter abbrach; darauf fluchte Frau Grant selbst auf die Splitter und nannte sie die Rache des Kroppzeugs. Auf einmal spürte Nora, daß ihre Vermieterin etwas entdeckt hatte, sie merkte es an der Bewegung der Frau, die sich auf ihrem Stuhl abwandte, um etwas deutlicher zu erfassen. Ja, sagte Nora, ein neues Bild, es heißt »Das Essen« und ist sehr wertvoll, ich hab mich nur noch nicht entschließen können, es aufzuhängen. Für einen Augenblick entzog ihr Frau Grant den Finger, sie betrachtete das Bild, ergründete, kombinierte, sie verlegte den Oberkörper, um zu ergänzen, was das Licht wegnahm bei schrägem Einfall, dort an der Fußleiste, auf dem Fußboden, denn dort stand es angelehnt, gerahmt, unter Glas, ein Bild, das eine Versöhnung darstellen sollte an einem rohen Tisch, eine Versöhnung, die ihre eigene Schwere hatte und als Erlebnis stumm machte. Auch wenn Frau Grant nicht die letzte Begründung dafür geben konnte; sie fand die Zeichnung wunderbar, diese Ratlosigkeit, dies Erschrecken vor einer neuen Erkenntnis: einfach wunderbar.

Als sich ihre Blicke begegneten, zuckte Nora hilflos die Achseln; sie würde das Bild zurückgeben, sie mußte es zurückgeben, obwohl sie es geschenkt bekommen hatte. Es ist sehr wertvoll, sagte Frau Grant, allerdings nicht, um sie in ihren Bedenken zu unterstützen, sondern um sie auf die Bedeutung des Besitzes hinzuweisen.

Für Nora stand fest, daß sie das Bild nicht aufhängen würde, heute noch würde sie es zurückgeben, alles müsse seine Grenzen haben, auch der Wert von Geschenken; und in einem Beschwerdeton, aus dem allerdings heimliche Genugtuung herausgehört werden konnte, kritisierte sie das seltsame Schenkbedürfnis von Herrn Martens; man brauche nur Gefallen an etwas zu äußern, schon sei man sein Besitzer. Das sei ihr mit den beiden Mokkatassen so gegangen, mit einer Brotschneidemaschine und schließlich auch mit diesem Bild: schon ein leises, ganz unbedachtes Lob reiche für ihn aus, sich von dem Gelobten zu trennen.

Nora bat um den Zeigefinger, sie fürchtete, zuviel gesagt und Frau Grant in eine Erfahrung eingeweiht zu haben, die zu diskret war, um mitgeteilt zu werden; doch einmal ins Vertrauen gezogen, wollte Frau Grant mehr wissen, vielleicht empfand sie es auch nur als Höflichkeit, weiter zu fragen, diese überlegene, in allem teilnahmsbereite Frau, von der Nora schon mehrmals gewünscht hatte, sie einst selbst als Lehrerin gehabt zu haben; und nach dem Bekenntnis, daß sie Herrn Martens mehr als sympathisch finde, stellte sie fest, daß es ja kein Unglück sei, wenn einer sich so vorschnell von seinen Sachen trenne – vorausgesetzt, daß er es sich leisten könne. Das gab Nora zu; dennoch hielt sie es für übertrieben, wenn Herr Martens dem Busfahrer, mit dem er beruflich unterwegs war, am Ende eines Abends ein schönes Holzbrett mit Bratenbesteck aufnötigte, nur weil er es wiederholt gelobt hatte. Und dann klang es mehr wie eine Frage an sich selbst, als Frau Grant wissen wollte, ob der Beruf eines Fremdenführers einem auch angemessene Genugtuungen lasse, und besonders einem Mann wie Herrn Martens, dessen Berichte in der Abendzeitung sie seinerzeit, offen gesagt, nicht nur mit Erheiterung, sondern auch mit dem Wunsch gelesen habe, den Autor einmal auf den ausgesuchten Wanderungen zu begleiten.

Da Nora gerade den längsten Splitter, der erkennbar unter der Oberfläche der Haut saß, mit der Pinzette erfaßt hatte, konnte sie nicht gleich antworten; erst nachdem sie ihn restlos herausgezogen, wie eine Trophäe ins Licht gehalten und dann am Korken des Alkoholfläschchens abgestreift hatte, sagte sie ruhig, daß Herr Martens alles, was er tue, sehr bewußt tue. Für ihn gäbe es nichts Endgültiges, von Zeit zu Zeit müsse er etwas Neues ausprobieren, und mit Vorliebe Tätigkeiten, von denen er nicht wisse, ob er ihnen gewachsen sei. Er sei nun mal auf Spannung angewiesen, und die bestehe für ihn darin, sich widerrufen zu können. Vorläufigkeit: die sichere ihm den notwendigen Reiz und schließe ja keineswegs aus, daß man das, was man gerade tut, auch gern tut. Herr Martens ist gern Fremdenführer, sagte Nora.