Der verschwundene Prinz - Ingeborg Menge - E-Book

Der verschwundene Prinz E-Book

Ingeborg Menge

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Beschreibung

Prinz Richard ist jung, ehrgeizig und voller hochtrabender Pläne. Doch die Wirklichkeit hält für ihn nur den Platz eines machtlosen zweiten Sohnes bereit. Trotzdem gelingt es ihm mit der Hilfe seiner Anhänger, seinen Bruder Philipp zu stürzen und König zu werden. Aber so einfach, wie er gedacht hatte, ist es nicht ein Reich zu regieren. Am Ende verliert er alles und findet sich in der Verbannung wieder. Auf sich allein gestellt, liegt ein schmerzhafter, aber heilsamer Weg vor ihm.

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Geschichten gehören seit meiner Kindheit zu meinem Leben wie die Luft zum Atmen. Oft denke ich mir welche aus und vergesse sie bald wieder. Doch manche Geschichten verdienen mehr. Deswegen habe ich vor über 25 Jahren angefangen sie aufzuschreiben.

Mein Leben drehte sich jedoch nicht hauptsächlich ums Geschichtenerzählen, sondern ich arbeitete mit Freude zwischen Bits und Bytes.

Ermutigt durch Freunde und Kollegen liegt nun die dritte Geschichte als Buch vor und verzaubert hoffentlich auch Ihren Alltag.

Für Bernhard

Bisher erschienen:

Der Ring des HerzogsISBN: 978-3-7526-0829-8

Das verborgene TalISBN: 978-3-7557-1440-8

Inhalt

1. Ein unmöglicher König

2. Das Attentat

3. Eine neue Ära

4. Ein schwieriges Jahr

5. Der Überfall

6. Verbannt

7. Burg Faltenberg

8. Prüfungen auf Schloss Eichenstein

9. Der Fechtmeister

10. Unter Söldnern

11. Die Reise nach Etichon

12. Eine unerwartete Begegnung

13. Dem Tod entronnen

14. Aufbruch

15. An der Grenze

16. Die Reise in die Berge

17. In Rolandsreut

18. Zurück in Etichon

19. Carolas Geburtstag

20. Die Kaufmannsfrau

21. Frühling in Etichon

22. Eine schwere Entscheidung

23. Familienleben

24. Der Graf von Halfeld

25. Der Viehmarkt

26. Ein bitterer Rückschlag

27. Ein arbeitsreicher Sommer

28. Gottfried von Tellheim

29. Der Eid

30. Ein Räuberstück mit Folgen

31. Die Einladung

32. Das neue Gutshaus

1. Ein unmöglicher König

„Wir haben eine Einladung zu Philipps Geburtstagsfeier bekommen“, begrüßte Sophie von Aldenaar ihren Sohn, der nach einem Ausritt in ihren Salon zurückkehrte.

„So“, war seine kurzangebundene Antwort.

Richard sah überhaupt keinen Grund, seinen Bruder, der ihn vor über einem Jahr nach Schloss Halfeld verbannt hatte, zu besuchen. Er konnte Philipp nicht ausstehen. Philipp war dick, hässlich und ungeschickt. Richard war ihm in der Ausübung aller Waffenformen weit überlegen. Er wäre sicher der würdigere König, aber es war Philipp, der nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters gekrönt worden war.

„Dann ignorieren wir die Einladung“, knurrte Richard und ließ sich in einen der Sessel fallen.

„Nein, das werden wir natürlich nicht tun. Willst du auf Halfeld versauern?“, entgegnete seine Mutter.

„König Philipp zu beobachten, wie er das Haus Aldenaar der Lächerlichkeit preisgibt? Da bleibe ich lieber hier.“

„Wenn wir etwas dagegen unternehmen wollen, dann können wir es nur in Cyni, aber nicht hier. Ich werde mir die Gelegenheit jedenfalls nicht entgehen lassen.“

„Was sollen wir denn unternehmen?“

„Nun, ich möchte schon wissen, wie die Fürsten zu Philipp stehen und die anderen mächtigen Männer unseres Reiches. Ich könnte mir vorstellen, dass sich eine Allianz gegen Philipp finden lässt. Ich habe Kontakte.“

„Ich kann Philipp herausfordern und besiegen“, befand Richard und streckte sich.

Sophie lachte: „Nein, so geht es nicht. Es gibt auch andere Wege als den offenen Kampf.“

Sophie liebte ihren Sohn abgöttisch, sie würde alles dafür tun, ihn als König zu sehen, aber manchmal erschien er ihr doch sehr naiv. Nun, er war 18 Jahre alt und hatte diese 18 Lebensjahre wohlbehütet und geliebt im Kreise seiner Familie verbracht. Nur der plötzliche Tod seines Vaters und die darauffolgende Krönung Philipps hatten einen ersten Einschnitt in sein bis dahin wunschgemäß verlaufenes Leben gebracht.

Halfeld war eigentlich ein bezauberndes Schloss. Der letzte Graf von Halfeld war vor ein paar Jahren gestorben und seither war es verwaist gewesen. Es war trotzdem in gutem baulichem Zustand, auch wenn man ihm an der einen oder anderen Ecke ansah, dass sich seit dem Tod des Grafen keiner mehr darum gekümmert hatte. Denn auch Richard und seine Mutter kümmerte das Schloss nicht. Es war eben nicht das Königsschloss bei Cyni, in dem Richard aufgewachsen war. Deswegen mochte er es nicht und fand immer etwas an seinem Leben hier auszusetzten.

Sein Vater hätte sicher einen Weg gefunden, dies alles zu verhindern, aber er war nun einmal tot und konnte nicht mehr helfen. Richard wusste, wie sehr sein Vater unter den Unzulänglichkeiten Philipps gelitten hatte. Zwar hatte er nie ein Wort gesagt, aber wie oft waren sie von Turnieren vorzeitig abgereist, nachdem sich Philipp bei einem Wettkampf wieder bis auf die Knochen blamiert hatte. Philipp war im Ausland aufgewachsen auf Schloss Eichenstein. Dort sollte er als Kronprinz erzogen werden, aber leider ohne großen Erfolg. Richard hingegen, groß gewachsen und schlank, war ein ausgezeichneter Kämpfer und hervorragender Reiter. Schon mit 14 Jahren hatte er seinen über vier Jahre älteren Bruder besiegen können. Diesen Tag würde er nie vergessen.

Die Adligen des Reiches achteten Prinz Richard und er hatte schon oft mit seinem Vater an den Beratungen mit den Fürsten teilgenommen und wäre bereit, den Thron zum Wohle des Reiches zu besteigen, aber das Schicksal hatte es anders gewollt.

Sophie verfügte, dass sie rechtzeitig aufbrachen, um einen Tag vor dem geplanten Fest das Königsschloss zu erreichen. Ein Radbruch verhinderte dies jedoch, sodass sie erst am Abend des Festes ankamen und sich nur noch schnell umkleiden konnten. Sophie und Richard bezogen ihre alten Zimmer wieder und Richard fühlte sich sofort wohl. Hier gehörte er her und nicht nach Halfeld.

Als sie den Saal betraten, wurden sie von dem feisten Philipp begrüßt: „Willkommen, Frau Mutter.“

Richard empfand seinen Bruder als genauso unangenehm wie immer, seiner Mutter erging es wohl nicht anders: „Mein lieber Sohn, es kommt mir so vor, als wärest du noch dicker als früher.“

Philipp antwortete darauf nicht, er wandte sich direkt an Richard: „Willkommen, Richard, es freut mich, dass Ihr mich auf meinem Schloss besucht.“

„Es ist unsere Heimat, das weißt du genau“, antwortete Richards Mutter, bevor Richard etwas entgegnen konnte, was ihn verdross.

„Es war eure Heimat, ja, ich weiß, aber nun ist es die meine“, erwiderte Philipp wie ein trotziges Kind.

Philipps Blick wurde von neuen Gästen abgelenkt. Etwas mehr Aufmerksamkeit hätte sich Richard schon gewünscht.

„Verzeiht, aber gerade kommen die nächsten Gäste“, redete sich Philipp heraus und wandte sich anschließend einem Lakaien zu: „Bitte, geleitet Prinz Richard und seine Mutter zu ihren Plätzen.“

Philipp ließ die beiden stehen und ging auf die Neuankömmlinge zu, die gerade den Saal betreten hatten. Richard kochte innerlich, was für eine Frechheit, sie so stehen zu lassen vor all den anderen Gästen.

Seine Mutter aber begann zu lächeln, denn sie hatte Leopold von Traub entdeckt, den alten Freund ihres verstorbenen Mannes. Leopold war immer noch ein gutaussehender Mann und er strahlte im Gegensatz zum König würdevolle Eleganz aus. Sophie ging auf ihn zu und Richard trottete hinterher, denn er wollte nicht allein herumstehen.

„Willkommen, Eure Hoheit, wie schön, Euch hier auf dem Schloss zu sehen.“ Leopold schien wirklich erfreut. „Willkommen, Prinz Richard, Eure Hoheit schaut ja noch besser aus als das letzte Mal. Das Landleben scheint Eurer Hoheit zuzusagen“, begrüßte Leopold auch Richard.

„Oh, nein, das tut es sicher nicht! Ich vermisse das Schloss und seine Bewohner“, seufzte Richard wahrheitsgemäß.

Leopold blickte zu Sophie, als er Richard antwortete: „Wir vermissen Eure Hoheit auch.“

König Philipp hatte viele Adlige seines Reiches eingeladen. Auch zwei Fürsten waren darunter, der Graf von Lyenne und der Herzog von Premlau. Doch anstatt sich um diese wichtigen Männer zu kümmern, scharwenzelte er um die Tochter des Grafen von Reifenstein herum, stellte Richard unglücklich fest. ‚Was will er bloß mit dieser Landpomeranze?‘, fragte er sich.

Der Graf von Lyenne wirkte ebenfalls unzufrieden, und dass König Philipp einmal mit seiner Schwester getanzt hatte, änderte daran nichts.

„Eure Hoheit, es ist schön, Euch zu sehen“, begrüßte der Graf von Lyenne Richard, der sich zu ihm gesellt hatte und ebenfalls die Tänzer beobachtete.

„Ganz meinerseits, lieber Graf“, antworte Richard mit einem Lächeln.

„Ich weiß, Ihr seid ein vorzüglicher Tänzer, es wundert mich, dass ich Euch noch nicht tanzen gesehen habe“, setzte der Graf das Gespräch fort.

„Ehrlich gesagt, der Anblick meines tanzenden Bruders verleidet es mir.“

„Ich verstehe, das Geburtstagskind gibt sich alle Mühe. Meine Schwester fand es angenehmer, mit ihm zu tanzen, als sie gedacht hatte, aber ihr jetziger Tanzpartner gefällt ihr besser. Außerdem ist sie es nicht gewohnt, sich hinter Agnes von Reifenstein anstellen zu müssen.“

„Nun, den Gästen Ehre zu erweisen, die es verdient haben, damit zeichnet sich Philipp heute nicht aus“, seufzte Richard.

Die beiden beobachteten eine Weile den König, der erneut mit Agnes tanzte.

„Ja, er müht sich. Ich denke, da habt Ihr recht“, bestätigte Richard und sah den Grafen unglücklich an. Der schien zu verstehen, was Richard damit sagen wollte.

Die beiden schüttelten ihre Köpfe, als sich ihr König mit puterrotem Gesicht und schweißnassem Haar auf einen Stuhl plumpsen ließ, um sich vom Tanz zu erholen. Auch der Kleidung sah man an, dass der König über die Maßen schwitzte.

„Man kann nichts Böses über König Philipp sagen“, versuchte der Graf seine Äußerung abzumildern.

„Kennt Ihr ihn denn näher?“, fragte Richard, um das Gespräch fortzusetzen.

„Nein, eigentlich nicht. Seit der Krönung sind wir Fürsten nicht mehr zusammengekommen. Doch was ich bisher über ihn gehört habe, lässt nichts Gutes hoffen. Unser Reich ist kleiner als die der Nachbarn, nur unser stolzes Königshaus hat bisher unsere Unabhängigkeit bewahrt.“

„Ja, ich weiß. Es war meinem Vater immer wichtig.“

„Der einzige Glanz, den es heute ausstrahlt, ist der Schweiß im Gesicht des Königs“, stellte der Graf mit betrübter Miene fest.

Der Gedanke gefiel Richard und er musste lachen. Der Graf von Lyenne fiel in sein Lachen ein.

„Man kann kaum glauben, dass König Philipp der Sohn von Adelheid von Aldenaar ist“, nahm der Graf das Gespräch nach einer Weile wieder auf.

Adelheid, die erste Frau von König Alexander, war eine Königstochter gewesen. Eine schöne und gebildete Frau, die nicht nur die Liebe zum Reiten mit dem König teilte. Ihr Ansehen war so hoch, dass es bis heute anhielt, obwohl sie schon vor Richards Geburt verstorben war.

„Doch, das ist er. Edles Blut fließt durch seine Adern und er ist gebildet genug, um das Reich zu führen“, mischte sich der Herzog von Premlau in das Gespräch ein. Er hatte einen Tanz beendet und sich zu den beiden begeben. „Ich habe Adelheid von Aldenaar gekannt und es ist ein Jammer, dass sie so früh verstarb. Doch ich bin mir sicher, König Philipp wird seiner Aufgabe gerecht.“

„Was macht Euch denn so sicher? Seine Abstammung?“, fragte Richard, denn das war ein wunder Punkt. Seine Mutter konnte keine so großartige Abstammung vorweisen. Was sie schon oft geärgert hatte.

„Das wäre naiv. Nein, er hat das Volk schon für sich eingenommen.“

„Das Volk, und? Das Volk läuft jedem Herrscher nach“, winkte Richard abfällig ab. „Doch was ist mit den Fürsten und dem Adel? Hat er Euch heute mehr als nur begrüßt?“, fragte Richard nach.

„Das hat er nicht“, musste der Herzog zugeben, „aber es ist ja noch Zeit.“

„Etwas mehr Glanz würde unserem Königshaus gut anstehen“, warf der Graf ein und sah Richard an. Beide mussten schmunzeln.

„Noch ist König Philipps Herrschaft jung. Was fehlt, wird schon noch werden“, blieb der Herzog bei seiner Meinung.

Doch Richard war aufgrund der letzten Bemerkung klargeworden, dass auch der Herzog von Premlau mit Philipps Regentschaft nicht wirklich zufrieden war und auch mit seinem Verhalten an diesem Abend, da er doch der wichtigste Gast aufgrund seines Ranges war. Dennoch schien er bereit zu sein, väterliche Nachsicht zu üben. Wahrscheinlich auch nur, weil er Philipps verstorbene Mutter sehr geachtet hatte.

Andererseits konnten Sophie und Richard ihre Freundschaften aufgrund von Philipps Nachlässigkeit erneuern oder vertiefen und es war trotz oder gerade wegen Philipps Ignoranz ein schöner, erfolgreicher Abend für die beiden.

Eigentlich hätten Sophie und Richard sofort nach dem Fest abreisen können, doch da Philipp sie nicht drängte, blieben sie einfach.

Von Leopold erfuhr Sophie am nächsten Tag, dass Philipp darüber nachdachte, den Grafen von Reifenstein zum Fürsten zu ernennen. Genau wie Leopold hielt sie nichts davon. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass Philipp den Grafen bevorzugte, weil er sich in Agnes von Reifenstein verguckt hatte. Dies traute sie ihrem Stiefsohn zu, Politik nicht aus Staatsräson, sondern aus persönlichen Gründen. Wie sollte das Reich nur unter einem König wie Philipp gedeihen?

Als sie Richard ihre Sorgen mitteilte, stimmte er seiner Mutter sofort zu. Auch er sah, wie ungeschickt Philipp agierte. Männer wie den Herzog von Premlau ließ man nicht links liegen, weil man sich um einen Grafen von Reifenstein kümmerte. Ein Anstandstanz mit der Schwester des Grafen von Lyenne war auch eher eine Beleidigung des Fürstenhauses als eine Gunstbezeigung.

Auch nach dem Fest nutzte Philipp jede Gelegenheit, Agnes von Reifenstein zu sehen. Sophie war oft genug dabei, da sich der König nicht ohne Anstandsdame mit einer jungen Frau treffen konnte. Je besser die zwei sich verstanden, umso finsterer wurde Sophies Miene, wenn sie mit Richard allein war.

Einige Tage später beobachtete Richard, als er zufällig aus seinem Fenster in den Hof schaute, wie ein mit Dreck besudelter Philipp mit Agnes von Reifenstein von einem Ausritt zurückkam. Anscheinend war er mal wieder vom Pferd gefallen. Trotzdem schien die Laune der beiden nicht getrübt. Sollte die Aussicht, Königin zu werden, diese Agnes von Reifenstein über alle Mängel Philipps hinwegsehen lassen? Wenn es erst einmal eine Königin und schlimmer noch Kinder des Paares gab, konnte er alle Hoffnung auf den Thron fahren lassen. Wenn etwas geschehen sollte, dann musste es bald geschehen.

Der Tag der Ernennung des Grafen von Reifenstein zum Fürsten stand tatsächlich nach kurzer Zeit fest. Alle fünf bisherigen Fürsten wurden eingeladen. Richard hatte also noch einen Monat Zeit, etwas zu unternehmen. Aber was? Philipp machte nicht den Eindruck, dass er freiwillig auf die Regentschaft verzichten würde. Also sah Richard nur einen Weg: Philipp musste sterben. Aber wie sollte das gehen? Er konnte ihn ja nicht herausfordern und töten. Die Zeiten waren leider vorbei.

Sophie versuchte, mit Philipp zu reden. Über seine Verpflichtung als König, sich eine Königin aus würdigem Hause zu wählen, und auch über den Fürstenstand. Eine Auszeichnung, die mit weitreichender Verantwortung verknüpft war. Die man nicht so leichtfertig vergeben sollte, da war sie sich mit Leopold einig. Aber wie erwartet war ihr Stiefsohn keinem vernünftigen Gedanken zugänglich. Philipp nannte Leopold häufig seinen wichtigsten Berater. Doch Sophie wusste von Leopold, dass sein Rat in Wirklichkeit nicht mehr gefragt war. Es standen wichtige Entscheidungen an und der König tat, was er für richtig hielt, und wenn Leopold mit ihm sprach, so ignorierte er seinen Rat.

Richards Mutter und Leopold von Traub sprachen oft miteinander, wie Richard bemerkte. Manchmal wunderte sich Richard, wie oft er die beiden zusammen sah. Ihre Mienen wurden immer entschlossener. Leopold behandelte Richard mit dem Respekt, den er verdiente, deswegen achtete Richard auch Leopold von Traub.

Sophie und Leopold vereinbarten, dass Leopold seine Kinder Jonathan und Isolde heimlich auf das Schloss holen würde, niemand sollte davon wissen. Ihre Anwesenheit würde neue Möglichkeiten eröffnen, auch wenn weder Sophie noch Leopold genau wusste wozu. Aber das bald etwas geschehen musste, war beiden klar.

Gundula und Maximilian von Reifenstein waren ebenfalls noch immer auf dem Schloss. Nun, bis zu seiner Ernennung zum Fürsten würde es sich wohl nicht mehr ändern. Philipp war öfters und länger mit der Familie von Reifenstein zusammen als mit Sophie und Richard, wie dieser bemerken musste.

Richard war zwar auf der einen Seite froh, Philipp nicht allzu oft zu Gesicht zu bekommen, denn er wusste meistens nicht, über was er mit seinem Bruder sprechen sollte, auf der anderen Seite fühlte er sich aber dadurch zurückgesetzt. Außerdem durfte er an keinen Beratungen teilnehmen, obwohl er ja alle Beteiligten noch aus der Zeit mit seinem Vater kannte. Nun, auch sein Vater hatte ihn nicht an allen Beratungen teilnehmen lassen, aber es war doch anders gewesen als jetzt. Richard kam sich vor wie ein ungebetener Gast.

So nutzte er die Zeit, um sich im Schloss und der Umgebung umzusehen. Es hatte sich nicht viel verändert, seit er es verlassen musste, und auch die Dienerschaft bestand aus vielen bekannten Gesichtern. Viele schienen sich zu freuen, ihn und seine Mutter wiederzusehen. Ihr Respekt vor Philipp war gering, so wie sie gegenüber Richard durchblicken ließen, doch das wunderte ihn nicht. Die Anekdoten über die Tollpatschigkeit des jungen Königs und die Witze über seinen Körperumfang nahmen kein Ende.

Auf seinen Spaziergängen kam Richard auch an den Stallungen vorbei. Alexander von Aldenaar, Philipps und Richards Vater, liebte Pferde und hatte sich persönlich um den Kauf hervorragender Tiere gekümmert. Richard durfte ihn von Kindesbeinen an begleiten und hatte viel von seinem Vater über Pferde gelernt und war zu einem ebenso begeisterten Reiter geworden. Es war etwas, was Vater und Sohn verbunden hatte. Daran hatte auch der tödliche Reitunfall des Königs nichts geändert.

Die Stallknechte respektierten Richard und erzählten ihm von ihren Sorgen. Philipp ritt nur ungern und wenn, dann nur auf den bravsten Pferden. Der Stallmeister rechnete damit, dass die temperamentvollen Vollblüter über kurz oder lang verkauft würden. Ein Gedanke, der Richard entsetzte. Außerdem wurden die Pferde insgesamt zu wenig bewegt. Das war eine Herausforderung, die Richard gern annahm. Er ritt nun jeden Tag, den er auf dem Schloss verbrachte, auf einem der Vollblüter seines Vaters aus.

Als er den Hengst bestieg, der seinen Vater damals abgeworfen hatte, war es auch für ihn ein seltsames Gefühl. Er war mehr angespannt, als er sich eingestehen wollte, auch wenn er wusste, dass sein Vater damals an Hüfte und Knie verletzt gewesen war. Sein Vater hatte seine Schwäche nicht eingestehen wollen und war trotz der Verletzungen durch einen früheren Sturz ausgeritten.

Zum ersten Mal ritt nun Richard das Lieblingspferd Alexanders und er fühlte sich seinem Vater nah. Es war wirklich ein herausragendes Pferd. Es hatte seinen Willen und Richard musste seine ganze Kunst aufbieten, um es zu bändigen. Doch nachdem es ihn akzeptiert hatte, war es ein Traum, auf diesem starken Pferd über die Felder zu fliegen. Auch die bewundernden Blicke des Stallmeisters und der Stallknechte bei seiner Rückkehr taten Richard gut.

2. Das Attentat

Dann kam der Tag, an dem Maximilian von Reifenstein zum sechsten Fürsten des Landes ernannt werden sollte. Der König konnte die Fürsten zu Beratungen hinzuziehen und sie hatten ein gewichtiges Wort bei der Entscheidung über Krieg und Frieden mitzureden. Sie waren sozusagen sein Kronrat. Es war demnach eine wichtige Position und eine hohe Ehre, an der nun auch Maximilian von Reifenstein Anteil hatte.

In der Anwesenheit von vier der fünf Fürsten, nur der Graf von Hergen fehlte, den Familien und Leopold überreichte der König Maximilian von Reifenstein die Urkunde.

Richard beobachtete die Fürsten, die meisten schienen nicht begeistert. Der Herzog von Premlau, der mächtigste der Fürsten, gratulierte dem Grafen von Reifenstein als erster. Er schien noch am freundlichsten gesinnt. Dann schlossen sich die anderen Fürsten notgedrungen der Reihe nach an.

Der Herzog von Elblingen war gekommen, obwohl ihn die Reise sehr angestrengt hatte. Doch er würde immer kommen, wenn der König rief. Der Graf von Lyenne war ebenfalls anwesend und gratulierte, auch wenn er, wie Richard wusste, die Ernennung nicht guthieß.

Der Graf von dem Berge hatte den neuen König noch nie gesehen, denn er war bei der Krönung verhindert gewesen, so beobachtete er König Philipp genau, wie Richard bemerkte. Natürlich hatte sich sein Bruder wieder ungeschickt benommen und beinahe die Urkunde vom Tisch gefegt. Was der Graf von dem Berge, dem es nicht entgangen war, darüber dachte, konnte Richard nur ahnen. Aber er glaubte nicht, dass es rühmlich für das Haus Aldenaar gewesen war.

War die Grafschaft Reifenstein weit im Westen, so war die Grafschaft von dem Berge weit im Süden des Landes und eine Reise nach Cyni aufwendig. Doch im Gegensatz zu Reifenstein war es eine reiche Grafschaft, denn es gab viele Minen, in denen die unterschiedlichsten Erze gefördert wurden.

Nun gratulierten auch Richard, Sophie und Leopold von Traub. Doch man konnte den versteinerten Gesichtern ansehen, dass sie sich nicht wirklich darüber freuten. Dem glücklichen Philipp schien es jedoch nicht aufzufallen.

Gundula und Agnes von Reifenstein und Sophie von Aldenaar zogen sich zurück, nachdem der eigentliche Festakt beendet war. Die Fürsten und der König wollten die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, um einige Fragen, das Reich betreffend, zu besprechen. Als Leopold merkte, worum es ging, wollte er ebenfalls gehen, doch der König hielt ihn zurück. Leopold war kein Fürst, aber sein wichtigster Berater, behauptete der König erneut und er sollte an der Beratung teilhaben.

Richard blieb einfach ohne Aufforderung und wie er erwartet hatte, traute sich Philipp nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Es standen nicht viele Themen an, aber es genügte, um sich etwas besser kennenzulernen. Die meisten Fürsten waren oft mehr seiner Meinung zugeneigt als der Philipps, bemerkte Richard freudig. Nun, es waren keine großen Themen, aber es bestätigte ihn darin, dass er das Reich besser führen würde.

Der nächste Tag war der große Abreisetag. Die Fürsten kehrten in ihre Fürstentümer zurück. Sophie hatte zu Richards Erstaunen festgelegt, dass auch sie nach der Ernennung des Grafen von Reifenstein abreisen würden. Und nicht nur das, sie drängte darauf, gleich morgens abzureisen. Richard fügte sich.

Einen allerletzten Ausritt wollte er jedoch noch unternehmen und ließ in aller Herrgottsfrühe das Lieblingspferd seines Vaters satteln. Mit Wehmut ritt er über die Wiesen und kehrte später zurück, als er vorhatte. Seine Kutsche stand schon vor dem Hauptportal, als er die Stallungen verließ. Schnell ging er ins Schloss und traf in der Halle auf die Diener, die ihre Gepäckstücke verluden. Seine Mutter war aber nicht zu sehen. Richard wollte gerade nach oben gehen, um sich umzukleiden, als eine aufgelöste Wache auf das Schloss zustürmte.

„Alarm, Alarm“, schrie der Mann.

Da Richard schon in der Halle war, war er schneller als die alarmierten Soldaten und die Fürsten. Auf dem Vorplatz war nichts zu sehen, so rannte er zum Tor. Von dort sah er seine schreiende Mutter. Erschrocken rannte er zu ihr und fand sie blutbesudelt bei Philipp kniend, der aus einer Brustwunde stark blutete.

Die Torwachen, die vor ihm die beiden erreicht hatten, kümmerten sich um den schwer verwundeten König. Er sah in der Ferne einen Mann davonrennen und wollte ihm nach, doch seine Mutter klammerte sich an seinen Arm.

„Richard! Bitte bleib.“

Nun kamen die nächsten Wachen angerannt und man konnte den schwer verletzten Philipp ins Schloss bringen und die Verfolgung des Angreifers aufnehmen.

Gundula von Reifenstein kam seiner Mutter zu Hilfe. Sophie nahm sie dankbar an und so konnte auch Richard sich endlich um die Verfolgung des Attentäters kümmern. Doch es war bereits zu spät, er sah weder den Attentäter noch die Wachen, die ihn verfolgten. Er wartete einen Augenblick, doch es änderte sich nichts. So konnte er nur hoffen, dass die Wachen den Mann fassen würden. Weiteren Soldaten aus dem Schloss wies er die Richtung, in die er den Attentäter hatte laufen sehen, dann kehrte er ins Schloss zurück.

Als er die Schlosshalle erreicht hatte, erhob sich seine Mutter von ihrem Sitz, kam auf ihn zu und umarmte ihn weinend. Die Fürsten standen erschüttert zusammen. Gundula von Reifenstein versuchte, ihre in Tränen aufgelöste Tochter zu trösten.

„Was ist denn geschehen?“, fragte Richard.

„Das Unvorstellbare“, antwortete Sophie unter Tränen, „das Unvorstellbare, Philipp wurde angegriffen und schwer verletzt. Ich glaube kaum, dass er überlebt.“

„Philipp?“, Richard war sich nicht sicher, was er da hörte, obwohl er seinen verletzten Bruder ja gesehen hatte, „wo ist Philipp jetzt?“

„Er ist in seinem Zimmer. Die Diener versorgen ihn. Es wurde nach dem Leibarzt geschickt“, antwortete Sophie mit bebender Stimme.

Richard sah in die Gesichter der erschütterten Fürsten. Dann bemerkte er die Blutspur auf dem Boden. Er ließ seine Mutter stehen und lief nach oben. Als er die Tür öffnete, sah er Philipp wächsern und bleich in seinem Bett. Seine Schulter war verbunden. Leopold war da und schickte alle außer Richard zur Tür hinaus.

„Er lebt noch, aber ich denke, nicht mehr lange. Wir sollten seinen Tod verkünden“, schlug Leopold vor.

„Seinen Tod, aber wenn er noch lebt?“, wandte Richard erstaunt ein.

„Seinen Tod – es ist ja nur eine Frage von Stunden. Die Fürsten sollen seinen Tod verkünden und aus Prinz Richard wird König Richard“, entgegnete Leopold ernst.

Leopold schloss die Tür sorgfältig ab und beide gingen zurück in die Halle.

„Der König ist seinen schweren Verletzungen erlegen“, verkündete Leopold von Traub, „seine königliche Hoheit Richard Prinz von Aldenaar ist unser neuer König.“

Richard konnte es nicht fassen, sollte sein größter Wunsch doch noch Wirklichkeit werden? Die Fürsten nickten und erwiesen Richard ihre Referenz. Die Augen seiner Mutter strahlten. Nur die Familie von Reifenstein stand immer noch wie versteinert da. Richard fragte sich, ob er Agnes doch falsch eingeschätzt hatte? Sie war anscheinend voll Trauer über Philipps Tod. Hatte sie ihn wirklich geliebt? Richard konnte sich das nicht vorstellen, aber es war nun auch gleichgültig. – Er war der König!

Die Nachricht vom Tode König Philipps verbreitete sich schnell. Am Abend waren viele Menschen vor dem Schloss versammelt, die um ihren König trauerten. Die meisten verharrten stumm, aber es gab auch Stimmen, die Vergeltung forderten. Richard trat heraus und versprach, nicht eher zu ruhen, als bis der Mörder gefunden war. Die Wächter, die den Attentäter verfolgten, waren noch nicht alle zurückgekehrt, er war sich sicher, dass sie den Mörder fassen würden.

Der Tod des Königs bewegte offensichtlich viele Menschen, stellte Richard erstaunt fest. Philipp hatte die Regentschaft ja erst vor einem guten Jahr übernommen und war, dem Volk kaum bekannt, aus dem Ausland zurückgekehrt. Aber wahrscheinlich würden sie um jeden König so trauern.

Als Richard wieder ins Schloss zurückgegangen war, nahm ihn seine Mutter beiseite: „Warum hast du ihnen den Attentäter versprochen?“

„Die Menschen sind über den Tod Philipps aufgebracht. Es war nötig, um sie zu beruhigen. Wir wollen es doch auch. Niemand soll so einfach einen König angreifen können und dann noch vor seinem eigenen Schloss.“

„Das ist wohl wahr, aber der Attentäter hat für uns gearbeitet.“

„Was soll das heißen?“, fragte Richard überrascht.

„Richard, stell dich nicht dumm“, winkte Sophie unwirsch ab, „ich habe Philipp vor das Schloss gelockt, damit Leopold ihn angreifen konnte. Leider war er zu ungeschickt und Philipp überlebte. Die Wachen waren zu schnell da.“

„Leopold von Traub?“ Richards Stimme drückte Unglauben aus.

„Aber ja, wir mussten doch etwas unternehmen, um das Haus Aldenaar und das Reich vor weiterem Schaden zu bewahren. Leicht gefallen ist es uns nicht“, setzte Sophie schnell hinzu.

Am Abend lag Philipp immer noch in tiefer Bewusstlosigkeit. Leopold hatte Kerzen aufstellen lassen und so konnten sich die Fürsten von ihrem König im flackernden Licht der Kerzen verabschieden. Der flache Atem Philipps fiel dadurch nicht auf. Es ging alles gut, alle glaubten, den toten König vor sich zu haben. Nur Richard, der wusste, dass er noch lebte, schwitzte Blut und Wasser bei der Zeremonie.

Auch am nächsten Morgen lebte Philipp noch. Richard wollte ihn ersticken, er holte ein Kissen, konnte es aber dann doch nicht tun. Im Kampf hätte er ihn getötet, aber wehrlos im Bett konnte er es nicht über sich bringen. Seine Mutter kam und gab Philipp zu trinken. Philipp bewegte sich schwach und stöhnte leise.

„Was tust du? Willst du ihn gesund pflegen?“, fragte Richard und schüttelte den Kopf. Philipp sollte endlich sterben.

„Wir werden Philipp in eines der Lustschlösschen im Park verlegen. Im Herbst werden sie nicht genutzt, dort soll Isolde ihn pflegen. Wenn er überlebt, so haben wir einen Mörder, den wir dem Volk geben können. Selbst die wenigen Menschen, die ihn persönlich kennen, werden ihn nach dieser Tortur nicht wiedererkennen.“

Isolde von Traub war vor zwei Tagen eingetroffen, hielt sich aber auf Geheiß ihres Vaters versteckt. Richard hatte es nicht verstanden, aber jetzt schien es so, als ob Leopold von Anfang an damit gerechnet hatte, geheime Helfer zu benötigen.

„Er muss doch sterben, damit ich rechtmäßig König werden kann.“

„Er wird sterben, aber erst im Gefängnis von Cyni.“

„Und wenn jemand den König erkennt?“

„Leopold rechnet damit, dass sich sein Aussehen stark verändern wird. Wenn dies geschieht, bringen wir ihn nach Cyni. Keiner wird ihn dann erkennen, denn alle halten ihn für tot“, erläuterte Sophie.

„Mir gefällt das nicht, es wäre besser, er wäre wirklich tot.“

„Leopold kam auf die Idee. Wenn der Plan gelingt, kannst du dem Volk den Mörder präsentieren, wie du es versprochen hast. Das wäre zudem ein guter Anfang für deine Regentschaft.“

„Ihr wollt sein Leben verlängern, aber am Ende soll er sterben?“ Zweifelnd hob Richard eine Augenbraue und sah seine Mutter an.

„Das klingt schrecklicher als es ist. Er ist ja bewusstlos. Isolde wird sich um ihn kümmern.“

„Kann man ihr denn vertrauen?“ Jeder Mitwisser vergrößerte die Gefahr der Entdeckung, fand Richard.

„Ja, Leopold hat volles Vertrauen in seine Kinder. Jonathan ist soeben angekommen. Das ist sehr gut für uns, jetzt können wir den Plan umsetzen. “

In der folgenden Nacht brachten Jonathan von Traub und Richard den bewusstlosen Philipp in das sogenannte gelbe Schlösslein. Es war ein kleines Gebäude im hinteren Teil des Schlossparks. Im Sommer wurden dort manchmal Feste veranstaltet, doch jetzt im Herbst stand es leer. Im Gegensatz zu den anderen Lustschlössern hatte es beheizbare Räume. Es waren zwar nur kleine Seitenräume, aber es würde reichen. Wie alle Lustschlösser im Park verfügte es außerdem über eine Küche. Richard stellte erstaunt fest, dass es in den Räumen warm war. Es gab ein einfaches, frisch bezogenes Feldbett, in das sie Philipp legten, alles war vorbereitet.

Richard warf einen letzten Blick auf den Bewusstlosen. Das Gesicht war wächsern und eingefallen, die Augen geschlossen. Die Wunde blutete erneut ein wenig. Sollte Philipp nun leben oder sterben? In diesem Augenblick wusste er es nicht. Doch dann straffte er sich, es musste alles getan werden, damit das Erbe seines Vaters gedeihen konnte. Es gab keinen anderen Weg, da Philipp einem Rücktritt nie zugestimmt hätte und seine eigenen Unzulänglichkeiten übersah.

Jonathan war Leopolds Sohn und Soldat. Leopold hatte nach ihm geschickt und er hatte sich beurlauben lassen. Der junge Mann wirkte auf Richard sehr reserviert, aber dies konnte auch das Soldatische an ihm sein. Seine Aufgabe würde es sein, sich um seine Schwester und den Gefangenen zu kümmern, denn auffälliges Interesse am hinteren Teil des Schlossparks von Sophie, Leopold oder Richard wäre sicher irgendjemandem aufgefallen und könnte ihren Plan zunichtemachen. Als Richard sich verabschiedete, um ins Schloss zurückzukehrten, sah Jonathan Richard mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte.

Isolde kam aus dem zweiten Raum, nachdem Richard gegangen war, sah auf den Gefangenen und dann auf ihren Bruder.

„Es hat mich überrascht, als ich ankam, musste ich mich sofort hier verstecken. Gestern dann die Anweisung, dass ich mich auf die Pflege eines Verwundeten vorbereiten soll. Das ist nun also König Philipp“, sagte Isolde mit Verwunderung in ihrer Stimme.

„Ja, aber nun ist er der Gefangene unseres Vaters. Ich werde dich unterstützen, so gut ich kann, aber ich werde nicht hierbleiben“, antwortete Jonathan.

„Dann brauche ich eine Helferin. Alleine ist die Pflege zu viel. Selbst zu zweit werden wir es kaum schaffen, so schwer wie er ist.“

„Ich kümmere mich darum, genauso wie um die Vorräte. Mach dir keine Sorgen. Die nächsten vier Wochen bin ich erstmal hier“, beruhigte Jonathan seine Schwester. „Mehr Urlaub habe ich nicht bekommen.“

Isolde nickte. „Gut, dass ich unsere Tante gepflegt habe, so weiß ich ungefähr, was zu tun ist. Aber was soll ich machen, wenn er aufwacht?“

„Solange er schwach ist, erzähle ihm einfach die Wahrheit. Dass du sein Leben gerettet hast und ihn jetzt pflegst.“

„Aber er wird fragen, wo er ist und warum er nicht im Schloss gepflegt wird.“

„Höchstwahrscheinlich, aber bis dahin wird unser Vater schon sagen, wie du dich verhalten sollst. Ich gehe jetzt zurück und kümmere mich um Unterstützung für dich.“

„Danke, Jonathan, du hast das bessere Ende erwischt. Aber ich werde tun, was unser Vater verlangt.“

Sie umarmten sich, dann ging auch Jonathan, und Isolde begann, das Fieber des Kranken mit kühlen Wickeln zu senken.

Früh am nächsten Morgen brachte Jonathan eine Magd mit, die ebenfalls im Schlösslein bleiben sollte. Bald spielte sich die Pflege ein.

Die Magd kochte oder holte Essen aus der Schlossküche. Auch das Waschen der verschmutzten Kleidung war ihre Aufgabe. Für schwerere Aufgaben hatten sie Jonathan, er besuchte sie, um nicht aufzufallen, jedoch nur jeden zweiten oder dritten Tag.

Der Trauerzug bewegte sich durch Cyni und die Menschen säumten die Straßen. Es waren nicht weniger Menschen als bei der Beerdigung Alexanders. Richard, der hinter dem Sarg herging, wunderte sich wieder darüber, warum die Menschen so großen Anteil nahmen. Der dicke König Philipp hatte offenbar die Herzen der einfachen Leute erreicht.

Der Sarg enthielt keinen Leichnam, nur Sandsäcke. Jonathan und Leopold hatten es geschafft, den Sarg unbemerkt zu füllen. Philipp lebte zu Richards Leidwesen immer noch. Die Familie von Traub tat alles, um ihn am Leben zu halten, wenn man es Leben nennen wollte. Richard hatte ihn, seit er ihn in das gelbe Schlösslein gebracht hatte, nicht mehr gesehen und er würde daran auch nichts ändern. Er wollte von alledem nichts wissen. Es war Leopold, der seinen Kopf aus der Schlinge ziehen wollte. Trotzdem war er froh, als die Beerdigung des leeren Sargs vorbei war.

Isolde war immer noch besorgt darüber, was geschehen würde, wenn der Kranke aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. Da niemand anderes da war, teilte sie ihre Sorgen mit der Magd.

„Es gibt eine Kräuterhexe, die wüsste sicher, was zu tun ist, damit er nicht aufwacht“, meinte die Magd.

„Kräuterhexe? Du glaubst an so was?“, entgegnete Isolde verächtlich.

„Aber ja, die Turnacherin ist eine ganz besondere“, behauptete die Magd, „bringt ihr etwas mit, sie hilft Euch bestimmt.“

„Kannst du nicht gehen? Du scheinst sie ja zu kennen“, fragte Isolde.

„Nein, zu der Hex‘ geh‘ ich nicht. Da muss man ins Gefängnis und da bringt mich niemand hin.“

Isolde blickte auf den schlafenden Gefangenen. Viel Zeit würde ihr nicht mehr bleiben, sie fühlte sich mit ihren Sorgen alleingelassen. Es war einen Versuch wert. Sie besaß einen kostbaren, wärmenden Schal, dieser könnte ein passendes Geschenk sein.

So verließ sie das Schlösslein und ging nach Cyni. Ein Pferd zu leihen, war zu auffällig. Im Hof des Gefängnisses fragte sie den ersten, der ihr begegnete, nach der Turnacherin und siehe da, er kannte sie. Sie musste sich beim Gefängnisleiter anmelden und wurde durch einen Wächter ins Gefängnis und zu der Frau gebracht.

Isolde erzählte ihr eine erfundene Geschichte über den Mann ihrer Schwester, der einen schweren Unfall hatte und sich nicht bewegen durfte. Deswegen sollte er nicht aufwachen. Je tiefer die Bewusstlosigkeit, umso besser. Die Turnacherin sah sie nachdenklich an, aber sie brachte ihr Kräuter und erklärte, was sie machen musste. Aber Agnes Turnacher warnte auch, dass ein Zuviel oder Zulange böse Folgen haben konnte. Dankbar nahm Isolde die Kräuter und übergab ihr den Schal. Die alte Frau zeigte keine Regung, aber sie legte sich den Schal sofort über die Schulter.

Das Kraut wirkte, es hielt den Kranken in einem apathischen Zustand. Der Nachteil war aber, dass sie ihn mühsam füttern musste und er sich immer wieder einnässte und beschmutzte. Nun, für die dreckigsten Aufgaben hatte sie ja ihre Magd, trotzdem litt Isolde mit der Zeit unter der Aufgabe und der Isolation.

Jonathan besuchte Isolde ein letztes Mal im gelben Schlösslein und warf einen Blick auf den friedlich schlafenden König.

„Wie geht es ihm?“, fragte er Isolde.

„Was weiß ich, er schläft“, antwortete sie unwirsch.

„Wird er überleben?“

„Ich hoffe es. Er hat bisher überlebt und seine Wunden heilen“, sagte sie schon etwas ruhiger.

Philipp hatte einiges an Gewicht verloren, doch nicht so viel, dass man ihn nicht erkennen würde.

„Für die Öffentlichkeit ist er tot und begraben. Und doch ist er der rechtmäßige König“, überlegte Jonathan, „ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, was wir tun.“

„Unser Vater hat von Anfang an mit Philipp zusammengearbeitet, er kennt ihn gut und will das Reich vor diesem schwachen Monarchen schützen. Außerdem entwickelte er als König so seltsame Vorschläge, dass unser Vater an seinem geistigen Zustand zweifelt, aber es würde zu einer Entmündigung nicht reichen. Wir sind die Retter des Königreiches. Was bedeutet da das Schicksal eines einzelnen Menschen?“

„Warum lebt er dann noch?“, fragte Jonathan.

„Das weiß ich nicht. Ich vertraue unserem Vater. Er hat einen Plan und dazu gehört, dass der Gefangene erst mal überlebt. Doch er ist schwach und oft bewusstlos. Ich weiß nicht, ob es am Ende gelingt, ihn am Leben zu halten.“

„Erst mal und wie lange?“ Jonathan schaute mitleidig auf den schlafenden König, der nicht ahnte, was für eine drohende Wolke sich über ihm zusammenbraute.

„Ich hoffe, nicht so lang. Es ist ein elendes Leben hier in diesem trostlosen Schlösschen. Die Magd, die mir zur Hand geht, ist strohdumm und den Gefangenen zu pflegen ist mühselig.“

„Ja, ich verstehe dich, Isolde. Leider kann ich dich nicht länger unterstützen. Mein Urlaub ist zu Ende und ich kehre zu meiner Einheit zurück.“

„Du Glücklicher“, seufzte Isolde.

„Ihr beide kommt zurecht?“ Jonathan sah seine Schwester besorgt an.

„Ja, es hat sich ganz gut eingespielt und notfalls kann ich im Schloss um Hilfe bitten. Doch ich verkümmere hier“, beschwerte sie sich. „Du warst die einzige Abwechslung in diesem tristen Alltag.“

„Ich kann wirklich nicht länger bleiben.“

„Ich weiß.“ Bekümmert sah Isolde ihn an.

„Du hast keine Zweifel an dem, was wir getan haben?“, fragte Jonathan erneut.

„Nicht den geringsten. Unser Vater wird jetzt Kanzler. König Richard hat sofort eingesehen, dass dies die angemessene Position für ihn ist. Der dumme Philipp hatte nicht einmal darüber nachgedacht. Du wirst sehen, wie das Königreich nun erblühen wird.“

„Das hoffe ich. Ich hoffe es wirklich. Bei den Soldaten hatte König Philipp einen guten Ruf. Er ist herumgereist und hat sich Burgen und Festungen angesehen. Er hat mit vielen Offizieren gesprochen und sie waren über seine Kenntnisse erstaunt. Als er unsere Garnison besuchte, war ich leider unterwegs, aber meine Kameraden haben nur Gutes über ihn berichtet.“

„Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn“, antwortete Isolde abfällig.

„Es waren wohl einige Körner“, erwiderte Jonathan nachdenklich. Dann straffte er sich. „Nun, lebe wohl, Isolde. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen.“

„Lebe wohl, Jonathan, und grüble nicht so viel. Du weißt, dass unser Vater ein kluger Mann ist. Er weiß, was er tut.“

„Ja, den Eindruck habe ich auch.“

Dann umarmten sie sich und lächelten sich an. Danach verließ Jonathan seine Schwester und kehrte zu seiner Garnison zurück.

3. Eine neue Ära

Die Krönung Richards von Aldenaar zum König war eine genauso festliche und würdevolle Feier, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Die Fürsten waren wieder zusammen gekommen und schworen dem neuen König Treue. Sie gratulierten Richard und er war sich sicher, dass sie insgeheim froh waren, dass endlich der Richtige auf dem Thron saß. Der Herzog von Elblingen und der Graf von Lyenne machten aus ihrer Freude keinen Hehl. Wenigstens hörte er sie lachen und sie waren offensichtlich guter Dinge. Maximilian von Reifenstein schien sich mit der neuen Situation arrangiert zu haben. Der Herzog von Premlau hingegen blieb ernst, auch bei seinem Schwur. Nun, König Richard würde ihm schon beweisen, dass für das Reich ab jetzt alles besser werden würde.

Aber ein bitterer Beigeschmack blieb: Philipp lebte nach wie vor und so war die Krönung vorläufig genauso eine Farce wie die Beerdigung. Soviel er wusste, wurde der Gefangene, seit er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, in einer Art Traumzustand gehalten. Dies war noch das Beste daran. Er versuchte, den Gedanken wegzuwischen, aber ganz gelang es ihm nicht.

Richards Mutter schien das alles nicht zu stören. Sophie von Aldenaar strahlte. Sie war stolz auf ihren Sohn. Wie prächtig war er anzusehen! Kein Vergleich mit seinem dicken, ungeschickten, naiven Halbbruder. Mochte Adelheid von Aldenaar auch die edleren Vorfahren gehabt haben und die erste große Liebe Alexanders gewesen sein, bei ihrem Sohn, diesem dumpfen Tollpatsch, war von seinen edlen Vorfahren nichts zu erkennen gewesen.

Sophie hatte Alexander aus vollstem Herzen geliebt, aber sie hatte immer wieder gespürt, wie viel ihm seine erste Frau bedeutet hatte und was Philipp für ihn daher bedeutete. Alexander hatte Philipp, trotz seiner körperlichen und geistigen Mängel, geliebt, das wusste sie, aber er konnte es ihm nicht zeigen. Sie hingegen konnte ihn als Kind nicht in ihrer Nähe haben, zu sehr erinnerte er sie an Adelheid. Diesem Geist, dem sie nicht das Wasser reichen konnte. Mit jeder lebenden Frau hätte sie es aufgenommen, aber mit einer Toten? Nun, mit Leopolds Hilfe war dieses Problem beseitigt. Sie war ihren Stiefsohn endgültig los. Jetzt konnte Richard beweisen, dass er ein König und der wahre Sohn seines Vaters war. Er würde trotz seines jugendlichen Alters dem Namen Aldenaar und dem Königreich zu neuem Glanz verhelfen.

Der Graf von Hergen nutzte die Gelegenheit auf der Krönungsfeier, um sich mit dem Herzog von Premlau zu unterhalten. Es wurden natürlich viele Gespräche geführt, aber dieses bekam Richard zufälligerweise mit.

„Nun haben wir also einen sehr jungen König“, begann der Graf.

„Ja, er ist sehr jung und unerfahren“, antwortete der Herzog, „aber er hat einen erfahrenen Hofstaat.“

„König Philipp war nur wenig älter, aber er hat das Reich erstaunlich weise geführt. Wie bitter ist es, dass er ermordet wurde.“

„Da stimme ich zu. König Philipp hat auch mich überrascht. Er verhielt sich abgeklärter, als man es bei einem Mann in seinem Alter vermuten konnte. Er kümmerte sich vorbildlich um die Staatsgeschäfte.“

„Wer konnte nur Interesse habe, ihn zu töten?“, überlegte der Graf.

„Die Hintergründe zu diesem Attentat sind noch immer ungeklärt. So nah an diesem Schloss ist es geschehen – unbegreiflich.“

„Ihr wart ja dabei, nicht wahr, Herzog?“

„Nicht dabei, aber ich war auf dem Schloss. Ich habe den König in seinem Blut liegen sehen. König Richard hat alles unternommen, um den Mörder zu fangen. Man sah ihm an, wie erschüttert er war. Er kam gerade von einem Ausritt in die Halle zurück, als der Alarm ertönte und lief dann sofort hinaus. Dem Verdacht, dass er etwas damit zu tun hat, schließe ich mich nicht an.“

„Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte.“ Der Graf war nicht von der Unschuld des neuen Königs überzeugt.

„Nein, das wäre es nicht, aber er war genauso überrascht wie wir Fürsten. Ein so guter Schauspieler ist er wahrlich nicht“, erzählte der Herzog, „trotzdem könnte es ein Förderer von König Richard gewesen sein oder eben ein verwirrter Geist. Es wäre gut, wenn das geklärt werden würde, damit die Gerüchte verstummen.“

„Ja, es sollte geklärt werden. Noch ist die Unruhe groß. Dass ein Attentäter, der so nahe am Schloss agierte, entkommen konnte, hat mich auch verwundert“, bestätigte der Graf von Hergen.

„Nun, alle kümmerten sich zuerst um Königin Sophie und den König. Die Königin war verständlicherweise völlig zusammengebrochen und der König tödlich verwundet. Bis die Verfolgung aufgenommen wurde, vergingen kostbare Minuten.“

Leider wurde Richard nun selbst angesprochen und er konnte nicht mehr länger zuhören.

‚Der Herzog von Premlau und der Graf von Hergen halten Philipp also für eine guten König‘, überlegte Richard, als er endlich allein war, ‚ich werde sie eines Besseren belehren. Und woher wollten sie es wissen? Sie waren doch selten hier gewesen, im Gegensatz zu Leopold von Traub, der an Philipps Regentschaft kein gutes Haar gelassen hatte.‘ Jedoch zeigte das Gespräch, wie wichtig es war, einen Attentäter zu präsentieren, um die Gerüchte verstummen zu lassen.

Richards erste Tat nach der Krönung war die offizielle Bestallung Leopolds von Traub zum Kanzler des Reiches. Das wichtigste Amt im Reich war unter Philipp unbesetzt geblieben. Leopold hatte zwar auf das Amt gedrungen, aber Richard hatte es ihm auch gern gegeben, denn Leopold war schon seinem Vater treu zur Seite gestanden.

‚Aber Philipp hat er verraten‘, nagte eine innere Stimme an Richard. Doch musste er nicht Philipp verraten, um dem Reich zu dienen? Ja, so war es, wie auch seine Mutter bestätigte, es war ein großes Opfer, welches Leopold für das Reich gebracht hatte.

Es stellte sich bald heraus, dass Richard einen tatkräftigen Kanzler ernannt hatte. Schnell erbrachte Leopold Beweise für den Betrug einiger Kaufleute an den Bürgern und damit am Reich, die dadurch ihr Gut unrechtmäßig vermehrt hatten. Richard verfügte, dass diese Kaufleute verhaftet und ihr Vermögen eingezogen werden sollte, und wenn sie unterwegs waren, dann wurden zur Sicherheit die Familien eingesperrt, um eine endgültige Flucht ins Ausland zu verhindern. So geschah es dann auch.

Der Hofstaat war froh, dass der Wechsel zum neuen König so reibungslos verlaufen war. Als König Alexander so plötzlich verstorben war, hatte es gedauert, bis Philipp gekrönt werden konnte. Königin Sophie hatte zwar die Regierung übergangsweise geführt, aber es war ja jedem klar gewesen, dass sie nicht bleiben würde. Richard hingegen kannten die Beamten und Höflinge gut und er zog die Verantwortung schnell an sich. Endlich hatte das Reich wieder einen überall anerkannten König, der sich sehen lassen konnte.

Richard verstand sich als mächtiger König. In dieser Haltung wurde er vom Kanzler und den wichtigsten Beamten unterstützt. Er sah jedoch auch jede abweichende Meinung gleich als Widerstand gegen den Thron an, den er nicht duldete. So konnte jeder, der etwas gegen den König sagte, schnell im Gefängnis landen. In Cyni oder einem der anderen Gefängnisse oder sogar in den Festungen.

Die Regierungsverpflichtungen belasteten Richard mehr, als er sich vorgestellt hatte. An manchen Tagen hatte er das Gefühl, aus seinem Arbeitszimmer gar nicht herauszukommen. Er sehnte sich danach, all dem für eine kurze Zeit zu entkommen und dazu wollte er für sich selbst einen bescheidenen Traum erfüllen. Es gab ein stilles Tal, in dem er oft mit seinem Vater jagen war. Der Talgrund gehörte jedoch einer Bauernfamilie, die dort einen großen Gutshof betrieben. Dieses Land wollte er erwerben und damit die beiden Jagdreviere verbinden. Er schickte einen Trupp seiner Männer aus, die es für ihn regeln sollten. Gleichzeitig entwickelte er Pläne, wie die einfache Jagdhütte zu einem königlichen Domizil umgebaut werden konnte.

Die Pflege hatte sich eingespielt, der Gefangene war meistens bewusstlos und wenn nicht, so blickte man in leere Augen oder hörte ihn unverständliche Worte lallen.

Einmal hatte er sich aufgerichtet und saß auf dem Bett, als Isolde in den Raum kam, in dem er dahinvegetierte. Seine Augen blickten sie an und sie spürte, wie er darum kämpfte, richtig wach zu werden. Sie ging zurück in die Küche und holte einen Teller mit Brühe. Er nahm ihn mit einem Lächeln an und versuchte zu essen. Mit ihrer Hilfe gelang es und Isolde sah, wie der Blick seine Stetigkeit verlor. Die Kräuter, die sie in die Brühe gestreut hatte, taten erneut ihr Werk und schickten den Gefangenen in seine Zwischenwelt zurück. Sie würde die Dosis erhöhen müssen, damit so etwas nicht wieder passierte, nahm sich Isolde vor. Inzwischen hatte sie ein gutes Verhältnis zu Agnes, wie sie die Turnacherin nun nannte, aufgebaut und bekam die Kräuter ohne große Mühe.

Die Magd war eine einfache Frau, keine Gesprächspartnerin für Isolde. Weder ihr Vater noch Königin Sophie, geschweige denn König Richard ließen sich blicken. Sie vermisste Jonathan und war gleichzeitig neidisch auf ihn, denn er durfte in sein normales Leben zurückkehren, während sie hier festsaß und sich verstecken musste.

Nach vier Monaten hielt Isolde die Einsamkeit in dem Schlösslein nicht mehr aus. Sie fing an, wenigstens ein paar Stunden am Tag im Schloss zu verbringen. Im Schloss musste sie sich zwar immer noch verstecken, denn niemand sollte von ihrer Anwesenheit erfahren. Doch es gab dort Leopold und Königin Sophie, mit denen sie sich unterhalten konnte. Sie dosierte weiterhin die Kräuter und half auch nach wie vor bei der Versorgung des Gefangenen, doch die Zeiten, in denen sie abwesend war, nahmen zu. Allerdings konnte die Magd einige Aufgaben allein nicht bewältigen und so kam es, dass der körperliche Zustand des Gefangenen immer schlechter wurde. Er hatte Wundstellen vom Liegen, die anfingen zu schwären. Je magerer er wurde, umso empfindlicher wurde er. Doch Isolde kümmerte es immer weniger.

Bis Winteranfang war die königliche Jagdhütte im Zehnertal mit allem Komfort ausgestattet. Jedoch, der Brandelhof gehörte Richard immer noch nicht. Der Bauer leistete dem König Widerstand! Das konnte er nicht zulassen und er schickte seine Leute erneut hin. Diesmal sollten sie aber auf jeden Fall erfolgreich sein.

Die Entdeckungen betrügerischer Machenschaften der Kaufleute hielten weiter an. Es wurden immer mehr Kaufleute eingesperrt und während die Bürger es bei den ersten noch gern glaubt hatten, besonders wenn die Kaufleute sehr reich waren, so konnte es doch nicht sein, dass alle Betrüger waren. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verurteilungen wurden im Volk größer, doch der König erfuhr nichts davon. Richard vertraute Leopold blind, er machte sich daher nie die Mühe, etwas zu prüfen und unterschrieb alles, was immer der Kanzler vorlegte.

Leopold sah ein, dass es mit Isoldes abgeschiedenem Leben so nicht weitergehen konnte und führte seine Tochter am Hofe des Königs ein. Isolde hatte das gute Aussehen ihres Vaters geerbt und war wahrlich eine Schönheit. Zudem war sie sehr gebildet und konnte sich sicher in den höchsten Kreisen bewegen.

Mit ihrer offiziellen Anwesenheit wurde alles leichter für sie. Nun konnte sie sich frei am Hof bewegen und wurde auch dem König vorgestellt.

König Richard beeindruckte Isolde durch sein Auftreten gleich bei ihrer ersten Begegnung. Er kam ihrer Vorstellung eines Königs sehr nahe. Während sie bisher alles nur für ihren Vater getan hatte, so würde sie nun auch alles dafür tun, dass Richard König blieb. Sie himmelte König Richard an und wollte ihm in Zukunft gern dienen, auch deshalb wurde ihr die Pflege des Mörders immer lästiger. Doch ihr Vater entband sie auch weiterhin nicht von der Aufgabe.

Richard fand Isolde schön und ihr Wesen reizend, doch er wusste, dass sie seit Monaten Philipp in Apathie und am Leben hielt. So erschauderte er innerlich jedes Mal, wenn sie ihn anlächelte. Er wollte das alles lieber vergessen. Isolde Anwesenheit gemahnte ihn jedoch stets daran, was im gelben Schlösslein vor sich ging.

Im Frühjahr veranstaltete der König ein Fest mit Wettkämpfen, an denen er sich selbst beteiligte. Viele Edle seines Landes und auch der Nachbarländer folgten seiner Einladung und brachten auch ihre Familien mit. Die schönsten Frauen waren zu sehen.

Isolde von Traub gehörte zu den allerschönsten, wie ihr stolzer Vater feststellte. Sie war inzwischen Teil des Hofstaats von Sophie von Aldenaar und war in dieser Funktion eine Bereicherung für die Krone. Die anderen Hofdamen waren so viel älter. So kam ihr auf dem Fest die Ehre zu, den Siegern die Preise zu überreichen. Diese Aufgabe erfüllte sie mit viel Eleganz und Freundlichkeit. War jedoch Richard der Sieger, so strahlte sie richtig auf und man sah ihr die Freude darüber an.

Der Herzog von Premlau und seine Familie waren auch auf dem Fest zugegen. Er applaudierte dem König wie alle anderen bei jedem gewonnenen Wettkampf. Sogar als der König gegen seinen begabten Sohn gewann.

Der Herzog nutzte die Gelegenheit nach den Wettkämpfen und vor dem abendlichen Ball, um mit dem König zu sprechen.

„Vielen Dank, Eure königliche Hoheit, dass Ihr Euch die Zeit nehmt“, begann der Herzog, als sie in einem kleinen Salon endlich allein waren.

„Aber natürlich, mein lieber Herzog. Der König hat immer Zeit für seine Fürsten“, antwortete Richard freundlich.

„Es waren wirklich schöne und unterhaltsame Wettkämpfe.“

„Ja, nicht wahr? So etwas hat es unter König Philipp natürlich nicht gegeben“, rief Richard mit stolz geschwellter Brust.

„Nein, hat es nicht“, bestätigte der Herzog, „doch dies ist nicht der Grund, weswegen ich mit Eurer Hoheit sprechen wollte.“

„Was ist dann der Grund?“

„Untertanen meines Herzogtums wurden von königlichen Soldaten gefangengenommen und die meisten von ihnen wurden ohne Richtspruch auf eine der Festungen verbracht.“

„Diese Leute sind Anhänger von Räubern und anderen Verbrechern. Man muss ihnen zeigen, dass es so nicht geht“, erklärte Richard.

„Die meisten von ihnen haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Oft sind auch Kinder betroffen“, entgegnete der Herzog.

„Über das ‚Nichts‘ entscheidet der König. Wer einen Verbrecher heiratet, billigt dessen Tun. Ich nicht!“

„Das sollte aber ein Gericht entscheiden.“

„So kann man das Verbrecherunwesen nicht eindämmen. Ich bin sicher, wenn es sich herumspricht, werden wir Erfolge sehen.“ Kühl sah Richard auf seinen Herzog.

„Unrecht kann nicht durch Unrecht besiegt werden“, blieb auch der Herzog unnachgiebig.

„Es ist kein Unrecht, denn der König steht dahinter.“

„Der König sollte nicht über dem Gesetz stehen“, gab Herzog von Premlau zu Bedenken.

Nun wurde Richard langsam ungeduldig: „Der König verschafft dem Gesetz Achtung! Eine Achtung, die diese Menschen bisher vermissen ließen.“

Der Herzog atmete schwer. „Wisst Ihr, wie viele Menschen es schon getroffen hat? Wie leicht es geworden ist, jemanden zu denunzieren? Ich habe Soldaten gesprochen, die sagen, dass die Zellen in den Festungen voll sind. Voller zum Teil unschuldiger Menschen.“

„Das ist so in einer Übergangszeit. Auf Dauer wird es besser. Vertraut Ihr Eurem König nicht?“, fragt Richard.

„Doch, aber …“

„Ich habe von Eurem ‚aber‘ genug. Ihr vertraut mir also nicht! Vielleicht seid Ihr zu alt, um als Fürst dem Reich zu dienen“, antwortete Richard zornig.

„Es ist die Aufgabe eines Fürsten, dem König zu raten“, sagte der Herzog ruhig, aber in ernstem Ton.

„Wenn der König um Rat ersucht. Ich bin diese ungefragten Ratschläge leid.“

„Die Gefangenschaft so vieler Frauen und Kinder in Kerkern, die nicht dafür ausgelegt sind, kann das Volk gegen den König aufbringen“, versuchte der Herzog von Premlau einen letzten Vorstoß.

„Kann, wird es aber nicht. Das Volk wird sehen, dass es auf Dauer gerechter zugeht. Wartet nur ab.“

„Eure Majestät, bitte, denkt darüber nach.“

„Ich werde darüber nachdenken, ob Ihr der richtige Mann am richtigen Platz seid. Mein Vater schätzte Euch sehr, doch mein Vater ist tot und Ihr seid alt. In Gedenken an Eure Verdienste werde ich über Euer Verhalten hinwegsehen. Aber das sollte Euch trotzdem eine Warnung sein.“

Der Herzog schüttelte den Kopf und sah Richard traurig an. „Ich wäre ein schlechter Fürst, wenn ich mich nicht für das Reich und seine Menschen einsetzen würde. Lasst wenigstens die Soldaten auf den Festungen mit ihren Sorgen nicht allein.“

„Ich habe noch nichts von irgendwelchen Sorgen gehört. Meine Offiziere werden mit der Situation schon fertig.“ Richards Tonfall war nun abweisend, endgültig hatte er die Lust an dem Gespräch verloren. Er wollte seine Siege feiern und sich nicht maßregeln lassen! Das wusste auch der Herzog.

„Vielen Dank, Eure Majestät, für Eure Zeit. Wir sehen uns beim Ball.“

„Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen“, meinte der König spitz und entließ den Herzog, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Dieser stand auf, verbeugte sich vor dem König und ging mit schnellen Schritten davon.

Richard fühlte sich vom Herzog zu Unrecht angegriffen. Anscheinend hatte er sich in ihm getäuscht. Dieser Premlau hatte ja immer zu Philipp gestanden und konnte wohl die neuen, besseren Zeiten nicht begreifen. All diese Maßnahmen waren doch nur in einer Übergangszeit notwendig, weil Philipp die Zügel hatte schleifen lassen. Wenn er erst das Ansehen besaß, welches er verdiente, würde das Volk aufatmen. Richard streckte sich und ging zurück zu seinen Gästen, um die wohlverdienten Glückwünsche zu seinen Siegen entgegenzunehmen.