Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Richard der älteste Sohn vom Bürgermeister und Chef der größten Ort's ansässigen Firma in Himmelstadt, wurde verflucht. Seitdem haust er als Waldgeist in dem angrenzenden Waldgebiet. Die Bewohner mieden aus Angst seither den Wald. Denn er wurde als ein böser Waldgeist verschrien, der sogar arglose Wanderer, die es wagten, den Wald zu betreten, zu töten. Nur wenn Richard jemand fand, der ihn sehen und hören konnte, kann er sogar außerhalb des Waldes seine Macht ausüben. Aber nur der Kuss der wahren Liebe, schafft es, ihn von dem Fluch des Teufels zu erlösen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der Waldgeist und der Fluch des Teufels
von Jessika M. Reiter
Vorwort
Es begann vor langer Zeit. Da lebten in der kleinen Stadt Himmelstal zwei Brüder, die nicht ungleicher sein konnten. Richard war zu dem Zeitpunkt zwanzig Jahre und sein kleiner Bruder Marius achtzehn Jahre alt. Richard war stets freundlich, hilfsbereit, fröhlich und hatte eine Freundin mit dem Namen Kira. Marius hingegen war arrogant, selbstverliebt und neidisch besonders auf Richard. Seinen wahren Charakter sah man ihm äußerlich nicht an. In der Öffentlichkeit zeigte er sich stets freundlich und charmant. Ihr Vater war der Bürgermeister der Stadt und auch der Besitzer einer gut gehenden Firma, in der Richard, sobald er verheiratet war, die Leitung übernehmen sollte. Was Marius auf keinen Fall gut fand. Er glaubte, dass nur ihm das Recht auf Führung der Firma und der Stadt zustünde. So wie die Freundin seines Bruders.
Es war Freitag der Dreizehnte und die Sonne ging bereits unter. Richard hatte vor sechs Tagen, am Sonntag beim mittäglichen Familienessen, die Verlobung mit Kira bekanntgegeben. Bei der Verkündung sah Marius rot, dennoch gratulierte er ihnen mit einem falschen Lächeln und wünschte den beiden sogar ein glückliches Leben. Worüber er sich noch mehr ärgerte, war der Heiratszeitunkt. Richard und Kira wollten in zwei Jahren Heiraten, wenn sie mit der Ausbildung fertig war. Insgeheim setzte er einen langgehegten Plan nun endlich in die Tat um. Er wollte das Leben, das Richard führte, aber dazu musste sein Bruder erst verschwinden. Daher nutzte er Richards Liebe zu Kira und seine Hilfsbereitschaft schamlos aus. Mit einem listigen Vorwand lockte Marius seinen Bruder in den Wald. Er sagte: „Ich soll dir von Kira ausrichten, dass sie im Wald an eurem Lieblingsplatz auf dich wartet.“
„Hat sie gesagt um was es geht?“, wollte Richard von seinem Bruder wissen.
„Nein, hat sie nicht. Vielleicht geht es ja um eure bevorstehende Hochzeit? Du kennst doch unsere Mutter und auch die von Kira’s. Sie haben immer die besten Vorschläge. Ich denke, sie will einfach nur mit dir alleine sein um für ein paar Augenblicke aus den Fängen der Kletten - Mütter zu entkommen.“
„Wem sagst du das“, lachte Richard fröhlich.
Marius lachte mit, musste sich jedoch dazu zwingen. „Ich komm ein Stück mit und halte dir den Rücken frei, falls uns jemand begegnet,“ sagte er, um seine Anwesenheit zu erklären und warum er immer noch neben Richard herging. Richard dachte sich, gutmütig wie er war, nichts dabei. Während beide munter plaudernd weiter in den Wald zu dem Plateau auf dem kleinen Hügel hinaufgingen, von wo man eine sehr gute Aussicht über die gesamte Stadt hatte. Oben angekommen sah sich Richard sofort nach Kira um. Sie war jedoch nicht da. Er rief nach ihr: „Kira, komm raus, wo steckst du?“
Eben wollte Richard Marius fragen, ob er sich in der Uhrzeit geirrt hatte und drehte sich zu ihm um. Da sah er gerade noch, wie etwas auf ihn zuflog und das wütende Gesicht seines Bruders, bevor alles um ihn dunkel wurde. Es verging eine geraume Zeit bis er leise stöhnend und blinzelnd die Augen aufschlug, schloss sie aber gleich wieder. Richard wollte seinen Kopf halten, weil dieser vor Schmerzen nur so pochte, konnte jedoch seine Hand nicht heben. Verwirrt riss er die Augen wieder auf und sah über sich den schwarzen Himmel, an dem unzählige Sterne leuchten. Das war auch das Einzige, was zu sehen war. Noch nicht einmal der Mond ließ sich blicken. Er drehte vorsichtig den Kopf und da tauchte das Gesicht seines Bruders über ihm auf. Er wollte aufstehen, doch etwas hinderte ihn auch hier an seinem Vorhaben. Verwirrt sah er zu seinen Händen, die am Boden festgebunden waren. Selbst seine Beine konnte er nicht mehr bewegen. Wegen der Dunkelheit sah er nicht den Grund, aber er befürchtete, dass auch sie am Boden befestigt worden waren. Schemenhaft konnte er die Baumwipfel weit über ihm erkennen, die sich immer heftiger im stärker aufkommenden Wind hin und her bewegten. Das Rauschen der Blätter verstärkte die unheimliche Atmosphäre, um ihn herum.
Ahnungslos und verstört fragte er Marius: „Was soll das? Lass den Blödsinn und mach mich los! Und wo ist Kira?“
„Kira ist nicht da, und das ist gut so. Keine Sorge, sobald du nicht mehr da bist, werde ich mich gut um sie kümmern.“
„Was meinst du mit: Wenn ich nicht mehr da bin? Ich bin hier und jetzt binde mich wieder los. Und wir vergessen das Ganze.“
„Das werde ich ganz und gar nicht, denn endlich habe ich dich da, wo du hingehörst.“
„Marius, was willst du von mir?“
Er bekam jedoch keine Antwort darauf. Ungeduldig und genervt rüttelte Richard an seinen Fesseln. Schaffte es zu seinem Verdruss nicht, sie zu lockern oder sich sogar von ihnen zu befreien. Im Augenwinkel fiel Richard auf, wie Marius etwas neben ihm auf den Boden schüttete und ihn damit umkreiste. Es war eine dunkle und dickflüssige Flüssigkeit. Weil sie nicht streng nach etwas Brennbarem roch, zum Beispiel wie Benzin, machte er sich keine allzu großen Sorgen. Richard wollte trotz seiner misslichen Lage Marius dazu bringen, dass er diesen Blödsinn sein ließ. Ein ungutes Gefühl wuchs schlagartig in seinem Magen zu einem großen Klumpen an. Der Geruch von warmem Blut kroch in seine Nase. Angeekelt versuchte er so ruhig wie möglich in dazu zu überreden, ihn wieder loszubinden.
„Bitte Marius, binde mich los. Wir können doch in Ruhe über alles reden.“
Auf seine Bitte hin lachte Marius nur: „Haha, haha …“ Und machte in seinem Vorhaben einfach weiter.
„Marius sprich mit mir. Was willst du von mir? Geld?“
„Pah, du bietest mir Geld an?“ Er äffte ihn spöttisch nach. Erbost tauchte erneut sein Kopf über Richards auf und er spuckte ihm die nächsten Worte regelrecht ins Gesicht. „ICH WILL NICHT NUR DAS GELD, ICH WILL AUCH DEIN LEBEN!“
„Mein was ...?“, brachte Richard gerade noch heraus, bevor ihm Marius zu guter Letzt auch noch den Mund mit einem Knebel verschloss.
„So, jetzt ist Ruhe! Ich muss mich für den nächsten Schritt konzentrieren und da stören deine nutzlosen Bitten nur.“ Unverständlich murmelte er vor sich hin. „Das alte Buch, in dem ich den Fluch gefunden habe, war schon teuer genug. Der Halsabschneider von Bibliothekar hat mir geschworen, dass dieser Foliant echt sei. Wehe der funktioniert nicht. Dann wird er es mit büßen. Aber zuerst kümmere ich mich um meinen überflüssigen Bruder.“
„Mmmh ....“, kam es undeutlich zurück. Wütend über seinen eigenen Bruder zog und zerrte Richard energischer an seinen lästigen Fesseln. Leider scheiterte jeder seiner Versuche, diese endlich loszuwerden.
Schon fast liebevoll tätschelte Marius Richards Wange, bevor er sich erhob, und sich zu seinen Füßen stellte. Von einem Blatt Papier las er die nächsten Worte ab. Um die Buchstaben auch lesen zu können, nutzte er ein Feuerzeug. In dem flackernden Licht erschien Marius Gesicht regelrecht gespenstisch. Richards Augen wurden groß, als er die Worte hörte und die Panik ergriff nicht nur seinen Geist, sondern auch sein Herz.
„Ich verfluche Dich, du wirst leiden, bis der letzte Tag der Erde naht. Dein Blut und deine Seele opfere ich dem Teufel, und du wirst alleine in der Hölle schmoren. Im Gegenzug bekomme ich dein Leben, dein Erbe und deine Frau. Du wirst im Nichts enden. Niemand wird kommen um dich zu retten. Ich werde mich dafür weich betten. Keine Frau wird dich je sehen können, es sei denn sie kann den Sinn des Lebens deuten.“
Richard lag wie erstarrt da und konnte sich vor Schreck nicht mehr rühren. Das verstärkte seine innerliche Panik um ein Vielfaches. Währenddessen schossen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, die er wegen des Knebels im Mund nicht laut aussprechen konnte. Hilfe, was ist das? Warum kann ich mich jetzt gar nicht mehr bewegen? Und wieso wird es auf einmal so eiskalt? Warum tust du mir das an, Marius? Mit mir hättest du doch immer reden können und gemeinsam hätten wir einen Weg gefunden, der für uns beide akzeptabel gewesen wäre. Zitternd lag er regungslos da und es blieb ihm nichts anders übrig, als hilflos zuzusehen, als Marius anzustarren.
Wie aus dem Nichts quoll aus allen Ritzen des Bodens stinkender Qualm hervor. Richard versuchte Marius von seinem Tun abzuhalten, jedoch ohne Erfolg. Marius beachtete seinen Bruder vor ihm keine Sekunde. Sein Blick war nur auf das Blatt Papier in seiner Hand gerichtet. Bald konnte Richard vor lauter Rauch, der nach Schwefel stank und den Boden bedeckte, nichts mehr erkennen. Von dem Geruch nach faulen Eiern musste er einen starken Hustenanfall unterdrücken, denn der Knebel in seinem Mund ließ dies nicht zu. Plötzlich kam ein starker Sturm auf, der den Gestank fortwehte. Etwas erleichtert atmete er durch die Nase tief ein und wieder aus. Was aber der Qualm zurückließ, war mehr als beängstigend. Eine dunkle Gestalt kam näher und musterte erst Marius dann Richard von oben nach unten. In Richards Adern stach es eiskalt, wie von tausend spitzen Nadeln, die ihn unfähig machten, sich auch nur einen Hauch zu bewegen.
„Warum ruft Ihr den Teufel? Warum stört Ihr mich? Wenn es keinen guten Grund gibt, werdet Ihr das grausam bereuen,“ dröhnte eine herrische Stimme über das Plateau hinweg.
Hastig antwortete Marius: „Ich biete Euch das mickrige Leben meines Bruders und seine Seele an, dafür will ich an seiner Stelle sein Leben führen.“
„Das ist ein sehr mageres Angebot. Ihr wollt das Leben Eures Bruders führen, den Ihr in einen billigen Kreis aus frischem Hühnerblut gelegt habt? Und dafür bietet Ihr mir seine Seele? Das ist nicht viel.“ Nachdenklich umrundete der Teufel Richard und blieb am Ende vor Marius stehen. Trotz der Dunkelheit konnte Richard die beiden recht gut erkennen. Der Teufel war in einen schwarzen, wehenden Umhang mit einer Kapuze gehüllt. Aus dem Grund konnte er sein Gesicht nicht sehen. Dafür spürte er seine finstere Aura umso besser. Sie war mehr als beängstigend. Richard wollte weder hier noch jetzt sterben. Er hatte sich doch gerade erst verlobt, mit der großen Liebe seines Lebens. Und das sollte er nicht mehr erleben? Meine arme Kira, was soll aus dir werden, wenn ich ... nein, den Gedanken wollte er nicht zu Ende denken. Auf keinen Fall!
Marius glaubte schon, sein perfider Plan würde scheitern, weil sein noch lebendiger Bruder eine zu kleine Gabe war. Verzweifelt suchte er nach einer Lösung, damit sein Wunsch doch noch erfüllt werden würde.
Ein leises Rascheln ließ sie aufhorchen und der Teufel fing gemein an zu grinsen.
„Ich nehme Euer Angebot an ...“ Er war schon versucht, weiter zu reden, aber er ließ es sein. Denn sonst wäre er nicht der Teufel höchstpersönlich.
Marius jubelte innerlich auf und freute sich schon auf sein neues Leben. Und zwar eines ohne seinen von allen geliebten Bruder.
Der Teufel griff unter seinen Umhang und holte einen Kristall hervor. Mit einem langen, scharfen Fingernagel stach er sich in den Finger und ließ sechs Blutstropfen darauf fallen, um den Pakt zu besiegeln. Dabei sprach er die Worte: „Dieser Stein ist eine Träne von mir. Sie gibt Euch die Macht und niemand kann diese brechen, es sei denn, es käme jemand, der keine Angst ...“, bei den restlichen Worten hörte Marius nicht mehr zu. „… der keine Angst vor dem Teufel hat, dem wird das Leben geschenkt.“ Stattdessen starrte er gierig auf den Kristall, der innerlich ein kurzes Aufleuchten von sich gab. Marius konnte sich schon in seinem neuen Leben sehen, endlich frei ohne seinen verhassten Bruder. Er konnte es kaum erwarten, den Kristall endlich in Empfang zu nehmen. Der Teufel griff so schnell nach Marius Hand, dass der es zu spät mitbekam, als dieser ihm ebenfalls in die Hand stach und mit weiteren sechs Blutstropfen den Kristall tränkte. „Mit diesem Pakt ist nun unser Vertrag besiegelt.“ Ein letztes Mal glomm ein Flackern im Innern auf, was ebenso schnell wieder erlosch.
Damit verschwand der Teufel, so schnell wie er gekommen war. Diesmal jedoch nicht so spektakulär, wie bei seinem Erscheinen. Mit ihm verschwand auch Richard und zurückblieb auf dem Teufelstisch Marius, mit den Kristall in seiner Hand und ein Fremder unweit von ihm entfernt.
Marius Plan war gewesen, seinen Bruder zu töten, aber der Fluch schlug fehl. Ohne dass es jemand bemerkt hätte, hielt sich ein einsamer, schlafender Wanderer in ihrer Nähe auf dem Teufelstisch auf, um hier friedlich die Nacht zu verbringen. Dieser verstarb in dem Augenblick, in dem Richard verschwunden war. Nur, Richard verschwand nicht gänzlich, sondern fristete nun sein Dasein als Waldgeist. Dieser besaß nur im Wald eine ganz bestimmte Macht und konnte diese auch dort ausüben. Richard konnte sich in die Waldbewohner, sei es Tier oder Pflanze, verwandeln. Zudem besaß er die Fähigkeit, im Wald das Wetter zu verändern. Davon wusste Marius jedoch nichts, denn er hatte in dem Vertrag mit dem Teufel das Kleingedruckte nicht gelesen. Wenn Richard jemand fände, der ihn sehen konnte und ihm Stärke und Kraft gab, konnte er auch außerhalb des Waldes seine Macht ausüben. Mit Hilfe dieser Person konnte er sich von dem Fluch befreien und den Fluch auf eine andere Person übertragen.
Himmelstal
Zehn Jahre Später ...
Nora fuhr gut gelaunt mit ihrem SUV einer kurvenreichen Landstraße entlang, über einen Pass durch einen dichten Wald hindurch. Die Sonnenstrahlen glitzerten durch die Baumwipfel und erzeugten dadurch ein magisches Licht. Es glich einem Tanz von Elfen und Feen zwischen den Ästen. Nora war von dem Anblick so fasziniert, dass sie langsamer weiterfuhr und das Spiel der Sonne beobachtete.
In der Ferne konnte sie weiter unten im Tal eine kleine Stadt erkennen. Ein Kirchturm und die Dächer der Häuser waren zwischen den Lücken der Bäume recht gut zu sehen. Etwas weiter hinten, am Stadtrand, befand sich eine große Villa, mit ihren Zinnen, die weit in die Höhe ragte. Nicht weit davon entfernt stand ein noch größeres Gebäude, das eine Fabrik oder Firma sein konnte. Aber das interessierte sie keineswegs, dafür kam ihr das Örtchen für etwas anderes sehr gelegen. Denn schon vor einigen Stunden hatte sich ihr Magen bemerkbar gemacht. Seitdem ärgerte sich Nora darüber, dass sie auf ihre Dienstreise aus ohne Proviant gestartet war. Was so gar nicht ihre Art war. Sie konnte es kaum erwarten, endlich dort anzukommen. In der Hoffnung, es gäbe in dem Ort auch ein Restaurant oder zumindest ein kleines Café, um ihren quälenden Hunger zu stillen. So fuhr sie geradewegs darauf zu.
Eine halbe Stunde später tauchten die Häuschen in ihrer vollen Pracht vor ihr auf. Als wüsste ihr Magen, was bevorstand, knurrte er voller Vorfreude auf etwas Essbares. Kaum passierte sie das Ortsschild ‚Himmelstal‘, hielt sie kurz an. Erneut las sie das Schild, „Herzlich willkommen in Himmelstal, Einwohner 886.“
Den Namen des Ortes fand Nora sehr romantisch. Ebenso gefiel ihr die malerische Gegend. Es war genau das, was sie für ihren Auftrag, einen Bildband der schönsten Orte, brauchte. Daher nahm sie sich vor, genau hier eine Pause einzulegen. Vielleicht bekam sie heute auch noch ein paar schöne Motive vor ihre Kameralinse. Ihr Magen stimmte ihr mit einem weiteren Knurren zu.
Der Verlauf der Straße brachte sie auf dem direkten Weg in den Ortskern. Dort entdeckte Nora ein kleines Café am Marktplatz. Voller Vorfreude steuerte sie den freien Parkplatz davor an. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem ‚Himmlisches Törtchen‘ in einer verschnörkelten Schrift geschrieben stand. Stirnrunzelnd sah sie sich weiter um. Neben dem Café befand sich die Post ‚Götter Bote‘. Auf der anderen Straßenseite stach ihr das Schild eines kleinen Ladens ins Auge, darauf stand; Götter - Nahrung. Sogar die Straßennamen klangen himmlisch. Die Straße mit dem kleinen Restaurant lautete „Engelsweg“. Die auf der sie in den Ort gelangt war, hieß „Das Tor zum Himmel“. Links führte die „Göttliche Throngasse“ direkt mit einem kleinen Hinweisschild zum Rathaus.
Ungläubig murmelte sie vor sich hin: „Bin ich hier im Himmel gelandet?“ Über diesen Gedanken, konnte sie nur den Kopf schütteln. „Mich würde es jetzt auch nicht wundern, wenn hier anstelle von Menschen, Engel wohnen würden.“
Die vielen himmlischen Namen fand sie zwar etwas eigenartig, aber dennoch hatte es der Ort ihr angetan. Die Straßen waren schmal, links und rechts davon standen verschieden - farbige kleine Häuschen mit Erker. Der Architekt hatte regelrecht eine Märchenwelt zwischen einem dichten Wald und einem Bergpanorama, mitten in der Landschaft, erschaffen.
Nora war von dem Anblick wie verzaubert und begann sich ein wenig in den Ort zu verlieben. Daher nahm sie sich vor, nicht nur zum Essen, sondern gleich eine Nacht länger zu bleiben. Sie hatte ja alle Zeit der Welt, es würde vollkommen reichen, wenn sie am nächsten Tag ihre Reise fortsetzte. Zum Glück hatte sie kein festes Ziel und konnte somit kommen und gehen wie sie wollte.
Nora besaß mitten im Herzen von Memmingen ein kleines Fotostudio, das Kellys Pictures. Ihre Spezialität war besonders die Erstellung außergewöhnlicher Bildbände, die einen magischen Flair versprühen. Leider war in den letzten Monaten die Auftragslage nicht sehr berauschend gewesen. Denn dank der heutigen Technologie kam kaum noch jemand in ihr Fotogeschäft, um seine Bilder bearbeiten zu lassen. Oder bei ihr einen Bildband zu bestellen. Heutzutage hatte jeder ein Handy, das schon recht gute Fotos machen konnte. Aus diesem Grund war sie überglücklich, dass sie einen neuen Auftrag bekommen hatte. Drei Wochen vor ihrer Abreise, kam ein fremder Mann in ihren Laden und bestellte einen Bildband von den schönsten und außergewöhnlichsten Wäldern in Deutschland.
Müsste Nora ihren Kunden beschreiben, würde sie sagen: „Er war durchschnittlich groß, mit dunklen Haaren und einer nichtssagenden Erscheinung.“ Sie würde ihn in einer Menschenmenge nicht herausfinden können. Er sah zu allgemein aus, an ihm gab es keine auffälligen Merkmale, die ihr sofort ins Auge stachen. Sie war zudem auch sehr aufgeregt, endlich einen so großen und gut bezahlten Auftrag bekommen zu haben. Ganz besonders, weil auch alle ihre Ausgaben und Spesen bezahlt werden würden. Daher hatte sie nicht auf sein Äußeres geachtet. Für Nora war er einfach ein reicher Naturliebhaber, der nicht wusste, wohin mit dem Geld. Ihr konnte es ja egal sein, warum er einen Bildband über die deutschen Wälder haben wollte. Die Hauptsache war, sie hatte einen Auftrag, der endlich wieder Geld in die Kasse brachte und sie vor dem einstweiligen Ruin verschonte. Darüber lachte ihr Herz voller Freude, sodass sie alles andere um sich herum kaum wahrnahm.
Am liebsten wäre Nora sofort losgefahren und hätte gesehen, wohin die Wege sie führten. Da, wo es ihr gefiel, wollte sie einen oder zwei Tage bleiben, einige Bilder machen und dann wieder weiterziehen. Ihre Arbeit bestand darin, besondere, mystisch wirkende Orte einzufangen. Zusätzlich sollte der Platz ruhig sein und zum Verweilen einladen. Sie hätte auch nichts dagegen, wenn er auch etwas Geheimnisvolles ausstrahlen würde. Dieser Bildband sollte für jeden Naturliebhaber einen Anreiz geben, wo er besondere romantische Plätze finden konnte, um vom Großstadtleben Abstand zu bekommen. Das war zumindest die Aussage ihres Kunden für diesen Auftrag. Worauf er allerdings noch bestand, verwirrte sie anfangs etwas. Sie tat es aber dann doch mit einem Schulterzucken ab. Sie sollte im östlichen Teil Deutschlands mit ihrer Bildersuche starten. Sein Wunsch war besonders der Bayerische Wald.
Nora überlegte, ob sie für die Zeit ihrer Abwesenheit den Laden schließen oder eine Aushilfe nehmen sollte. Am Ende entschied sie sich doch, während ihrer Abwesenheit zu schließen. Denn die letzten Worte des Kunden waren: „Ich komme für alle Ausgaben auf.“ Daher fiel es ihr die Entscheidung nicht schwer.
Die Vorbereitungen für ihre Foto - Tour benötigte sie weitere Tage. Zusätzlich wollte sie die Route zumindest grob planen. Sie hatte vor, nur die Strecken zu fahren, die eher abseits aller Hauptstraßen und Autobahnen verliefen. Nachdem endlich alle Aufgaben und Planungen erledigt waren, ging es schließlich auf die Reise.
So landete Nora in dem beschaulichen Ort Himmelstadt. Dieses Fleckchen Erde war schon mal ein Blickfang. Sogar die Bewohner flanierten mit einem Lächeln im Gesicht über die Straßen. Überzeugt, hier eine Weile zu bleiben, suchte sich Nora einen Parkplatz und fand ihn direkt vor dem Café eine freie Lücke. Dort stellte sie ihren Wagen ab und stieg aus. Im Weggehen schloss sie mit einem Drücken auf ihren Schlüsselkey das Auto ab. Hungrig betrat Nora das ‚himmlische Törtchen‘.
Neugierig und erstaunt sah sie sich im Lokal um. Sie hatte ja nicht viel erwartet, aber mit so einer Einrichtung hätte sie hier nie gerechnet. Jede Sitzgruppe sah anders aus. Kleine runde Tische, an denen bunte Stühle standen, mischten sich unter die Eckige. Dazwischen ergänzten nostalgische Sofas die Inneneinrichtung. Jede Seite der Wände war anders tapeziert von Lilienmuster bis hin zu Retro, dennoch war alles irgendwie stimmig, mitsamt den kleinen Dekorationen. An einigen der Tische saßen weitere Gäste, die bei ihrem Eintreten kurz aufsahen, sich jedoch sofort wieder in ihre Gespräche vertieften. Links von ihr stach ihr eine große Glas - Theke mit verschiedenen Kuchen und Torten, von sahnig bis fruchtig, ins Auge. „Ich bin gespannt, ob das Essen hier genauso schmeckt, wie es der Name des Cafés verspricht,“ murmelte sie kaum hörbar.
„Davon können Sie ausgehen“, kam eine weibliche Stimme von rechts neben ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit von der Einrichtung ab.
Nora sah einer elfengleichen jungen Frau ins Gesicht. Diese lächelte sie freundlich an. „Hallo, mein Name ist Kira und Sie sehen hungrig aus.“ Bevor Nora etwas erwidern konnte, antwortete ihr Magen mit einem vernehmlichen Knurren, für sie. „Das heißt ganz deutlich ‚ja‘,“ lachte Kira fröhlich.
Verlegen nickte Nora und antwortete zusätzlich: „Oh ja, und wie.“
„Dann kommen Sie, ich habe einen sehr schönen Platz. Der wird Ihnen bestimmt gefallen.“
Die kleine zierliche Kira führte Nora in den hinteren Bereich zu einem Sofa im Retrostyle mit Blick auf das Rathaus. „Danke, Sie haben wirklich ein außergewöhnliches Café.“
„Ja, das höre ich öfter.“ Sie lachte herzlich auf. „Was darf ich Ihnen bringen? Wir haben verschiedene Kuchen, Torten und Sandwiches.“
„Ich hätte gerne einen Kräutertee und ein Käse Schinken Sandwich.“
„Sehr gerne“, schon verschwand Kira in Richtung Küche.
Es dauerte nicht lange, da stand sie wieder neben ihrem Tisch. Sie stellte ein Kännchen mit einem gefüllten Teeei und einen Teller, auf dem ein frisch gegrilltes Sandwich lag, vor Nora auf den Tisch. Der köstliche Duft des Essens ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Lassen Sie sich es schmecken, und wenn Sie noch einen Wunsch haben, brauchen Sie nur zu rufen.“
„Danke, das sieht echt lecker aus“, bedankte sich Nora, ohne den Blick von ihrem Essen zu heben.
Kira ging zurück zu ihrer Theke und Nora probierte ein Stück von ihrem Sandwich. Bei dem Geschmack des würzigen Schinkens und Käses, der frischen Tomaten, des Salates und einer cremigen Soße, schloss sie genüsslich die Augen. Langsam kaute sie den Bissen, um jede einzelne Geschmacksnote zu genießen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, glaubte Nora aus dem Augenwinkel, jemand beobachtete sie von draußen durch das Fenster. Verwirrt sah sie in die Richtung, nur da war niemand. Schulterzuckend wandte sie sich mit dem Gedanken: Komisch, ich dachte, da stünde jemand. Jetzt sehe schon etwas, was nicht da ist, wieder ihrem Essen zu.
Geraume Zeit später schaute Kira an ihrem Tisch vorbei und fragte: „Ist alles in Ordnung, oder haben Sie noch einen Wunsch?“
„Danke, alles bestens. Aber eine Frage hätte ich. Kann man in dem schönen Städtchen auch übernachten?“
„Ja natürlich, wir haben hier das Himmelsruh. Es ist eine Pension gleich zwei Straßen weiter und wird von Richarda geführt.“
„Das klingt gut, aber ich hätte gerne etwas, was abgeschiedener wäre. Vielleicht etwas an einem See oder mit Waldblick, wo man gut Spazierengehen kann.“
„Da wenden Sie sich am besten an die Stadtverwaltung, die bieten im Wald kleine Cottages an. Ist allerdings nur was für ganz Wagemutige oder Lebensmüde Gäste.“
„Klingt interessant, werden die Cottages oft gebucht?“
„Zum Glück nicht. Die Gäste, die hierher kommen, bleiben bei Richarda und fragen noch nicht einmal nach einer Übernachtungsmöglichkeit im Wald. Die Verwaltung hatte schon vor langer Zeit die Angebote aus ihrem Programm herausgenommen. Denn in dem Wald haust ein böser Waldgeist, der es nicht schätzt, wenn jemand sein Reich betritt. Keiner von uns will ihn zu sehr verärgern. Darum meiden wir den Wald. Ich fühle mich im Wald auch nicht wohl, dennoch findet man darin die leckersten Beerensträucher.“
„Dann gehen Sie trotzdem hinein, auch wenn es darin spuken soll?“ Nora fand die Vorstellung, wie Kira mit einem Körbchen ängstlich zitternd in den Wald ging, um ein paar Heidelbeeren zu pflücken, schon zum Schmunzeln, tat es jedoch nicht vor ihr.
„Ja, aber nicht sehr weit. Ich brauche die Beeren für meine Kuchen. Ich habe aber jedes Mal das Gefühl, ich werde, wenn ich dort bin, beobachtet. Ich finde das so gruselig.“
„Das ist doch normal, wenn man in einem Wald geht, dass man dort beobachtet wird. Der Wald hat nun mal tausend Augen. Das würde mich nicht stören. Ich will jetzt erst recht eines der kleinen Häuschen im Wald mieten,“ bestand Nora darauf. „Danke für den Tipp, ich werde dann in der Stadtverwaltung fragen, ob sie die passende Unterkunft für mich haben. Und wenn nicht, kann ich immer noch in der Pension nach einem Zimmer fragen.“
Kira sah ihr fest in die Augen und meinte: „Aber sagen Sie später nicht, dass ich Sie nicht gewarnt hätte.“
„Kein Problem, ich kann schon selber auf mich aufpassen.“
„Also gut, die Verwaltung finden Sie im Rathaus. Und das können Sie von hier aus mit ein paar Schritten gut erreichen. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, dann können Sie es schon sehen. Es ist das große rötliche Haus mit der großen Parkanlage. Aber ich würde Ihnen jedoch davon abraten. Meiden Sie bitte in den Wald.“
„Vielen Danke für Ihre Warnung. Ich finde ihn jedoch sehr ansehnlich.“ Sie versuchte den Wal, als harmlos hinzustellen. Denn sie konnte sich von ihm ja schon ein recht gutes Bild machen. Während der Fahrt entdeckte sie bereits schöne Fotomotive.
„Halten Sie sich trotzdem von dem Wald fern,“ wiederholte Kira energischer und versuchte, sie von ihrem Plan abzuhalten. Aber Nora sah nicht so aus, als würde sie auf ihren guten Rat hören wollen. Besorgt schaute Kira ihren Gast an.
Allmählich nervte Nora Kira‘s Sorge um sie: „Danke für den guten Rat. Ich würde dann gerne bezahlen.“ Es wurde Zeit, dass sie endlich ging, um sich eine Unterkunft zu suchte.
In selben Moment ging die Tür auf und ein schlanker Mann Ende zwanzig betrat die Gaststube. Kira legte Nora die Rechnung auf den Tisch und begrüßte beim Aufsehen den Neuankömmling. „Hallo Marius, willst du die Torte für deinen Vater abholen?“
„Guten Abend Kira, ja bitte. Ist sie fertig?“
„Sicher, ich bringe sie dir gleich. Einen Moment bitte, bin gleich bei dir.“
Nora warf nur einen flüchtigen Blick auf den Mann, der breit lächelnd in seinem Shirt und den Jeans lässig dastand und ebenfalls zu ihr hinübersah. Sie jedoch richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kira und zog ihren Geldbeutel heraus. Mit einem letzten Blick auf die Rechnung legte sie zehn Euro auf dem Tisch und sagte: „Stimmt so.“
Kira dankte mit einem Lächeln und steckte das Geld ein. Nora stand auf und steuerte den Ausgang an. Beunruhigt wollte Kira ihr noch einmal den guten Rat mit auf den Weg geben: „Gehen Sie bitte nicht in den Wald, der ist echt lebensgefährlich“, und sah ihr hinterher. Nora hob die Hand und winkte lässig ab, dabei ging sie knapp an Marius vorbei, der sich sofort ungefragt in ihre Unterhaltung einmischte: „Das würde ich Ihnen auch raten. Der Wald hier ist nicht sicher. Ganz besonders junge hübsche Frauen verschwinden darin ganz schnell und spurlos.“
Aber die Zwei kannten Nora nicht. Je vehementer man ihr verbot etwas zu tun, umso mehr wollte sie es dann erst recht machen. So nickte sie ihnen nur knapp zu. „Danke für die Warnung, ich werde daran denken.“ Was sie jedoch nicht laut sagte, war: so ein Blödsinn. Ich glaube nicht an Geister. Und erst recht nicht an solche, die junge Frauen verschleppen. So einen Schwachsinn habe ich ja noch nie gehört. Wenn mich aber jetzt schon zwei vor dem Wald warnen, will ich erst recht dort hinein. Wäre doch mal spannend, einen Geist kennenzulernen. Besonders, wenn er angeblich so böse sein soll. Vielleicht ist es ja der Teufel persönlich. Das wäre hochinteressant. Ob ich ihn um ein Interview bitten könnte? Ich wollte schon immer von ihm wissen, wie es ihm in der Hölle gefällt. Noch besser wäre es, einen Bildband über ihn zu erstellen. Das wäre echt mal was ganz anderes, und ich könnte ihn bestimmt gut verkaufen. Vielleicht will sogar der Papst einen. Nora musste bei den verrückten Gedanken schmunzeln. Jetzt erst recht hoffte sie insgeheim, dass die Stadtverwaltung genau das Passende für sie frei hatte.Und zwar etwas, eines das genau mitten im Wald stand.
Mit dem Vorhaben hob sie zum Abschied die Hand: „Danke für alles. Wünsche euch noch einen schönen Abend.“ Zufrieden und satt verließ sie das Café. Sie musste an einem Fenster des Cafés vorbeigehen, um zu ihrem Wagen zu kommen. Da sah sie, wie sich die zwei unterhielten und zu ihr hinausschauten. Dabei gab die kleine Kira diesem Marius einen sachten Boxhieb in den Bauch. Er lächelte sie an und hob lässig die Schultern. Für Nora war das, das Zeichen, dass die Beiden sie nur auf den Arm genommen hatten. So viel dazu, dass im Wald jemand herumspuken soll. Wer´s glaubt wird selig. Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln auf den Lippen ging Nora weiter.Die Sonne begann langsam hinter dem mit dichten Bäumen bewachsenen Berg zu verschwinden. Stirnrunzelnd sah sie in den Himmel und meinte knapp: „Oh, so spät schon? Wenn ich noch einen Schlafplatz will, sollte ich mich beeilen. Nicht, dass ich mich in der Dunkelheit im Wald verlaufe. Sofern die Stadtverwaltung für mich dort ein nettes Cottage hat,“ murmelte sie nachdenklich vor sich hin.
Nora steuerte geradewegs das Rathaus an, das inmitten einer prächtigen Anlage stand. Das Haus besaß an allen Ecken - einen Erker mit kunstvollen Stuckumrandungen. Die Wandfarbe war ein warmes Terracottarot. Sie kam sich vor wie in Italien auf einem romantischen Weingut, als sie über die gepflegten Wege zum Eingang ging. Hoffnungsvoll schaute sie an der Tür auf die Öffnungszeiten: „Was für ein Glück, es ist noch geöffnet!“, rief sie erfreut aus. Erleichtert betrat sie den Vorraum. Der Innenraum war sehr gut mit der Außenfassade abgestimmt. Hier drin fühlte sie sich sogar, als hätte sie Deutschland verlassen und wäre in Italien angekommen. Leicht verwirrt über diesen Kulturrausch stand sie einfach nur da und wusste im nächsten Moment nicht mehr, was sie hier eigentlich wollte.
Eine freundliche, weibliche Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch benötigte sie einige Augenblicke, um ihre Gedanken wieder zu sortieren. Erst jetzt entdeckte sie den kleinen Schalter links von ihr. Dahinter saß eine ältere Dame mit einer strengen Hochsteckfrisur. Nora trat zu ihr und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn die Dame vor ihr steckte in einem fröhlichen, bunt - geblümten Kleid, das eher zu einem jungen Mädchen gepasst hätte und nicht zu einer Frau Anfang sechzig. Dafür nahm das Kleid etwas von der Strenge, die ihre Frisur ausstrahlte. Hinter ihr befanden sich Regale mit unzähligen Schubfächern, in denen Prospekte für Ausflüge und Anträge lagen.
Sie rückte ihre Lesebrille auf der Nase zurecht, als sie Nora kommen hörte, was ihr erneut eine leichte Strenge verlieh. Doch ihre Stimme klang freundlich und melodisch: „Guten Abend, wie kann ich Ihnen helfen?“
Nora sah auf ihr Namensschild: „Guten Abend, Frau Gloria, ich hätte gerne etwas Abgelegenes für eine Nacht. Möglichst nah am oder im Wald. Haben Sie da etwas Passendes für mich?“
Die ältere Dame sah sie entgeistert an: „Wie bitte? Sie wollen im Wald übernachten? Wir haben mitten im Ort eine gemütliche Pension, das ‚Himmelsruh‘. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber dahin gehen möchten? Die ist echt ...“
Nora unterbrach die Frau leicht genervt und sagte mit fester Stimme: „Ja, ich bin mir sicher. Ich glaube nicht an Spukgeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt. Und es ist schließlich nur für eine Nacht.“
Allmählich glaubte Nora, dass sie nicht in einer Himmels - Stadt gelandet war, sondern im Tal der Paranoiden. Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich gut wäre, wenn sie hierbliebe. Aber dann müsste sie auf die Schnelle eine andere Ortschaft mit einer Unterkunft finden, die ebenso einen faszinierenden Charme versprühte wie diese hier. Sie war schon seit dem frühen Morgen unterwegs, und die Müdigkeit machte sich so langsam bemerkbar. Nora wollte nur noch einen Platz zum Schlafen, aber die Pension fiel nicht in die engere Wahl. Ihr hatte es der Wald einfach angetan. Ernst sprach sie weiter: „Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen. Ich bin viel zu fertig, falls es tatsächlich in dem Wald spuken sollte, würde ich es eh nicht mitbekommen. Dazu bin ich viel zu müde. Ich würde das Erscheinen des Geistes mit Sicherheit verschlafen.“
„Na gut, wie Sie meinen, aber ich übernehme keine Verantwortung. Wenn Ihnen etwas passieren sollte, kann ich nichts für Sie tun.“
„Das müssen Sie auch nicht. Bin schon selber groß und kann auf mich aufpassen.“
„Gut, wie Sie meinen. Aber sagen sie hinterher nicht, dass ich sie nicht gewarnt hätte.“ Gloria sah auf den Bildschirm vor ihr und klickte einige Male mit der Maus. „Sie haben Glück, wir haben im Wald ein kleines Ferienhäuschen frei.“
„Das klingt doch großartig. Ich nehme es!“ Nora freute sich schon auf eine ruhige Nacht, nur mit den Stimmen des Waldes um sie herum.
Gloria wandte sich zu den Regalen hinter ihr und entnahm aus einem Fach die Unterlagen für die Anmeldung. Diese reichte sie Nora. „Es ist ein kleines Cottage, es steht etwas versteckt im Wald. Ich schreibe Ihnen noch die Wegbeschreibung auf. Sie müssen sich aber genau daran halten, ansonst verfahren Sie sich darin und keiner würde Sie in diesem Wald mehr finden. Sie wäre nicht die Erste, die spurlos darin verschwinden würde. Den Schlüssel für die Haustür finden Sie unter der Fußmatte.“
Nora sah sie nachdenklich an. Frauen sind im Wald verschwunden? Dann stimmte es doch, was dieser Marius vorhin gesagt hatte? Komisch, es sah so aus, als wollten die Zwei im Café mich nur auf den Arm nehmen. Egal, ich riskiere es einfach. „Vielen Dank,“ sagte sie und wollte noch wissen: „Ist in dem Preis auch ein Frühstück inbegriffen?“
Darauf antwortete Gloria nur sehr knapp, da sie noch mit dem Notieren der Wegbeschreibung beschäftigt war: „Nein, dafür müssten Sie selber sorgen. Schräg gegenüber vom Rathaus gibt es ein Lebensmittelgeschäft oder Sie frühstücken im ‚Himmlischen Törtchen‘.“ Was sie jedoch nicht laut sagte, war: „Wer weiß, ob sie am nächsten Morgen noch da ist und ein Frühstück benötigt.“ Schließlich legte Gloria den Zettel vor Nora auf den Tresen und beschrieb ihr die Zeichnung mit den vielen Strichen. „Wir sind hier“, sie deutete auf das kleine Kreuz, das sie darauf gemalt hatte. „Sie fahren hier vom Rathaus aus mit dem Auto durch die Sonnen - Gasse immer geradeaus, bis Sie an einen Kreisverkehr kommen.“ Bei ihren Worten folgte sie mit dem Finger den Strichen auf der Zeichnung. „Dort fahren Sie die erste Ausfahrt raus, in den Sturmweg. Folgen Sie dieser Straße immer geradeaus. Dieser führt geradewegs in den Wald. Jetzt müssen Sie genau aufpassen. Im Wald sind die Wege nicht ausgebaut, und einer sieht aus wie der andere. Sobald Sie in den Wald hineingefahren sind, fahren Sie etwa 503 Meter, dann biegen Sie links ab und die fünfte Möglichkeit wieder rechts. Diesem Weg folgen Sie genau 439 Meter, dann fahren Sie genau auf die Hütte zu. Achten Sie dabei auf ihren Tachometer. Sollten Sie von den Metern abweichen, könnte Sie der Wald einfach verschlucken.“
„Na, das werde ich doch wohl schaffen. Sie haben es mir ja alles so schön notiert,“ bestätigte Nora selbstbewusst. Die Frau übertreibt echt. So groß ist der Wald doch nicht, dass er einen Menschen mit samt Auto verschlucken kann.
Skeptisch nickte Gloria und meinte noch: „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Es reicht, wenn Sie den Schlüssel morgen bei der Abreise wieder unter die Fußmatte legen. Hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Danke, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“ Kopfschüttelnd fragte sich Nora mit jeder Minute mehr, wo sie hier nur gelandet war? Das Städtchen hatte so viel Positives versprochen, aber ihr Tag wurde immer skurriler. Nora nahm das Stück Papier mit der Wegbeschreibung. Sie wollte nur noch bei der Hütte ankommen und in ein Bett schlüpfen. Wenn in der Unterkunft sogar noch ein Kaffee herausspringen sollte, wäre der Tag gerettet.
Bevor Nora durch die Tür verschwand, rief Gloria ihr hinterher: „Halten Sie sich genau an die Entfernungsangaben, das ist sehr wichtig!“
Zum Abschied hob Nora die Hand und verließ das Rathaus. Auf dem Vorplatz blickte sie in den Himmel, der den Sonnenuntergang in den Farben orange bis rot aufleuchten ließ. Hinter ihr brach allmählich die Nacht herein. Zügig ging sie zurück zu ihrem Wagen, um noch im restlichen Tageslicht den Weg zu der Hütte im Wald zu finden.
Auf dem kurzen Fußmarsch zu ihrem Auto staunte sie nicht schlecht. An der Fahrertür lehnte ein großer, in einen Anzug gekleideter Mann, der sie mit einem strahlenden Lächeln ansah. Stirnrunzelnd kam Nora näher, und sah ihn betrachtete ihn etwas genauer und fragend an.
„Guten Abend, schöne Frau. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er freundlich.
Seine Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie hatte sie erst vor kurzem schon einmal gehört. Nachdenklich kramte sie in ihren grauen Zellen, wo das gleich wieder gewesen war. Da fiel ihr Blick auf das Café und schon fiel es ihr wieder ein. Der Mann vor ihr war derjenige, der die bestellte Torte für seinen Vater abgeholt hatte. Vergeblich überlegte sie, wie er gleich noch mal hieß. Sie wusste noch, dass Kira ihn beim Namen genannt hatte, aber Nora hatte dem keine Beachtung geschenkt. In dem Café trug er legere Kleidung, eine Jeans und T-Shirt. Jetzt jedoch - steckte er in einem feinen Nadelstreifenanzug. Nora konnte sich keineswegs vorstellen, was er hier in dem Aufzug von ihr wollte. Eigentlich war es ihr auch egal, sie wollte endlich in ihr Auto steigen und um zu ihrer Unterkunft zu fahren. Daher sagte sie in einem freundlichen, aber bestimmten Ton: „Nein, danke. Ich habe alles was ich brauche.“
„Schade, aber vielleicht sehen wir uns ja bald mal wieder. Bleiben Sie länger in unserer schönen Stadt?“
„Nein, morgen fahre ich wieder weiter. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss los.“
„Das ist aber sehr schade. Dann sehen wir uns morgen zum Frühstück in der Pension! Ich freue mich.“ Mit einem breiten Lächeln verabschiedete er sich und ging in die Richtung, aus der Nora eben gekommen war.
Empört über seine Dreistigkeit, sah sie ihm kurz hinterher. „Was war das denn? Er stellt sich noch nicht einmal vor, aber ich soll mit ihm frühstücken? Von was träumt er nachts? Das Komische an dieser Situation war, seine Worte klangen eher nach einem Befehl und nicht nach einer Bitte oder einer Frage. Frechheit, glaubt der Schnösel etwa, dass ich mich einfach so morgen mit ihm treffen werde?“ Verärgert über so viel Frechheit schüttelte sie vehement den Kopf, stieg in ihren Wagen ein und fuhr in dieselbe Richtung, in die er gegangen war. Als sie an ihm vorbeikam, sah sie stur gerade aus, nur um ihn nicht sehen zu müssen.
Leider schaute sie in den Rückspiegel und sah, wie er ihr mit einem wissenden Lächeln zuwinkte. Auf einmal wedelte er stärker mit den Armen, als wolle er, dass sie anhielt. Schnell richtete sie ihren Blick wieder nach vorne auf die Straße. Irgendwann verschwand seine große, schlanke Gestalt aus ihrem Blickfeld. Innerlich grollte Nora vor sich hin, es wäre besser gewesen, sie hätte hier nie angehalten. Aber um eine neue Unterkunft zu suchen, war es zu spät. Zum Glück wusste er nicht, dass sie nicht in der hiesigen Pension eingecheckt hatte. Da fiel ihr ein. Stimmt, er glaubt, ich hätte bestimmt in der Pension Himmelsruh ein Zimmer bezogen. Bei dem Gedanken musste sie lachen. Da kann er morgen gerne zum Frühstücken gehen und auf mich warten, bis er schwarz wird. Auf einen Schlag verbesserte sich ihre schlechte Laune schlagartig, als sie sich vorstellte, wie er dort an einem Tisch mit einer Tasse Kaffee saß, und auf sie wartete und zwar völlig umsonst.
Kurz warf Nora einen Blick auf die Notizen, die ihr Gloria aufgezeichnet hatte, um den richtigen Weg zu finden. Vor ihr sah sie den Kreisverkehr und verglichen den noch einmal mit deren Notizen. Darauf stand, bei der ersten Ausfahrt rausfahren. Dieser Anweisung folgte sie und las das Schild ‚Sturmweg‘. Jetzt brauchte sie der Straße nur noch zu folgen und müsste auf diesem Weg genau in den Wald kommen. Die Fahrt dauerte keine fünf Minuten, schon passierte sie die ersten Baumreihen. Mit einem Blick auf die Tachoscheibe stellte Nora die Kilometerangaben auf null, um genau die richtige Abzweigung zu erwischen.
„Jetzt geht es 503 Meter in den Wald, dann muss ich links abbiegen.“
Der Weg war sehr steinig und schlecht ausgebaut. Bei jedem Schlagloch, das sie durchfuhr, war sie froh, dass sie sich beim letzten Autokauf für einen SUV entschieden hatte und nicht für den tiefergelegten Sportwagen, der daneben gestanden hatte. Auf ihrem Weg passierte Nora einige Abzweigungen. Mit einem eigenartigen Gefühl fuhr sie an jeder vorbei, denn die Angaben von dieser Gloria waren noch nicht erreicht. Je näher sie dem Tachostand 503 Meter kam, umso mehr verfolgte sie die Zahlen, wie sie jeden neuen Meter anzeigte. Endlich tauchte die erhoffte Ziffer auf. Nora wollte sogleich links abbiegen. Bloß, da gab es keinen Weg, der in diese Richtung führte. Verwirrt verglich sie den Tageskilometerzähler und die Beschreibung auf dem Papier und beides stimmte überein. Aber der Wald hatte wohl eine eigene Meinung, die ihr sagte, hier geht es nicht weiter.
„Wo bitte ist die holprige Straße, die hier abgehen müsste? Dafür gibt es rechts einen breiten Weg.“ Nora überlegte angestrengt: Ob die gute Gloria hier rechts und links verwechselt hatte? Ihre innere Stimme flüsterte ihr zu: „Halte dich an die genauen Angaben“.
Nur, hier käme sie mit dem Wagen nicht durch die Wildnis. Aussteigen und zu Fuß durch den mittlerweile dämmrigen Wald zu laufen, darauf hatte sie keine Lust. Daher entschied sie sich für den rechten Weg. Langsam bog sie ab und folgte diesem in der Hoffnung, den richtigen Weg gewählt zu haben. Leider stand sie plötzlich an einer T- Kreuzung und nach den Notizen müsste sie rechts, aber da sie eben anstelle von links rechts abgebogen war, glaubte Nora, dass sich Gloria auch hier getäuscht hatte. So fuhr sie links und versuchte, den letzten 439 Metern genau zu folgen.
Je weiter sie in den dichten Wald vordrang, umso bedrohlicher und düsterer wurde es um sie herum. Die Dunkelheit verhinderte, dass sie ohne ihre einzige Lichtquelle, den Scheinwerfern ihres Wagens, nichts mehr sehen könnte. Diese leuchteten die Bäume an und ihre Schatten zeigten sich als unheimliche Geister, die an ihr vorbeiflogen. Am Tag sah der Wald verträumt, romantisch und malerisch aus, aber in der Nacht zeigte er ihr sein zweites Gesicht. Nora hoffte inständig, dass sie sich eben richtig entschieden hatte und diese Gloria ihr bloß eine falsche Wegbeschreibung mitgegeben hatte. Dennoch zog langsam ein Unwohlsein ihren Magen zusammen. Alleine im nirgendwo in einem dunklen dichten Wald, war sie sich bald nicht mehr so sicher, ob sie hier noch richtig war. Im Schritttempo kroch sie Meter für Meter weiter in den Wald hinein. Bei jeder passierten Baumreihe überlegte Nora, ob es nicht doch besser wäre, umzudrehen und in der Pension zu übernachten. Aber dann fiel ihr wieder der Schnösel von vorhin ein, der mit ihr Morgen dort frühstücken wollte. „Oh nein, das geht auf keinen Fall. Der Kerl ist mir zu selbstherrlich und anstatt freundlich zu fragen, bestimmte er einfach. Ich lass mir nichts aufzwingen, wenn ich es selber nicht will. Da übernachte ich lieber in meinem Auto.“
Aus diesem Grund verbot sie sich, den Rückwärtsgang einzulegen und umzudrehen. So kroch sie langsam weiter in die Dunkelheit hinein. Dabei ließ sie den Tachostand nicht aus den Augen, um ihr gewünschtes Ziel nicht zu verpassen. Zu ihrem flauen Magengefühl gesellte sich nun auch das Gefühl, dass sie von leuchtenden Augen beobachtet wurde, hinzu. Nora schluckte ein paarmal, um das neue Gefühl zu verdrängen. Eigentlich war sie kein ängstlicher Mensch, aber dieser Wald war irgendwie anders, als die, die sie sonst kannte. Immer wieder redete sie sich selber gut zu: „Mensch Nora, jetzt stell dich nicht so an. Klar wirst du hier beobachtete. Hier, wie in jedem Wald, leben unzählige Tiere von kleinen Insekten bis hin zu den Fleischfressenden ... Damit meine ich natürlich die ganz niedlichen Füchse, vielleicht auch einen Luchs. Die mich- kleinen Eindringling unter die Lupe nehmen, ob ich ein Freund oder ein Feind bin.“
Allmählich zweifelte Nora an sich selber, ob sie sich richtig entschieden hatte. Denn je näher sie der 439 Meter Marke kam, tauchte weit und breit nichts auf, was einer Unterkunft ähnelte. Noch nicht einmal eine Scheune oder einen Unterstand für Tiere konnte sie entdecken. Innerlich rang sie mit sich selbst, ob es nicht doch besser wäre, wieder umzudrehen. Zur Not würde sie in den sauren Apfel beißen und doch morgen mit dem Schnösel frühstücken. Auch wenn es ihr voll gegen den Strich ging.
Wie aus dem nichts tauchte plötzlich etwas Großes vor ihrem Wagen, im Lichtkegel ihrer Scheinwerfer, auf. Ein großer grauer Wolf stand unweit von ihrem Wagen im Weg. Vor Schreck stieg sie auf die Bremse, zum Glück war sie nicht sehr schnell unterwegs und kam mit einem guten Abstand vor ihm zum Stehen. Um ihren angespannten Körper und ihr rasendes Herz wieder zu beruhigen, atmete sie einige Male langsam tief ein und wieder aus. Zu ihrer Verblüffung rannte der Wolf nicht weg, sonders blieb ganz ruhig vor ihr stehen und sah sie an. Nora kam es so vor, als sähe er genau in ihre Augen, aber das konnte nicht sein. Wegen der grellen Lichter ihres Wagens war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass er sie sehen konnte. Dafür sah sie ihn umso besser. Bewundernd betrachtete Nora das prachtvolle Tier, und ein inniger Wunsch kam in ihr hoch, den sie schon immer verfolgte ... einen wilden Wolf zu streicheln.
„Du bist ja ein schönes Wolfilein. Meinst du, ob ich dich auch mal streicheln dürfte?“ So innig ihr Wunsch auch war, wagte sie es dennoch nicht, auszusteigen und auf den Wolf zuzugehen. So saß sie da und wartete ab, was das Tier vorhatte und ob da noch weitere von seiner Familie herum streunten. Es geschah jedoch nichts. Langsam wurde es ihr zu langweilig nur hier herumzustehen und sie wollte heute schließlich noch bei der Hütte ankommen.
Aber wie sollte sie sich verhalten? Einfach mal abwarten, bis er von selber verschwand, oder wäre es klug, wenn sie die Hupe betätigen würde? Nora hatte mal gehört, dass Tiere, die von einem Lichtkegel geblendet werden, wie gefangen waren und sich nicht mehr rühren konnten. Daher sollte man das Licht ausschalten und die Hupe betätigen, um das Tier aufzuschrecken, damit es sich wieder bewegen und weglaufen konnte.
„Dann wollen wir es mal versuchen. Ich möchte auf keinen Fall, das dem wunderschönen Tier etwas geschieht.“ Ihre nächsten Worte richtete sie an den Wolf, wenn auch in dem Wissen, dass er sie vielleicht weder hören noch verstehen konnte. „Weißt du Wolfilein, ich habe einmal einen ausgestopften Wolf in Hamburg im Zoll Museum gesehen. Es war ein prachtvolles Tier, genau wie du. Mir brach es bei seinem Anblick fast das Herz. Darum geh bitte zur Seite, ich will dir nichts antun.“
Mit einem Handgriff schaltete sie das Licht aus und drückte auf die Hupe. Ein lauter, schriller Ton hallte durch den Wald. Gespannt, ob ihr Werk von Erfolg gekrönt war, knipste sie die Lichter wieder an. Wie erwartet war das Tier zwar vor ihr verschwunden. Dafür stand der Wolf nun etwas abseits am Weg und beobachtete sie weiter. Nora konnte ihn sehen, dabei spürte sie einen festen Blick auf sich gerichtet. Mit einem innerlichen Kopfschütteln schob sie dieses Gefühl von ihm gemustert zu werden, bei Seite. Denn die Erleichterung darüber, dass es so gut funktioniert hatte, überwog alles andere.