Der Ring des Herzogs - Ingeborg Menge - E-Book

Der Ring des Herzogs E-Book

Ingeborg Menge

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Beschreibung

Eine Wintergeschichte Rudolf wächst unter der Dienerschaft des Grafen von Melac in ärmlichen Verhältnissen auf, ohne von seiner Abstammung zu wissen. Den anscheinend ungebildeten und einfältigen Mann will Wolfram Herzog von Tours für seine Pläne missbrauchen, das Herzogtum Tours für sich oder seine Söhne zu gewinnen. Denn er ist bisher nur der Vormund seiner Nichte Rosa, der Tochter des letzten Herzogs. Zusammen mit seinem Freund Eduard möchte Rudolf Rosa helfen, ihr Recht zu erlangen. Aber Rosa hält Rudolf für eine Marionette Wolframs. Und das ist nicht die einzige Schwierigkeit, mit der Rudolf zu kämpfen hat. Vielleicht lesen Sie die Geschichte in eine Decke gekuschelt in Ihrem Lieblingssessel mit einer Tasse Tee und Blick auf das Feuer im Kamin und wenn es nur in Ihrer Vorstellung ist. Versetzen Sie sich mit diesem märchenhaften Roman in eine Zeit zurück, in der Pferde noch das schnellste Beförderungsmittel waren und sich Nachrichten nicht mit Windeseile verbreiteten.

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Seitenzahl: 388

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Geschichten gehören seit meiner Kindheit zu meinem Leben wie die Luft zum Atmen. Oft denke ich mir welche aus und vergesse sie bald wieder. Doch manche Geschichten verdienen mehr.

Deswegen habe ich vor über 25 Jahren angefangen sie aufzuschreiben.

Mein Leben drehte sich jedoch nicht hauptsächlich ums Geschichtenerzählen, sondern ich arbeitete mit Freude zwischen Bits und Bytes.

Ermutigt durch Freunde und Kollegen liegt nun die erste Geschichte als Buch vor und verzaubert hoffentlich auch Ihren Alltag

Für

Susanne

Inhalt

Zwischen Hoffen und Bangen

Pater Eligius

Eduard

Ein verwegener Vorschlag

Die Reise in den Süden

Eduards Heimkehr

Georgs Verlobung

Beobachtungen

Die Hochzeit

Flucht nach Gut Junghaus

Ein Geheimnis wird gelüftet

Die Verschwörung

Ein Empfang für den Herzog

Der geheime Bote aus Tours

Das Fest des Grafen Rainbach

Der Gefangene auf Schloss Tourlay

Unerwartete Hilfe

Georgs Hochzeit

Eine Überraschung für Rosa

Eine Landpartie

Die Jagd nach dem Gold

Ein neuer Schachzug

Ein Fest für Antonia

Antonia wird entführt

Ein tollkühner Plan

Eduard macht eine Entdeckung

Die Befreiung Tours

Eduards stiller Kampf

Unerwartet ändert sich alles

Der Empfang des Königs

Zurück im Palast

Neue Freunde

Der Kreis schließt sich

1. Zwischen Hoffen und Bangen

Große Aufregung herrschte im Schloss. Stand doch die Gräfin Eleanore kurz vor ihrer ersten Niederkunft. Das Grafenpaar war beliebt, und man freute sich auf den Erben. Noch nicht lange lebte die Gräfin auf dem Schloss und hatte doch schon die Herzen der Leute erobert. Obwohl sie sich hier wohlfühlte, vermisste sie ihren Mann Roderick sehr, der vor zwei Monaten in einer wichtigen Angelegenheit zum König gereist war. Es gab niemanden aus ihrer Familie, der ihr beistand, nur die Hausdame Hiltrud von Lohr leistete ihr in dieser Zeit Gesellschaft.

Die Leibdiener und Zofen waren oben in den Räumen der gräflichen Familie und warteten. In der Küche saßen die einfachen Diener und Mägde zusammen. Wer irgendwie konnte, ging in die Küche und hoffte, Neues zu erfahren.

Albert, der Leibdiener des Grafen, kehrte aus den herrschaftlichen Räumen in die Küche zurück. Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Nun, wie geht‘s der Gräfin?“, fragte die Köchin.

„Sie sagen, das Kind sei da – ein Junge.“

„Oh, wie schön!“, freuten sich die Mägde.

„Aber warum hört man keinen Jubel?“, fragte ein altgedienter Knecht.

„Tja, es steht nicht gut um die Frau Gräfin“, antwortete Albert.

Doch bevor man weiterfragen konnte, ging die Tür auf und die Hausdame stand plötzlich da. Ihr Erscheinen bestätigte, dass irgendetwas nicht stimmte. Kurz blickte sie über die Anwesenden.

„Marlene, komm mit!“, befahl Frau von Lohr.

Marlene Kempf war eine junge, hübsche Frau, sie war als Amme vorgesehen. Ihr Mann Knut arbeitete als Stallknecht auf dem Schloss und sie als Magd. Die Familie konnte zusätzliches Geld gut gebrauchen, so hatte sie eingewilligt, als Amme zu dienen. Auch neben ihrem Sohn Jakob hatte sie damals ein weiteres Kind gestillt, dessen Mutter keine Milch hatte.

Vielleicht half es ihr auch, den überraschenden Tod ihres Töchterchens zu überwinden, der erst wenige Tage zurücklag. Sie mochte Kinder und hatte sich immer welche gewünscht. Nun war ihr zweites so schnell verstorben.

Sie folgte Hiltrud von Lohr, die schnell voranschritt. Zum ersten Mal betrat Marlene die persönlichen Räume der Herrschaft. Keine Diener waren zu sehen. Vor der Tür zum Schlafzimmer gebot ihr die Hausdame zu warten. Kurze Zeit später kehrte sie mit einem Bündel zurück und übergab es ihr.

„Nimm es zu dir. Die gnädige Frau ist zu schwach. Sie wird nach dir schicken lassen“, sagte sie und schloss die Tür.

Marlene stand noch ganz erstaunt an derselben Stelle, da öffnete sich die Tür nochmals.

„Nimm das Kind in deine Kammer und zeig es so wenigen Menschen wie möglich. Für alles Nötige wird gesorgt“, sagte Hiltrud knapp.

Bevor Marlene etwas erwidern konnte, war die Tür wieder geschlossen. Das Kleine in ihrem Arm begann sich zu regen. Sie drückte es an sich und ging mit dem wimmernden Kind in ihre kleine Wohnung.

Die Familie Kempf wohnte mit vielen anderen Bediensteten in einem Nebentrakt, dem Gesindehaus. Da das Plateau, auf dem das Schloss stand, nicht sehr groß war, waren die Wirtschaftsgebäude und das Gesindehaus auf einem tieferliegenden Plateau unterhalb des Schlosses errichtet worden.

Als Marlene und Knut geheiratet hatten, bekamen sie zwei miteinander verbundene Kammern zugesprochen. Das war sehr viel Platz, und so verwunderte es nicht, dass die Herrschaft auch wegen ihrer Großzügigkeit beliebt war.

Jakob, ihr eineinhalbjähriger Sohn, war heute bei einer ihrer Freundinnen, so konnte sie sich in Ruhe um das Kind kümmern. Es war ein kleines, verhutzeltes Neugeborenes, alles an ihm schien irgendwie verzerrt und deformiert, außerdem hatte er einige Blutergüsse durch die schwere Geburt, aber Neugeborene waren oft hässlich, und so schloss sie den kleinen Kerl schnell in ihr Herz.

Er schrie, wenn man sein rechtes Bein berührte, so konnte Marlene ihn auch nicht wickeln. Sie packte ihn in wärmende Tücher, gab ihm zu trinken und am Ende schlief er friedlich ein.

Als ihr Mann abends kam, lag es in der Wiege, und sie zeigte es ihm. Knut wunderte sich, dass bis jetzt niemand erschienen war, um sich um das Kind zu kümmern, aber es war ihm nicht wichtig. Er lebte nur für seine Rösser, selbst mit Jakob konnte er nichts anfangen. Wozu war so ein kleiner Wicht schon nützlich? Nein, er war nicht herzlos. Er hatte sich damals sehr über ihren Sohn gefreut und trauerte auf seine Weise um den Verlust ihrer Tochter. Doch sein Leben drehte sich nun mal um andere Dinge.

Der kleine Graf aber war satt und schlief, ihn kümmerten die Sorgen der Welt noch nicht.

Am nächsten Morgen ging Marlene in die Küche. Dort herrschte geschäftiges Treiben, aber eine ernste Stimmung.

„Der Gräfin geht es sehr schlecht. Die Hebammen tun, was sie können, um ihr zu helfen“, erzählte eine der Frauen Marlene.

„Ein Bote wurde losgeschickt, den Herrn Grafen zu benachrichtigen“, konnte eine andere berichten.

„Wie geht es dem Kleinen?“

„Dem geht es gut“, antwortete Marlene.

„Na, wenigstens etwas“, meinte die Köchin.

„Und wo ist er jetzt?“

„Bei mir.“

„Bei dir?“

Alle blickten erstaunt auf.

„Nicht im Schloss?“

„Nein, die Hausdame hat ihn mir mitgegeben. Wahrscheinlich braucht die Gräfin Ruhe.“

„Ja, das wird es sein. Armer Kleiner, schon ist er von der Mutter getrennt.“

Marlene nahm ihre Sachen und ging. Ihre Hauptaufgabe war jetzt das Kind.

Nach einigen Tagen kam endlich die erlösende Nachricht – die Gräfin würde wieder gesund werden. Alle freuten sich, als sie die Botschaft vernahmen. Doch immer noch war sie sehr schwach. Daher blieb das Kind weiter bei Marlene.

Sie hatte jetzt ihr Essen in der Küche frei, auch wurden Kleidung und Windeln geschickt, doch keiner holte das Kind in die Räumlichkeiten der Grafenfamilie. Marlene pflegte das Kind weit über das hinaus, was Ammen gewöhnlich tun mussten, denn sie hatte ihren Pflegesohn liebgewonnen. Er hatte sich gut entwickelt, alle Blutergüsse waren verschwunden. Nur das eine Bein war immer noch empfindlich und seltsam verdreht. Das Gesicht war jetzt fleckig, wie von einem Ausschlag.

Nach vier Wochen erschien Albert bei Marlene und geleitete sie und das Kind bis zu den gräflichen Räumen. Nun musste sie das Kind wohl hergeben und anderen die Pflege überlassen, dachte Marlene. Obwohl für sie dann alles einfacher werden würde, tat es ihr weh. Zu sehr hatte sie sich daran gewöhnt, den Kleinen zu umsorgen. Das Kind wurde ihr von der Hausdame abgenommen. Sie musste wieder vor der Tür warten. Nach einer Weile trat Frau von Lohr heraus. Sie war blass und noch steifer als sonst.

„Nimm ihn und sorge weiter gut für ihn. Ich werde mich um alles Weitere kümmern“, sagte die Hausdame.

„Und die Mutter?“

Müde Augen schauten sie an.

„Die Mutter ist zu schwach. Nun geh schon.“

Zehn Tage später kam der Graf endlich zurück. So schnell er konnte, eilte er zu seiner Frau. Er fand sie in einem Stuhl sitzend vor. Sie war immer noch schwach, doch sie lächelte, als er eintrat.

„Roderick, ich bin ja so froh, dass du da bist“, rief die Gräfin und streckte ihm ihre Arme entgegen. Sie umarmten sich.

„Mein Schatz, wie geht es dir?“, fragte der Graf besorgt.

„Besser, jetzt wo du da bist, geht es mir sicher bald wieder gut.“

Der Graf hielt sie fest und küsste sie zärtlich. Nach einer Weile blickte er sich nach der Wiege um.

„Wo ist das Kind?“

Da verdunkelten sich ihre Augen und sie wandte sich ab.

„Ach, das Kind – ich wünschte, es wäre tot.“

„Was?“, der Graf war erschrocken.

Sie blickte ihn unter Tränen an.

„Es ist so hässlich. Ein kleiner Kobold. Ich kann es nicht um mich haben. Du weißt, wie sehr ich mich auf unser Kind gefreut habe. Aber dieses Wesen – es graut mir davor, es in die Arme zu nehmen. Als es mir besser ging und sie es mir brachten, konnte ich es kaum ansehen. Vielleicht, wenn es größer ist.“

Der Graf war sehr erschüttert. Was für ein Unglück war da über sie hereingebrochen! Er blickte Eleanore ernst an.

„Es ist gut aufgehoben, und bald, wenn es mir besser geht, holen wir es hierher – aber bitte nicht jetzt. Bitte, versteh mich.“

Nein, er verstand sie nicht, aber er liebte seine Frau zu sehr, als dass er ihr diese Bitte abschlagen konnte. Sie dankte ihm unter Tränen und bat, sie ein wenig ruhen zu lassen.

Der Graf ging zurück in seine Räume. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, ließ er seinen Sohn holen. Die Hausdame kam mit dem Kind und legte es ihm in den Arm. Der Graf betrachtete den Jungen. Das Gesicht war nicht ebenmäßig. Dazu der Ausschlag. Trotzdem konnte er nicht verstehen, was seine Frau so erschreckt hatte. Er wusste, dass die Geburt für seine Frau sehr schwer gewesen war und bedauerte seine Abwesenheit sehr. Ausgerechnet in diesen Monaten hatte er sie allein lassen müssen. Vielleicht brauchte sie wirklich nur etwas Zeit. Er sah Hiltrud von Lohr an, doch keine Regung war in ihrem Gesicht zu sehen. Für sie zählten nur die Wünsche ihrer Herrin.

„Ihr sorgt für ihn?“

„Ja, gnädiger Herr.“

„Gut, bis es der Frau Gräfin besser geht, sorgt weiter für ihn.“

Er reichte ihr das Kind zurück.

„Danke, Ihr könnt jetzt gehen“, sagte der Graf.

„Verzeihung, gnädiger Herr.“

„Ist noch etwas?“

„Der Name, mein Herr? Noch hat der Junge keinen Namen.“

„Der Name? – Ich kümmere mich darum.“

Damit war sie entlassen.

Die Taufe fand im kleinsten Kreis statt. Die Gräfin war anwesend, doch sie kümmerte sich nicht um ihren Sohn. Er erhielt den Namen Rudolf von Melac. Alles ging ruhig zu, trotzdem machte die Gräfin einen angespannten Eindruck, und als sich beim Essen zwei Damen über das Aussehen des Jungen unterhielten, hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und verließ ihre Gäste. Der Graf entschuldigte sie, und man sah ihm an, wie sehr es ihn mitnahm. Das Kind wurde zu einem Thema, über das man in der Nähe des Grafenpaares nicht mehr sprach.

Rudolf blieb weiterhin bei Marlene. Ab und zu kam Albert und erkundigte sich nach ihm, ansonsten kam niemand aus dem Schloss. Marlene aber liebte ihn so wie ihren Jakob und war froh, dass er bei ihr war.

Ungefähr ein Jahr nach Rudolfs Taufe gebar die Gräfin Eleanore wieder einen Sohn. Nun herrschte Jubel im Schloss. Mutter und Kind waren wohlauf, und diesmal ließ die Gräfin ihren Sohn nicht aus den Augen. Die Anspannung des letzten Jahres war mit einem Mal von ihr gewichen.

Die Taufe Georgs von Melac war ein kleines Fest mit einer strahlenden Mutter – nur über seinen Bruder durfte weiterhin nicht gesprochen werden. Die Gräfin regte sich schon auf, wenn sein Name fiel, und so blieb der junge Grafensohn im Gesindehaus.

Wenn Marlene Kleidung für ihn bekam, verkaufte sie diese immer und kaufte Kleidung, die zu ihrem Stand passte. So vergaßen die Bewohner des Gesindehauses langsam, dass er eigentlich nicht Marlenes Sohn war. Marlene aber musste arbeiten, sodass die Kinder oft sich selbst überlassen waren. Meistens passten die Älteren auf die Kleineren auf.

Als Rudolf älter wurde, fingen die Hänseleien an. Er hinkte, hatte einen krummen Rücken und das Gesicht war grobschlächtig und unebenmäßig. Die Kinder lachten über ihn, wenn er nicht so schnell war wie sie und schlossen ihn nach und nach von ihren Spielen aus. Da Rudolf zu allem Überfluss auch noch anfing zu stottern, wurde er von allen für dumm gehalten. Nur Jakob, der älteste Sohn Marlenes, spielte gern mit seinem Bruder und verteidigte ihn gegenüber den anderen.

2. Pater Eligius

Die Zeit verrann. Die Gräfin bekam zwei Jahre später ein Töchterchen und auch Marlene bekam noch eigene Kinder. Rudolf, jetzt dreieinhalb, spielte mit seinen Ziehgeschwistern und den anderen Kindern aus dem Gesindehaus. Er hatte es schwer, da er hinkte, das rechte Bein war schwach und schief geblieben.

Der Graf und die Gräfin kümmerten sich immer noch nicht um ihren Erstgeborenen. Rudolfs Geschwister waren wohlgestaltet und freundlich, sie waren der ganze Stolz ihrer Eltern. Beide wussten nichts von Rudolf. Keiner im Schloss durfte die Kinder aufklären.

Der Graf wurde ganz krank, wenn er seinen ältesten Sohn aus der Ferne sah. Ein Tölpel, über den sich alle lustig machten. Was Albert berichten konnte, war auch nicht ermutigend, der Junge sprach kaum und wenn, dann stotterte er. Er war ein körperlicher und geistiger Krüppel. Nein, damit wollte er nichts zu tun haben. Was sollte so ein Kind hier oben? Ja, ja, es war schon gut, wie es gekommen war.

Marlene glaubte nicht, dass Rudolf dumm war, doch sie hatte andere Sorgen, als sich um die Meinung der anderen zu kümmern. Nicht einmal mehr Albert kümmerte sich um das Wohlergehen von Rudolf, es war, als wollten alle seine Existenz vergessen, und sie bekam nur noch unregelmäßig Geld für seine Pflege. So musste sie schauen, wie sie alle satt bekam, und konnte ihre Arbeit als Magd nicht aufgeben.

Mit acht Jahren fing Jakob an, seinem Vater im Stall zu helfen. Rudolf durch Stottern und Hinken isoliert, wurde noch mehr zu einem Einzelgänger. Keiner hatte Zeit oder Lust, sich mit ihm abzugeben. Auch eine Aufgabe wie die anderen Kinder bekam er nicht. So fing er an zu streunen und anderen Streiche zu spielen. Besonders die Köchin konnte man gut ärgern, sie hatte immer etwas zu tun und es standen viele Dinge herum. Bald durfte er sich in der Küche nicht mehr blicken lassen, was die Sache aber nur noch spannender machte. Auch sonst nutzte er jede Gelegenheit, jemanden zu ärgern.

Als Rudolfs Bruder Georg sieben geworden war, holte sein Vater einen Mönch auf das Schloss, der ihn unterrichten sollte.

Marlene lernte Pater Eligius schon kurz nach seiner Ankunft kennen. Hungrig nach der langen Reise, ließ er es sich in der Küche schmecken und erzählte der Köchin, die sich über seinen Appetit freute, den Grund seiner Anwesenheit.

Als er nach dem Mahl aufstand und sich verabschieden wollte, sprach Marlene ihn an: „Ehrwürdiger Herr, Ihr seid hier, um den Sohn des Grafen zu unterrichten?“

„Ja, meine Tochter.“ Der Pater war verwundert, das hatte er doch gerade berichtet.

„So solltet Ihr Euch auch um den Erstgeborenen des Grafen kümmern“, fuhr Marlene fort.

Der Köchin fiel der Löffel aus der Hand. Pater Eligius war nun ganz verwirrt.

„Aber, gute Frau, das tue ich doch.“

„Nein, Ehrwürden, das ist Rudolf.“

„Rudolf?“

Pater Eligius war sichtlich überrascht. Die Frau war offensichtlich eine einfache Magd, was hatte sie die Erziehung der Kinder der Herrschaft zu interessieren?

Marlene führte Pater Eligius hinunter auf den Hof vor dem Gesindehaus. Sie rief nach Rudolf. Der Pater sah sich auf dem Hof um und musterte die Kinder, die in der Nähe spielten. Doch keines schien auf den Ruf der Magd zu hören. Nach einer Weile näherte sich vom Gesindehaus ein Junge. Er hinkte und war in alte Sachen gekleidet. Strähniges Haar fiel in ein verkniffenes Gesicht. Den Fremden blickte Rudolf finster an.

„J–ja, M–m–mutter.“

„Das ist Pater Eligius, Rudolf.“

„N–na und?“

„Ich möchte, dass ihr Freunde werdet.“

Das ganze Erstaunen des Paters war ihm ins Gesicht geschrieben. Rudolf sah ihn misstrauisch an.

„F–F–Freun–n–nde? – Ha.“

Er spuckte aus, drehte sich um und ging langsam zum Gesindehaus zurück. Nun sah man auch seinen schiefen Rücken. Ein hässlicheres Kind hatte der Pater noch nie gesehen.

„Frau, bist du närrisch? Was soll ich mit dem Stotterer?“, rief er unwirsch.

Marlene richtete sich ganz auf. Ihre Stimme war nicht laut, aber fest: „Das war der rechtmäßige Erbe des Grafen von Melac, und es ist Eure Aufgabe, sich um seine Erziehung zu kümmern. Ich war nur die Amme.“

Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen. Er blickte sich nach dem Kind um und sah, dass es ihn beobachtete. Als er grüßend seine Hand hob, verschwand es.

Nachdenklich kehrte Pater Eligius in die Küche zurück, um seine Sachen zu holen. Wie kam diese Frau dazu, so etwas zu behaupten? Nie war von zwei Söhnen die Rede gewesen. Die Köchin tat so, als wäre sie in die Arbeit vertieft. Es war klar, dass sie nicht reden wollte.

Georg sollte nur zwei Stunden am Tag lernen, so hatte der Pater viel Zeit. Er sah sich auf dem Schloss um und freundete sich mit so manchem seiner Bewohner an.

Er war auf dem Weg zur Küche, als er aus dieser recht unchristliches Geschrei hörte. Als er in die Küche trat, musste er an sich halten, um nicht laut herauszulachen. Die Köchin und ihre Helfer standen in einem Chaos aus Mehl und Wasser. Jeder kreischte und schrie nach Leibeskräften. Doch von dem Übeltäter war keine Spur zu sehen.

„Dieses fürchterliche Kind, ach, Herr Pater, was soll man nur machen?“, stöhnte die Köchin.

„Warum beschäftigt ihr ihn nicht mit etwas Sinnvollem?“

„Sinnvollem? Mit diesem Tölpel ist doch nichts anzufangen.“

Die Köchin war entrüstet. Pater Eligius verließ die Küche und sah sich nach dem Jungen um. Der war nicht zu sehen. Bei den anderen Kindern war er jedenfalls nicht. Er begann, sich für den Jungen zu interessieren, der auf der einen Seite von allen für dumm gehalten wurde, sich aber andererseits teilweise hinterlistige Streiche einfallen lassen konnte.

Nichts aber deutete darauf hin, dass es sich so verhielt, wie die Magd gesagt hatte. Und doch. Warum sollte sie so eine Geschichte erfinden? Nun, so oder so, er wollte den Jungen näher kennenlernen. Aber auch wenn er ihn noch so freundlich ansprach, der Junge blieb stumm und ignorierte ihn.

Wieder einmal kam er nach dem Unterricht herunter auf den Hof, da sah er die Kinder hüpfen und tanzen.

„Komm, komm tanz’ mit uns, komm, komm tanz’ mit uns“, sangen sie.

In der Mitte stand Rudolf. Sein Gesicht war versteinert und seine Augen trocken. Trotzdem fühlte Pater Eligius die Qual, die Rudolf in diesem Moment litt. Es waren auch Erwachsene auf dem Hof, von denen es aber keiner für nötig ansah einzugreifen.

Der Pater ging auf die Kinder zu: „Lasst ihn in Frieden!“

Da richtet sich einer der Jungen auf und lachte dem Pater ins Gesicht. „Was soll ich mit dem Stotterer, nicht wahr, Pater?“

Das saß. Er sah Rudolf in die Augen. Auch er hatte seine unbedachten Worte von damals nicht überhört. Hatte er wirklich geglaubt, das Kind würde nicht verstehen, um was es bei jenem Gespräch mit der Magd gegangen war? Die Kinder rannten lachend davon, dem Wortführer von eben nach, nur Rudolf stand noch genauso da wie vorher.

„Verzeih mir, Rudolf, es war falsch, was ich gesagt habe. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“

Rudolf aber drehte sich um und hinkte wortlos davon. Er wirkte dabei so klein und verloren, dass Pater Eligius ihm am liebsten nachgegangen wäre, um ihn zu trösten.

„Ach, Herr Pater“, meldete sich jetzt eine Magd zu Wort, die in der Nähe gestanden hatte, „gebt Euch keine Mühe, er versteht Euch ja doch nicht. Der bekommt doch gar nicht mit, was um ihn herum passiert.“

„Der Spott der Kinder verletzt ihn.“

„Ach was, er versteht’s nicht, und die Kinder haben ihren Spaß.“

Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Pater Eligius aber traf jetzt eine Entscheidung. Gleichgültig, wer der Junge war, keiner auf dem Schloss brauchte ihn so dringend wie dieses vernachlässigte Kind. Seine Mutter hatte nicht die Zeit, sich so um ihn zu kümmern, wie er es brauchte. Aber er hatte die Zeit und würde es tun.

Am nächsten Tag suchte er seine Kutte, sie war aus seinem Zimmer verschwunden. Schließlich entdeckte er sie an der Vogelscheuche, die er von seinem Zimmer aus sehen konnte. Es gab viele Vogelscheuchen auf den Feldern.

‚Nein, dieser Rudolf ist nicht dumm‘, dachte er.

Es freute ihn sogar, dass Rudolf zum ersten Mal Interesse an ihm zeigte. Da er eines der kleinen Häuschen, die sich oberhalb des Gesindehauses auf Höhe des Schlosses befanden, allein bewohnte, brauchte er eine Weile, bis er einen Diener auf seine Situation aufmerksam machen konnte. Der Diener brachte ihm schmunzelnd die Kutte. Dem Grafen verriet er den Grund seiner Verspätung nicht.

Georg war ein braves, williges Kind und tat alles, was Pater Eligius von ihm verlangte, aber er bemühte sich nicht sehr. Er ertrug die zwei Stunden, zeigte jedoch kein tieferes Interesse an dem Lehrstoff. Die Eltern verwöhnten ihn und sorgten sich um ihn. Der Pater bekam ihn für den Rest des Tages nicht zu Gesicht. So blieb die Beziehung ziemlich oberflächlich. Das störte Pater Eligius zwar, doch es war ihm wichtiger, das Misstrauen von Rudolf zu überwinden.

Die einzigen Menschen, denen Rudolf vertraute, waren seine Eltern und Jakob. Auch wenn sein Vater sich wenig um Rudolf kümmerte, so akzeptierte er ihn und behandelte ihn nicht anders als seine eigenen Kinder, außer, dass er ihm keine Arbeit gab. Jakob musste inzwischen voll im Stall mitarbeiten und hatte deshalb ebenfalls wenig Zeit, aber er war weiterhin der einzige der Geschwister, der Rudolf zuhörte oder ihn verteidigte.

Rudolf zog sich oft in eine abseits gelegene Ecke des Hofes zurück. Hinter Mist und Gerümpel fand er Schutz vor den anderen Kindern.

Eines Tages nahm Pater Eligius einen Pflock, Keile, Hammer und Steine und begann, den Pflock in Rudolfs Ecke in den Boden zu rammen. Er wusste, dass sich Rudolf in dem Gerümpel aufhielt, tat aber so, als bemerke er dessen Anwesenheit nicht. Als der Pflock stand, begann er mit ernstem Gesicht, darum zu schreiten und Zeichen auf den Boden zu malen. Sein Verhalten war so merkwürdig, dass Rudolf immer neugieriger wurde. Er kroch aus seinem Versteck, stand auf einmal neben dem Pater und blickte ihn fasziniert an.

„Ach, Rudolf“, sagte dieser, ohne seinen Blick von den Kritzeleien zu nehmen, „gut, dass du da bist. Willst du mir helfen?“

Der Junge blieb stumm.

„Du siehst den Schatten des Pflocks, nicht wahr? Ich habe Steine mitgebracht. Lege von Zeit zu Zeit einen Stein auf das Ende des Schattens.“

Der Pater blickte auf. „Das ist eine wichtige Aufgabe und ich habe nicht die nötige Zeit dafür.“

Pater Eligius stand auf und legte einen Stein auf das Ende des Schattens.

„So, nun muss ich gehen. Pass gut auf den Stock auf.“

Rudolf hatte kein Wort gesprochen, ihn aber auch nicht aus den Augen gelassen.

Erst am nächsten Nachmittag ging der Pater wieder hin. Er war sehr gespannt, ob Rudolf da war und ob er die Steine verteilt hatte. Tatsächlich, sie lagen da. Rudolf kam hinter dem Gerümpel hervor und schaute ihn gespannt an.

„Das ist ja richtig gut geworden. Du warst sehr fleißig. Waren es denn so viele Steine?“

„I–ich m–musste noch w–we–welche h–holen.“

„Wo hast du denn so große gefunden?“

„I–im B–b–bach.“

„Sehr gut. Nun komm her, ich werde dir erklären, was du gebaut hast. Es heißt Sonnenuhr. Weißt du, was eine Uhr ist?“

Nun erklärte Pater Eligius Rudolf, was eine Uhr ist und wie eine Sonnenuhr funktioniert, den Lauf der Sonne und die Jahreszeiten. Rudolf hörte zu und stellte Fragen, je mehr er sich mit all dem beschäftigte, umso weniger stotterte er. Sicher verstand er noch nicht alles, aber man merkte, wie es in ihm arbeitete und er nachdachte. Dem Pater machte es viel Freude, er spürte wie Rudolf jeden Satz aufsaugte und immer mehr wissen wollte. Doch schließlich wurde es dunkel. Der Pater verabschiedete sich und kehrte gut gelaunt in sein Häuschen zurück.

Zwei Tage später sah er Rudolf, wie er zählen übte. Sie hatten auch über Stunden und Zahlen gesprochen. Der Pater meinte, dass er ganz wunderbare Dinge zu zählen kennen würde und so wanderten die beiden über die Felder und zählten, was sie fanden: große Steine im Bach, Zweige am Ast, Blätter am Zweig, Blumen, Finger, Arme, Füße. Dazwischen erzählte Pater Eligius, was ihm einfiel. Für beide war es ein schöner Tag.

Am nächsten Tag war Rudolf wieder am selben Platz und wartete auf den Pater. Wieder unterhielten sie sich stundenlang. Über das Stottern des Jungen hörte Pater Eligius einfach hinweg. Er ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um etwas zu erzählen. Und so ging es weiter – Tag für Tag. Rudolf war wirklich an allem interessiert. Den Pater faszinierte der Junge immer mehr. Wie aufgeschlossen war er jetzt, wie viel verstand er schon, obwohl er gerade acht Jahre alt war und noch nie jemand versucht hatte, ihm etwas beizubringen. Und doch war Rudolf stolz und zeigte seine Unabhängigkeit. Oft wählte Rudolf den Weg, den Ort oder das Thema, das ihn interessierte. Pater Eligius respektierte das und langsam wurden sie tatsächlich Freunde.

Der Pater begann, seinen Schützling auch das Schreiben zu lehren. Die Zahlen machten Rudolf Spaß, doch Buchstaben wollte er zuerst nicht lernen. So brauchte es viel Zeit und Einfühlungsvermögen.

Da die Meinung der Bediensteten über Rudolf feststand, bemerkte Marlene als einzige die Veränderungen. Rudolf war zufriedener und beschäftigte sich jetzt immer mit etwas. Seine Sprache und sein Wortschatz besserten sich.

3. Eduard

Da Pater Eligius tagsüber von Jahr zu Jahr mehr Zeit für seine Zöglinge Georg und nun auch Felizitas brauchte, verbrachte Rudolf seine Zeit meist in der Kammer des Paters oder allein in der Umgebung. Seine Streifzüge führten ihn oft weit fort vom Schloss, und so kannte er sich in der Umgebung gut aus.

Bei einem dieser Streifzüge hörte er ein seltsames Geräusch, seltsam, weil es nicht in die Einsamkeit des Waldes passte, es klang wie das Weinen eines Kindes. Er folgte dem Weinen und fand einen Jungen, der in ein Loch gestürzt war – vielleicht eine alte Falle, vielleicht ein teilweise eingestürzter alter Graben. Auf jeden Fall waren die Wände zu hoch und zu glatt, als dass der Junge herausklettern konnte, und so saß er verzweifelt und verdreckt auf dem Boden. Er schaute gebannt nach oben, viel zu verängstigt, um nach Hilfe zu rufen. Rudolf blickte in die Grube.

„B–B–leib ruhig, ich hole Hilfe“, sagte er zu dem Jungen.

„Bitte, geh nicht weg“, erwiderte dieser und blickte Rudolf eindringlich an.

Er musste große Angst haben. Rudolf überlegte, wenn er in die Grube sprang, konnte er dem anderen zwar heraushelfen, säße dann aber selbst fest. Am Rand der Grube lag ein großer Findling. Doch war Rudolf viel zu schwach, ihn zu bewegen. Es wäre wahrscheinlich auch gefährlich gewesen, den Stein in die Grube zu stürzen. Allerdings lagen rund um den großen Brocken größere und kleinere Steine.

„Gut, pass auf! Geh in eine andere Ecke, ich werfe Steine und Felsen hinunter“, sagte Rudolf nach einigem Nachdenken.

Er fand auch einen starken abgebrochenen Ast, den er sich als Hebel zunutze machte. Der Pater hatte ihm die Wirkungsweise eines Hebels erklärt und nun konnte er es anwenden. Als er damit fertig war, kletterte er hinunter. Gemeinsam legten sie die Steine aufeinander. Dann gelang es den beiden hinaufzuklettern. Müde ließen sie sich ins Gras fallen. Der fremde Junge lächelte Rudolf an.

„Ich heiße Eduard“, sagte er.

„R–Rudolf“, antwortete Rudolf.

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er heute wieder gestottert, doch das schien Eduard nicht zu stören – schmutzig, abgerissen und glücklich, wie er war. Er erzählte ganz unbefangen, wie er in den Wald und in die Falle geraten war und welche Angst er gehabt hatte, da niemand wusste, wo er war.

Er wohnte den Sommer über für ein paar Monate mit seinen Eltern in einem Haus in der Nähe. Rudolf begleitete ihn durch den Wald, auch das er hinkte, störte den glücklichen Eduard nicht. Für ihn war Rudolf ein Held und unheimlich klug, wie er ihn befreit hatte. Bisher fehlten ihm in diesem Sommerdomizil Freunde, und so bat er Rudolf um ein Wiedersehen.

Sein Leben gehöre jetzt Rudolf, da er es gerettet habe, und er wolle einen Geheimbund schließen. Eduard war verträumt. Er träumte oft von Helden und Abenteuern, und so machte er seine neue Freundschaft zu einem Abenteuer. Außerdem hatte er Angst, seine Eltern würden ihn nicht mehr allein weglassen, wenn sie von dem ‚Grubenunglück‘ erfahren würden. Rudolf verstand zwar nichts von Geheimbünden, Männerfreundschaften und ewiger Treue, doch da seine Streifzüge sowieso niemanden interessierten, konnte er leicht Verschwiegenheit schwören. Ihm kam Eduard etwas komisch vor, aber er schien ihn zu mögen, und das war Rudolf genug.

Ab diesem Zeitpunkt trafen sich die beiden Jungen regelmäßig. Rudolf bewunderte die Fantasie Eduards und Eduard den Mut und die Klugheit Rudolfs. Zusammen erfanden sie wunderbare Spiele.

Eduards Eltern, der Baron und die Baronin von Frej, kannten ihren verträumten und verspielten Jungen kaum wieder, und freuten sich, dass er so fröhlich wurde, aber sie erfuhren nichts von Rudolf.

Der Baron, ein reicher und mächtiger Mann, liebte seinen zarten Jungen sehr. Das Leben in der Stadt war nicht gut für Eduard, er kränkelte und darum musste er mehrere Monate pro Jahr aufs Land.

Eduard und Rudolf lernten, einander mit Zeichen zu verständigen wie ‚Ich bin wieder da, hast du Zeit?‘, ‚Komm zum Treffpunkt‘ usw. So blieb diese Freundschaft von allen unbemerkt.

Georg ertrug mit Pflichtbewusstsein noch immer seine Unterrichtstunden beim Pater, doch er träumte von ritterlichen Turnieren und wollte Fechten lernen. Seinem Vater gefiel die Idee, also wurde für Georg ein guter Fechtmeister angeworben. Der Fechtmeister Bernward hatte schon Prinzen und Grafensöhne ausgebildet. Alles, was mit Georg zusammenkam, musste erstklassig sein.

Pater Eligius und der Fechtmeister Bernward lernten sich auf Schloss Melac über ihren Schützling Georg bald kennen. Pater Eligius nahm sich die Zeit, Bernward die Gepflogenheiten auf dem Schloss zu erklären und so freundeten sie sich schnell an.

Alle Kinder, deren Eltern mit Pferden arbeiteten, konnten mehr oder weniger reiten. Durch all das, was er inzwischen gelernt hatte, ermutigt, wollte Rudolf es auch gern lernen. Jakob hatte ein Pferd aus dem Stall besorgt, das jetzt auf einer Wiese angepflockt war. Alt und geflickt war das Zaumzeug. Einen Sattel gab es nicht. Der Pater begleitete Rudolf, aber da er nicht reiten konnte, konnte er nicht viel helfen. Jakob konnte zwar selbst reiten, aber seine Hinweise konnte Rudolf nicht umsetzen.

Bernward hatte von seinem Fenster aus Pater Eligius vom Schloss weggehen sehen, er war ihm gefolgt, da er etwas besprechen wollte. Er hatte ihn aber nicht einholen können, sondern sogar aus den Augen verloren. Als er nun so weiterwanderte, stieß er auf die drei. Er beobachtete sie eine Weile, schüttelte den Kopf und trat zu dem Pferd. Er besah sich das Zaumzeug, richtete es etwas, dann sagte er Rudolf, was er zu tun hatte. Pater Eligius zog sich gern zurück. Bernward sprach nicht viel, knapp und präzise, teilweise sehr barsch kamen die Anweisungen. Erstaunlicherweise gehorchte Rudolf ohne aufzumucken. Ihm war die Anstrengung anzusehen. Dann trat Bernward zu Reiter und Pferd und tätschelte dem Pferd den Hals.

„Es reicht für heute. Du brauchst noch viel Übung“, sagte er.

„Ja, ich weiß.“

„Tja, dann muss ich wohl morgen wiederkommen, wenn aus dir ein tüchtiger Reiter werden soll. Und nun kümmere dich um dein Pferd.“

Er lachte und ging zum Pater. „Dahin verschwindet Ihr also.“

„Ja, das ist mein Lieblingsschüler.“

„Und wer ist er? Ich habe ihn noch nie gesehen.“

„Nun, er lebt im Gesindehaus, außer mir kümmert sich keiner um ihn“, antwortete Pater Eligius.

„Also Samariter. Immerhin hat Euer Schützling ab heute einen eigenen Reitlehrer.“

Beide beobachteten Rudolf.

Bernward bemerkte erstaunt: „Meine Güte, er hinkt ja.“

„Ach, wenn Ihr ihn besser kennen werdet, stört es Euch nicht mehr.“

Rudolf lachte beide an, und wenn er lachte, war sein Gesicht nicht mehr hässlich. Er begann, Bernward über Pferde und das Reiten auszufragen und war so aufgeschlossen, dass sich Pater Eligius wunderte. Noch nie hatte der Junge so schnell einem Fremden vertraut.

Mit Bernwards Hilfe lernte Rudolf nun auch Reiten. Reiten gefiel ihm, das Pferd ersetzte seine kranken Beine. Er lernte, die Hilfen mit den Beinen trotz der Unterschiede gleichmäßig zu geben und sein Pferd zu beherrschen.

Eines Tages beobachtete Rudolf Bernward und Georg bei einer Fechtstunde im Freien. Er war ganz begeistert und fragte Bernward, ob er es auch lernen könne. Bernward versuchte es mit dem Jungen und war erstaunt, dass sich Rudolf trotz seiner körperlichen Mängel auch hierin begabt zeigte.

Bernward wusste, dass Rudolf es durch seine körperlichen Einschränkungen als Erwachsener nicht leicht haben würde und hatte deshalb keine Bedenken, ihm das Fechten beizubringen. Vielleicht war ja trotz allem eine militärische Laufbahn für den Jungen möglich. Intelligent genug war er allemal und reiten konnte er inzwischen wirklich gut.

Die Jahre vergingen. Georgs Unterricht wurde weiter ausgeweitet, und so mussten Pater Eligius und Rudolf sich mit weniger Zeit begnügen. Manchmal saßen sie dann bis tief in die Nacht zusammen, redeten und diskutierten, denn Rudolf ging den Dingen gern auf den Grund.

Rudolf hatte seine Liebe zu Büchern entdeckt. Er wollte immer mehr lernen. Der Reiz des Lernens und Lesen Wollens war so groß, dass Pater Eligius den Jungen dazu brachte, Latein zu lernen. Er glaubte inzwischen, dass Marlenes Geschichte wahr war, denn es schien ein Geheimnis im Schloss zu geben, dass die Gräfin verstummen ließ, wenn auch nur eine Andeutung fiel. Im Kirchenbuch der schlosseigenen Kapelle fand er die Einträge über Geburt und Taufe von Rudolf von Melac. Außer Marlenes Rudolf gab es niemanden dieses Namens auf Melac. Der Pater hielt es für besser, dass Rudolf nicht wusste, wer er war, solange seine Eltern es ihm nicht selbst sagen würden. Er versuchte aber, ihm die Erziehung zu geben, die ihm als Grafensohn zustand. Das war aber durch Rudolfs Lebensumstände nur unvollkommen möglich, denn höfische Umgangsformen kannte auch der Pater nicht. Und das, was er kannte, wie sollte es ein Junge aus dem Gesindehaus lernen? Ohne je eine gedeckte Tafel gesehen zu haben oder sich in höfischer Kleidung zu bewegen.

Er unterrichtete alle drei Kinder und Rudolf war bei Weitem der intelligenteste und aufgeschlossenste. Georg war zwar nicht dumm, aber er wollte immer noch nicht lernen. Er versuchte, dem geistigen Studium aus dem Weg zu gehen, und wenn er Unangenehmes befürchtete, wurde auch dem ausgewichen. Seine Eltern, die ihn verwöhnten, bemerkten das nicht. Denn er war charmant und wusste, sie für sich zu gewinnen. Felizitas hingegen lernte schnell und gern, war aber ebenfalls sehr verwöhnt. Sie wollte und musste der Mittelpunkt sein. Wurde sie nicht beachtet, gab es Zorn und Tränen. Auch sie erhielt von den Eltern alles.

Für Rudolf war die Freundschaft zu Eduard sehr wichtig. Er war außer seinem Bruder Jakob der einzige gleichaltrige Freund, den er hatte. Er freute sich immer auf den Sommer und jubelte innerlich, wenn er die Ankunft der Familie in ihrem Landhaus bemerkte.

Allerdings ging es Eduard von Jahr zu Jahr schlechter. Die gemeinsamen Ausflüge wurden immer kürzer und so verbrachten sie manche Stunde in Eduards Zimmer. Immer auf der Hut vor einer Entdeckung. Je älter Eduard wurde, umso mehr hatte er Angst, dass seine Eltern seinen Umgang nicht dulden würden, umso mehr achteten die beiden darauf, dass niemand sie gemeinsam sah.

4. Ein verwegener Vorschlag

Mit 14 Jahren hatte sich Rudolf zu einem klugen und gewandten Burschen entwickelt. Er hing mit viel Zuneigung an seiner Mutter Marlene, die ihm Liebe und Geborgenheit gab, und an Jakob, seinem Bruder, der ihn immer unterstütze. Aber auch an Eduard und seinen Lehrern.

Marlene war sicher die einzige im Gesinde des Schlosses, die erkannte, dass er schon lange nicht mehr das ungebildete linkische Kind war. Für die anderen war ein hässlicher Krüppel auch dumm, und sie machten sich nicht die Mühe, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Jeder außer Rudolf hatte ja auch seine Arbeit, und das war es, was dem Pater langsam Sorgen bereitete. Rudolf hatte die Erziehung erhalten, um als Grafensohn bestehen zu können, es fehlte ihm nur der gesellschaftliche Umgang, doch machten seine Eltern immer noch keine Anstalten, sich um ihn zu bemühen. Sollte er, Pater Eligius, sie zwingen, Rudolf anzuerkennen? Wie würde der Junge das verkraften? Er war noch sehr jung und einfach aus der Bahn zu werfen. Doch so, wie sie war, wurde seine Stellung mit der Zeit auch unhaltbar.

Pater Eligius und Rudolf saßen abends wie gewöhnlich über seinen Lektionen. Es war ein Thema, das Rudolf mochte, trotzdem war er unaufmerksam und gereizt. Pater Eligius lehnte sich zurück.

„Was ist heute mit dir los?“

Rudolf stand erregt auf. „Wozu die Plage? Es hat ja doch keinen Sinn!“

„Nun, diese Erkenntnis trifft wohl jeden Schüler einmal. Was steckt bei dir dahinter?“

Rudolf trat ans Fenster und blickte in die Nacht.

„Eduard, mein Freund, er war schon immer etwas kränklich, doch nun ist er sehr schwach. Seine Eltern wollen ihn in den Süden schicken, nicht für Monate, sondern für Jahre.“

Der Pater war erstaunt über diese Freundschaft. Er kannte den Baron von Frej, der ab und zu die von Melacs besuchte, wenn er sich in seinem Landhaus aufhielt. Die Baronie der von Frejs gehörte nicht zur Grafschaft Melac, jedoch zum Herzogtum Tours zu dem auch die Grafschaft Melac gehörte. So war der Baron von Frej zwar rangniedriger als der Graf von Melac aber nicht sein Untertan. Das Landhaus hatte der Baron von seiner Mutter geerbt und nun kam es seinem Sohn zugute. Pater Eligius wusste auch, dass Eduard, das einzige Kind, von schwacher Gesundheit war und oft allein. So hatten sich also unbemerkt von allen zwei Einzelgänger gefunden, denn nur um Eduard von Frej konnte es sich handeln.

„Eduard von Frej kann nur im Süden gesund werden“, bemerkte Pater Eligius.

„Ich weiß, und doch verliere ich meinen besten Freund“, sagte Rudolf traurig.

Nachdem Rudolf gegangen war, dachte Pater Eligius über das Gehörte nach. Es kamen ihm einige Ideen, die auch seine Sorgen um Rudolf betrafen und, wenn sie sie auch nicht lösten, sie doch wenigstens vertagten.

Am nächsten Tag kürzte er den Unterricht für Georg und Felizitas und machte sich auf den Weg, den Baron zu besuchen. Da der Graf von Melac ihn einmal vorgestellt hatte, konnte er es wagen. Er wurde auch freundlich eingelassen und empfangen. Beide, der Baron und die Baronin, waren anwesend. Sie ließen sich die Überraschung, die sein Besuch bedeutete, nicht anmerken. Was er wollte, war nicht einfach, und er hatte keine Ahnung, wie er beginnen sollte.

„Was habt Ihr, Vater, irgendetwas bedrückt Euch?“, fragte da nach einiger Zeit belanglosen Geplauders die Baronin.

„Nun, ich habe wirklich etwas auf dem Herzen, doch ist es so ungewöhnlich, dass ich nicht weiß, wie ich beginnen soll. Bitte erlaubt mir ein offenes Wort. Euer Sohn Eduard ist so krank, dass er in den Süden reisen soll?“

Die Baronin wurde sehr ernst und ergriff die Hand ihres Gatten.

„Wir müssen es tun“, antwortete dieser, „es geht um Eduards Leben. Selbst hier auf dem Lande geht es ihm nicht mehr besser.“

„Eduard hat bei uns auf Melac einen Freund, wie ich glaube einen sehr guten Freund und ...“

„Einen Freund?“, wunderte sich die Baronin, „Eduard hat uns nie von einem Freund erzählt.“

„Sie haben ihre Freundschaft geheim gehalten, auch ich habe erst gestern davon erfahren. Es kam mir die Idee, dass dieser Freund Eduard in den Süden begleiten könnte. Er ist für seine 14 Jahre schon sehr selbständig.“

„Aber wir können einen fremden Jungen doch nicht einfach mitreisen lassen“, meinte der Baron.

„Vielleicht ist dieser Freund der Grund, dass Eduard immer so gerne hierhergekommen ist“, sagte die Baronin mit nachdenklicher Stimme, „es stimmt schon, er war hier immer mehr unterwegs als in der Stadt. Erzählen Sie etwas mehr von dem Jungen.“

Der Pater hatte einen Tag lang über alles nachgedacht, er wollte den von Frejs nicht die Wahrheit sagen. Es war die Aufgabe des Grafenpaares, sich zu Rudolf zu bekennen. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn er es ohne ihre Erlaubnis in die Welt tragen würde.

„Seine Eltern gehören zur Dienerschaft von Schloss Melac. Er hinkt und hat es deshalb schwer, aber er ist freundlich, hilfsbereit und klug.“

„Eduard soll mit einem Dienstbotenjungen Freundschaft geschlossen haben? Dann ist es ja gut, wenn der Unsinn jetzt aufhört.“

Der Baron war nicht begeistert von dem, was er da hörte. „Und wieso kennt Ihr diesen Jungen?“

„Nun, ich kümmerte mich um ihn, weil niemand anderes Zeit für ihn hatte. Er ist mir wie ein Sohn ans Herz gewachsen. Seine Eltern haben kein Geld. Rudolf, so heißt er, würde aber arbeiten, da bin ich sicher. Er könnte Eduard als Diener oder Gesellschafter begleiten.“

„Ihr glaubt, es bedeutet ihm so viel?“, fragte die Baronin.

„Ja, das glaube ich.“

„Eduard sieht die Notwendigkeit der Reise zwar ein, aber es fällt ihm sehr schwer, von allem Abschied zu nehmen. So lange er fort ist, können wir ihn auch nicht besuchen. Die Reise ist einfach zu lang, er weiß das“, erläuterte der Baron mit ernstem Gesicht.

Eduards Eltern blickten sich an.

„Könnt Ihr uns morgen den Jungen vorstellen?“, fragte die Baronin.

„Oh, wie gern, aber eine Bitte habe ich noch, sagen Sie ihm nichts von meinem Vorschlag, die Enttäuschung wäre zu groß, wenn es nicht ginge.“

„Das versteht sich. Gut, wir werden Ihren Schützling kennenlernen und uns dann entscheiden.“

Pater Eligius war auf dem Heimweg sehr erleichtert. Er war froh über den Verlauf des Gesprächs, sie hatten nicht direkt abgelehnt. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit für Rudolf. Natürlich würde es ihm leidtun, seinen Schützling zu verlieren, aber es war sicher gut für ihn, Melac zu verlassen.

Der Baron kehrte, nachdem er den Pater verabschiedet hatte, zu seiner Frau zurück.

„Eduard und ein hinkender Dienstbotenjunge, das geht doch nicht!“, rief er verärgert und schüttelte den Kopf.

„Das dachte ich zuerst auch, aber Pater Eligius machte auf mich einen guten Eindruck, er würde so etwas Abwegiges nicht vorschlagen, wenn er es sich nicht ganz genau überlegt hätte“, erwiderte die Baronin.

„Er liebt den Jungen und sieht den Tatsachen nicht ins Auge.“

„Und was sind die Tatsachen? Das unser Junge ganz allein, ohne Familie und Freunde, nur mit einem Arzt und einem Diener, für Jahre, an einen fremden Ort reisen muss. Seit er es weiß, geht es ihm merklich schlechter. Unter normalen Umständen hätte ich auch etwas gegen solch einen Umgang, aber wenn es ihm hilft und ihm die Situation erleichtert, so ist es mir recht. Wir sollten den Jungen kennenlernen. Ich werde versuchen, ihm ohne Vorurteile zu begegnen.“

„Gut, um Eduards Willen werde ich es auch tun, aber ich wünsche wirklich, wir könnten ihn begleiten.“

Doch das war alles schon tausendmal erörtert worden und so schwieg die Baronin. Sie setzte ihre ganze Hoffnung in diese Reise.

Rudolf war am nächsten Tag immer noch niedergeschlagen. Doch er willigte ein, Pater Eligius auf einem Spaziergang zu begleiten. Sehr erstaunt war er, als sie sich dem Landhaus des Barons näherten. Der Pater klopfte an die Tür des Landhauses. Ein freundlicher Diener öffnete und führte sie in den Salon.

„Setz dich“, meinte der Pater, „weißt du, wo wir sind?“

„Natürlich, in Eduards Haus.“

„Ja, vielleicht können wir deinen Freund besuchen.“

Noch bevor Rudolf etwas erwidern konnte, trat die Baronin ein.

„Guten Tag, Pater Eligius“, grüßte sie den Pater, „und das ist wohl Rudolf.“

Sie lächelte Rudolf an. Dieser war so überwältigt von der schönen, freundlichen Dame, dass er kein Wort hervorbrachte und sich nur verbeugte. Noch nie hatte er solch ein Kleid gesehen, solch ein Zimmer und nun wurde ihm auch noch Milch und Kuchen angeboten. Die Baronin war so fasziniert von dem erstaunten Ausdruck in Rudolfs Gesicht und den strahlenden Augen, dass sie seine Hässlichkeit übersah. Obwohl ihm alles fremd sein musste, war sein Verhalten höflich und korrekt. Nach dem Mahl hielt es Rudolf jedoch nicht mehr aus.

„Bitte, darf ich Eduard sehen?“, fragte Rudolf.

Die Baronin lächelte wieder und rief einen Diener. Etwas später kam ihr Mann, trug Eduard herein und legte ihn vorsichtig auf das Sofa.

„Rudolf“, rief dieser freudig erstaunt.

Rudolf stand auf und lief zu seinem Freund. Die Erwachsenen sahen den Glanz in den Augen der Freunde. Beide hatten gedacht, sie würden sich nicht mehr sehen.

Der Baron schaute auf seine Gemahlin, diese lächelte milde, dann sagte er zu seinem Sohn: „Willst du, dass Rudolf dich begleitet, Eduard?“

Dieser strahlte seinen Vater an.

„Oh, ja, wie gern!“

„Gut, so reist gemeinsam.“

Ein Aufschrei kam von Rudolf. Er umarmte seinen Freund, dann lief er zur Baronin. Das Wunder geschah, sie streckte die Arme aus und drückte ihn fest an ihre Brust. Rudolf weinte vor Glück. Er bedankte sich bei dem Pater und dem Baron, es war der schönste Tag seines Lebens. Er wusste nicht, wohin mit seiner Freude.

Dann ließen die Erwachsenen die beiden Jungen allein. Sie hatte im Nebenraum noch Wichtiges zu besprechen, war doch der Reisetermin schon in drei Tagen. Pater Eligius bedankte sich überschwänglich.

Man holte den jungen Arzt Dr. Duval, der Eduard begleiten und unterrichten sollte, dazu und erklärte ihm, dass er zwei Jungen zu betreuen habe. Der Baron würde für alle Kosten aufkommen. Eduards Eltern waren sich der Verantwortung bewusst, die sie hiermit für ein fremdes Kind übernahmen, und Pater Eligius versicherte nochmals, dass Rudolfs Eltern sicher keine Einwände haben würden.

Auf dem Weg nach Hause war Rudolf ganz verzaubert.

„Ist es wirklich wahr?“

„Aber ja“, antwortete Pater Eligius.

„Ich darf mit Eduard in den Süden. Erzählt mir, wie wird es da sein?“

Tausend Fragen hatte er, Pater Eligius hatte ihn nie so glücklich erlebt. Er war wie ein Vogel, dem man die Käfigtür öffnete.

„Erzähle niemandem etwas, außer deinen Eltern“, bat der Pater zum Abschluss des Gesprächs.

Rudolf versprach es.

Der Pater ging sofort zu Marlene. Sie war traurig, aber einverstanden. Auch sie hielt es für gut. Der Pflegevater konnte mit Rudolf sowieso nicht viel anfangen, ihm war es recht.

Um das Grafenpaar machten sich weder Pater Eligius noch Marlene Sorgen, Rudolf war ihnen wichtiger. Das Missfallen des Grafenpaares würde er in Kauf nehmen. Da die von Melacs nicht wussten, dass der Pater Rudolf kannte, wollte Pater Eligius sie auch nicht über die Reise unterrichten. Sein Groll gegen die Gleichgültigkeit der wahren Eltern war so groß, dass er fand, dass sie nicht gefragt werden sollten. Alle waren sich einig, dass es sonst auf dem Schloss niemand zu wissen brauchte.

5. Die Reise in den Süden