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Florian, der Karpfen ist ein literarisches Juwel. Bisher noch nie in Buchform erschienen, erzählt das Märchen die Geschichte von Karlchen, einem kleinen Jungen, der sich nichts sehnlichster wünscht, als sich wie die Fische im See zu tummeln. Ob Florian, der alte Karpfen, Karlchen helfen kann? Neben Florian, der Karpfen versammelt dieser bibliophile Band weitere Texte über die besondere Beziehung des großen Erzählers Siegfried Lenz zur Natur, zum Wasser, zum Angeln – und zum Fisch. Mit einem Nachwort von Maren Ermisch und zahlreichen Abbildungen
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Seitenzahl: 57
Veröffentlichungsjahr: 2021
Siegfried Lenz
Florian, der Karpfen
Ein Märchen und seine Geschichte
Mit einem Nachwort Maren Ermisch
Hoffmann und Campe
Siegfried Lenz mit seinen Karpfen am Tetenhusener Teich, Frühjahr 1998.
Privatarchiv, Siegfried Lenz Stiftung, © Fotograf: Peter Smith, Dänemark.
Wer mit Siegfried Lenz zu den Fischen reisen will, der braucht einen sehr langen Atem, denn die Geschichte beginnt vor Urzeiten, und eigentlich kann man nur in biblischem Tonfall von ihr sprechen: »Am Anfang also war der Fisch, der Urfisch. Der Latimeria war da, ein mit Höckern und Knoten besetzter Bursche, dessen Flossen wie verkümmerte Gliedmaßen aussahen – man hat erst unlängst wieder einen vor der afrikanischen Küste gefangen.« So bestimmt Lenz in seinem Hörspiel Am Widerhaken hängt das Glück den Anfang des Lebens der Fische. Und er gibt zu bedenken, dass es Fische gab, bevor es den Menschen, geschweige denn den Angler, gab: »Die Fische hatten gleichsam den Vortritt, sie wurden zuerst aufgerufen, und sie schwammen in all ihrer erfindungsreichen Herrlichkeit in Erscheinung: als schlichtes Scheusal, als goldschuppige Spindel, als abenteuerliche Schönheit. Der radarbegabte Wels und der kuhhörnige Kofferfisch, der keilschnäuzige Stör und der biedere Brassen, der Nilhecht und der Nasenhai, Saibling und Sardine, Barsch und Blei – niemand wird je all die Namen kennen können.« Dass der Name des Karpfens hier nicht fällt, kann nur ein Missverständnis sein, denn er gehört zu den Fischen, die Lenz selbst »in all ihrer erfindungsreichen Herrlichkeit« vorführt. Der Erste, der in der Reihe aufgerufen wird, ist Florian, der Karpfen, ein großer Künstler mit einer ganz besonderen Begabung und einer nicht ganz alltäglichen Aufgabe. In diesem Buch soll aber nicht nur das Märchen von Florian erzählt werden, sondern auch ein kleines Stück der ganz persönlichen Geschichte von Siegfried Lenz mit den Fischen.
Zu ihr gehört einer seiner frühesten veröffentlichten Texte, das Gedicht Die Fische von 1948, das sich im Nachlass von Lenz zwischen seinen Vorlesungsmitschriften zum Literatur- und Philosophiestudium in Hamburg erhalten hat. Manche Leserin und manchen Leser mag es überraschen, den Erzähler Lenz als Lyriker zu erleben, aber dieses Gedicht ist ein kleines Vorspiel zu dem Märchen, das fünf Jahre später im Radio ausgestrahlt wird, seitdem verschollen war – und in diesem Buch das erste Mal abgedruckt wird. Gedicht und Geschichte spielen in derselben märchenhaften Zauberwelt der Kindheit.
Und der Karpfen wird Lenz nahezu ein Leben lang begleiten: zunächst noch den Angler Lenz, wie sein Verleger Thomas Ganske berichtet, dem er seine Überlegenheit beim Fischfang vorführt, später aber wird der Karpfen zum Freund, den man natürlich auf keinen Fall angelt und verspeist, sondern um den man sich sorgt, den man Gästen vorführt und der schließlich die große Ehre hat, zum Fisch des Jahrhunderts gewählt zu werden. Und wer käme für eine Laudatio besser infrage als Siegfried Lenz, der Erfinder von Florian. Ein Märchen in jeder Hinsicht.
Der spätere Laudator streichelt seinen Fisch des Jahrhunderts.
Privatarchiv, Siegfried Lenz Stiftung, © Fotograf: Peter Smith, Dänemark.
Beinahe, mein Kind – und es hat gar nicht viel gefehlt –, da hätten wir alle eine schöne silberne Schwimmblase wie die Fische, und wir könnten stundenlang am Grund eines Sees schwimmen, und niemand bräuchte mehr zu ertrinken. Das Karlchen hätte nur etwas klüger sein müssen – so wie wir beide es gewesen wären, wenn uns dasselbe passierte.
Karlchen wohnte an einem schönen, grünen, schilfbedeckten See, und er lag oft und lange auf einem Holzsteg und beobachtete die Fische. Und er hatte nur einen Gedanken, während er die Fische beobachtete: wie man solch eine schöne, silberne Schwimmblase bekommen könnte wie sie. Er hatte schon seinen Vater gefragt, woher die Fische die schönen Schwimmblasen haben. Aber sein Vater schüttelte nur den Kopf und ging weg. Und dann hatte er seine Mutter gefragt, woher die Fische die silbernen Schwimmblasen haben, und auch sie schüttelte den Kopf und ging weg. Und er fragte alle, die er traf, aber alle schüttelten den Kopf und gingen weg. Und Karlchen lag wieder allein auf dem Holzsteg, beobachtete die Fische und dachte an die silberne Schwimmblase. Zuletzt wurde er, wie du verstehen kannst, sehr traurig, und das fiel dem alten Haubentaucher Pablo auf, und der Haubentaucher Pablo schwamm ganz nahe an Karlchen heran und fragte: »Nanu, Karlchen, was ist denn mit dir los?«
Karlchen sagte ihm aber nicht, warum er so traurig war, denn er hatte Angst, daß auch der alte Haubentaucher den Kopf schütteln und wegschwimmen würde. Darum sagte er nur: »Ich weiß auch nicht, warum ich so traurig bin. Weißt du vielleicht, wie man Traurigkeit wegmacht?«
»Natürlich, Karlchen, weiß ich das«, sagte der alte Pablo, »wenn man traurig ist, muß man eine kleine Reise machen.«
»Aber ich habe nur zwanzig Pfennig«, sagte Karlchen.
»Das ist genug«, sagte Pablo. Und er erzählte Karlchen, daß er erst vor kurzem ein Reisebüro aufgemacht habe, bei dem man sich für zwanzig Pfennig zwei junge, schnelle Haubentaucher mieten könne. Die spannt man einfach an ein Brett und läßt sich ziehen, wohin man will. Sie ziehen dich über Wasser und, wenn man will, auch unter Wasser, vier Stunden lang. Ja, damals konnte man sich noch zwei junge, schnelle Haubentaucher zu diesem Preis mieten. Inzwischen ist das auch teurer geworden.
Karlchen also gab dem alten Haubentaucher zwanzig Pfennig, und Pablo schickte am nächsten Morgen zwei junge, schnelle Haubentaucher an den Holzsteg, und Karlchen saß auf einem dicken, dicken Brett und erwartete sie. Er war jetzt schon gar nicht mehr traurig, denn in der letzten Nacht hatte er einen klugen Gedanken gehabt. Er wollte nämlich unter Wasser fahren und die Fische selbst fragen, woher sie ihre schönen, silbernen Schwimmblasen haben. Und er sagte keinem etwas davon, weil er Angst hatte, daß sie nur den Kopf schütteln und weggehen würden.
Als die jungen, schnellen Haubentaucher angeschwommen kamen, begrüßte er sie ungeduldig schon von weitem und fragte sie, wie sie gefrühstückt hätten. Und die jungen Haubentaucher sagten, daß sie gut gefrühstückt hätten, jeder vier Fische, und sie meinten, daß sie ohne Reiseverpflegung auskommen könnten. Darauf band Karlchen jedem von ihnen eine zarte Leine um den Hals und rief: »Hüh!«
Die jungen Haubentaucher verstanden das auch sofort und zogen an. Und sie sausten schnell wie ein englisches Rennboot über den schönen, grünen, schilfbedeckten See, und das Brett hob sich vorn hoch aus dem Wasser. Nun sah sich Karlchen nach einem Fisch um, den er nach den silbernen Schwimmblasen fragen wollte. Aber die Fische hatten vor dem sausenden Brett Angst bekommen, und sogar die Verkehrspolizei, die beiden Hechte Napoleon und Schluckauf, hatten sich versteckt. Darum fuhr Karlchen nun etwas langsamer.
