Der verschwundene Kohinoor - Otto von Gottberg - E-Book

Der verschwundene Kohinoor E-Book

Otto von Gottberg

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

"Koh-i-Noor" ist eigentlich ein kostbarer Diamant aus Vorderasien, der heute als Teil der britischen Kronjuwelen im Tower von London besichtigt werden kann. Hier wird der Name als generelle Bezeichnung für einen seltenen, überaus wertvollen, großen Diamanten verwendet. Der Kohinor von Tante Lotte hat einen Geldwert von angeblich fünfzigtausend Mark. Kein Wunder, dass alle aufgeregt sind, als sie ihn anlässlich einer Abendgesellschaft einmal öffentlich zeigt. Noch größer ist die Aufregung freilich, als der kostbare Stein kurz darauf spurlos verschwunden ist. Dieses Ereignis überschattet für Magda Mehrhofer, die junge Gesellschafterin von Frau von Güssow, ein anderes: die Begegnung mit Eberhard Güssow an diesem Abend, dem "Amerikaner" der Familie, der lange Jahre in den USA zugebracht hat und nun zur Familie zurückgekehrt ist. Er entfaltet bald eine rege Geschäftigkeit ... Doch der Kohinor bleibt verschwunden. Der geheimnisvolle Privatdetektiv Züllner, ein zwergenhaft kleiner und außerordentlich hässlicher Mann, wird beauftragt, nach dem Dieb des Steines zu suchen. Zunehmend gerät ausgerechnet Magda Mehrhofer unter Verdacht ...-

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Otto von Gottberg

Der verschwundene Kohinoor

Saga

Der verschwundene Kohinoor

Copyright © 1917, 2018 Otto von Gottberg und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711529959

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Pårlamentarier

sucht Heirat mit sehr schönem

und, gebildetem jungen

Mädchen. Zuschriften an

„X. Y. Z. 111“ Expedition.

Wie war es möglich? Aber lachen musste Magda Mehrhofer doch! Eine volle halbe Seite füllte die Anzeige und konnte keines Lesers Auge entgehen. Also hatte auch Frau von Güssow - den komischen Schrei nach der Frau vernommen und wohl darum das Blatt heute morgen vom Frühstückstisch sofort in ihr Wohnzimmer getragen. Pflegte sie doch auch Zeitungen mit Berichten von Mord oder Liebesirrung vor ihrer Gesellschafterin zu verstecken. Das Recht dazu gab ihr der Anstellungsvertrag, in dem vor drei Jahren abgemacht war, sie dürfe und müsse Magda wie ihr eigen Kind behandeln. Darum sprach sie auch von Taschengeld statt Monatsgehalt, und ein Taschengeld schien es wirklich, da die alte Dame Magda gewissenhaft jede Ausgabe für Kleidung und Tagesbedarf ersetzte. Immerhin hätte eine Mutter das Leben eines dreiundzwanzigjährigen jungen Mädchens wohl mit weniger strenger Hand geregelt. Wem konnte es schaden, die Anzeige zu lesen?

Wahrscheinlich gingen dem Parlamentarier viele Antworten zu. Vielleicht sass er morgen oder übermorgen, am Montag, vor Körben mit Briefen gefüllt. Hunderttausende lasen doch die Anzeige. Darunter gab es gewiss manch Mädchen, das so selten wie sie mit Männern zusammenkam. Wenn Frau von Güssow Herrenbesuch empfing, musste Magda gemeinhin in ihrem Zimmer bleiben. Kamen Verwandte der Herrin zu Tisch, dann wies sie der Gesellschafterin einen Platz zwischen den Damen an.

Auch heute abend sass sie nur zum Ausgang mit der alten Dame angezogen, weil deren Bruder, Herr von Güssow-Kolzin, mittags beim Einladen gesagt hatte: „Dass du mir Perlchen — es ist wirklich deine Perle — mitbringst. Das hübsche Dingchen soll auch ein Vergnügen haben.“

Aus dem Nebenzimmer hatte sie den entrüsteten Protest der Frau von Güssow und dann des alten Herrn Lachen gehört: „Lottchen, ich lade dich wieder aus, wenn du sie nicht mitbringst. Die Vettern sollen was Schönes sehen!“

Oft nannte er sie schön. Dann zwinkerten seine immer lachenden blauen Augen unter den weissen Haaren noch jugendlich wünschend. Magda stand vom Stuhl auf und trat vor den Spiegel. Durch die Lichterkrone erhellt hing er zwischen den beiden Fenstern des Wohngemachs mit den altfränkisch schweren Möbeln.

Durfte der alte Herr von Güssow sie schön nennen? Ihr Gesicht war nicht übel und noch weniger die Gestalt, obwohl ihr verboten war, sich modisch zu kleiden. Frau von Güssow kaufte ihr gute und keineswegs wohlfeile Kleider, aber stets von einem Schnitt, der vor Jahren Brauch war. Sie meinte, ein junges Mädchen dürfe nicht auffallen. Darum lag der Rock des schwarzen Jackenkleides eng um Hüften und Glieder bis zu den Fussspitzen, während andere Damen in kurzen weiten Röcken gingen.

Magda lachte. Frau von Güssow hatte sich verrechnet. Das Kostüm fiel auf, oder richtiger, es gefiel. Wie oft ein Unbekannter auf der Strasse hatte auch Herr von Güssow es heute mit anerkennendem Blick betrachtet und dann gescherzt: „Perlchen, mit der Figur bliebe auch ich bei der alten Mode.“ Seine Schwester schien darum zu zürnen und schlug ihm gar auf den gern neckenden Mund unter noch flottem weissem Schnurrbart, als er weitersprach: „Die weiten Röcke sind übrigens ein Hindernis in der Bahn, auf der ihr um den Mann rennt. Er weiss nicht, was darunter steckt, und wartet lieber die nächste enge Mode ab. Ehe ich die Katze im Sack kaufe . . .“

Da eben hatte sich die Hand der auch schon weisshaarigen Schwester auf seinen Schnurrbart gelegt, aber des alten Herrn lustige Augen sagten mit neuem Blick auf das schwarze Kleid: Sehr schön, sehr schön, Perlchen! —

Magda sass wartend wieder im Stuhl am Tisch nieder. Schön war sie also! Jung durfte sie sich auch nennen und nicht minder gebildet als Tochter des vor fünf Jahren verstorbenen, aber noch immer gerühmten Zoologen Mehrhofer. Mehr forderte der Parlamentarier nicht. Nochmals griff sie nach der Zeitung.

Da trat Frau von Güssow ein. Ihr Blick, der jedes Stäubchen in der grossen Wohnung fand, fiel auf das fast unbedruckte Weiss der halben Zeitungsseite. Steif aufgerichtet blieb sie stehen und zürnte:

„Aber, Magda.“

Sonst sagte sie Magdelchen. Also wollte sie tadeln. Selten geschah es nicht. Ihre Gewissenhaftigkeit war eine kleinlich-peinlich die Form wahrende. Die Grenze zwischen Gut und Böse wollte sie nie um Haaresbreite überschritten wissen. Doch mit unbefangener Fröhlichkeit war ihre Strenge oft zu entwaffnen. Magda lachte:

„Ach, gnädigste Tante, das Blatt lag vor mir und muss doch auffallen!“

„Aber lesen darf es ein junges Mädchen in gutem Hause nicht. Setzen Sie sich, Magda.“

Schon holte sie Atem zu einer der Strafpredigten, denen stets Belehrung über die Pflichten eines jungen Mädchens in gutem Hause folgte. Sie liess sich Zeit zu beginnen, weil das Predigen ihr Vergnügen machte. Den Hut auf dem Kopf sass sie nach einem Blick auf die Schreibtischuhr gemächlich im Sofa nieder. Harte Strenge sprach aus den blauen Augen, die nie in des Bruders Frohsinn lachten. Gegen die schmale lange Nase, geschult, jedes Stäubchen in der Wohnung von weitem zu riechen, hob sich der Mund, dessen Winkel Aerger, Zorn oder Kummer stets nach unten zogen. Mürrisch grollten schmale Lippen, die wohl nie oder selten geküsst hatten.

„Bauen Sie keine Luftschlösser, Magda! Männer, die durch die Zeitung freien, suchen Geld, und je grösser die Anzeige, desto mehr. Mindestens wollen sie ihre Kosten wieder einbringen, und es heisst, dass die Blätter für eine Seite zwischen fünfhundert und tausend Mark nehmen. Wollen Sie das bezahlen?“

Magda konnte lachen:

„Ach nein, gnädige Tante. Ich denke nicht daran.“

„Na also,“ nickte Frau von Güssow. Weitersprechend kam sie auf die Einladung des Abends:

„Dass Sie die Anzeige lasen, zeigt, wie recht ich hatte, als ich Sie nicht mitnehmen wollte. Aber mein Bruder muss seinen Willen haben, obwohl er vom Leben nichts oder leider zu viel versteht. Trauen Sie seinen Schmeicheleien nicht! Verlass war nie auf ihn, und unpünktlich ist er schon wieder. Die Uhr zeigt zwanzig Minuten vor acht, und um halb wollte er kommen. Das freilich mag hingehen, denn bessern will und kann ich ihn nicht mehr. Sie hörten mich ihm auch heute wieder sagen: ‚’Ran kommst du bald mit deiner Gicht und dem Rotweintrinken, aber rein nie, weil du dich unterwegs vertrödelst.‘ Was oben sonst noch gegen ihn sprechen wird, geht ein junges Mädchen in gutem Hause nichts an, aber passen Sie auf, dass er Sie nicht neben einen der jüngeren Vettern setzt. Allenfalls nehmen Sie neben dem Reichstagsabgeordneten oder dem Amerikaner Güssow Platz. Das sind Vierziger, und ein junges Mädchen guten Hauses mag von solchen Süsses nicht hören. Doch da geht die Klingel.“

Die alte Dame stand auf und begrüsste den ins Zimmer tretenden Bruder. Er war nicht für Handküssen. Darum hielt sie ihm die knochig hageren Finger so dicht vor den Mund, dass er sie wohl oder übel mit dem Schnurrbart streifen musste. Seine fröhlichen blauen Augen zwinkerten Magda zu:

„Lottchen, wenn du sowas Hübsches neben dir hast, küsse ich sie gern . . . deine Finger!“

Die Spitze ihres Munddreiecks näherte sich der Nase. Die Winkel sanken. Die Stimme kam fast männlich hart und streng über die schmalen Lippen:

„Bernhard! Er lässt dich auch nicht rein, wenn du dich zum erstenmal in deinem Leben nicht vertrödeln solltest!“

Güssow-Kolzin hielt schon Magdas Hand und drückte ihre Finger. Stets tat ihm leid, dass das hübsche, nein schöne Dingchen seine Jugend bei der engherzigen Schwester vertrauern musste. Doch er mahnte zum Aufbruch. Das Automobil warte, und ein zweites sei kaum zu erwischen.

Während der Fahrt zur Leipziger Strasse unterhielt er mehr sich als die alte Dame mit Nadelstichen:

„Die anderen Verwandten habe ich erst zu Achteinviertel bestellt. Aber da ich weiss, dass du immer spät kommst, Lottchen, meldete ich mich bei dir früher an.“

Sogar durch das Dunkel im Wagen sah er der Schwester hagere, hohe Gestalt in Entrüstung beben. Sie rühmte sich mit Recht, in sechsundsechzig Lebensjahren wie keine Pflicht auch nie eine Sekunde festgesetzter Stunden versäumt zu haben. —

Als die drei im Vorraum des Restaurants Traube die Ueberkleider abgelegt hatten, führte sie der Geschäftsführer zum Tisch im Mittelraum. In einer auf drei Seiten holzumwandeten Nische war für zehn Personen gedeckt. Das eine schmale Ende des Tisches stand vor der Mauer, das andere an der offenen Seite des Zimmerchens.

„Du sitzt wohl oben mit dem Rücken gegen die Wand, Lottchen, — nicht gerade als Mauerblümchen, aber als Aelteste.“

Das „Aelteste“ betonte er und sah schmunzelnd die Spitze des Munddreiecks wieder gegen der Schwester schmale Nase steigen. Obwohl ein Jahr jünger als er, war sie zeitlebens eine unnachsichtige Hofmeisterin auch für ihn gewesen. Dafür rächte er sich gern und neckte niemand lieber als sie. Tatsächlich war sie auch älter als Frau von Lindberg geborene Güssow, die mit ihrem Mann, dem Geheimrat, kommen sollte. Zur Linken der Schwester nahm er Platz. Sie wusste, warum. Auf dem rechten Ohr stocktaub, hörte er dann nicht, wenn sie sprach. Also musste sie sich Unterhaltung sichern und entschied:

„Der Stuhl zu meiner Rechten bleibt für Lindberg frei!“

Ihre schmale knochige Hand legte sie neben sich auf das Tischtuch, als habe sie den Platz gegen Einspruch des Bruders zu verteidigen. Güssow-Kolzin schien einverstanden. Doch ein junges Gesicht wollte er neben sich sehen und winkte Magda:

„Perlchen, an meine grüne Seite!“

In der Schwester Augen funkelte der ihm seit der Knabenzeit bekannte strenge Blick:

„Magda sitzt unten.“

Der Blick war auch Perlchen nicht fremd. Verlegen, aber gehorsam setzte sie sich an des Tisches unteres Ende. Womit hatte sie neue Ungnade der alten Dame verdient? Aber mit vier Güssows auf jeder Tischseite zwischen ihr und der gnädigen Tante — so musste ein junges Mädchen in gutem Hause sagen — konnte der Abend trotzdem fröhlich werden. Alle Güssows waren lustig, und die Herren meist nach dem Kolziner geartet. Bekannte lachten schon vergnügt, obwohl stets auch achtungsvoll, wenn er in ein Zimmer trat und ihnen nach Gewohnheit die Hand bis zum Schmerzen quetschte. Jetzt nahm er die Speisenkarte und sprach mit dem Kellner. Magda sah nach rechts den Mittelgang des Raumes entlang. Drei Stufen führten aus dem Zimmer längs der Strasse hinauf. Ueber sie tauchten Besucher aus der Tiefe wie aus halber Vergessenheit auf. So kamen jetzt die lange nicht gesehenen Lindbergs. Wie alle Güssows in Berlin gingen auch sie der Aeltessen der Familie gern aus dem Weg.

Das Paar begrüsste die Geschwister und gab freundliche Worte auch der Gesellschafterin.

„Reizend sieht Magda wieder aus,“ meinte Frau von Lindberg. Sie wollte sich nicht zu ihrem Mann, sondern neben den Kolziner setzen. Doch der alte Herr hielt die Hand auf den Stuhl:

„Bleib’ drüben, Kusinchen, damit ich dir ins Gesicht sehen kann. Hier sitzt Adelheid.“

Aus dem Gesicht seiner Schwester sprach wieder Entrüstung. Adelheid, die Schwester des Jägers, war nett und neunzehnjährig. Der Geheimrat erklärte sich bereit neben seiner Frau zu sitzen und fragte den Kolziner, ob er schon Essen bestellt habe. Da kamen, begleitet vom Artilleriehauptmann von Güssow, der Jäger und Adelheid — auch Geschwister. Der Oberleutnant im grünen Rock trug den linken Arm in der Binde. Der Artillerist ging am Stock. Die älteren Verwandten erkundigten sich nach dem Ergehen der Verwundeten. Die Vettern versicherten, dass sie wieder leidlich bei Wege seien, und sassen nieder, der Artillerist bei der Kusine Adelheid, während der Jäger nach dem Stuhl neben Magda griff. Doch Frau von Güssow zürnte vom oberen Ende des Tisches:

„Joachim, du vergisst, dass der Platz neben Tante Lindberg frei ist!“

Joachim blickte verblüfft. Wer mit zerschossenem Arm aus dem Lazarett kam, hatte das Recht, sich von der Seite einer sechzigjährigen Tante zu beurlauben, um aus nächster Nähe in Perlchens goldbraune Augen zu blicken. Aber mit Tante Lotte war nicht zu rechten. Als einzige Erbtante der Familie schulmeisterte sie jeden Güssow. Er beschied sich mit dem Platz neben Frau von Lindberg. Der Kolziner lachte:

„Seh’ mir einer den Jungen an. Wenn du draussen nicht tapferer bist . . .“

Doch alle männlichen Verwandten standen von ihren Stühlen auf. An den Tisch traten zwei Vettern in mittleren Jahren, ähnlich von Gestalt wie Gesicht. Der Reichstagsabgeordnete Karl von Güssow, mit kaum ergrauendem kurzem Schnurrbart, deutete auf seinen glattrasierten Bruder Eberhard: „Hier bringe ich ihn!“

Also das war der Amerikaner! Nicht übel und ganz wie andere Güssows sah er aus, obwohl er vor zwanzig Jahren nach Amerika gegangen war, — um die Ecke, hinter der leichtlebige junge Offiziere verschwanden. Bei Kriegsausbruch hatte er sich nach Deutschland durchgeschlagen und als sechsundvierzigjähriger Leutnant einen Zug geführt, bis ihn ein Kopfschuss traf. Im dunkelblonden Haar sass noch ein kleines Pflaster, aber der Genesende konnte Dienst im Bekleidungsamt des Gardekorps tun. Als der Kolziner während kurzen Aufenthalts in Berlin davon hörte, hatte er das Zusammenkommen der Verwandten angeregt und zu Tisch geladen. Es freute ihn, dass der für die Familie verschollene Träger ihres Namens auch in der Fremde den, Ruf zu den Waffen nicht überhört hatte. Als Aeltester wollte er ihn willkommen heissen:

„’Ran mit dir, Eberhard! Schlängle dich zu mir durch und höre, wer wir sind.“

Das Schlängeln schien nicht nötig, denn die Figur Eberhards war wie die seines Bruders so schlank, dass der schwarze Morgenrock um die Hüften eines Jünglings zu liegen schien. Aus noch ungefurchtem, aber gebräuntem Gesicht blickten die blauen Augen der Güssows, mit einem befremdenden Ernst, der vielleicht von bitterem Erleben oder auch nur von Zurückhaltung sprach. Ohne zu lächeln nahm er die ihm gebotene Hand des kleineren rundlichen Kolziners mit der Frage:

„Onkel Bernhard?“

„Richtig geraten! Doch um mit der Hauptsache zu beginnen“ — des Alten Augen zwinkerten listig — „hier ist deine liebe Tante Lottchen.“

Einen Stoss von harten, knochigen Fingern fühlte der Vetter, als er die Lippen gegen die Hand der Tante beugte. Aerger über des Bruders Worte hatte ihre Gebärde überhastet. Um den Tisch gehend, begrüsste Eberhard den Geheimrat, Frau von Lindberg und Joachim, den Oberleutnant von den Jägern. Dann warf er vor Magdas Gesicht mit den bernsteinfarbenen Augen unter rotbraunem Haar in so wahrnehmbarer Ueberraschung den Kopf zurück, dass des Kolziners Lachen dröhnte:

„Um den Geschmack scheinst du drüben nicht gekommen zu sein.“

Der Amerikaner gefiel ihm. Ehe er ihm die Verwandten auf der anderen Seite des Tisches vorstellte, musste er fragen:

„Was bist du eigentlich drüben?“

„Apotheker,“ sagte Eberhard kurz, laut und vernehmlich. Wie vorher blickte unbefangener Ernst aus seinen blauen Augen, die doch sahen, dass die Verwandten ihre Köpfe plötzlich gegen die Teller neigten.

Auch den alten Kolziner überraschte die Antwort, aber sie nahm ihm nichts von der Freude am Neffen. Eberhard hatte etwas gelernt, und war es auch nur Pillendrehen. Uebrigens trug er jetzt wieder den bunten Rock. Warum kam er nicht in Uniform?

Eberhard war von Magda die rechte Seite des Tisches hinaufgegangen. Nachdem er Fritz, den Artilleristen, und Adelheid, die Schwester des Jägers, begrüsst hatte, stand er wieder vor dem Alten und hörte ihn fragen:

„Warum trägst du Zivil?“

Wieder antwortete zunächst der kühle, ernste Blick und dann die selbstbewusst ruhige Stimme:

„Wer in die Uniform gehört, soll sie anlegen, Onkel Bernhard. Wer sie nur für Zeit trägt, um seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun, hängt sie nach dem Dienst besser in den Schrank!“

Der Kolziner nickte, denn er war auch aktiv und Anno siebzig von der Partie gewesen. Fritz, der Artilleriehauptmann, legte von hinten die Hand mit leichtem Klopfen um des fremden Vetters Schulter. Eberhard spürte in der alten Heimat die erste verwandtschaftliche Geste.

Der Alte war noch nicht fertig:

„Jetzt weisst du, wie wir heissen. Dich nennen wir den Amerikaner.“

Ohne Lächeln sah Eberhard ihm in die Augen wie vorher: „Bitte nicht, Onkel Bernhard. Warum soll ich als Amerikaner gelten? Ich habe mich immer Deutscher gefühlt wie genannt und nie verstanden, warum Landsleute nach ein paar Jahren in China oder Afrika plötzlich zu ‚alten Chinesen‘ oder ‚Afrikanern‘ werden. Wer deutsch fühlt, muss das als Kränkung empfinden.“

Güssow-Kolzin fand nicht den Scherz, der ihm sonst stets über die Lippen kam. Ueberrascht verbeugte er sich sogar leicht. Ihm war, als habe er eine verdiente Belehrung empfangen, und dann schien es unbehaglich, dass er den Neffen an das untere Ende des Tisches weisen musste. Er entschuldigte sich:

„Wir sitzen, wie wir kamen. Ich als erster am Platz erfreue mich der Ehre, Tante Lottchen neben mir zu haben. Trotzdem“ — er konnte lachend wieder mit den Augen zwinkern und hob flüsternd den weissen Schnurrbart gegen des Neffen Ohr — „gönne ich dir deine Nachbarin.“

Eberhard ging um den Tisch auf seinen Platz. Dabei suchte der Blick die hellbraunen Augen der Nachbarin. Niedersitzend beugte er sich gegen sie:

„Sie sind, wie ich hörte, keine Güssow, gnädiges Fräulein. Darf ich fragen, welche Verwandtschaft uns die Freude Ihrer Gesellschaft verschafft?“

Sie lachte vergnügt. Des Zufalls Gunst schien ihr den besten Platz geschenkt zu haben. Der Reichstagsabgeordnete, ihr rechter Nachbar, verstand gut zu unterhalten und pflegte ihr den Hof zu machen. Zu ihrer Linken aber sass der ohne Zweifel interessanteste der Güssows. Nicht ernst wie vorher, sondern heiter blickte er, während sie antwortete:

„Gar keine Verwandtschaft. Ich bin nur die Gesellschafterin Ihrer Frau Tante!“

Sie hob die Augen zur alten Dame am oberen Ende des Tisches und sah den Barometer ihrer Mundwinkel fallen. Streng und vorwurfsvoll blickte Frau von Güssow zurück. Vielleicht war ihr nicht entgangen, dass sie an dem Amerikaner Gefallen fand. Er sah gut aus, schien jünger als seine Jahre und ungemein liebenswürdig. Wieder konnte er lachen, als er fragte: „Warum nur Gesellschafterin, gnädiges Fräulein? Hätte ich sagen sollen: nur Apotheker?“

„Ach nein, Herr von Güssow! Das meinte ich nicht.“ Sie war verlegen.

Der Reichstagsabgeordnete glaubte den seit zwanzig Jahren fast vergessenen Bruder rühmen und Magdas Aufmerksamkeit auf sich lenken zu müssen:

„Perlchen, eine grosse Apotheke ist nicht übel.“

Eberhards Blick war wieder ernst, fast abweisend. Der Reichstagsabgeordnete verstummte. Magda war es heute peinlich, dass er sie nach dem Brauch der Güssowschen Familie Perlchen genannt hatte. Ein Recht auf den Namen hatte überhaupt nur der alte Kolziner, der jetzt die hohle Hand an den Mund setzte und in seiner derben Art ein Signal blies, das wohl „Futtern“ heissen sollte. Zwei Kellner setzten Austernschüsseln auf den Tisch. Zur Gabel greifend rief der alte Herr launig:

„Wer wird eine Perle finden?“

Seine lustigen Augen zwinkerten von Eberhard zu Magda, die sich erröten fühlte. Vom anderen Ende des Tisches glaubte die gnädige Tante mit strenger Stimme den Scherz seiner Bedeutung entkleiden zu müssen:

„Vorkommen soll es, aber ich habe es noch nicht erlebt!“

Der Kolziner nickte:

„Glaube ich, Lottchen. Du schluckst sie schnell ’runter, damit du genug kriegst. Kauen muss die Auster, wer Perlen finden will.“

Sie drehte ihm die linke Schulter zu und das Gesicht zur Kusine Lindberg:

„Er wird immer schlimmer. Wer mit ihm ausgeht, bereut es!“

Eberhard hatte zugehört. Auch er pflegte Austern zu verschlucken oder zu trinken. Heute wollte er sie kauen. Während er die erste auf die Gabel nahm, sah er den Bruder wieder auf Fräulein Mehrhofer einsprechen. Schon früher hatte Karl als Damenmann gegolten. Kein Wunder, dass er das fröhliche Lachen des hübschen jungen Mädchens weckte. Nein, nicht hübsch, sondern wirklich schön war der Tante Gesellschafterin mit den schmalen Wangen, unter deren feiner Haut gesundes junges Blut nach aussen drängte. Ihre schlanke Figur musste fast von der Höhe der eigenen sein. —