Der Washington-Ritus - Stefan Wettke - E-Book

Der Washington-Ritus E-Book

Stefan Wettke

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Beschreibung

Eine brutale, rituelle Mordserie erschüttert die amerikanische Hauptstadt. Der unheimliche Täter scheint bei seinen Morden einem schrecklichen, perfiden Muster zu folgen. Nathan Grant steht zunächst vor einem Rätsel. Mehrere Ermittlungswege scheinen ins Nichts zu führen, bis er bemerkt, dass der Täter, der mit ihm über rätselhafte Botschaften Kontakt aufnimmt, mit der Polizei ein raffiniertes Spiel treibt. Eine tödliche Jagd beginnt.

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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Autor

Stefan Wettke wurde in Heidelberg geboren. Während des Studiums der Germanistik und Sportwissenschaft in Würzburg begann er mit dem Schreiben. Heute lebt und schreibt er auf einem ehemaligen Pferdehof im Odenwald.

Nach dem Erfolg seines Debütromans »Insel der Todeslinien« ist »Der Washington-Ritus« der zweite Teil der Nathan-Grant-Reihe.

Inhaltsverzeichnis

Washington D.C., Vereinigte Staaten, 27. Mai

1. Juni, 18:23 Uhr

2. Juni, 16:37 Uhr

3. Juni, 01:42 Uhr

4. Juni, 19:52 Uhr

5. Juni, 20:05 Uhr

6. Juni, 07:52 Uhr

6. Juni, 8:48 Uhr

6. Juni, 19:43 Uhr

7. Juni, 10:34 Uhr

7. Juni, 11:25 Uhr

7. Juni, 11:35 Uhr

7. Juni, 14:32 Uhr

7. Juni, 18:26 Uhr

8. Juni, 6:23 Uhr

8. Juni, 20:42 Uhr

8. Juni, 22:05 Uhr

9. Juni, 10:30 Uhr

10. Juni, 8:45 Uhr

10. Juni, 9:16 Uhr

11. Juni, 00:13 Uhr

11. Juni, 19:23 Uhr

12. Juni 6:48 Uhr

12. Juni, 13:24 Uhr

13. Juni, 9:41 Uhr

13. Juni, 17:38 Uhr

13. Juni, 23:44 Uhr

14. Juni, 7:57 Uhr

14. Juni, 14:43 Uhr

15. Juni, 7:23 Uhr

15. Juni, 22:35 Uhr

15. Juni, 23:02 Uhr

16. Juni, 8:22 Uhr

16. Juni, 14:57 Uhr

16. Juni, 17 Uhr

16. Juni, 17:32 Uhr

17. Juni, 10:25 Uhr

17. Juni, 22:47 Uhr

18. Juni, 10:52 Uhr

18. Juni, 12:28 Uhr

18. Juni, 15:02 Uhr

18. Juni, 22:10 Uhr

20. Juni, 7:23 Uhr

Epilog, zwei Wochen später

Washington D.C., Vereinigte Staaten, 27. Mai

Es war bereits nach 23 Uhr als Nate Ruthledge die Tür zu dem Wohnhaus hinter sich zu zog und das Gelächter und die ausgelassene Stimmung hinter ihm im Haus plötzlich nur noch gedämpft und wie durch Watte zu ihm drang.

Er seufzte und wandte sich nach einem kurzen Blick durch das Fenster in das erhellte Innere des Hauses ab. Er hatte genug von dieser Party. Er hatte genug von diesen Leuten. Vor allem von der nervtötenden Mrs. Donisle, deren kratzige, vom Rauchen raue und quäkende Stimme ihm jedes Mal aufs Neue wieder durch Mark und Bein ging.

Von den gelben Klauen, die sie selbst noch als Fingernägel bezeichnete, einmal ganz abgesehen.

Ruthledge schüttelte sich und zog den Mantel ein wenig enger um seine Schultern. Wieso hatte er überhaupt zugestimmt, sich zu dieser schwatzhaften Teegesellschaft hinzu zu gesellen? Er wusste es selbst nicht mehr.

Möglicherweise musste es in einem kurzen Zustand geistiger Umnachtung geschehen sein. Aus freien Stücken wäre er niemals …, aber das Thema hatte ja nun zum Glück an Bedeutung verloren.

Er stapfte die vom Nebel und Dunst des abendlichen Regenschauers feuchten Stufen vor dem Haus hinunter und warf einen Blick nach links und rechts. Die Straße und die sich weiter hinten anschließende Pappelallee waren menschenleer.

Leichte Dunstschwaden waberten durch die vereinzelten Lichtinseln der Straßenlaternen und ganz am Ende der Straße konnte Ruthledge die verschwommene Silhouette eines Hundes erkennen, der bald auf die eine, bald auf die andere Straßenseite wechselte.

Er wandte sich ab und steuerte auf die nahezu in komplettem Dunkel liegende Allee aus Pappeln zu, durch die ein schmaler Schotterweg um die letzten Ausläufer der Wohnsiedlung herum und an dem kleinen See entlang hinüber zur Harrington Street führte.

Gewöhnlich war die Strecke bis zu seinem Haus eine Entfernung, die in gut zehn Minuten mit Leichtigkeit zu schaffen war, wobei er wegen der Dunkelheit und der Unebenheit des Schotterpfades bei diesen Sichtverhältnissen mit Sicherheit gut fünf Minuten mehr einkalkulieren musste. Leise fluchte er in sich hinein. Er hätte doch den Wagen nehmen sollen.

Aber wer hätte schon ahnen können, dass sich der Geburtstagstee der alten Lady derart lange hinziehen würde. Er warf einen kurzen Blick auf das beleuchtete Ziffernblatt seiner Breitling, ehe er in den dunklen Hain aus Pappeln eintauchte.

Die schwüle Wärme des Tages war selbst zu dieser Stunde noch deutlich zu spüren und Ruthledge überlegte bereits nach wenigen Metern, den Mantel, der sich eng um seinen Oberkörper schmiegte, wieder abzustreifen.

Er roch die Nässe des Bodens und des Grases und genoss die friedliche Stimmung, die sich nun, da Häuser und Vorgärten hinter ihm immer weiter zurückwichen, immer deutlicher vor ihm ausbreitete. Die beleuchtete Straße verschwand zusehends aus seinem Blickfeld.

Einzig eine dunkle Gestalt, die wie er einen langen, flatternden Trenchcoat trug, war auf dem Asphaltband auszumachen.

Er ging weiter.

Der Schotter knirschte unter seinen Schritten, während er den Windungen des Pfades mal einen leichten Anstieg hinauf, mal eine leichte Senke hinunter folgte. Nach einigen Minuten des ruhigen vor sich hin Wanderns tauchten vor ihm bereits die ersten Lichter aus der Harrington Street auf.

In diesem Moment vernahm er ein Geräusch hinter sich. Er wandte sich um.

Die Gestalt hinter ihm war näher gekommen. Offenbar war der Mann, denn es musste sich der Statur nach eindeutig um einen Mann handeln, ebenfalls auf die Idee verfallen, die dunkle Allee zur Harrington Street hinüber zu nehmen.

Er hörte den Schotter unter den raschen Schritten der Gestalt knirschen. Der Trenchcoat flatterte wie ein Segel hinter ihm her. Ruthledge ging weiter. Als er jedoch mit einem Mal das schnelle Trappeln sich nähernder Schritte hörte, wandte er sich wieder um.

Verdutzt blieb er stehen. Der Weg hinter ihm war leer. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er das Dunkel, so gut es ging, mit seinen Blicken zu durchdringen. Aber da war nichts. Wohin war die Gestalt verschwunden?

Ein leichtes Gefühl des Unbehagens begann sich in ihm breit zu machen. Die Gestalt musste irgendwo vom Weg abgebogen sein. Es war unmöglich, dass sie in der kurzen Zeit den Weg zurück zur Straße bewältigt haben könnte.

Außerdem hatte er eindeutig das schnelle Trappeln von Schritten gehört. Unsicher lauschte Ruthledge in die ihn umgebende Dunkelheit. Die Stille, die umso eindringlicher wirkte, da sie voller leiser Geräusche war, drang mit Macht auf ihn ein. Um sich herum hörte er das leise Zirpen einiger vereinzelter Grillen im Gras. Aber keine Bewegung, kein verdächtiges Rascheln war zu hören.

Langsam drehte er sich wieder um. Aber als er nun seinen Weg fortsetzte, waren seine Schritte schneller als zuvor. Immer wieder wandte er den Kopf in alle Richtungen. Der Mond war von mehreren Wolken verdeckt, sodass die Nacht in tiefe Schwärze gehüllt war. Einzig unterbrochen von den Lichtern der Harrington Street, die vor ihm durch die Büsche und Bäume zu sehen waren.

Ruthledge steuerte eine leichte Anhöhe hinauf als er wieder glaubte, das Geräusch trappelnder Schritte hinter sich wahrzunehmen. Wieder fuhr er herum.

Aber wieder war der Pfad hinter ihm leer. Niemand, keine verdächtige Gestalt war zu sehen, kein Geräusch zu vernehmen, das über das leise Zirpen der Zikaden im Gras hinausging.

»Ha«, rief er ins Dunkel und klatschte in die Hände. Womöglich stammten die Geräusche ja von einem streunenden Hund oder einem anderen Tier, das sich im Dunkel außerhalb seines Sichtfeldes herumtrieb.

»Verschwinde!«

Er hastete weiter die Anhöhe hinauf, aber das Trappeln schien nun stetig mit ihm Schritt zu halten. Ruthledge keuchte ob der Anstrengung des Anstiegs. Schließlich hatte er die Ausläufer der ersten Gärten erreicht. Die herrschaftlichen Villen dahinter lagen zum Teil im Dunkel. Anderswo brannten einige helle Lichter in den Gebäuden. Er hastete weiter. Plötzlich jedoch blieb er stehen.

Das Trappeln hinter ihm schien verschwunden zu sein.

Vor ihm tauchten die ersten Straßenlaternen auf und wenig später ging der Schotterpfad in eine schmale asphaltierte Straße über, die weiter in die Siedlung hineinführte. Ruthledge entspannte sich ein wenig und verlangsamte seinen Schritt.

Die beleuchtete Straße und die Tatsache, dass er weiter vorne eine kleine Gruppe beieinanderstehender Menschen ausmachen konnte, beruhigten ihn zusehends. Dennoch ging sein Puls hämmernd und schnell.

Er musste seinem überreizten Geist eindeutig ein wenig Ruhe gönnen. Er begann bereits, an jeder Ecke Gespenster zu sehen.

Noch einmal warf er einen Blick zurück zu der dunklen, von einem großen Wacholderbusch überhangenen Öffnung des Pfades, aus der er gekommen war.

Sein Blick vermochte nun, aufgrund der Helligkeit, noch weniger, das tiefe Schwarz dahinter zu durchdringen, aber er musste sich eindeutig etwas eingebildet haben.

Mit wiegendem Schritt folgte er einer der Windungen der Harrington Street und war wenig später vor dem Haus mit der Nummer 51 angelangt. Die herrschaftliche Schnörkelburg, die er vor gut 15 Jahren von einem reichen Rentnerpärchen gekauft hatte, das sich mit dem Geld in den Ruhestand nach Florida verabschiedet hatte, lag still und verlassen da.

Ruthledge stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf und betrat durch das schwer und stabil wirkende Gebilde aus Holz die Innenräume des Hauses. Auch hier herrschte tiefes Dunkel.

Ruthledge vermied es, das Licht einzuschalten und betrat stattdessen das riesige Wohnzimmer, das mit seinen großen, beinahe bis zur Decke ragenden Fenstern direkt auf die Harrington Street hinausblickte. Er spähte nach draußen, konnte aber noch immer im faden Zwielicht nichts, außer den auch hier herumwabernden Dunstschwaden des verdampfenden Regenwassers auf der Straße sehen.

Erschöpft ließ er sich in einen der großen Ledersessel vor einem der Fenster fallen. Noch ein paar Minuten starrte er in der Stille des Hauses auf die Straße und den Eingang zum Pfad weiter hinten hinaus, ehe er merkte, wie ihn langsam aber sicher die Müdigkeit zu übermannen drohte.

Es war an der Zeit, sich ein wenig Ruhe zu gönnen. Er erhob sich im Dunkel und ging, begleitet vom Knistern seines Trenchcoates die Stufen in den ersten Stock hinauf.

1. Juni, 18:23 Uhr

Die Fassade des Polizeigebäudes war in einer grauen, nichtssagenden Farbe gehalten. Jedes Mal aufs Neue war Grant überrascht, wie sehr ihn das Bauwerk selbst in einer gutgelaunten Stimmung wie heute ein wenig zu deprimieren im Stande war.

Er ging die Stufen vor dem Gebäude zur Straße hinunter und steuerte zielsicher auf das Parkhaus an der Einmündung zur nächsten Straße zu. Es war Freitag Nachmittag. Das Wochenende würde sein ausgedehntes Recht beanspruchen.

Ohne dem Bau des Departments zu seiner Linken auch nur einen kurzen Blick zu schenken, überquerte er die kleine Seitenstraße und tauchte in das kühle Schummerlicht des Parkhauses ein.

Der Ford Explorer stand in der zweiten Etage auf der zur Straße hingewandten Seite und als Grant den Motor startete, verhieß der blubbernde, vor sich hin brummende Motor bereits eine Ahnung von der Freiheit, die er die nächsten beiden Tage würde genießen können.

Seine Schwester heiratete, nun mittlerweile zum dritten Mal, in Baltimore und wenn die mittlerweile gewohnte Zeremonie zu Ende war, würden sich die Frischvermählten in die seiner Ansicht nach mehr unverdienten als verdienten Flitterwochen verabschieden.

Er grunzte.

Vier Wochen auf kleinen Inseln in Französisch-Polynesien. Wo immer das auch liegen mochte.

Ein wenig übertrieben seiner Meinung nach für ein Ritual, das für seine Schwester inzwischen schon mehr Routine als ein wirkliches Ereignis darstellen sollte. Er musste unvermittelt grinsen. Mochte es sein, wie es wollte.

Auch er würde sich, nachdem der Pflichtteil aus Händeschütteln und Applaudieren überstanden war, so schnell es ging von der Veranstaltung absetzen.

Im Geiste sah er nicht zum ersten Mal die Gesichter tadelnder Verwandten und Bekannten vor sich, aber es war ihm inzwischen bei allem guten Benehmen und Anstand gleichgültig.

Der Clarke Lake, die zu dieser Jahreszeit herrlich grünen Berghänge und vor allem das kristallklare, fischreiche Wasser würden nicht auf ihn warten.

Seine Schwester konnte froh sein, dass er überhaupt zu der Veranstaltung auftauchte.

Er steuerte den Explorer die Windungen der Parkdecks nach unten, winkte einem Kollegen zu und entließ schließlich das Auto mit dem kraftvollen Motor auf das breite Asphaltband der Straße.

Die Häuserschluchten flogen an ihm vorbei und Grant kurbelte die Seitenscheibe nach unten, sodass der warme Wind angenehm durch seine Haare und den Innenraum des Wagens wirbelte. Aus dem Radio dröhnte ein alter 80er-Song.

Zufrieden genoss er das Gefühl aufkeimender Gelassenheit. Das Stadtzentrum lag schnell hinter ihm und gut eine Viertelstunde später steuerte er den Explorer bereits in die schmale Einfahrt, die wie die meisten in der Straße zu beiden Seiten mit niedrigen Büschen bewachsen war, hinauf.

Es war ein angenehm warmer Nachmittag.

Allerdings gab es noch ein paar Dinge zu erledigen, ehe er in das wohlverdiente Wochenende aufbrechen konnte.

Im Schlafzimmer angekommen, packte er die nötigsten Dinge in eine Reisetasche mittlerer Größe und setzte sich dann mit einem Bier an den Küchentisch, um über ein weiteres Problem nachzudenken, das er so schnell es möglich war, lösen musste.

Er hatte noch kein Geschenk.

Seine Schwester hatte ein paar Dutzend Mal bei verschiedenen Gelegenheiten fallen gelassen, was sie sich wünschte, aber dummerweise hatte er bei keinem der unzähligen Male zugehört.

Möglicherweise ein neuer Schal zusätzlich zu ihrer bereits beeindruckenden Sammlung dazu? Aber das war beileibe mehr als einfallslos.

Obwohl sie bei ihrem letzten Treffen vor zwei Monaten diesem Thema gut eine halbe Stunde gewidmet hatte. Er fragte sich, ob das kleine Haus in Wichita, in das die beiden nach den Flitterwochen ziehen wollten, überhaupt Platz für an die 100 Schals und Tücher bot, von der beeindruckenden Schuhsammlung seiner Schwester einmal ganz abgesehen. Er seufzte und nahm einen weiteren Schluck des kühlen Gebräus.

Womöglich war es am einfachsten, wenn er schlicht einen Teil des Geldes zu der Hochzeitsreise beisteuerte. Abgerundet mit einem Strauß Blumen, den er sich auf der Fahrt irgendwo besorgen konnte, sollte das eigentlich mehr als ausreichen.

Zumal er die Männer, die sich Claire bislang ausgesucht hatte, ohnehin nur bedingt leiden konnte.

Er spülte die aufkeimenden negativen Gedanken mit einem weiteren Schluck Bier hinunter.

Betrachtete man die Sache objektiv, so hatte seine Schwester eindeutig ein zielsicheres Händchen für Volltrottel und merkwürdige Typen. Fast so, als wäre ihre Aufmerksamkeit wie ein hitzesuchender Gefechtskopf, der nicht auf Wärme, sondern auf Idiotie gepolt war.

Gedankenverloren betrachtete er die Post, die sich im Laufe der letzten drei Tage auf dem Küchentisch als kleiner Stapel angesammelt hatte.

Er stellte das Bier beiseite, zog den Stapel zu sich heran und begann lustlos die einzelnen Sendungen durchzugehen.

Die Exemplare der Zeitungen verfrachtete er nach einem kurzen Blick über die größtenteils deprimierenden Aufmachermeldungen sofort in den nahen und verführerisch wirkenden Papierkorb. Redeschlachten im Zuge der bevorstehenden Wahlen, der Skandal um Bestechungsgelder der örtlichen Bauindustrie, ein Wirbelsturm in Indonesien.

Er nahm die paar Briefe zur Hand, größtenteils Rechnungen, Postwurfsendungen und Werbematerial. Darunter auch eine Urlaubspostkarte eines Kollegen, der sich gerade auf den niederländischen Antillen die Sonne auf den Pelz brennen ließ.

»Mistkerl«, dachte Grant grinsend, während er die Karte überflog. Und so ziemlich das einzige, wofür er den Trip zum Clarke Lake doch noch abgesagt hätte.

Er legte die Karte beiseite, in Gedanken schon auf der Straße Richtung Baltimore und riss den weiteren Umschlag eines Briefes auf, dessen Papier eine seltsam alt und rau wirkende Textur zu haben schien.

Einfallsreich, das musste er zugeben, was sich die Werbeleute stets aufs Neue ausdachten. Auch wenn ihn der Inhalt des Briefes wahrscheinlich wenig bis gar nicht interessierte.

Unter der Kopfzeile mit seinem Namen las er allerdings keine Werbebotschaft, sondern lediglich einen in kursiver Schrift gesetzten Vierzeiler.

5. Juni

»Alles geht vorüber.« Wie unterschiedlich ist doch die Bedeutung dieses Satzes. In einer glücklichen Stunde wirkt er ernüchternd, angesichts von Kummer und Schmerz hingegen tröstlich. »Alles geht vorüber.«

Grant betrachtete irritiert die kryptisch wirkende Zeichenfolge. Wie schön, eine Art philosophischer Rat zu Beginn einiger freier Tage. Auch wenn ihm sich der Sinn der Zeilen nicht erschließen mochte. Neben der Angabe eines Datums fehlte ebenso eine Unterschrift oder die Angabe des Absenders oder Verfassers.

Er zuckte mit den Achseln, zerknüllte den Brief samt Kuvert und warf ihn in den Papierkorb in der Nähe der Tür. Erstaunlicherweise traf er sein Ziel, was, wie man an den etlichen Papierkugeln auf dem Boden um die Tür herum sehen konnte, eindeutig nicht die Regel war.

Er fragte sich, was man mit derartigen Briefsendungen erreichen wollte. Möglicherweise nur der Anfang einer geschickt ausgeklügelten Werbemasche, mit der man fürs Erste nur die Aufmerksamkeit der Leute gewinnen wollte. Etwas anderes konnte er sich kaum vorstellen. Noch einige Augenblicke saß er am Tisch und nippte an seinem Bier. Dann stand er auf.

Wie auch immer. Es war ihm weiß Gott mehr als egal. Wenn er nur rechtzeitig die Stadt verlassen konnte, bevor sich die Blechlawine der Pendler durch die Straßen zu wälzen begann, so konnte man ihm ruhig noch ein Dutzend dieser aufs Gröbsten unsinnigen Papierverschwendung schicken.

Er ging ins Schlafzimmer und wechselte T-Shirt und Jeanshose, ehe er sich die Tasche über die Schulter warf, noch den letzten Schluck Bier trank und dann das Haus verließ.

»Wer beschützt denn uns Bürger, wenn unsere Gesetzeshüter schon um die Nachmittagszeit die Füße hochlegen?«, erschallte eine Stimme von rechts. Grant, die Wagenschlüssel bereits in der Hand, sah auf.

Liebermann streckte seinen rundlich wirkenden Kopf mit dem Bürstenhaarschnitt über den Zaun, der die Grenze zwischen ihren Grundstücken markierte.

»Mir kommt es so vor, als würdet ihr jede Woche früher Schluss machen und euren dicken Hintern auf die Couch verfrachten.« Grant musste ob der gespielt beleidigenden Worte grinsen.

»Bis mein Hintern so breit wie deiner ist, dauert es noch eine Weile«, sagte er mit einem Augenzwinkern und warf die Tasche auf den Rücksitz.

»Außerdem habe ich eine wichtige Verabredung.«

»Ist sie heiß?«

»Ansichtssache«, antwortete Grant.

»Was meinst du?«

»Naja, würdest du deine eigene Schwester als heiß bezeichnen?«

»Na und ob.« Das rundliche Gesicht Liebermanns nickte eifrig.

»Du brauchst wirklich Hilfe«, sagte Grant lachend.

»Na dann viel Spaß«, grunzte das Gesicht hinter dem Gartenzaun.

»Ach ja, bevor ich es vergesse. Sonntag kommen ein paar Freunde zu Besuch. Du bist herzlich eingeladen. Barbecue, Steaks, Bier, ein paar hübsche Frauen aus meinem Pilates-Kurs. Wird super.« Er zwinkerte Grant verschwörerisch zu.

Grant sah ihn fragend an.

»Ok, vielleicht keine hübschen Frauen aus meinem Pilates Kurs. Aber der Rest stimmt.«

Grant rutschte auf den Fahrersitz und ließ das Seitenfenster herunter.

»Vielleicht nächstes Wochenende«, sagte er.

»Wieso? Wird das eine Marathonhochzeit?«

»Vor Sonntag Abend werde ich mit Sicherheit nicht zurück sein.«

Liebermann verzog das Gesicht zu einer gespielt beleidigten Grimasse.

»Na schön, aber du weißt nicht, was dir entgeht.«

»Ich werde es ja dann aus der Zeitung erfahren«, sagte Grant mit einem Grinsen und ließ den blubbernden Motor an.

Liebermann musste lachen.

»Wir sehen uns Sonntag Officer«, sagte er und salutierte in gespielt militärischer Haltung. »Und denken Sie daran, nichts zu trinken, wenn Sie Auto fahren, Lieutenant.«

Grant setzte das Auto aus der Auffahrt zurück, winkte seinem Nachbarn noch einmal kurz zu und steuerte dann den Explorer die leicht abschüssige Straße hinunter.

Während hinter ihm die große Douglasie, die die Einfahrt beinahe zu jeder Tageszeit in angenehmen Schatten tauchte, immer kleiner wurde, ließ Grant seinen Blick über die vorbeihuschenden, gepflegten Vorgärten der Siedlung schweifen.

Hier und da waren einige Kinder auf den nahezu perfekt getrimmten Rasenflächen zu sehen, die in den Sonnenstrahlen des Nachmittags mit ausgelassenen Schreien ihren Spielen nachgingen.

Die perfekte Vorstadtidylle, eigentlich ein idealer Schnappschuss für die Internetpräsenz einer Immobilienfirma.

Er gab Gas und lenkte den Explorer zielsicher durch das Gewirr von kleinen Straßen hinunter zur Rhode Island Avenue, wo er der immer noch größtenteils leeren Fahrbahn entnehmen konnte, dass der Exodus der auswärts wohnenden Bürohengste und Karrieremenschen bis zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise noch nicht begonnen hatte.

»Ein paar hübsche Frauen aus meinem Pilates Kurs.« Grant musste innerlich grinsen als er sich Liebermann in einem Raum mit selbst für den Sport aufreizend zurechtgemachten Vorstadt- und Fußballmüttern vorstellte.

Mal abgesehen davon, dass sich Liebermann, ausgenommen vom abendlichen Sportprogramm im Fernsehen, so gut wie überhaupt nicht für körperliche Ertüchtigung interessierte, hatte er noch nie ein Fitnessstudio, geschweige denn einen Pilates Kurs von innen gesehen.

Er gab auf der breiten Straße Gas und schon bald waren die letzten Ausläufer der Stadt hinter ihm zurückgeblieben.

Es mussten mittlerweile zwei Jahre her sein, seit sein Nachbar in die Straße gezogen war. Frisch geschieden, mit zwei Kindern, die beide auf den sonnigeren Weiden an der Westküste grasten. San Diego oder Los Angeles.

Er hatte nicht richtig zugehört.

Und einer Ex-Frau, die ihn ausgerechnet mit einem Fitnesstrainer betrogen hatte. Grant kramte seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und setzte sie auf.

Womöglich kam daher die Abneigung gegen jede Art von sportlicher Betätigung.

Die Auffahrt zum Highway tauchte vor ihm auf und Grant lenkte den Explorer auf die nahezu leere Fahrbahn.

Dennoch mochte er den groß gewachsenen Mann mit dem leichten LongIsland-Akzent. Liebermann hatte etwas grob Tollpatschiges an sich, das ihn irgendwie auf eine arglose und harmlose Weise sympathisch wirken ließ.

Grant schaltete das Radio ein.

Nun war es genug der nachbarschaftlichen Gedanken. Die Strecke nach Baltimore breitete sich vor ihm aus und wenn er die momentane Geschwindigkeit beibehalten konnte, so sollte die Fahrt in kaum mehr als zwei Stunden zu schaffen sein. Er drehte das Radio lauter.

2. Juni, 16:37 Uhr

Die Hochzeit war genau das, was man sich im Allgemeinen unter einer derartigen Veranstaltung vorstellte. Nach einem endlos ermüdenden Spießrutenlauf durch die verschiedenen Zweige der Verwandtschaft und Bekanntschaft mit den fast schon zwangsläufig aufs Tapet kommenden Smalltalkthemen wie Job und wann es denn nun die ersten Enkelkinder gebe, war Grant es leid, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es nach Sarahs Tod vor elf Jahren keine Frau mehr in seinem Leben gegeben hatte. Und es auch keine mehr geben werde.

Erfolgreich drückte er sich mit einem Stück Torte und einem kurzen Abstecher hinunter an den nahegelegenen See um weitere lästige Gespräche herum und bald war die aufgesetzt gute Laune verbreitende Musik der Band nur noch leise zwischen den hohen Baumkronen und akkurat gestutzten Büschen zu hören.

Er setzte sich auf den kleinen Holzsteg, der ein paar Meter in den See hineinragte und ließ die Füße, nachdem er sich Socken und Schuhen entledigt hatte, hinab ins kühle Nass baumeln.

Keine Frage, das Anwesen, das sich seine Schwester für ihren Start zum dritten Eheanlauf ausgesucht hatte, war ein paradiesisches Fleckchen Erde. Das Herrenhaus im Kolonialstil, in dem der größte Teil der Feierlichkeiten stattfand, thronte auf der leichten Erhebung in der Parkanlage und über dem See wie der Herrschaftssitz eines alten Adelsgeschlechts. Und das Essen war, wie er zugeben musste, vom Feinsten.

Er seufzte.

Dennoch hätte er auf eine derart aufgeblasene Feier getrost verzichten können. Mit einem Blick hinaus auf den See dachte er an die türkisfarbenen Wasser des Clarke und warf gerade einen Blick auf die Uhr als er die Stimme seiner Schwester hinter sich hörte.

»Hier steckst du also.«

Er wandte sich um. Claire stand, zusammen mit einer Gruppe von einigen Leuten am Ufer des Sees. Offenbar waren sie gerade dabei, die üblichen Fotos des frisch verheirateten Paares zu schießen, denn Grant erkannte den Fotografen, der zusätzlich zu zwei über die Schulter gehängten Kameras noch einen Beleuchtungsschirm und einige andere Accessoires unter dem Arm trug.

Daneben Florence Carson, eine weitverzweigte Verwandte ihrer Mutter, kaum liebenswürdiger als Brent Michaelson, der direkt neben ihr stand und ein imaginäres Haar von seinem braunen Hochzeitsanzug zupfte. Der Zukünftige seiner Schwester erinnerte Grant in der Aufmachung mehr an eine Stuhlprobe als an einen Bräutigam, zumal der Idiot angekündigt hatte, den exkrementefarbenen Zwirn nur für die Zeremonie zu tragen und für die weiteren Feierlichkeiten in Jeans und T-Shirt zu schlüpfen.

Grant rang sich ein gequältes Lächeln ab. Am liebsten hätte er die Truppe einfach links liegen lassen, erhob sich aber dann doch und begrüßte alle mit einem knappen Nicken.

»Was macht der Job?«, fragte Michaelson, nachdem er Grant mit der Körperspannung eines toten Fisches die Hand geschüttelt hatte.

»Die Mörder inzwischen ausgerottet?«

Wie schön, als hätte er den ganzen Tag nicht schon genug dummes Gerede ertragen müssen. Er antwortete nicht. Er hatte diesen schmierigen Typen noch nie gemocht.

Steueranwalt aus Chicago, seiner Meinung nach aber eher eine perfekte Karikatur eines kriecherischen Mistkerls, der das falsche Lächeln eines geübten Verkäufers auf dem Basar zur Schau trug.

Für einen kurzen Moment dachte er darüber nach, dass beides eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt lag.

Dann mischte sich der Fotograf in das Geschehen ein.

»Bitte, wenn Sie wollen, dass wir die Fotos mit dem richtigen Licht noch abarbeiten können, dann müssen wir uns beeilen.«

Er drängte sich an der Gruppe vorbei Richtung Steg. Grant sah der Gruppe und vor allem Michaelson mit seiner breitschultrigen Gestalt, der silberrandigen Brille und den straff nach hinten gekämmten, schon etwas schütteren Haaren nach.

Dann wandte er sich ab und sah zum wiederholten Mal an diesem Tag auf die Uhr.

17:34Uhr. Er hatte es bald geschafft.

3. Juni, 01:42 Uhr

Das Gebüsch um ihn herum war feucht und kalt. An etlichen der Zweige und Blätter hingen noch Tropfen des nachmittäglichen Regenschauers oder der Bewässerungsanlage des Grundstücks. Ganz genau ließ sich das nicht sagen.

Er verlagerte etwas seine Position unter den Zweigen des überhängenden Ginsterbusches, wobei er darauf achten musste, keinen der dickeren Zweige zu berühren, was augenblicklich eine Lawine hunderter nasser Tropfen auf ihn hinunter bedeutete hätte.

Leise ächzend schob er sich ein Stück weiter nach vorn in Richtung des Holzzaunes, der das Grundstück der alten Dame von Bordstein und Straße trennte. Er sah sich suchend noch einmal um.

Aber die alte Dame musste längst zu Bett gegangen sein. Kein Licht brannte mehr in dem dunklen Gemäuer, bis auf die Leuchtziffernanzeige der Backofenuhr, die er durch die breite, in weißem Holz gehaltene Verandatür sehen konnte.

Und die alte Frau war es auch nicht, die ihn interessierte. Er wandte sich um und spähte zu dem ebenfalls mit etlichen Büschen und hohem Schilfgras bewachsenen Grundstück auf der anderen Straßenseite hinüber.

Das Haus, das sich auf dem Grundstück erhob, war bis auf ein flackerndes Licht im Untergeschoss, das zweifellos von einem Feuer im Kamin stammen musste, und dem intermittierenden bläulichen Licht eines Fernsehbildschirms, ebenfalls in tiefes Dunkel getaucht.

Er fragte sich, wann der Mann ins Bett gehen mochte. Durch die großen Fenster im Erdgeschoss konnte er die Gestalt auf dem Sofa herumlümmeln und hin und wieder aufstehen und im Zimmer herumlaufen sehen.

Es musste mittlerweile weit nach Mitternacht sein. Sämtliche Lichter der Straßenbeleuchtung in der Harrington Street waren bereits verloschen.

Und auch er selbst verspürte zusehends Anzeichen aufkeimender Müdigkeit.

Vermutlich war es das Klügste, die Aktion abzubrechen und zu verschwinden. Die Gefahr noch jemanden auf der dunklen Straße anzutreffen, war gleich null.

Noch ein paar Sekunden verharrte er regungslos. Dann schob er sich vorsichtig unter den Ästen des Ginsterbusches zurück auf die sorgsam gestutzte Rasenfläche vor der Veranda der alten Dame.

Bloß gut, dass die Frau in dieser wohlhabenden Gegend sich nicht bemüßigt sah, einen Wachhund auf dem Grundstück zu halten. Die Zweige um ihn herum wisperten leise.

Er schlich am Rande der Rasenfläche um das Gebäude herum und überkletterte den niedrigen Holzzaun an der Vorderseite des Grundstücks.

Mit einigen eiligen Schritten überquerte er die Straße, wobei er noch einmal einen Blick zurück warf. Dann tauchte er in die schützende Dunkelheit des kleinen Pfades auf der anderen Seite ein.

4. Juni, 19:52 Uhr

Das Haus war still und in leichtes Dämmerdunkel getaucht als er zurückkam. Beinahe wie am Vortag als er nach der mehrere Stunden dauernden Autofahrt vom Clarke Lake durch die Vordertür gekommen war.

Mit einem einzigen Unterschied. Seine Stimmung war nach dem ausgedehnten Wochenende eindeutig besser gewesen als heute.

Grant seufzte.

Dann streifte er Jacke und Schuhe ab und versuchte sich zum wer weiß wievielten Mal an der aussichtslosen Aufgabe, alle Pflanzen in dem weitläufigen Garten hinter dem Haus zu wässern, ehe die Dunkelheit ganz über die Siedlung hereinbrach.

Er stand mit dem Schlauch in der heraufziehenden Nacht, genoss aber die würzige Luft, voller Düfte nach nassem Gras und dem erdigen Geruch des kleinen Wäldchens hinter den Gärten.

Noch einige Minuten blieb er stehen und beendete das allabendliche Ritual. Dann warf er, bevor er ins Haus zurückkehrte, einen kurzen Blick hinüber zu der penibel gepflegten Ordnung in Liebermanns Garten, in der kein Grashalm, keine winzige Blüte am falschen Platz zu stehen schien.

Wie als wäre der Garten am Reißbrett geplant und jede einzelne Pflanze mit dem Zollstock an die ihr bestimmte Position gesetzt worden. Er musste grinsen.

Die Art und Weise, wie Liebermann während Gartenpartys darauf achtete, dass niemand den Tulpen und Geranienbeeten zu nahe kam, war etwas, das ihn jedes Mal aufs Neue amüsierte.

Das Obergeschoss des Nachbarhauses war dunkel. Lediglich im Erdgeschoss konnte Grant den flackernden Schein des Fernsehbildschirms erkennen, der die geschlossenen Gardinen von innen heraus in wechselndes Licht tauchte.

Er wandte sich ab, betrat das Haus und schloss die Verandatür hinter sich. Als das Schloss mit einem leisen Klicken eingerastet war, schlurfte er auf dem dicken Teppich Richtung Küche und dann, nachdem er sich ein paar Bissen kalter Pizza in den Mund gestopft hatte, weiter Richtung Treppe.

Wenn er Glück hatte, konnte er sich das letzte Viertel des Spiels vielleicht noch ansehen. Er würde sich ein kühles Bier aus der Garage hohlen und … in diesem Moment blieb sein Blick am Boden vor der Treppe hängen.

Er runzelte die Stirn, stockte in der Bewegung und bückte sich dann nach dem Gegenstand, bei dem es sich um einen einzelnen, in gräuliches Papier gebundenen Briefumschlag handelte.

Eigenartig, das Ding war ihm zuvor gar nicht aufgefallen.

Er wandte sich um, ging zurück in die Küche und wollte den Briefumschlag schon auf die Platte des Tisches werfen, als ihm auffiel, dass das Papier im Inneren die gleiche Art und Textur des Materials aufwies, das ihm schon vor ein paar Tagen bei dem eigenartig kryptischen Werbeschreiben aufgefallen war.

Er behielt den Brief einige Sekunden unschlüssig in der Hand, befühlte durch das Sichtfenster die aufgeraute Oberfläche, die wie Papier aus längst vergangenen Zeiten wirkte, und riss dann der Neugier nachgebend den Brief mit einer flüssigen Bewegung auf.

Er war gespannt, was sich die Werbefachleute dieses Mal einfallen hatten lassen, um seine Aufmerksamkeit zu ködern. Der eigentliche Brief war zweifellos aus dem gleichen pergamentartigen Material wie beim letzten Mal.

Für einen Augenblick fragte sich Grant, wie viel ein solcher Druck im Vergleich zu normalem, massenweise hergestelltem Papier kosten mochte. Dann faltete er den Brief auseinander.

Das dicke Material knisterte leise. Grant kam sich vor als entrollte er eine alte Papyrusrolle aus der Bibliothek von Alexandria. Nur der obligatorische Staubnebel fehlte noch, um das cineastische Bild perfekt zu machen.

Er schmunzelte. Dann las er die wie beim letzten Mal in kursiv-altmodisch schnörkeliger Schrift geschriebenen Zeilen.

5. Juni

»Es gelingt wohl, alle Menschen einige Zeit und einige Menschen allezeit, aber niemals alle Menschen alle Zeit zum Narren zu halten.«

Wieder so ein tiefsinnig-philosophischer Spruch, der besser in einen chinesischen Glückskeks als in einen adressierten Briefumschlag gepasst hätte. Und wie beim letzten Mal war kein Absender angegeben.

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Grant noch einmal die Datumsanzeige.

Es war ihm, als habe er diese Zeilen schon einmal bei einer früheren Gelegenheit gehört, konnte sich aber beim besten Willen an keine Einzelheiten mehr erinnern.

Betrachtete man jedenfalls nur die Datumsanzeige, so war es mehr als wahrscheinlich, dass er in Kürze einen weiteren solchen Umschlag erhalten würde.

Mit einem leichten Kopfschütteln zerknüllte er das Papier und warf es wie das vorherige in den Papierkorb neben der Tür. Erstaunlich, dass er auch dieses Mal traf. Er hob die Augenbrauen.

Allerdings war er auf die Lösung des Rätsels eindeutig weniger gespannt, als es diesen Werbemenschen mit dem eindeutig teuren Material wohl recht sein konnte.

Er löschte das Licht und ging nach oben.

Während er die Treppenstufen emporstieg dachte er an Claire, die in diesem Moment wohl irgendwo in 10.000 Metern Höhe über dem Südpazifik sein musste.

Die Maschine war am späten Nachmittag gestartet. Mit einem kurzen Stopp an der Westküste war es bis zu den Französisch Polynesischen Inseln eine Flugstrecke von gut zwölf Stunden.

Für einen kurzen Moment überkam Grant ein Anflug von Fernweh, der sich aber, als ihm das Bild von Michaelsen auf dem Sitz neben seiner Schwester durch den Kopf schoss, schlagartig wieder verflüchtigte.

Er schüttelte den Kopf, dann löschte er das Licht über der Treppe.

5. Juni, 20:05 Uhr

Das National Theater war eines, wenn nicht gar das liebste seiner Theaterhäuser in Washington. Nate Ruthledge überkam bereits beim Anblick des Schauspielhauses eine wohlige Wärme, wenn er an den bevorstehenden Abend voller berauschender Musik und tänzerisch artistischer Darbietungen dachte.

Er stieg aus dem Wagen, sog einmal tief die abendlich laue Luft in seine Lungen und steuerte dann instinktiv den kürzesten Weg über die Straße zum Eingang des Gebäudes an.

Noch gut 15 Minuten waren Zeit, bis sich der erste Vorhang heben würde. Und dieser Augenblick war stets der zauberhafteste von allen. Die Vorstellung, sich weit über eine Stunde in eine fiktive Welt voller schmeichelnder Klänge zurückziehen und reinen Genuss erleben zu können, wärmte Ruthledge das Herz und beschleunigte gleichzeitig seinen Schritt, sodass er einige Augenblicke später bereits im Inneren des Gebäudes stand.

Ein großes Spruchbanner über dem Aufgang zu den Emporen kündigte die Neuproduktion an, die nun bereits seit zwei Wochen in den altehrwürdigen Mauern des Gebäudes lief. Es war wirklich eine Schande, dass er erst jetzt Zeit dafür gefunden hatte.

»Beetlejuice.«

Er schürzte die Lippen und betrachtete das riesig anmutende Banner einige Sekunden lang, ehe er sich zur Garderobe aufmachte und einer der freundlich lächelnden, ausgesucht hübschen Garderobierinnen Schal und Mantel über den Tresen reichte.

Die junge Frau lächelte ihn an.

Ruthledge steckte die ihm hingehaltene Kleidermarke ein und steuerte dann auf die Treppe in das verwinkelte Obergeschoss zu.

Die Eingänge zu den Einzellogen befanden sich auf der rechten Seite, allesamt am Ende einer Treppe, die zu beiden Seiten mit barocken Lampen ausgeleuchtet und wie das übrige Theater in dunklen Rottönen gehalten war.

Ruthledge musste ein paar Mal abbiegen, bis er die ersten Treppenstufen vor sich sehen konnte. Für einen Neuling mussten diese Gänge ein wahrhaftes Labyrinth darstellen. Bloß gut, dass er sich seit mittlerweile 20 Jahren wie im Schlaf durch die Ecken und Fluchten bewegen konnte.

Auf die Schilder, die die Nummern der Logen anzeigten, achtete er schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Er wusste genau, wohin er sich wenden, welche Abzweigungen er nehmen musste.

Für einen kurzen Augenblick versuchte er sich daran zu erinnern, seit wann er wohl nicht mehr auf die vielen Hinweisschilder und Pfeile angewiesen war, als seine Loge vor ihm aus dem Nichts auftauchte. Er öffnete die Tür und musste zu seiner Ernüchterung feststellen, dass er den schmalen Balkon, der ohnehin nur über zwei einzelne Sitzplätze verfügte, heute Abend nicht für sich alleine haben würde.

Zu dumm.

Er fluchte leise in sich hinein. Meist buchten Pärchen diese lauschigen Plätzchen und so war ein Großteil der Interessenten bereits abgeschreckt, wenn schon nur einer der Plätze belegt war. Ruthledge grunzte unglücklich.

Dieser Umstand hatte zwar dazu geführt, dass er einige geniale Sternstunden der Theater- und Broadwaykunst wie Cats und fantastisch choreografierte Auftritte wie Riverdance allein und nur für sich hatte erleben und genießen können. Aber zu seinem Ärger klappte es nun einmal nicht immer.

Der ungebetene Zaungast war ein elegant gekleideter Mann mit Budapestern an den Füßen, die, wie Ruthledge sofort bemerkte, auf Hochglanz poliert waren.

Seine Verärgerung legte sich ein wenig. Zumindest hatte er keinen völligen Bauerntrampel als Nebensitzer. Der Abend konnte also doch noch recht angenehm werden. Zu seiner Erleichterung schien der Mann auch nicht gerade interessiert an einer Unterhaltung zu sein.

Nach einer knappen Begrüßung und einem kurzen Lächeln wandte sich die Gestalt wieder der Bühne zu und Ruthledge hatte ausreichend Gelegenheit, es sich in dem großzügigen, weich gepolsterten Stuhl mit den fast schon zwingend roten Farben bequem zu machen.

Er musterte den Mann aus den Augenwinkeln, ließ den Blick aber dann durch den Saal schweifen, der sich bereits zu einer beträchtlichen Menge gefühlt hatte.

Die Platzanweiser waren schon am Werk, um das bunte Treiben zumindest in geordneten Bahnen ablaufen zu lassen und auch das Licht war bereits zu einer schummrigen Beleuchtung heruntergeregelt worden.

Ruthledge atmete aus und ließ sich in dem weichen Sitzpolster tiefer sinken.

Er hatte es geschafft.

Nun noch ein Glas seines besten Weines und sein Leben wäre perfekt gewesen. Er schlug die Beine übereinander, strich sich Revers und Krawatte glatt und wartete.

Keine zehn Minuten später begann die Vorführung. Die Bilder und Lieder der ersten Viertelstunde huschten wie im Flug an ihm vorüber und vermischten sich zu einer wohligen Atmosphäre aus Klangkaskaden und beeindruckenden Darbietungen und Kostümen.

Es war am Anfang des zweiten Aktes als er auf einmal das leichte Vibrieren seines Handys in der Jackentasche des Anzugs spürte. Vorsichtig zog er es heraus und warf einen kurzen prüfenden Blick auf das Display.

Drei entgangene Anrufe. Er wusste sofort, von wem die Nachricht gekommen war, die nun auf dem Bildschirm aufleuchtete.

»Wo sind Sie? Versuche seit über einer Stunde Sie zu erreichen. Wir müssen uns unterhalten.«

Ruthledge atmete verächtlich aus. Dann steckte er das Handy mit einem Schnauben wieder weg. Dämlicher Mistkerl. Er wusste schon, warum er das Gerät nicht gerne bei sich trug.

Nach der Helligkeit des Bildschirms brauchten seine Augen ein paar Sekunden, um sich wieder an das schummrige Dunkel um ihn herum zu gewöhnen.

Das Schauspiel war gerade in eine beeindruckende, einem Regenbogen gleichende Farbenwelt abgeglitten und tauchte den Saal in ein Meer unterschiedlichster Farbnuancen. Dann sah er nach links.

Der Stuhl einen Meter von ihm entfernt war leer.

Der elegant gekleidete Mann war verschwunden. Ruthledge sah sich um. Aber auch hinter den schweren Brokatvorhängen in seinem Rücken konnte er nichts entdecken. Wo mochte der Mann hingegangen sein? Für eine Toilettenpause war es noch zu früh. Zumal der zweite Akt erst vor einigen Minuten begonnen hatte.

Er runzelte die Stirn und wollte sich gerade wieder umdrehen als sich plötzlich ein Arm von hinten um seinen Hals legte.

Ruthledge war so verblüfft, dass er im ersten Moment gar nicht wusste wie ihm geschah.

Er wurde mit einem brutalen Ruck nach hinten gerissen.

Der Stuhl unter ihm kippte nach hinten weg. Er wollte aufschreien, aber der Arm drücke so fest auf seinen Hals, dass er nur ein leises Röcheln herausbrachte. Er strampelte mit den Beinen, wurde aber immer weiter nach hinten gezogen.

Die Bühne verschwand aus seinem Blickfeld. Dann explodierte ein messerscharfer Schmerz in seinem Rücken. Im nächsten Moment verlor er das Bewusstsein.

6. Juni, 07:52 Uhr

»Ist deine Schwester glücklich bis an ihr Lebensende und auf dem Weg in die Flitterwochen?«, lachte McNitt als Grant das Büro betrat und schob hinterher: »Dieses Mal hoffentlich zum letzten Mal.«

Grant lächelte freudlos und ignorierte ansonsten die Bemerkung.

»Freut mich auch, dich zu sehen«, antwortete er und setzte sich an seinen Schreibtisch, dessen Aussicht durch das hohe Rundbogenfenster auf einen kleinen Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinausging.

Die niedrigen Bäume wiegten sich sacht im morgendlichen Wind und einige Jogger waren am östlichen Rand des Parks bereits auf ihrer vermutlich allmorgendlichen Runde unterwegs.

»Soweit ich mich erinnern kann, bist du doch selbst vor vier Monaten zum dritten Mal geschieden worden?«, meinte Masters in Richtung McNitt mit einem süffisanten Grinsen.

»Ach halt die Klappe«, erwiderte McNitt und wandte sich mit einem Gesichtsausdruck, der ein wenig an ein beleidigtes Kind erinnerte, wieder dem Bildschirm auf seinem Schreibtisch zu.

»Wir kommen in der Potomac Geschichte nicht weiter«, sagte Masters nun in Grants Richtung, ohne sich um irgendwelche begrüßenden Worte zu bemühen.

»Dieses Mal ein Pontiac Grand Ville aus dem Jahre 1970.«

Grant wandte sich dem Gesicht von Masters zu, dessen Augen hinter zwei dunkel getönten Brillengläsern hervorblitzten. Die Problematik war hinlänglich bekannt.

Eine Gruppe Jugendlicher hatte es sich in den vergangenen Monaten zur Aufgabe gemacht, wohl als eine Art Auflehnung gegen das Establishment, edle Nobelkarossen aus den Garagen ihrer reichen Besitzer zu entwenden und sodann an verschiedenen Stellen im Potomac River zu versenken.

»Ach ja?«, sagte er.

»Ja. Es scheint als ob diese Bande uns irgendwie immer einen Schritt voraus ist. Glaub mir, mit Glück hat das nichts mehr zu tun.«

Grant zögerte. Er war sich nicht sicher, was er auf Masters Vermutung antworten sollte. In diesem Moment klingelte das Telefon auf seinem Schreibtisch.

Er nahm den Hörer ab. Am anderen Ende der Leitung konnte er die tiefe Stimme des Commissioners hören.

»Kommen Sie bitte in mein Büro«, sagte die Stimme. Grant hatte den Hörer noch in der Hand als der Commissioner bereits wieder auflegte. Ein wenig verblüfft starrte er auf die Sprechmuschel des Apparates, dann legte auch er auf.

»Was ist?«, wollte Masters wissen, der die Szene beobachtet hatte.

»Keine Ahnung«, Grant zuckte mit den Achseln.

»Kommen Sie rein«, sagte der Commissioner als Grant an die Tür aus dickem Eichenholz klopfte. Die Stimme klang durch das dicke Holz dumpf und leise, wie als spräche jemand durch Watte zu ihm.

Grants Laune war nicht gerade dazu angetan, vor Freude in Begeisterungsstürme auszubrechen, weil Reisner ihn in sein Büro gerufen hatte.

Wollte der Commissioner irgendetwas von ihnen, so ging es zumeist nur um zusätzliche Arbeit oder um eine Maßregelung wegen irgendeinem vermeintlichen Fehlverhalten. Es war also das Beste, wenn man es schaffte, das mit dunklem Kirschholz getäfelte Büro so selten wie möglich von innen zu sehen.

Dennoch trat Grant nun mit bemüht neutraler Miene ein und sah, dass Reisner wie eigentlich immer hinter dem großen Bauhaus-Schreibtisch mit den beiden akkurat angeordneten, antik wirkenden Lampen aus grünem Glas saß.

Der Schreibtisch stand vor den für Besucher gedachten beiden schmucklosen Stühlen auf einem kleinen erhöhten Podest, das den Raum ungefähr in der Hälfte durchmaß und man sich so jedes Mal auf den Sitzgelegenheiten ein bisschen wie auf einer Anklagebank vorkam. So auch dieses Mal als Grant auf der mit hellbraunem Leder bespannten Sitzfläche Platz nahm.

Reisner kritzelte mit einem silbernen Füllfederhalter noch schnell eine Unterschrift auf ein Dokument, was ein leise kratzendes Geräusch in dem ansonsten völlig stillen Raum erzeugte, ehe er ihn über die komplette Länge des beeindruckenden Tisches musterte.