Der Weg entsteht unter deinen Füßen - Sylvia Wetzel - E-Book + Hörbuch

Der Weg entsteht unter deinen Füßen E-Book

Sylvia Wetzel

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Beschreibung

Achtsamkeit mit sich selbst und in Hinblick auf die Welt um uns herum: Diese Haltung hilft, den eigenen Weg zu finden und gerade auch in Krisen und Übergängen Selbstvertrauen zu entwickeln, Vertrauen zu anderen zu gewinnen, Grenzen nicht zu überschreiten und selber Grenzen zu setzen. Hier zeigen zwei Lehrerinnen des Weges aus psychologischer und buddhistischspiritueller Sicht, wie je eigene Kraftquellen entdeckt werden können und der eigene Weg gangbar wird.

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Seitenzahl: 231

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Luise Reddemann/Sylvia Wetzel

Der Weg entsteht unter deinen Füßen

Achtsamkeit und Mitgefühl in Übergängen und Lebenskrisen

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: [rincón]2 medien gmbh, Köln

Umschlagmotiv: © Getty Images

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (Buch): 978-3-451-61085-1

ISBN (E-Book): 978-3-451-33796-3

Inhaltsübersicht

Vorwort

Zur Einstimmung

Wie ich mich auf den Weg mache

Luise Reddemann

Gemeinsam unterschiedliche Wege gehen

Sylvia Wetzel

1. Verantwortung übernehmen und abgeben

Ehrfurcht vor dem Leben

Luise Reddemann

Verantwortung für mich und andere

Sylvia Wetzel

2. Menschenbilder

»Leben das Leben will, inmitten von Leben, das leben will«

Luise Reddemann

Vertrauen in mich und andere

Sylvia Wetzel

3. Festhalten und Loslassen: Sehnsüchte und Ängste

Frühe Prägungen und wie wir sie überwinden können

Luise Reddemann

Veränderungen und das innere Kind

Sylvia Wetzel

4. Selbstbilder – Mangelidentität und Selbstvertrauen

Selbstanteile willkommen heißen

Luise Reddemann

Wer bin ich, wenn ich »ich« sage?

Sylvia Wetzel

5. Vertrauen und Kontrolle

Von der Lust des Entdeckens der Welt und der Angst zu verhungern

Luise Reddemann

Herz und Verstand – Vertrauen und Einsicht

Sylvia Wetzel

6. Hingabe und Grenzen – Eine Gratwanderung

Individualität, Verschiedenheit und Verbundenheit

Luise Reddemann

Verbundenheit spüren und Grenzen setzen

Sylvia Wetzel

7. Ich und die anderen

Freundschaft mit sich selbst und Offenheit für andere

Luise Reddemann

Geborgen und frei – allein und mit anderen

Sylvia Wetzel

8. Älter werden und jung bleiben

Müssen wir uns vor dem Alter fürchten?

Luise Reddemann

Von der Schönheit des Alters

Sylvia Wetzel

9. Geschlechteridentität und Kulturkrise

Entdeckung des Eigenen und Freude am anderen

Luise Reddemann

Helle Töchter – Müde Söhne?

Sylvia Wetzel

Nachwort

Leseempfehlungen

Vorwort

Zum Abenteuer des Menschwerdens braucht es Mut. Unsere Gedanken mögen Sie ermutigen, denn bei den Themen, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen, geht es darum, ein ganzer Mensch werden zu wollen.

Die Fragen, denen wir uns gemeinsam stellen, führen oft zu recht unterschiedlichen Antworten. Es dürfte unverkennbar sein, dass die eine von uns als Ärztin und Psychotherapeutin schreibt und die andere als buddhistische Meditationslehrerin.

Der Aufbau des Buches spiegelt unsere Art der Zusammenarbeit wider. Wir haben von 2000 bis 2010 zehn gemeinsame Seminare durchgeführt und dabei unsere unterschiedlichen Ansätze als gute und oft auch für uns überraschende Ergänzung erlebt. Und genau das wollen wir mit diesem Buch vermitteln.

Sie können das Buch auf unterschiedliche Weise lesen. Entweder lesen Sie zuerst die Kapitel, die Sie am meisten interessieren und lassen sich dabei von unseren sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema inspirieren. Oder Sie lesen zuerst die Texte der einen und dann die der anderen. Überschneidungen und Wiederholungen halten wir für sinnvoll und wichtig. Wenn Sie also bei der einen etwas lesen, was die andere ähnlich gesagt hat, so betrachten Sie dies bitte als Hinweis, dass uns beiden diese Gesichtspunkte wichtig sind. Ob Sie das dann auch so sehen wollen, entscheiden natürlich nur Sie selbst.

Dieses Buch soll Sie auch anregen, dass Sie bemerken, dass Sie Ihren Weg unter Ihren Füßen entstehen lassen, ob Sie das bewusst tun oder nicht. Deshalb schlagen wir Ihnen immer wieder Übungen zum Innehalten vor. Betrachten Sie diese bitte als Anregungen. Wenn Sie etwas finden, das Ihnen hilfreich erscheint, empfehlen wir Ihnen, sich damit wiederholt zu beschäftigen. Wir lernen das meiste Neue durch Wiederholungen. Als Kinder waren wir begeistert, wenn uns etwas gelang, und deshalb haben wir es so lange wiederholt, bis es uns »in Fleisch und Blut übergegangen ist«, dann hat es uns keine große Mühe mehr gekostet.

Es geht uns darum, einige Hinweise zu geben, mit welchen Themen man sich beschäftigen kann, um achtsamer und mitfühlender mit sich selbst und mit der Welt umzugehen. Natürlich gibt es noch eine große Zahl anderer Themen, die auch in diese Richtung weisen.

Die Thesen und Übungen aus Psychotherapie und Buddhismus wollen einigermaßen gesunden Erwachsenen helfen, konstruktiv mit schönen und schwierigen Erfahrungen umzugehen. Unsere Hinweise beziehen sich auf durchschnittliche Erfahrungen, die wir alle machen. Sie können mit den Thesen und Übungen arbeiten, die Sie inspirieren und so lernen, sie auf die spezifischen Herausforderungen Ihres Lebens anzuwenden.

Ein Hinweis zur Sprache: Wir verwenden häufig die weibliche Form und manchmal die weibliche und männliche Form. Wir möchten durch diesen Stil beide Geschlechter dazu ermuntern, darauf zu achten, mit wem sie sprechen und an wen sie sich richten, wenn sie reden und schreiben.

Jütchendorf und Köln, Ostern 2011

Luise Reddemann

Sylvia Wetzel

Zur Einstimmung

Wie ich mich auf den Weg mache

Luise Reddemann

Als ich sehr jung war, galt mir ein Satz des jungen Goethe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« als Richtschnur, und ich dachte nicht darüber nach, was das wohl für ein Mensch ist, der (nur) gut, edel und hilfreich ist. Ich fand den Satz einfach richtig, danach wollte ich streben! Dialektisches Denken war mir damals unbekannt.

Später, als ich begann, mich für Psychoanalyse zu interessieren, lernte ich, dass dieser Satz mit etwas zu tun hat, das Freud das »Über-Ich« nennt. Mit diesem Über-Ich kommt man nicht auf die Welt, man lernt durch die Umgebung, vor allem die Eltern, Gebote und Verbote, man lernt, was die Eltern wollen und was sie nicht wollen. In unserer Kultur lernen die meisten Kinder, dass die Eltern sie lieben, wenn sie »gut« oder brav sind, und dass es mit der Liebe hapert, wenn das Kind »böse« ist. Selbstverständlich hat das Über-Ich auch wichtige unterstützende und Halt gebende Funktionen, so wie gute Eltern diese auch ausüben.

Seit einiger Zeit gibt es einen berührenden Dokumentarfilm, der schlicht »Babys« heißt. Hier sieht man vier Babys aus vier Ländern von der Geburt bis zu dem Zeitpunkt, wo die Babys laufen können. Wenige Filme haben mich in letzter Zeit so stark berührt und bewegt.

Die Filmemacher haben die Babys einfach begleitet und gefilmt, im Film wird nichts kommentiert. Man sieht ein Baby aus San Francisco, eines aus Tokio, eines aus der Mongolei und eines aus Namibia. Alle Kinder haben zweifellos wohlmeinende und liebende Eltern und doch sind die Unterschiede für mich erschütternd. Vor allem das Kind aus Namibia ist in ständiger Nähe der Mutter, anderer Frauen und von Kindern, man sieht es so gut wie nie allein, aber dennoch entdeckt es seine kleine Welt selbständig, ohne dass sich viel eingemischt wird. Es ist geborgen und geschützt und erkundet aus diesem Halt heraus neugierig seine Umgebung. Dass Babys kleine Entdecker und Welteroberer sind und dass sie dafür nicht viel mehr als einen bergenden Rückhalt brauchen, vermittelt sich mir bei dem namibischen Baby am meisten. Furchtlos begibt es sich in Situationen, die jede deutsche Mutter aufschreien ließen. Die namibische Mutter ist immer verfügbar, sie ist zärtlich und sie lässt das Kind seine Entdeckungen machen, ohne sich einzumischen. So wird das Baby von einem Riesenhund liebevoll geleckt, und es scheint von der Zunge des Hundes so fasziniert zu sein, dass es beginnt, dessen Zunge zu lecken. Eine für unsereins unglaubliche Szene. Eine nahezu paradiesische Welt also. Ähnlich geht es dem mongolischen Baby, das allerdings manchmal etwas raue Erfahrungen mit einem vermutlich eifersüchtigen älteren Geschwister macht. Hier sieht man, wie das Baby eins ist mit der Natur. Es bewegt sich völlig selbstverständlich zwischen Kühen und anderen Tieren, die viel größer sind als es selbst.

Diese beiden Babys scheinen sich mit sehr wenig Einmischungen der Eltern zu entwickeln. Ganz anders das japanische und das amerikanische Baby. Hier scheinen die Eltern ständig aktiv dabei zu sein, die Babys anzuregen, damit sie sich »richtig« entwickeln – das ist meine Interpretation. Jedenfalls scheinen die Babys erheblich mehr elterlichen Beeinflussungen ausgesetzt und ich frage mich, ob sie überhaupt noch spüren dürfen, was sie selber wollen.

Was geschieht, wenn das Kind nicht will? Rasch wird das Kind als böse bezeichnet. Das japanische Baby zeigt auch, was durch die frühe Leistungsorientierung mit ihm geschieht: Wenn ihm etwas nicht gelingt, wird es verzweifelt wütend, es schreit und schlägt um sich. Das heißt, die ständige Einmischung macht das Kind unsicher, es vertraut sich nicht mehr selbst. Auch wenn im Film – natürlich – alle Babys laufen lernen und stolz und glücklich darüber erscheinen, blieb bei mir doch Trauer nach diesem Film darüber, dass in unserer leistungsorientierten Kultur – die in Japan wohl noch gesteigert ist – Kinder nur sehr schwer ihr Eigenes entdecken können.

Mit fortschreitender Erziehung weiß das Kind, was es soll und was es nicht darf, aber es weiß vielleicht nicht mehr, was es eigentlich will. Wenn wir als Kinder wissen, was wir sollen und was wir nicht dürfen, aber nicht mehr spüren können, was wir eigentlich wollen, entsteht eine Art »Loch im Selbst«, eine depressive Leere. Diese Leere kann man mit allerlei füllen, vielleicht mit Süßigkeiten, aber vielleicht auch mit klugen Sprüchen, mit denen man versucht, es denen, die man ja liebt und auf die man angewiesen ist, Recht zu machen. In diesem Sinn passte dann der Goethespruch zu mir als eine Art beruhigende Herausforderung. (Übrigens hat diese Art von depressiver Leere nichts mit der Leere zu tun, von der im Buddhismus die Rede ist.)

Heute sehe ich in dem Goethewort allenfalls so etwas wie eine Orientierung. Ja, es kann sinnvoll sein, danach zu streben, ein guter Mensch zu werden, und ein hilfreicher allemal. Und was heißt »edel«? Das ist inzwischen ein uns eher fremder Begriff, er scheint mit dem Schönen, Wahren und Guten zu tun zu haben.

Und doch: Wir sind nicht immer gut, wir sind nicht immer hilfsbereit und wir sind nicht immer nur am Schönen, Wahren und Guten interessiert. Vor allem sind wir viel mehr als edel, gut und hilfreich. Wir sind auch wütend, wir fühlen uns ohnmächtig, wir lernen zu hassen, wir schämen uns, wir haben Angst. Goethe, der diesen Satz im Sinn der Aufklärung formuliert haben dürfte, hat natürlich formuliert, wie wir sein sollten, nicht wie wir sind.

Müssen wir uns dafür ablehnen, vielleicht sogar hassen, dass wir das, was wir sein sollten – oder auch sein möchten – nicht erreichen?

Ein Kind, das in Wut gerät, weil es etwas nicht kann, was von ihm gefordert wird, zieht eigentlich eine Grenze, denn Wut bedeutet Grenzziehung. Leider hilft ihm diese Grenzziehung nicht, weil es sich genau genommen ohnmächtig fühlt. Wenn ich mich ohnmächtig fühle, hilft es mir nicht, mich dagegen abgrenzen zu wollen, sondern ich sollte dieses sehr unangenehme Gefühl aushalten können. Ich sollte in der Lage sein, mich als nicht immer machtvoll annehmen zu können. Ein Kind kann das, wenn es sich geliebt fühlt. Wir als Erwachsene können das, wenn wir uns von uns selbst geliebt fühlen können.

Strenge Maximen von der Art des Goethespruchs können uns daran hindern, uns anzunehmen, statt dass sie uns dabei helfen, uns zu mögen. Wir können solche Maximen allerdings auch im Sinn einer Orientierungshilfe begreifen, wissend, dass wir das Ziel niemals ganz erreichen, eben weil wir nicht vollkommen sind.

Einen anderen Ausweg sehe ich darin, dass wir aufhören, »heilig« sein zu wollen und anstreben, ganze Menschen zu werden, die auch gerne edel, hilfreich und gut wären und denen das manchmal gelingt und manchmal nicht. Ein ganzer Mensch, was ist das? Oder, anders ausgedrückt, wie stellen Sie sich vor, ein ganzer Mensch zu sein?

Innehalten:

Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und fragen Sie sich, was Ihre Vorstellung eines »ganzen Menschen« ist. Was gehört Ihrer Meinung nach unabdingbar zu einem Menschen?

Kennen Sie Menschen, von denen Sie spontan sagen würden, ja, das ist ein ganzer Mensch?

Die Dichterin Rose Ausländer hat einmal gesagt: »Mit euch allen feiern/ das unverlässliche Leben.« Es geht mir auch ums Feiern dessen, ums Dankbarsein für das, was uns geschenkt ist und als Erwachsene sollten wir daneben akzeptieren lernen, dass das Leben nicht immer so verlässlich ist, wie wir es uns wünschen.

Die »Unverlässlichkeit« des Lebens lässt sich leichter ertragen, wenn man als Kind bedingungslose Verlässlichkeit der wichtigsten Bezugspersonen erfahren hat.

Jedoch, wie auch immer unsere Erfahrungen in der Kindheit waren, als Erwachsene haben wir die Chance, mit uns so zärtlich und liebevoll umzugehen, dass wir uns zumindest immer wieder für Momente mit uns selbst »zu Hause« fühlen. Ist man es nicht, hält man es »bei sich zu Hause« schlecht aus. Das führt bei nicht wenigen zu Ängsten und Depressionen. Es geht um die bedingungslose Akzeptanz von uns selbst, um das, was wir uns so oft von anderen wünschen. Für mich ist es immer wieder ein kleines Wunder, dass Menschen fähig sind, – selbst wenn sie Schlimmstes durchgemacht haben – sich mit sich selbst so zu befreunden, dass sie auch das unverlässliche Leben feiern können. Dabei kann einem psychologisches Wissen helfen, weil es dazu befähigt, sich – und andere – zu verstehen. Wenn ich mich verstehe, fällt es mir leichter, mich mit mir selbst zu befreunden. Und dann kann ich Wege finden, ein »ganzer Mensch« zu sein und Verantwortung für mich selbst übernehmen.

Heute frage ich lieber, ob Mensch sein vielleicht auch bedeutet, einen »heiligen Raum« zu betreten. Ist es nicht ein Geschenk, ein Mensch sein zu dürfen?

Vor Jahren gab es den Film »Stadt der Engel«, den ich sehr gerne mit meinen Patientinnen und Patienten angeschaut habe. Was hat uns da beeindruckt? Ein Engel will Mensch werden, weil er nicht fühlen und spüren kann, was es bedeutet, eine Birne zu essen, nicht die Freude erleben kann, die man empfindet, wenn einen das warme Wasser beim Duschen einhüllt, nicht die Freuden eines Kusses erfahren kann. Auf all dies ist der Engel neugierig. Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich besonders davon beeindruckt, dass es genau genommen um Alltägliches geht, das die meisten von uns im Allgemeinen gar nicht besonders wertschätzen. Wir finden es »normal«, dass wir fühlen, dass wir schmecken, dass uns etwas Freude macht. Was soll daran schon Besonderes sein? Die Begeisterung des Engels, der schließlich ein Mensch wird und damit mit all dem Unangenehmen konfrontiert ist, das Menschsein auch bedeutet, für das Leben und all seine Facetten, empfand ich damals als belebend. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass mein Leben einen Glanz hatte, den ich vorher so gar nicht erlebt hatte. Ich habe für mich entdeckt, dass jeder Augenblick, den mir das Leben schenkt, kostbar ist. Und dass es eine Menge Mut kostet, ein Mensch zu sein, weil es bedeutet, auch schmerzliche Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die der Engel bis dahin nicht kannte. Er verliert bald die geliebte Frau und sagt am Ende des Films auf die Frage, ob er es bereue, ein Mensch geworden zu sein, nein, er bereue es nicht. Und wenn er nur einmal erfahren habe, was ein Kuss bedeutet – er hat natürlich mehr als das erfahren–, dann wäre er schon dankbar.

Als Menschen sind wir fühlende und spürende Wesen und das ist ein unglaubliches Geschenk. Dieses Geschenk teilen wir nach allem, was man heute weiß, mit den Tieren.

Was uns von ihnen unterscheidet, ist unsere Reflexionsfähigkeit, die uns darüber hinaus auch noch in besonderer Weise kreativ sein lässt.

Wir können spüren, wie es ist, eine Birne zu essen und dieses Spüren löst in uns angenehme Gefühle aus. Über diese Erfahrung können wir nachdenken, wir können ihr quasi noch einmal bewusst nachschmecken, sie mit der Erinnerung an andere Birnen, die wir gerne gegessen haben, verbinden, zum Beispiel an eine Birne aus der Kindheit, die wir vom Baum der Großeltern pflücken durften, ja sogar eine Erinnerung an das Gedicht vom Herrn Ribbeck von Ribbeck im Havelland mag uns einfallen und vieles mehr. Vielleicht können Sie jetzt beim Lesen fühlen, dass Sie Freude erleben, wenn Sie sich mit ihren Gedanken an Birnen beschäftigen. Das alles können Tiere so vermutlich nicht. Und ich halte auch diese Verbindung von Spüren, Fühlen und Denken und Reflektieren für ein Geschenk des Lebens.

Innehalten:

Fragen Sie sich, welche sinnliche Erfahrung aus der letzten Zeit für Sie besonders beglückend war und spüren Sie ihr für ein paar Momente nach. Können Sie für diese Erfahrung dankbar sein? Wie sähe Ihr Leben aus, wenn es diese Erfahrung nicht nur nicht gäbe, sondern Sie nicht dazu in der Lage wären; Sie würden nie ein unangenehmes Gefühl haben, aber auch nie ein angenehmes?

Wir bezahlen einen hohen Preis dafür, dass wir fühlen. Denn: »In der Welt habt ihr Angst«. Wir fürchten uns, wir sind verzweifelt, wir leiden, wir fühlen uns ohnmächtig, wir schämen uns. Das alles ist nicht leicht. Wir wünschen uns manchmal, dass wir davon befreit wären. Und hoffen, wenn wir nur genügend gut sind, dann…

Wenn jemand das Glück hat, ähnlich wie das namibische Baby groß zu werden, wird er oder sie innerlich so stabil sein, dass es ihm oder ihr leichter als anderen fallen wird, auch schmerzliche Gefühle zu ertragen. Menschen, die weniger gute Erfahrungen gemacht haben, werden vielleicht über lange Zeit einiges an Mühe aufwenden müssen, um ihre Erfahrungen als solche zu schätzen. Sie werden eher dazu tendieren, »nur gut« sein zu wollen, in der Hoffnung, dass ihnen dann »nur Gutes« widerfährt. Ich stelle mir vor, dass das sogar eine wichtige und hilfreiche Erfahrung sein könnte, bis es uns gehen würde, wie dem Münchner im Himmel, den es auf Dauer doch langweilt, immer nur Halleluja zu singen. Als Menschen möchten wir meist doch in der Spannung von Gegensätzen leben, sonst wird es uns einerseits langweilig und andererseits wüssten wir gar nicht, wie kostbar es sein kann, »edel, hilfreich und gut« zu sein. Dann spätestens beginnen wir zu bemerken, dass die Erfahrung des »Menschseins« etwas sehr Besonderes ist, einen schier unglaublichen Reichtum birgt.

Neuerdings zeigt die sogenannte Positive Psychologie, wie hilfreich es für das seelische Gleichgewicht ist, wenn wir dankbar sein können. Dankbare Menschen scheinen die zufriedensten zu sein. Zunächst sind die meisten Menschen dankbar dafür, dass sie schöne Dinge erleben. Nach und nach kann man erfahren, dass es manchmal auch die schmerzlichen Erfahrungen sind, die uns weiterbringen, und dass man sogar für diese schmerzlichen Erfahrungen dankbar sein kann. Dann stellt sich – manchmal – ein Gefühl von Ganzheit ein. Also das ist das Leben, mein Leben, alles gehört dazu, das bedeutet »Ganzheit«. Der Engel, der ein Mensch wird, steht dazu, dass er traurig, verzweifelt und wütend ist. Er sehnt sich durchaus nach dem gemeinsamen Gesang mit den Engeln, an dem er als Engel teilnehmen konnte, er verspürt einen Verlust und doch bejaht er sein Menschsein wegen der Möglichkeiten, die er nur als Mensch haben kann, wegen der Erfahrungen, die ihm sein Menschsein ermöglicht. So halte ich es heute für erstrebenswert, das Menschsein als Erfahrung im Ganzen zu bejahen und nicht ein paar Idealen allein nachzustreben. Ideale brauchen wir, aber wir sollten sie nicht dafür einsetzen, große Teile unserer Erfahrungen als Mensch auszublenden und abzuwerten bzw. einen Teil unserer Möglichkeiten so zu überhöhen, wie Goethe das in seinem Spruch tut, dass uns alles Andere schal erscheint. Das wäre ein großer Verlust, vielleicht sogar für das »große Ganze«, wer weiß.

Mensch sein bedeutet bei genauer Betrachtung immer wieder neu Mensch werden. Deshalb mag ich den Satz, der Weg entsteht unter deinen Füßen. Mit dem Weg, den ich entstehen lasse, entstehe ich selbst immer wieder neu.

Ich betrachte die Dinge des Lebens häufig durch eine Brille, die man entwicklungspsychologisch nennen könnte, weil ich davon ausgehe, dass viele Weichen in der Kindheit gestellt werden. Ich weiß, dass es eine Utopie ist, aber ich bin mir sicher, dass eine Welt, in der Kinder geliebt sind und in Frieden und Sicherheit aufwachsen können, ihren Bedürfnissen entsprechend und respektiert als ganze Menschen, unser aller Leben leichter machen würde. Man kann die Dinge des Lebens später zwar umstellen, und es ist gut, dass wir das können, aber es bleibt mühsamer.

Ich fühle mich mit zunehmendem Alter einem Prinzip verbunden, das man »Transzendenz in der Immanenz« nennt. Über mich selbst hinauszuwachsen im Leben hier und jetzt und mich mit allem Leben in Ehrfurcht zu verbinden, ist mein Wunsch und meine Sehnsucht. Dazu sagt der Hirnforscher Gerald Hüther, dass jeder Mensch am Anfang seines Lebens im Mutterleib die Erfahrung gemacht hat, über sich selbst hinauswachsen zu können. Diese frühen Erfahrungen prägen uns und wir können, wenn wir wollen, uns jederzeit darauf wieder so beziehen, dass die Kraft dieser frühen Erfahrungen uns erneut zur Verfügung steht. Die Anregungen, die dazu aus dem Buddhismus kommen, sind Schätze, die ich nicht missen möchte.

Auch Psychotherapie kann dabei helfen. Fast jede Psychotherapie strebt an, Menschen dabei zu ermutigen, ihre Gefühle annehmen und auskosten zu können, sich nicht vor ihnen zu fürchten.

Vielleicht müssen wir dafür zu dem Kind, das wir waren, zurückkehren und langsam seine Welt wiederentdecken. Seine unglaubliche Entdeckerfreude, seine Offenheit, seine Lebenslust. Und seine Traurigkeit, seinen Schmerz des nicht Beantwortetwerdens, seine Sehnsucht.

Es könnte sein, dass mich der Wunsch nach Ganzsein zur Psychotherapie brachte, vordergründig war es der Wunsch, mich besser zu verstehen. Und sich besser verstehen hilft in der Tat auch dabei, sich ganz und gar annehmen zu können. Psychotherapie hilft meist, sich selbst anzunehmen, ja sogar sich zu mögen, sich mit sich selbst zu befreunden.

Durch Psychotherapie erfährt man etwas über das, was zunächst gar nicht bewusst ist, etwas über Motive, die einen bewegen, ohne dass man das wusste. Man kann lernen, mutiger zu werden, so dass man sich und dem Leben achtsamer und offener begegnen kann. Man lernt, weniger Angst zu haben und sich mehr zu freuen.

Psychotherapie hilft, dass man sich auch noch mag, wenn man sich nicht immer »edel, hilfreich und gut« verhält und weil man sich immer besser versteht, kann man Mitgefühl entwickeln – für sich selbst, für leidvolle Erfahrungen und für andere Menschen. Und erstaunlicherweise kann einen das nach und nach tatsächlich gütiger und hilfsbereiter machen.

Meine Lehranalyse hat mich befähigt, meine ursprüngliche Neugier wieder zu entdecken und ihr zu vertrauen. Dafür bin ich meiner Lehranalytikerin dankbar. Neugier und Wissensdurst helfen, sich auch immer wieder auf ganz Neues einzulassen. Dazu gehörte bei mir das Einlassen auf Meditation und daraus ergab sich die Begegnung mit Sylvia Wetzel. Wir sind jetzt schon über zehn Jahre miteinander immer wieder im Gespräch. Wir können es aushalten, dass wir verschiedene Ansichten und sogar Grundüberzeugungen haben und haben immer wieder Freude daran, voneinander zu lernen.

Damit hängt zusammen, dass ich mir gewünscht habe, dass wir gemeinsam ein Buch schreiben, in dem wir Gedanken, die wir miteinander ausgetauscht haben, auch mit Ihnen, den Leserinnen und Lesern, teilen.

Die buddhistischen Vorstellungen von uns Menschen und der Welt empfinde ich als große Bereicherung, selbst wenn ich längst nicht alle Überzeugungen teile. Sie verhelfen mir immer wieder zu Perspektivenwechseln, den größten Gewinn habe ich daraus gezogen, dass es im Buddhismus – sinngemäß – heißt: Leiden gibt es, man macht es schlimmer, wenn man es nicht akzeptiert. Es gibt einen Weg der Befreiung, der lautet, erkenne »die Schleier«, die dich daran hindern, deine Buddha-Natur zu erkennen.

Das hat auf meine therapeutischen Konzepte nachhaltigen Eindruck gemacht, so dass ich heute mehr denn je darauf achte, auf die Äußerungen der »Buddha-Natur« bei mir und denen, die ich begleite, zu hören. Das beglückt mich oft.

Wenn ich traurig, wütend und beschämt bin, ergänzt sich mein psychoanalytisches Wissen mit dem mitfühlenden des Buddhismus und das gibt mir neue Kraft zum Menschsein.

Meine Texte sind in gewisser Weise eine Fortsetzung von »Eine Reise von 1000Meilen beginnt mit dem ersten Schritt«. Ist der erste Schritt getan, beginnen sich neue Fragen zu stellen, man muss manche Hürde überwinden, Unsicherheiten aushalten, und auch die Schönheit der Welt gilt es zu erkennen.

Es ist gut, wenn man verlässliche Gefährten auf dem Weg trifft. Sie zeigen einem Dinge, die man selbst nicht wahrnimmt. Ich bin Sylvia Wetzel dankbar, dass sie mich immer wieder auf dem Weg durchs Leben begleitet.

Ich gehöre zu den Menschen, die gerne lesen, andere machen ihre Entdeckungen auf andere Art. Finden Sie heraus, auf welche Art Sie die Welt am liebsten entdecken, dann können Sie sich für ihren Weg begeistern.

Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen Lust macht, die Freude an Ihrem Menschsein zu entdecken.

Gemeinsam unterschiedliche Wege gehen

Sylvia Wetzel

Anstoß zu diesem Buch gaben zehn gemeinsame Seminare zum Thema »Ressourcenorientierte Arbeit« mit sich selbst und mit Klienten, für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit Berufserfahrung, die wir von 2000 bis 2010 in Bielefeld, Berlin, Bremen und Zürich durchführten.

Die gemeinsame Arbeit ist für uns beide ein großes Geschenk. Wir lernen viel voneinander, im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen psychotherapeutischen und buddhistisch-meditativen Ansätzen, aber auch durch unsere unterschiedliche Art, Themen aufzubereiten und zu vermitteln. Außerdem macht es einfach Spaß, wenn zwei kompetente Frauen zusammenarbeiten, die sich schätzen und sich nicht als Konkurrentinnen, sondern als Kolleginnen und Freundinnen auf dem je eigenen Weg erleben.

Wir wünschen Ihnen viel Inspiration und Selbsterkenntnis bei der Lektüre des Buches. Wenn Sie beim Lesen und Ausprobieren der Ansätze in diesem Buch nur einen Bruchteil der Freude und Einsichten haben, wie wir beide und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Seminare, dann hat sich unsere Arbeit an diesem Text mehr als gelohnt.

»Wer tagtäglich mit Menschen zu tun hat, die an seelischen Wunden leiden, braucht viel Feinfühligkeit und Klarheit, Kraft und Ausdauer, Verantwortungsgefühl und Selbstvertrauen. Sie sind notwendig, um tagtäglich Grenzen zu spüren und zu setzen, sich schnell zu regenerieren und immer wieder Kraft zu tanken. Verantwortung für andere Menschen mündet dann nicht in Überforderung, wenn wir die eigenen Ressourcen spüren und sie in Klientinnen und Klienten und Kolleginnen und Kollegen entdecken und fördern. Der Kurs führt in das theoretische Modell der ressourcenorientierten Arbeit ein, stellt unterschiedliche Konzepte von Verantwortung vor und vermittelt kognitive, imaginative und konzentrative Verfahren, die zu einem einfühlsamen und kräfteschonenden Umgehen mit sich und anderen beitragen.«

So lautete der Ausschreibungstext für unser erstes gemeinsames Seminar im Juni 2000 in den Räumen der Psychosomatischen Klinik des Evangelischen Johanneskrankenhauses in Bielefeld, deren Leiterin Luise Reddemann von 1985 bis Ende 2003 war. Im Großen und Ganzen blieb das unser Ansatz, auch wenn wir je unterschiedliche Schwerpunkte setzten.

Seit 1995 hatte ich zwei- bis dreimal im Jahr buddhistische Meditationskurse zu einer Vielfalt von Themen im Plenum der Psychosomatischen Klinik in Bielefeld durchführen können, an denen viele Menschen aus sozialen, helfenden und heilenden Berufen teilnahmen. Immer wieder führten wir lange Gespräche über Unterschiede und Gemeinsamkeiten psychotherapeutischer und buddhistischmeditativer Ansätze, denn beide Disziplinen zeichnen sich durch eine kaum überschaubare Vielfalt von Erklärungsmodellen und praktischen Verfahren aus. Auch das ist eine Gemeinsamkeit, die wir beide sehr schätzen, denn sie bietet experimentierfreudigen Menschen wie uns ein großes Feld von Modellen und Methoden, die für unterschiedliche Menschentypen anwendbar sind.

Man kann Themen unterschiedlich aufbereiten. Man kann sie systematisch und detailliert entwickeln und mit nützlichen und inspirierenden Zitaten anreichern. Man kann aber auch einzelne Aspekte aus unterschiedlichen Perspektiven umkreisen. Das ist mein Ansatz, und er hat sicherlich viel damit zu tun, wie ich öffentliche Vorträge vorbereite und halte. Ich erforsche in Vorträgen eigentlich immer nur zwei Themen: Wie funktionieren wir in der relativen Dimension und wie kommen wir in Kontakt mit unserer Tiefendimension? Das untersuche ich an unterschiedlichen Facetten unseres Erlebens: Selbstbild und Menschenbild, Arbeit und Freizeit, berufliche und persönlich Beziehungen, Lebensphasen und Lebenskrisen. Das führt dazu, dass bestimmte Aussagen immer wieder auftauchen, weil sie sich auf alle Bereiche des Lebens beziehen. Wiederholung gilt als eine sehr wirkungsvolle Methode, neue Perspektiven immer besser kennenzulernen und in unser Leben integrieren zu können. Sie können im Spiegel meiner Thesen erforschen, was Sie selber denken und wie Sie mit sich und anderen umgehen.

Auf dem Weg zu einem konstruktiven Umgehen mit uns und anderen begleiten uns Achtsamkeit und Mitgefühl, und sie entfalten und vertiefen sich mühelos, wenn wir uns selber immer besser kennen und die Quelle von allem entdecken. Denn Achtsamkeit ist der Zipfel Buddha-Natur in unseren Händen und der rote Faden zu unserer Tiefendimension. Und Mitgefühl ist die natürliche Antwort, wenn wir Schwierigkeiten und Ängsten begegnen, in uns und anderen. In dem Sinn stehen Achtsamkeit und Mitgefühl am Anfang des Weges, der beim Gehen entsteht, sie sind das Herzstück des Weges und die Frucht.