Der Weg ins Freie - Arthur Schnitzler - E-Book

Der Weg ins Freie E-Book

Arthur Schnitzler

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Beschreibung

Der Roman Der Weg ins Freie von Artur Schnitzler erzählt von der unglücklichen Liebe des jungen Baron Georg von Wergenthin zu der katholischen Kleinbürgerin Anna Rosner. Georg komponiert, Anna singt seine Lieder. Die beiden werden ein Paar. Anna's Erwartung, Ehefrau zu werden wird lange enttäuscht.

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Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Erstes Kapitel

Georg von Wergenthin saß heute ganz allein bei Tische. Felician, sein älterer Bruder, hatte es vorgezogen, nach längerer Zeit wieder einmal mit Freunden zu speisen. Aber Georg verspürte noch keine besondere Neigung, Ralph Skelton, den Grafen Schönstein, oder andere von den jungen Leuten wiederzusehen, mit denen er sonst gern plauderte; er fühlte sich vorläufig zu keiner Art von Geselligkeit aufgelegt.

Der Diener räumte ab und verschwand. Georg zündete sich eine Zigarette an, dann ging er nach seiner Gewohnheit in dem großen, dreifenstrigen, nicht sehr hohen Zimmer hin und her und wunderte sich, wie dieser Raum, der ihm durch viele Wochen wie verdüstert erschienen war, allmählich doch das frühere freundliche Aussehen wiederzugewinnen begann. Unwillkürlich ließ er seinen Blick auf dem leeren Sessel am oberen Tischende ruhen, über den durch das offene Mittelfenster die Septembersonne hinfloß, und es war ihm, als hätte er seinen Vater, der seit zwei Monaten tot war, noch vor einer Stunde dort sitzen gesehen; so deutlich stand ihm jede, selbst die kleinste Gebärde des Verstorbenen vor Augen, bis zu seiner Art die Kaffeetasse fortzurücken, den Zwicker aufzusetzen, in einer Broschüre zu blättern. Georg dachte an eines der letzten Gespräche mit dem Vater, das im Spätfrühling stattgefunden hatte, kurz vor der Übersiedlung in die Villa am Veldeser See. Georg war damals eben aus Sizilien heimgekommen, wo er den April mit Grace verbracht hatte, auf einer melancholischen und ein wenig langweiligen Abschiedsreise, vor der endgültigen Rückkehr der Geliebten nach Amerika. Er hatte wieder ein halbes Jahr oder länger nichts Rechtes gearbeitet; nicht einmal das schwermütige Adagio war niedergeschrieben, das er in Palermo, an einem bewegten Morgen am Ufer spazierengehend, aus dem Rauschen der Wellen herausgehört hatte. Nun spielte er das Thema seinem Vater vor, phantasierte darüber mit einem übertriebenen Reichtum an Harmonien, der die einfache Melodie beinahe verschlang; und als er eben in eine wild modulierende Variation geraten war, hatte der Vater, vom anderen Ende des Flügels her, lächelnd gefragt: Wohin, wohin? Georg, wie beschämt, ließ den Schwall der Töne verklingen, und nun, herzlich wie immer, doch nicht in so leichtem Ton wie sonst, hatte der Vater mit dem Sohn ein Gespräch über dessen Zukunft zu führen begonnen, das diesem heute durch den Sinn zog, als wäre es von mancher Ahnung schwer gewesen.

Er stand am Fenster und blickte hinaus. Drüben der Park war ziemlich leer. Auf einer Bank saß eine alte Frau, die eine altmodische Mantille mit schwarzen Glasperlen um hatte. Ein Kindermädchen spazierte vorbei, einen Knaben an der Hand, ein anderer, ganz kleiner, in Husarenuniform, mit angeschnalltem Säbel, eine Pistole im Gürtel, lief voran, blickte stolz um sich und salutierte einem Invaliden, der rauchend des Weges kam. Tiefer im Garten, um den Kiosk, saßen wenige Leute, die Kaffee tranken und Zeitung lasen. Das Laub war noch ziemlich dicht, und der Park sah bedrückt, verstaubt und im ganzen viel sommerlicher aus, als sonst in späten Septembertagen. Georg stützte die Arme aufs Fensterbrett, beugte sich vor und betrachtete den Himmel. Seit dem Tode seines Vaters hatte er Wien nicht verlassen, trotz vieler Möglichkeiten, die ihm offen standen. Er hätte mit Felician auf das Schönsteinsche Gut fahren können; Frau Ehrenberg hatte ihn in einem liebenswürdigen Brief in den Auhof eingeladen; und zu einer Radtour durch Kärnten und Tirol, wie er sie längst plante, und zu der er sich allein nicht entschließen konnte, hätte er leicht einen Gefährten gefunden. Aber er blieb lieber in Wien und vertrieb sich die Zeit mit dem Durchblättern und dem Ordnen von alten Familienpapieren. Er fand Erinnerungen bis zu seinem Urgroßvater, Anastasius von Wergenthin, der aus der Rheingegend stammte und durch Heirat mit einem Fräulein Recco in den Besitz eines alten längst unbewohnbaren Schlößchens bei Bozen gekommen war. Auch Dokumente zur Geschichte von Georgs Großvater waren vorhanden, der im Jahre 1866 als Artillerieoberst vor Chlum gefallen war. Dessen Sohn, Felicians und Georgs Vater, hatte sich wissenschaftlichen, hauptsächlich botanischen Studien gewidmet und in Innsbruck das Doktorat der Philosophie abgelegt. Als Vierundzwanzigjähriger lernte er ein junges Mädchen kennen aus alter österreichischer Beamtenfamilie, das sich, vielleicht mehr um den engen und beinahe ärmlichen Zuständen ihres Hauses zu entfliehen, als aus innerstem Beruf, zur Sängerin ausgebildet hatte. Der Freiherr von Wergenthin sah und hörte sie zum ersten Male im Winter in einer Konzertaufführung der Missa solemnis, und schon im Mai darauf wurde sie seine Frau. Im zweiten Jahre der Ehe kam Felician, im dritten Georg zur Welt. Drei Jahre später begann die Baronin zu kränkeln und wurde von den Ärzten nach dem Süden geschickt. Da die Heilung auf sich warten ließ, wurde der Haushalt in Wien aufgelöst, und so fügte es sich, daß der Freiherr mit den Seinen durch viele Jahre eine Art von Hotel- und Wanderleben führen mußte. Ihn selbst führten Geschäfte und Studien manchmal nach Wien, die Söhne aber verließen ihre Mutter beinahe niemals. Man lebte in Sizilien, in Rom, in Tunis, in Korfu, in Athen, in Malta, in Meran, an der Riviera, zuletzt in Florenz; keineswegs auf großem Fuß, aber doch standesgemäß; und nicht so sparsam, daß nicht ein guter Teil des freiherrlichen Vermögens allmählich aufgezehrt worden wäre.

Georg war achtzehn Jahre alt, als seine Mutter starb. Neun Jahre waren seither verflossen, aber unverblaßt war ihm die Erinnerung an jenen Frühlingsabend, da Vater und Bruder zufällig nicht daheim gewesen waren, und er allein und ratlos am Bett der sterbenden Mutter gestanden hatte, während durch die eilig aufgerissenen Fenster, mit der Luft des Frühlings, das Reden und Lachen von Spaziergängern verletzend laut hereinklang.

Die Hinterbliebenen kehrten mit dem Leichnam der Mutter nach Wien zurück. Der Freiherr widmete sich seinen Studien mit einem neuen, wie verzweifelten Eifer. Früher hatte man ihn nur als vornehmen Liebhaber gelten lassen, jetzt begann man ihn auch in akademischen Kreisen durchaus ernst zu nehmen, und als er zum Ehrenpräsidenten der botanischen Gesellschaft gewählt wurde, hatte er diese Auszeichnung nicht allein dem Zufall eines adeligen Namens zu danken. Felician und Georg ließen sich als Hörer an der juridischen Fakultät einschreiben. Aber der Vater selbst war es, der es dem Jüngern nach einiger Zeit freistellte, die Universitätsstudien aufzugeben und sich seinen musikalischen Neigungen entsprechend weiter zu bilden, was dieser dankbar und erlöst annahm. Doch auch auf diesem selbstgewählten Gebiete war seine Ausdauer nicht bedeutend, und oft wochenlang hintereinander konnte er sich mit allerlei Dingen beschäftigen, die von seinem Wege weit ablagen. Diese spielerische Anlage war es auch, die ihn jene alten Familienpapiere mit einem Ernst durchblättern ließ, als gälte es wichtigen Geheimnissen der Vergangenheit nachzuforschen. Manche Stunde verbrachte er bewegt über Briefen, die seine Eltern in früheren Jahren miteinander gewechselt hatten, über sehnsüchtigen und flüchtigen, schwermütigen und beruhigten, aus denen ihm nicht nur die Hingeschiedenen selbst, sondern auch andere halbvergessene Menschen neu lebendig wurden. Da erschien ihm der deutsche Lehrer wieder, mit der traurigen blassen Stirn, der ihm auf langen Spaziergängen den Horaz vorzudeklamieren pflegte; das braune, wilde Kindergesicht des Prinzen Alexander von Mazedonien tauchte auf, in dessen Gesellschaft Georg in Rom die ersten Reitstunden genommen hatte; und in einer traumhaften Weise, wie mit schwarzen Linien an einen blaßblauen Horizont gezeichnet, ragte die Pyramide des Cestius auf, so wie Georg sie, von seinem ersten Ritt aus der Campagna heimkehrend, in der Abenddämmerung erblickt hatte. Und wenn er ins Weiterträumen geriet, zeigten sich Meeresufer, Gärten, Straßen, von denen er gar nicht wußte, aus welcher Landschaft, welcher Stadt sein Gedächtnis sie bewahrt hatte; Gestalten schwebten vorbei, manche vollkommen deutlich, die ihm einmal nur in gleichgültiger Stunde begegnet waren, andere wieder, mit denen er zu irgend einer Zeit viele Tage zusammen gewesen sein mochte, schattenhaft und fern. Als Georg nach Sichtung jener alten Briefe auch seine eigenen Papiere in Ordnung brachte, fand er in einer alten, grünen Mappe musikalische Entwürfe aus der Knabenzeit, die ihm bis auf die Tatsache ihres Vorhandenseins so vollkommen entschwunden waren, daß man sie ihm ohne weiteres als die Aufzeichnungen eines anderen hätte vorlegen können. Von manchen war er angenehm schmerzlich überrascht, denn sie schienen ihm Versprechungen zu enthalten, die er vielleicht niemals erfüllen sollte. Und doch spürte er gerade in der letzten Zeit, daß sich irgend etwas in ihm vorbereitete. Er sah es wie eine geheimnisvolle aber sichere Linie, die von jenen ersten hoffnungsvollen Niederschriften in der grünen Mappe zu neuen Einfällen wies; und das wußte er: die zwei Lieder aus dem westöstlichen Divan, die er heuer im Sommer komponiert hatte, an einem schwülen Nachmittag, während Felician in der Hängematte lag und der Vater auf der kühlen Terrasse im Lehnstuhl arbeitete, hätte nicht der erstbeste ersinnen können.

Wie von einem gänzlich unerwarteten Gedanken überrascht wich Georg einen Schritt vom Fenster zurück. Mit solcher Deutlichkeit war er noch nie inne geworden, daß seine Existenz seit dem Tode des Vaters bis zum heutigen Tage gleichsam unterbrochen gewesen war. An Anna Rosner, der er jene Lieder im Manuskript zugesandt, hatte er die ganze Zeit über nicht gedacht. Und wie ihm nun einfiel, daß er ihre wohllautende, dunkle Stimme wieder hören und sie auf dem etwas dumpfen Pianino zum Gesang begleiten durfte, sobald er nur wollte, war er angenehm bewegt. Und er erinnerte sich des alten Hauses in der Paulanergasse, des niederen Tors, der schlecht beleuchteten Stiege, die er bisher nicht öfter als drei- oder viermal hinaufgegangen war, wie man an Liebgewordenes und längst Bekanntes denkt.

Im Park drüben ging ein leichtes Wehen durch die Blätter. Über der Stephansturmspitze, die dem Fenster, durch den Park und einen beträchtlichen Teil der Stadt getrennt, gerade gegenüberlag, erschienen dünne Wolken. Ein langer Nachmittag, völlig ohne Verpflichtungen dehnte sich vor Georg aus. Im Laufe der zwei Trauermonate, so wollte es ihm scheinen, hatten sich alle Beziehungen früherer Zeit gelockert oder gelöst. Er dachte an den verflossenen Winter und Frühling, mit ihrem vielfach verschlungenen und wirren Treiben, und allerlei Erinnerungen tauchten bildhaft vor ihm auf: Die Fahrt mit Frau Mariannen im geschlossenen Fiaker durch den verschneiten Wald. Der maskierte Abend bei Ehrenbergs, mit Elses tiefsinnig-kindlichen Bemerkungen über die »Hedda Gabler«, der sie sich verwandt zu fühlen behauptete, und mit Sissys raschem Kuß unter den schwarzen Spitzen der Larve. Eine Bergtour im Schnee, von Edlach aus auf die Rax, mit dem Grafen Schönstein und Oskar Ehrenberg, der – ohne angeborene alpine Neigungen – gern die Gelegenheit ergriffen hatte, sich zwei hochgeborenen Herren anzuschließen. Der Abend bei Ronacher mit Grace und dem jungen Labinski, der sich vier Tage darauf erschossen, man hatte nie recht erfahren, ob wegen Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus Affektation. Das seltsame glühend-kalte Gespräch mit Grace auf dem Friedhof im schmelzenden Feberschnee, zwei Tage nach Labinskis Begräbnis. Der Abend im heißen, hochgewölbten Fechtsaal, wo Felicians Degen die gefährliche Waffe des italienischen Meisters kreuzte. Der nächtliche Spaziergang nach dem Paderewski-Konzert, auf dem der Vater ihm so vertraut wie nie zuvor von jenem fernen Abend sprach, da die verstorbene Mutter in dem gleichen Saal, aus dem sie eben kamen, in der Missa solemnis gesungen hatte. Und endlich erschien ihm Anna Rosners hohe, ruhige Gestalt, am Klaviere lehnend, das Notenblatt in der Hand, die blauen, lächelnden Augen auf die Tasten gerichtet; und er hörte sogar ihre Stimme in seiner Seele klingen.

Während er so am Fenster stand und in den Park hinunterschaute, der sich allmählich belebte, empfand er es wie beruhigend, daß er zu keinem menschlichen Wesen in engerer Beziehung stand, und daß es doch manche gab, mit denen er wieder anknüpfen, in deren Kreis er wieder eintreten durfte, sobald es ihm nur beliebte. Zugleich fühlte er sich wunderbar ausgeruht, für Arbeit und Glück bereit wie niemals zuvor. Er war voll guter und kühner Vorsätze, seiner Jugend und Unabhängigkeit sich mit Freuden bewußt. Zwar fühlte er mit einiger Beschämung, daß, in diesem Augenblick wenigstens, seine Trauer um den hingeschiedenen Vater sehr gemildert war; doch fand er für diese Gleichgültigkeit einen Trost in sich, da er des quallosen Endes gedachte, das dem teuren Mann beschieden war. Im Garten, heiter mit den beiden Söhnen plaudernd, war er auf und abgegangen, hatte mit einem Mal um sich geschaut, als hörte er ferne Stimmen, hatte dann aufgeblickt, zum Himmel empor, und war plötzlich tot auf die Wiese hingesunken, ohne Schmerzenslaut, ja ohne Zucken der Lippen.

Georg trat ins Zimmer zurück, machte sich zum Fortgehen fertig und verließ das Haus. Seine Absicht war es, ein paar Stunden herumzuspazieren, wohin der Zufall ihn führen mochte, und abends endlich wieder an seinem Quintett weiterzuarbeiten, wofür ihm nun die rechte Stimmung gekommen schien. Er überschritt die Straße und betrat den Park. Die Schwüle hatte nachgelassen. Noch immer saß die alte Frau mit der Mantille auf der Bank und starrte vor sich hin. Auf dem sandigen Rund um die Bäume spielten Kinder. Um den Kiosk waren alle Stühle besetzt. Im Wetterhäuschen saß ein glattrasierter Herr, den Georg vom Sehen kannte, und der ihm durch seine Ähnlichkeit mit dem alten Grillparzer aufgefallen war. Am Teich kam Georg eine Gouvernante entgegen, mit zwei schön gekleideten Kindern und betrachtete ihn mit leuchtendem Blick. Als er aus dem Park auf die Ringstraße trat, begegnete ihm Willy Eißler in langem dunkelgestreiften Herbstpaletot und sprach ihn an:

»Guten Tag, Baron, sind Sie auch schon wieder in Wien eingerückt?« »Ich bin schon lange zurück«, erwiderte Georg. »Nach dem Begräbnis meines Vaters hab' ich Wien nicht mehr verlassen.«

»Ja, ja, natürlich... Gestatten Sie, daß ich Ihnen nochmals...« Und Willy drückte Georg die Hand.

»Und was haben Sie denn heuer im Sommer getrieben?« fragte Georg. »Allerlei. Tennis gespielt, gemalt, Zeit vertrödelt, einige amüsante und noch mehr langweilige Stunden verlebt...« Willy sprach äußerst rasch, wie mit einer absichtlichen leisen Heiserkeit, scharf, salopp, mit ungarischen, französischen, wienerischen, jüdischen Akzenten. »Übrigens, wie Sie mich da sehen«, fuhr er fort, »bin ich heute früh aus Przemysl gekommen.«

»Waffenübung?«

»Jawohl, letzte. Ich sag's mit Wehmut. So sehr ich mich dem Greisenalter nähere, es hat mir doch noch immer Spaß gemacht, so mit den gelben Aufschlägen umherzuwandeln, Sporen klirrend, Säbel scheppernd, eine Ahnung drohender Gefahr verbreitend, und von mangelhaften Lavaters für einen bessern Grafen gehalten zu werden.« Sie spazierten weiter, dem Gitter des Stadtparks entlang.

»Gehen Sie vielleicht zu Ehrenbergs?« fragte Willy.

»Nein, ich denke gar nicht daran.«

»Weil's der Weg ist. Haben Sie übrigens gehört, Fräulein Else soll verlobt sein.«

»So?« fragte Georg gedehnt. »Mit wem denn?«

»Raten S' Baron.«

»Am Ende Hofrat Wilt?«

»O fröhlich!« rief Willy. »Der denkt wohl nicht daran! Die Verschwägerung mit S. Ehrenberg könnte ihm doch am Ende die Ministerkarriere erschweren – heutzutage«

»Rittmeister Ladisc?« riet Georg weiter.

»Ah dazu ist Fräulein Else doch zu gescheit, daß sie dem hineinfällt.«

Jetzt erinnerte sich Georg, daß sich Willy vor ein paar Jahren mit Ladisc geschlagen hatte. Willy fühlte Georgs Blick, zwirbelte den blonden, in polnischer Art herabhängenden Schnurrbart mit etwas nervösen Fingern hin und her und sprach rasch und beiläufig: »Der Umstand, daß ich mit dem Rittmeister Ladisc einmal eine Differenz gehabt hab', kann mich nicht hindern, in loyaler Weise anzuerkennen, daß er immer ein versoffenes Schwein gewesen ist. Ich hab' nämlich eine unüberwindliche, auch durch Blut nicht abzuwaschende Abneigung gegen die Leute, die sich bei den Juden anfressen und schon auf der Treppe über sie zu schimpfen anfangen. Bis ins Kaffeehaus kann man doch warten. Aber strengen Sie sich nicht weiter mit dem Raten an, Heinrich Bermann soll der Glückliche sein.«

»Nicht möglich«, rief Georg.

»Warum?« fragte Eißler. »Einer wird's ja doch schließlich werden. Bermann ist zwar kein Adonis, aber er ist auf dem Wege zum Ruhm; und das Gemisch von Herrenreiter und Athleten in höchster Vollendung, das sich Else offenbar erträumt hat, wird sie ja doch kaum finden. Vierundzwanzig Jahre ist sie indessen alt geworden, vor Salomons Taktlosigkeiten und Witzen dürfte ihr auch schon genügend grausen... also...«

»Salomon?... ach ja... Ehrenberg«.

»Sie kennen ihn auch nur unter dem Namen ›S‹?... S. heißt natürlich Salomon, und daß nur S. auf der Tafel an der Tür steht, ist eine Konzession, die er den Seinen gemacht hat. Wenn es nach ihm ginge, möchte er am liebsten zu den Gesellschaften, die Madame Ehrenberg gibt, im Kaftan und mit den gewissen Löckchen erscheinen.«

»Sie glauben...? Er ist doch nicht so fromm?«

»Fromm... o fröhlich! Mit der Frömmigkeit hat das allerdings nichts zu tun. Es ist nur Bosheit, hauptsächlich gegen seinen Sohn Oskar mit den feudalen Bestrebungen.«

»Ach so«, sagte Georg lächelnd. »Ist denn Oskar nicht schon längst getauft? Er ist ja Reserveoffizier bei den Dragonern.«

»Ach darum... Nun, ich bin auch nicht getauft und trotzdem... Ja, es gibt immer ein paar Ausnahmen... Mit einigem guten Willen...« Er lachte und fuhr fort: »Was übrigens Oskar anbelangt, so möchte er gewiß lieber katholisch sein. Aber das Vergnügen beichten gehen zu dürfen, käme ihm vorläufig doch noch zu teuer zu stehen. Es wird wohl auch im Testament vorgesehen sein, daß Oskar nicht überhüpft.«

Sie waren vor dem Café Imperial angelangt. Willy blieb stehen. »Ich habe da ein Rendezvous mit Demeter Stanzides.«

»Grüßen Sie ihn, bitte.«

»Danke bestens. Kommen Sie nicht mit hinein, auf ein Eis?«

»Danke, ich bummle noch ein bißchen.«

»Sie lieben die Einsamkeit?«

»Auf so allgemeine Fragen läßt sich schwer antworten«, erwiderte Georg.

»Allerdings«, sagte Willy, wurde plötzlich ernst und lüftete den Hut. »Habe die Ehre, Herr Baron.«

Georg reichte ihm die Hand. Er fühlte, daß Willy ein Mensch war, der ununterbrochen eine Stellung verteidigte, wenn auch ohne dringende Notwendigkeit. »Auf Wiedersehen«, sagte er mit unvermittelter Herzlichkeit. Er empfand es, wie schon öfters, als beinahe sonderbar, daß Willy Jude war. Schon der alte Eißler, Willys Vater, der anmutige Wiener Walzer und Lieder komponierte, sich kunst- und altertumsverständig mit dem Sammeln, zuweilen auch mit dem Verkauf von Antiquitäten befaßte und seinerzeit als der berühmteste Boxer von Wien gegolten hatte, mit seiner Riesengestalt, dem langen, grauen Vollbart und dem Monokel, sah eher einem ungarischen Magnaten ähnlich, als einem jüdischen Patriarchen; aus Willy aber hatten Anlage, Liebhaberei und eiserner Wille das täuschende Ebenbild eines geborenen Kavaliers gebildet. Was ihn jedoch vor andern jungen Leuten seines Stammes und seines Strebens auszeichnete, war der Umstand, daß er gewohnt war, seine Abstammung nie zu verleugnen, für jedes zweideutige Lächeln Aufklärung oder Rechenschaft zu fordern und sich gelegentlich über alle Vorurteile und Eitelkeiten, in denen er oft befangen schien, selber lustig zu machen.

Georg schlenderte weiter. Die letzte Frage Willys klang ihm nach. Ob er die Einsamkeit liebte?... Er erinnerte sich daran, wie er in Palermo ganze Vormittage allein herumspaziert war, während Grace ihrer Gewohnheit gemäß bis Mittag im Bette lag. Grace... Wo mochte sie jetzt sein...? Seit sie in Neapel von ihm Abschied genommen, hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, wie es übrigens verabredet gewesen war. Er dachte an die tiefblaue Nacht, die über den Wassern schwebte, als er nach jenem Abschied allein nach Genua gefahren war, und an den seltsamen, leisen, wie märchenhaften Gesang zweier Kinder, die dicht aneinandergeschmiegt, gemeinsam in einen Plaid gehüllt, an der Seite ihrer schlafenden Mutter auf dem Verdeck gesessen waren.

Mit wachsendem Behagen spazierte er unter den Leuten weiter, die in sonntäglicher Lässigkeit an ihm vorübergingen. Mancher freundliche Frauenblick begegnete dem seinen und schien ihn darüber trösten zu wollen, daß er an diesem schönen Feiernachmittag einsam und mit allen äußern Abzeichen der Trauer umherwandelte. Und wieder tauchte ein Bild in ihm auf. Er sah sich auf einer hügeligen Wiese liegen, spät abends, nach einem heißen Junitag. Dunkelheit ringsum. Tief unter ihm Gewirr von Menschen, Lachen und Lärm, glitzernde Lampions. Ganz nah aus dem Dunkel Mädchenstimmen... Er zündet die kleine Pfeife an, die er nur auf dem Land zu rauchen pflegt; beim Schein des Zündhölzchens sieht er zwei hübsche, ganz junge Bauerndirnen, beinah noch Kinder. Er plaudert mit ihnen. Sie haben Angst, weil es so finster ist; sie schmiegen sich an ihn. Plötzlich Geknatter, Raketen in der Luft. Von unten ein lautes »Ah«. Bengalisches Licht, violett und rot, über dem unsichtbaren See in der Tiefe. Die Mädchen den Hügel hinab, verschwinden. Dann wird es wieder dunkel, und er liegt allein, schaut in die Finsternis hinauf, die schwül auf ihn herabsinken will. Dies war die Nacht vor dem Tage gewesen, da sein Vater sterben mußte. Und auch ihrer dachte er heute zum erstenmal.

Er hatte die Ringstraße verlassen, nahm die Richtung der Wieden zu. Ob die Rosners an diesem schönen Tage zu Hause waren? Immerhin lohnte es den kurzen Weg, und jedenfalls zog es ihn mehr dorthin, als zu Ehrenbergs. Nach Else sehnte er sich gar nicht, und ob sie wirklich Heinrich Bermanns Braut sein mochte oder nicht, war ihm beinahe gleichgültig. Er kannte sie schon lange. Sie war elf, er vierzehn Jahre alt gewesen, als sie an der Riviera miteinander Tennis gespielt hatten. Damals glich sie einem Zigeunermädel. Blauschwarze Locken umwirbelten ihr Stirn und Wangen, und ausgelassen war sie wie ein Bub. Ihr Bruder spielte schon damals den Lord, und Georg mußte noch heute lächeln, wenn er sich erinnerte, wie der Fünfzehnjährige eines Tages im lichtgrauen Schlußrock, mit weißen, schwarztamburierten Handschuhen und einem Monokel im Aug, auf der Promenade erschienen war. Frau Ehrenberg war damals vierunddreißig Jahre alt, hoheitsvoll, von übergroßer Gestalt, dabei noch schön, hatte verschleierte Augen und war meistens sehr müde. Es blieb unvergeßlich für Georg, wie eines Tages ihr Gemahl, der millionenreiche Patronenfabrikant, die Seinen überraschte und einfach durch sein Erscheinen der ganzen Ehrenbergischen Vornehmheit ein rasches Ende bereitet hatte. Georg sah ihn noch vor sich, so wie er während des Frühstücks auf der Hotelterrasse aufgetaucht war; ein kleiner, magerer Herr mit graumeliertem Vollbart und japanischen Augen, in weißem schlecht gebügelten Flanellanzug, einen dunklen Strohhut mit rotweiß gestreiftem Band auf dem runden Kopf, und mit schwarzen, bestaubten Schuhen. Er redete sehr gedehnt, immer wie höhnisch, selbst über die gleichgültigsten Dinge; und so oft er den Mund auftat, lag es unter dem Schein der Ruhe wie eine geheime Angst auf dem Antlitz der Gattin. Sie versuchte sich zu rächen, indem sie ihn mit Spott behandelte; aber gegen seine Rücksichtslosigkeit kam sie nicht auf. Oskar benahm sich, wenn es irgend möglich war, als gehörte er nicht dazu. In seinen Zügen spielte eine etwas unsichere Verachtung für den seiner nicht ganz würdigen Erzeuger, und Verständnis suchend lächelte er zu den jungen Baronen hinüber. Nur Else war zu jener Zeit sehr nett mit dem Vater. Auf der Promenade hing sie sich gern in seinen Arm, und manchmal fiel sie ihm vor allen Leuten um den Hals.

In Florenz, ein Jahr vor seiner Mutter Tod, hatte Georg Else wiedergesehen. Sie nahm damals Zeichenstunden bei einem alten, grau- und wirrhaarigen Deutschen, von dem die Sage ging, daß er einmal berühmt gewesen wäre. Er selbst verbreitete das Gerücht über sich, daß er seinen frühern, sehr bekannten Namen, als er sein Genie schwinden fühlte, abgelegt und die Stätte seines Wirkens, die er niemals nannte, verlassen hätte. Schuld an seinem Niedergang trug, wenn man seinen Berichten glauben durfte, ein dämonisches Frauenzimmer, das er geheiratet, das in einem Eifersuchtsanfall sein bedeutendstes Bild zerstört und durch einen Sprung vom Fenster ihr Leben geendet hatte. Dieser Mensch, den sogar der siebzehnjährige Georg als eine Art von schwindelhaftem Narren erkannte, war der Gegenstand von Elses erster Schwärmerei. Sie war damals vierzehn Jahre alt, die Wildheit und Unbefangenheit der Kindheit war dahin. Vor der Tizianschen Venus in den Uffizien glühten ihr die Wangen in Neugier, Sehnsucht und Bewunderung, und in ihren Augen spielten dunkle Träume von künftigen Erlebnissen. Öfters kam sie mit ihrer Mutter in das Haus, das die Wergenthins am Lungano gemietet hatten; und während Frau Ehrenberg die leidende Baronin in ihrer müdgeistreichen Weise zu unterhalten suchte, stand Else mit Georg am Fenster, führte altkluge Gespräche über die Kunst der Präraffaeliten und lächelte der vergangenen kindischen Spiele. Auch Felician erschien zuweilen, schlank und schön, blickte mit seinen kalten, grauen Augen an Dingen und Menschen vorbei, sprach ein paar höfliche Worte, halblaut, beinahe wegwerfend, und setzte sich ans Bett seiner Mutter, der er zärtlich die Hand streichelte und küßte. Gewöhnlich ging er bald wieder fort, nicht ohne für Else einen herben Duft von uralter Vornehmheit, kaltblütiger Verführung und eleganter Todesverachtung zurückzulassen. Stets hatte sie den Eindruck, als begebe er sich an einen Spieltisch, an dem es um Hunderttausende herging, zu einem Duell auf Tod und Leben, oder zu einer Fürstin mit rotem Haar und einem Dolch auf dem Nachttisch. Georg erinnerte sich, daß er sowohl auf den schwindelhaften Zeichenlehrer, als auf seinen Bruder ein wenig eifersüchtig gewesen war. Der Lehrer, aus Gründen, über die niemals etwas verlautete, wurde plötzlich entlassen, und kurz darauf fuhr Felician mit dem Freiherrn von Wergenthin nach Wien. Nun spielte Georg noch öfter als früher den Damen auf dem Klaviere vor, Fremdes und Eigenes, und Else sang mit ihrer kleinen, etwas schrillen Stimme leichtere Schubertsche und Schumannsche Lieder vom Blatt. Sie besuchte mit ihrer Mutter und Georg die Galerien und Kirchen; als das Frühjahr wiederkam, gab es gemeinschaftliche Spazierfahrten auf dem Hügelweg oder nach Fiesole, und lächelnde Blicke gingen zwischen Georg und Else hin und her, die von einem tieferen Einverständnis erzählten, als tatsächlich vorhanden war. In dieser etwas unaufrichtigen Art spielten die Beziehungen weiter, als der Verkehr in Wien aufgenommen und fortgesetzt wurde. Immer von neuem schien Else von dem gleichmäßig freundlichen Wesen wohltätig berührt, mit dem Georg ihr auch dann entgegentrat, wenn sie einander monatelang nicht gesehen hatten. Sie selbst aber war von Jahr zu Jahr äußerlich sicherer und innerlich unruhiger geworden. Ihre künstlerischen Bestrebungen hatte sie früh genug alle fallen lassen, und im Laufe der Zeit erschien sie sich zu den verschiedensten Lebensläufen ausersehen. Manchmal sah sie sich in der Zukunft als Weltdame, Veranstalterin von Blumenfesten, Patronesse von großen Bällen, Mitwirkende an aristokratischen Wohltätigkeitsvorstellungen; öfters noch glaubte sie sich berufen in einem künstlerischen Salon unter Malern, Musikern und Dichtern als große Versteherin zu thronen. Dann träumte sie wieder von einem mehr ins Abenteuerliche gerichteten Leben: sensationelle Heirat mit einem amerikanischen Millionär, Flucht mit einem Violinvirtuosen oder spanischen Offizier, dämonisches Zugrunderichten aller Männer, die sich ihr näherten. Zuweilen schien ihr aber ein stilles Dasein auf dem Land, an der Seite eines tüchtigen Gutsbesitzers, das erstrebenswerteste Ziel; und dann erblickte sie sich im Kreise von vielen Kindern, womöglich mit früh ergrautem Haar, ein mild resigniertes Lächeln auf den Lippen, an einfach gedecktem Tisch sitzen und ihrem ernsten Manne die Falten von der Stirne streichen. Georg aber fühlte immer, daß ihre Neigung zur Bequemlichkeit, die tiefer war, als sie selbst ahnte, sie vor jedem unbedachten Schritt schützen würde. Sie vertraute Georg mancherlei an, ohne jemals ganz ehrlich mit ihm zu sein; denn am öftesten und ernstesten hegte sie den Wunsch, seine Frau zu werden. Georg wußte das wohl, aber nicht allein darum erschien ihm das neueste Gerücht von ihrer Verlobung mit Heinrich Bermann ziemlich unglaubwürdig. Dieser Bermann war ein hagerer, bartloser Mensch mit düstern Augen und etwas zu langem schlichten Haar, der sich in der letzten Zeit als Schriftsteller bekannt gemacht hatte, und dessen Gebaren und Aussehen Georg, er wußte selbst nicht warum, an einen fanatischen jüdischen Lehrer aus der Provinz erinnerten. Das war nichts, was Else besonders fesseln, oder nur angenehm berühren konnte. Allerdings, wenn man länger mit ihm sprach, änderte sich jener Eindruck. Eines Abends im vergangenen Frühjahr war Georg mit ihm zusammen von Ehrenbergs fortgegangen, und sie waren in eine so anregende Unterhaltung über musikalische Dinge geraten, daß sie bis drei Uhr früh auf einer Ringstraßenbank weitergeplaudert hatten.

Es ist sonderbar, dachte Georg, wie vieles mir heute durch den Kopf geht, woran ich kaum mehr gedacht hatte. Und ihm war, als wenn er in dieser Herbstabendstunde allmählich aus der schmerzlich-dumpfen Versonnenheit vieler Wochen zum Tage emporgetaucht käme.

Nun stand er vor dem Hause in der Paulanergasse, wo die Rosners wohnten. Er sah zum zweiten Stockwerk auf. Ein Fenster war offen, weiße Tüllvorhänge in der Mitte zusammengesteckt, bewegten sich im leichten Zuge des Windes.

Rosners waren zu Hause. Das Stubenmädchen ließ Georg eintreten. Anna saß der Türe gegenüber, hielt die Kaffeetasse in der Hand und hatte die Augen auf den Eintretenden gerichtet. Der Vater, zu ihrer Rechten, las Zeitung und rauchte aus einer Pfeife. Er war glatt rasiert, nur an den Wangen liefen zwei schmale, ergraute Bartstreifen. Sein dünnes Haar von seltsam grünlichgrauer Färbung war an den Schläfen nach vorn gestrichen und sah aus wie eine schlecht gemachte Perücke. Seine Augen waren wasserhell und rot gerändert.

Die beleibte Mutter, mit der wie von einer Erinnerung schönerer Jahre umwobenen Stirn, blickte vor sich hin; ihre Hände, beschaulich ineinander verschlungen, ruhten auf dem Tisch. Anna stellte die Tasse langsam nieder, nickte und lächelte still. Die beiden Alten machten Miene aufzustehen, als Georg eintrat.

»Aber bitte, sich doch nicht stören zu lassen, bitte sehr«, sagte Georg.

Da krachte etwas an der Seitenwand. Josef, der Sohn des Hauses, erhob sich vom Diwan, auf dem er gelegen hatte.

»Habe die Ehre, Herr Baron«, sagte er mit einer sehr tiefen Stimme und strich sein über den Hals hinaufgeschlagenes, gelbkariertes, etwas fleckiges Sacco zurecht.

»Wie befinden sich immer, Herr Baron?« fragte der Alte, stand hager und etwas gebückt da und wollte nicht wieder Platz nehmen, eh sich Georg niedergelassen hatte. Josef rückte einen Stuhl zwischen Vater und Schwester. Anna reichte dem Besucher die Hand.

»Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.

»Sie haben traurige Zeiten durchgemacht, Herr Baron«, bemerkte Frau Rosner teilnahmsvoll.

»Jawohl«, fügte Herr Rosner hinzu. »Wir haben mit großem Bedauern von dem schweren Verluste gelesen... Und der Herr Vater haben sich doch immer der besten Gesundheit erfreut, so viel uns bekannt war.« Er sprach sehr langsam, immer, als wenn noch etwas kommen sollte, strich sich manchmal mit der linken Hand über den Kopf und nickte, während er zuhörte.

»Ja, es ist sehr unerwartet gekommen«, sagte Georg leise und blickte auf den dunkelroten, verschossenen Teppich zu seinen Füßen.

»Also ein plötzlicher Tod, sozusagen«, bemerkte Herr Rosner, und alles ringsum schwieg.

Georg nahm eine Zigarette aus seinem Etui und bot Josef eine an.

»Küß die Hand«, sagte Josef, nahm die Zigarette und verbeugte sich, indem er ohne ersichtlichen Grund die Hacken aneinander schlug. Während er dem Baron Feuer gab, glaubte er dessen Blicke auf sein Sacco gerichtet und bemerkte entschuldigend und mit noch tieferer Stimme als gewöhnlich: »Bureaujanker.«

»Bureaujanker kommt von Bureau«, sagte Anna einfach, ohne ihren Bruder anzusehen.

»Fräulein belieben die ironische Walze eingehängt zu haben«, erwiderte Josef heiter; doch war es dem gehaltenen Ton seiner Rede anzumerken, daß er sich unter andern Verhältnissen minder angenehm ausgedrückt hätte.

»Die Teilnahme war ja eine allgemeine«, begann der alte Rosner wieder. »Ich habe den Nachruf in der Neuen Freien Presse gelesen über den Herrn Papa... von Herrn Hofrat Kerner, wenn ich mich recht erinnere; er war ja höchst ehrenvoll. Auch die Wissenschaft hat einen herben Verlust erlitten.«

Georg nickte verlegen und blickte auf seine Hände nieder.