Der Weg zu uns - Leopa Wagner - E-Book

Der Weg zu uns E-Book

Leopa Wagner

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Beschreibung

Ein gemeinsamer Sommer. Sechsundzwanzig Briefe. Zwei gebrochene Herzen. Als Nora nach ihrem Abitur voller Vorfreude ihre große Reise nach Australien plant, schwört sie sich eins: Sie würde sich vor ihrem Abflug nicht verlieben. Doch dann trifft sie auf Colin, einen gut aussehenden, charmanten jungen Mann, der sie dieses Vorhaben innerhalb eines Abends komplett über Bord werden lässt. Beide geben sich ein Versprechen, das ihnen dabei helfen soll, die Entfernung zu überstehen, jedoch treiben tragische Erlebnisse einen Keil zwischen sie, den sie lange Zeit nicht überwinden können. Bis sie sich eines Tages wiedersehen. Vier Jahre und zwei gebrochene Herzen später und plötzlich müssen sie sich Gefühlen stellen, die tief in einer Schublade versteckt waren.

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Für Aurelius, Victoria, Linus, Lilly, Aronia, Antonia und Neo

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Colin

Kapitel – Vor vier Jahren

Kapitel – Nora

Kapitel – Vor einem Jahr

Kapitel – Colin

Epilog – Jetzt

Prolog

Es war Mittwochmorgen. Wie üblich waren die Straßen durch den Berufsverkehr zu dieser Zeit gut befahren. Menschen in Anzügen liefen gestresst mit ihren Aktentaschen durch die Gegend und niemand schien sich für den blauen Kombiwagen zu interessieren, der am Rande der Straße parkte. Für ihn war es die perfekte Zeit, um unauffällig zu sein. Die Leute scherten sich nicht um ihn.

Seelenruhig beobachtete er die Fremden aus seinem Auto heraus. Wie sie auf ihre Handys starrten, telefonierten, Nachrichten tippten. All das, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Straße zu schauen. Sein Blick schweifte weiter nach rechts. Auf dem Fußweg ging eine junge Frau mit Kopfhörern in den Ohren mit ihrem Hund spazieren und während dieser damit beschäftigt war, fremde Menschen zu beschnüffeln, bekam sein Herrchen es noch nicht mal mit. Ein blinder Fußgänger wartete an der Ampel, unsicher, ob er die Straße überqueren konnte, doch niemand kam auf die Idee, ihm zu helfen.

Was für eine verrückte Welt. Er selbst war kein Fan der heutigen Technologie. Seit Jahren nutzte er sein Festnetztelefon für Anrufe, ging zur Recherche in den Computerraum der nächstliegenden Bibliothek und schrieb tatsächlich lieber Briefe statt E-Mails. Er war mit seinen sechzig Jahren nahezu unfähig, in der digitalen Welt zu überleben.

Erneut stellte er sicher, dass ihn niemand beobachtete, bevor er das Fach auf der Beifahrerseite öffnete und das schwarze Fernglas aus der Tasche holte. Vor Jahren hatte er es für ein paar Scheine in einem Geschäft für Jagdausrüstung gekauft, jedoch war das auch schon zwanzig Jahre her, dass er seinen Freund das letzte Mal bei einem seiner Ausflüge begleitet hatte. Seitdem verstaubte es immer weiter in seiner Werkstatt. Bis zu diesem Tag.

Die Einstellungen waren perfekt für die Entfernung. Das Wohnhaus befand sich ungefähr dreißig Meter weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite und man bekam eine gute Sicht auf die Dinge, die sich in den Räumen abspielten. In der linken Wohnung beobachtete er eine Frau, die in der Küche Essen für ihre zwei Kinder vorbereitete, die gleich nebenan am Esstisch saßen und hungrig darauf warteten, dass ihre Teller gefüllt werden. Ein Fenster weiter entdeckte er eine ältere Dame, die völlig vertieft in ein Buch zu sein schien und ab und zu etwas in einen Notizblock schrieb.

Das war jedoch nicht das, was er sehen wollte. Er richtete sein Fernglas noch etwas weiter nach rechts, bis er die Person vor der Linse hatte, die seinen Puls sofort in die Höhe schießen ließ. Die Wut kochte in ihm hoch und er spürte, wie seine Atemzüge hastiger wurden. Kurz nahm er das Fernglas beiseite und versuchte, sich zu beruhigen. Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Seit Ewigkeiten suchte er nach ihm. Er hatte das Internet durchforstet, mit verschiedensten Leuten gesprochen und alle Orte überprüft, an denen er sich verstecken könnte, doch anfangs mit wenig Erfolg. Erst vor zwei Monaten hatte er Informationen über den Aufenthaltsort des jungen Mannes erhalten, die ihn letztlich hierherführten.

Nachdem sein Atem wieder ruhiger geworden war, richtete er sein Fernglas erneut auf die Wohnung. Zwei Zimmer konnte er von dieser Seite aus erkennen und beide Räume waren überraschend ordentlich. Das Bett war gemacht, in der Küche lag kein Geschirr herum und auf dem Wohnzimmertisch standen keine Bierflaschen oder leere Verpackungen vom Vorabend. So hatte er ihn gar nicht eingeschätzt. Aber was wusste er schon noch von ihm?

Die Person, auf der sein Fernglas nun ruhte, saß am Schreibtisch vor einem Laptop. Er zoomte noch weiter heran, doch selbst durch die beste Einstellung konnte er nicht erkennen, was auf dem Desktop zu sehen war.

Unzufrieden richtete er seinen Blick wieder auf den Mann. Das Handtuch, was er um seine Hüfte geschlungen hatte, gab freie Sicht auf seinen sportlichen, muskulösen Oberkörper. Seine Haare waren etwas dunkler und länger und es sah so aus, als hätte er sich einen Dreitagebart wachsen lassen. Er hatte sich verändert. Sehr verändert. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war der Kerl noch fast jugendlich, aber vier Jahre machten eben etwas mit einem Menschen.

Weitere Minuten vergingen, in denen nichts passierte und fast wollte er sein Fernglas zurück in die Tasche packen, als sich plötzlich die Person vom Stuhl erhob und auf den Schrank zuging, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Der junge Mann öffnete die Holztüren, holte eine braune, mittelgroße Kiste heraus und setzte sich damit auf das Sofa. Der Inhalt war nur schwer zu erkennen, doch nach weiterem Heranzoomen erfasste er ein Bündel von Briefumschlägen, die der Beobachtete auf dem Holztisch verteilte.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ließ ihn eine näherkommende Sirene zusammenzucken und brachte ihn dazu, sein Fernglas im Fach des Beifahrersitzes zu verstecken. Dann startete er den Motor, um nicht erst Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Als er in die nächste Nebenstraße einbog und das Geräusch des Martinshorns allmählich verblasste, nahm er den Fuß etwas vom Gaspedal und dachte über die Kiste nach, die er mit dem Fernglas gesehen hatte.

Er wusste genau, was für Briefe darin waren. Er wusste auch noch genau, von wem sie waren. Fast vier Jahre war es her, dass er sie alle gelesen und anschließend weggeschlossen hatte, sodass sie für niemanden zugänglich waren. Auch nicht für den Mann, der sie noch vor wenigen Minuten in der Hand hielt, doch dafür war es zu spät. Die Briefe waren nicht mehr wichtig für ihn selbst. Er war nur hier, um dem Kerl zu zeigen, was es für ein schrecklicher Fehler gewesen war, damals zu verschwinden. Ab jetzt würde er ihm das Leben zur Hölle machen, bis er freiwillig dorthin zurückkehrte, wo er hingehörte.

1. Kapitel – Colin

Colin Haber faltete den Brief auseinander und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. Das Papier wellte sich bereits an den Rändern und einige Zeilen waren mittlerweile nur noch schwierig zu lesen. Wie oft hatte er diese Briefe schon in der Hand gehalten, in der Hoffnung, die Erinnerungen könnten wieder zur Realität werden? Vier Jahre waren seitdem vergangen, aber die Gedanken an ihre gemeinsame Zeit schwirrten immer noch täglich in seinem Kopf herum.

Unsicher öffnete er ein neues Browserfenster auf seinem Laptop vor ihm und gab die Adresse ein, die auf dem letzten Brief geschrieben stand. Eigentlich war es nur ein Ort, denn Postleitzahl und der Name der Straße wurden weggelassen. Er gab die Stadt in Google Maps ein und ließ sich die Route anzeigen. Anderthalb Stunden dauerte die Autofahrt bis nach Dresden. Nur anderthalb Stunden, die ihn von ihr trennten. Trennen würden, wenn er den Mut dazu hätte, sie noch einmal aufzusuchen.

Aber was sollte das schon bringen? Nach vier Jahren würde sie ihn wahrscheinlich nicht mal mehr wiedererkennen, wenn er ihr über den Weg liefe. Zumindest versuchte er, sich das einzureden, doch der Gedanke ließ ihn nicht los, dass es ihr möglicherweise genauso ging wie ihm. Vielleicht dachte sie an den gemeinsamen Sommer zurück. Vielleicht fragte sie sich: Was wäre, wenn sie sich wiedersähen? Was wäre, wenn er ihr einen Brief schriebe? Was wäre, wenn er ihr zeigen würde, wie sehr er diesen Fehler bereute, den er damals gemacht hatte? Und zuallerletzt: Was wäre, wenn all die Gefühle von damals erneut hochkochen würden?

So viele Was wäre, wenn’s und obwohl er wusste, dass das nur Wunschdenken war, klammerte er sich an jedes Fünkchen Hoffnung.

Unschlüssig klappte er seinen Laptop wieder zu und starrte den Briefumschlag an, den er noch immer in der Hand hielt. Ganz oben auf dem Rand stand die Zahl Sechsundzwanzig, die ihn daran erinnerte, dass das der letzte Brief war, den er von ihr bekommen hatte. Seine Hände zitterten, als er die erste Zeile las.

Lieber Colin

Zwei Wörter. Geschriebene Wörter, die sich sofort in seinem Kopf abspielten und seinen Puls erhöhten, sobald er sie las. Wörter, gesprochen von einer Stimme, die er vielleicht nie wieder hören würde. Allein der Gedanke daran hatte ihn schon die letzten Jahre davon abgehalten, die Briefe ein zweites Mal zu lesen. Es schmerzte zu sehr, von jemandem zu lesen, der gleichzeitig so nah und so weit von ihm entfernt war. Von einer Frau, die nur noch in seinen Träumen präsent war.

Zögernd klappte er das Papier wieder zusammen und steckte es in seinen Umschlag. Er konnte es nicht. Noch nicht. Er stand auf und ging zurück zu seinem Couchtisch, auf dem er den Inhalt der Kiste verteilt hatte. Die Briefe, die dort lagen, sortierte er nach ihren Nummern in der richtigen Reihenfolge und legte sie geordnet zurück in die Holztruhe. Gerade als er den Deckel wieder schließen wollte, fiel sein Blick auf etwas Schimmerndes, was zwischen dem Papier versteckt war. Vorsichtig zog er das Foto heraus und blickte auf das Datum auf der Rückseite.

24. Juli 2018

Er drehte das Bild um und sofort machte sein Herz einen Sprung. Sein Blick fiel auf das Mädchen, in das er sich damals verliebt hatte. Er betrachtete ihr Gesicht, das im Licht des Sonnenaufgangs rötlich schimmerte. Ihre Augen waren geschlossen und die dunkelblonden Haare wehten leicht über ihre Schultern. Es zeigte einen Augenblick, in dem sie glücklich war. Frei. Unbeschwert. Kurz bevor das Leben dazwischenkam, und ihr diese Unbeschwertheit nahm. Für einen kurzen Moment ließ er den Tag Revue passieren. Es musste ihr zweites oder drittes Date gewesen sein, als er sie drei Uhr morgens mit dem Auto abholte und mit ihr in die Sächsische Schweiz fuhr. Er konnte sich noch genau an ihren entsetzten Gesichtsausdruck erinnern, als sie vor den gewaltigen Felsen standen, die vor ihnen in die Höhe ragten. Dieses Bild, was er in der Hand hielt, wurde ganz oben auf dem Berg geschossen. Sie sah kaputt aus und doch war dieses Foto das Schönste, was er von ihr besaß. Ihr Lächeln, in das er sich damals im ersten Augenblick verliebt hatte, zog ihn noch jetzt in den Bann.

Seufzend schloss er die Kiste und stellte sie zurück in den Schrank. Nur das Foto behielt er in seiner Hand. Er ging damit in die Küche und heftete es mit einem Magnet an die Kühlschranktür. Colin wusste, dass das keine gute Idee war, denn damit würde er nur noch öfter an sie denken. Jedes Mal, wenn er daran vorbeiging.

Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er schon wieder viel zu spät dran war. Seine Schicht im Restaurant begann um elf Uhr, kurz bevor die Menschenmassen hungrig ihre Mittagspausen antreten würden. Normalerweise war er nur selten für den Service zuständig. Da ihm das Restaurant gehörte, verbrachte er die meiste Zeit eher im Büro und kümmerte sich um den Papierkram, jedoch fielen zwei seiner Mitarbeiter kurzfristig aus, weswegen er einspringen musste.

Schnell kippte er den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse hinter, zog sich seine Sportsachen an und ging aus der Haustür. Es waren nur zehn Minuten Fußweg von seiner Wohnung aus und seit er das Lokal besaß, joggte er jeden Tag die Strecke hin und zurück. Nicht selten zog er skeptische Blicke auf sich, wenn er verschwitzt im Restaurant ankam, jedoch war ihm das mittlerweile egal. Meistens war er von früh bis spät auf der Arbeit und hatte kaum Zeit, sich um seine Ausdauer zu kümmern, also nutze er jede freie Minute, die ihm der Job ermöglichte.

Als er ankam, saßen gerade mal ein paar Leute an den Tischen, tranken Kaffee oder unterhielten sich. Die Ruhe vor dem Sturm.

Er begrüßte seinen Kumpel Raphael an der Bar und ging in den hinteren Bereich zu seinem Büro und dem kleinen Badezimmer für Mitarbeiter. Schnell sprang er unter die Dusche, zog sich seine Arbeitssachen an und ging zurück in den vorderen Teil des Restaurants.

»Wen versuchst du eigentlich damit zu beeindrucken?«, fragte Raphael, der gerade mit dem Auffüllen der Getränke beschäftigt war. Seit ihrer Kindheit war er ein fester Bestandteil in seinem Leben. Seine Familie besaß damals den Hof neben ihm. Es war sein zweites zu Hause, wenn die Probleme in Colins Elternhaus zu viel für ihn wurden. Vor etwa einem Jahr erfüllte er sich seinen Traum, kaufte das Restaurant und renovierte es gemeinsam mit Raphael. Sie waren nahezu unzertrennbar und genau das machte es in einigen Momenten kompliziert. »Womit?«, reagierte Colin auf Raphaels Frage.

»Na ja, mit dem ganzen Sport. Du joggst hierher, joggst wieder zurück. Ins Fitnessstudio gehst du auch noch, wenn du dich nicht gerade hier abrackerst. Deine Woche besteht gefühlt nur noch aus Sport und Arbeit. Für wen machst du das? Hast du etwa vergessen, deine Neue vorzustellen?«, lachte er.

Colin holte sich eine Tasse aus dem Regal und stellte sie unter die Kaffeemaschine. Es war sein dritter Kaffee an diesem Morgen und so langsam fragte er sich, wann sich sein Körper für den hohen Koffeinkonsum rächen würde, doch momentan war es die einzige Möglichkeit, den Schlafmangel auszugleichen. »Es gibt keine neue Frau. Du kannst dir darauf einbilden, was du willst, aber ich mache das für mich. Für niemanden sonst«, antwortete er genervt.

»Das ist schade«, sagte sein Kumpel und richtete den kleinen Computer für die kommenden Bestellungen ein.

Colin nahm die Tasse, trank einen Schluck und stellte sie auf die Ablage am Rand der Bar. »Was ist schade?«

Raphael schaute ihn einen Moment an, als würde er darüber nachdenken, ob jetzt ein guter Zeitpunkt war, um ein ernsteres Gespräch zu führen. »Ganz ehrlich?«, fragte er ihn mit einem vorwurfsvollen Unterton. »Du ziehst dich immer weiter zurück. Ich denke, du brauchst dringend mal wieder jemanden in deinem Leben, der dafür sorgt, dass du deinen Hintern wieder hochbekommst.«

»Ich brauche niemanden«, sagte Colin schroff und fing an, die Mittagskarten für die Gäste zurechtzulegen.

»Das sagst du jetzt schon seit vier Jahren. Denkst du nicht, dass es langsam an der Zeit wäre, nach vorn zu blicken? Dir selbst zu verzeihen? Ich meine, wie soll das denn weitergehen? Sitzt du mit vierzig immer noch hier, mit einem durchtrainierten Körper, aber völlig einsam? Was bringt dir der ganze Scheiß, wenn dich das überhaupt nicht glücklich macht?«

Die ersten Mittagsgäste betraten das Lokal und setzten sich an einen der Tische. Colin nutzte die Chance, für einen kurzen Moment aus der Konversation zu fliehen und brachte dem älteren Pärchen zwei Speisekarten. Als er wieder zurückkam, schaute sein Freund ihn immer noch fragend an.

»Hör mal, es würde mir momentan echt sehr helfen, wenn du mich einfach damit in Ruhe lassen könntest, okay? Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und bleib mir fern mit deinem Freundinnenkram.«

Raphael hob unschuldig die Hände. »Mach nur weiter damit. Irgendwann wirst du bereuen, nicht das Leben gelebt zu haben, was du dir gewünscht hättest, Colin. Aber dann wird es vielleicht schon zu spät sein.« Mit diesem letzten Satz ließ Raphael ihn stehen und ging seiner Arbeit nach.

Colin schaute ihm hinterher und dachte über seine Worte nach. Er wusste, dass er recht hatte. Er konnte sich nicht ewig zurückziehen. Nicht ewig die Leute abwimmeln, die ihm näherkamen. Doch damit hatte er wenigstens Gewissheit, niemanden verletzen zu können.

Die ersten Bestellungen kamen durch das Gerät und er war froh über die Ablenkung, die er dadurch bekam. Er bereitete die zwei Weißweinschorlen zu und versuchte, alles andere in seinem Kopf auszublenden. Irgendwann wäre er wieder bereit dazu. Bereit, um jemand Neues kennenzulernen. Bereit, wieder eine Frau lieben zu können, ohne ständig Angst haben zu müssen, dass sie ihn zu sehr an Nora erinnerte. Ohne die Sorge, dass er nie jemanden so lieben würde wie sie. Doch vielleicht war das für ihn auch nicht vorgesehen.

2. Kapitel – Vor vier Jahren

Nora Winter zog sich ihre bequemen Turnschuhe an, schlüpfte in ihre warme Jacke und verließ das Haus ihrer Eltern. Die Nacht war klar und die Lichter in den Nachbarhäusern gingen allmählich aus. Für sie fing der Abend jedoch erst an. Das Auto stand bereits vor ihrem Hauseingang. Mal wieder war sie etwas spät dran, doch meistens musste man sich sowieso erst an einer Schlange von vielen anderen jungen Menschen anstellen, bevor man in den Club kam.

»Hey du!«, rief Joshua ihr aus dem Auto zu.

Seit der Oberstufe waren die beiden ein Herz und eine Seele. Ihr bester Freund und Begleiter. Er war genau das Gegenteil der anderen Jungs in der Schule. Zottelige, dunkelbraune Haare, eine große, schlanke Figur und ein Kleiderschrank, der überwiegend aus schwarzen Sachen und Stiefeln bestand.

Auf viele wirkte er abschreckend, doch sein Charakter entsprach genau dem Gegenteil seines Kleidungsstils. Egal, in welchem Schlamassel Nora stecke, er munterte sie mit seinen Witzen und seiner sarkastischen Art immer wieder auf.

»Hey Joshua! Bist du bereit, die Nacht mit mir durchzutanzen?«, zwinkerte sie ihm zu.

»Jederzeit gern«, antwortete er und öffnete ihr die Beifahrertür.

. . .

Der Club befand sich in einem ruhigeren Stadtteil Dresdens, direkt an der Elbe. Große Palmen, ein Pool und Liegestühle um die Bar herum gaben einem das Gefühl, in der Karibik zu sein. Schon von Weitem hörte man die Musik aus den Boxen dröhnen.

Als sie das Lokal betraten, war die Tanzfläche bereits randvoll und die Bar besetzt mit jungen Menschen. Nora spürte, wie ihr das Adrenalin durch den Körper rauschte. Jetzt, da sie endlich achtzehn Jahre alt waren, konnten sie machen, was sie wollten. Sie waren frei.

Erst gestern hielten sie ihr Abschlusszeugnis in der Hand, was das Ende von zwölf Jahren Schule bedeutete. Was außerdem hieß, dass sie für die nächsten Monate nichts anderes tun würden, als tanzen zu gehen, den Sommer zu genießen und über ihre Zukunft nachzudenken.

Joshua führte sie durch die Menschenmenge in Richtung Bar, bestellte zwei Mojitos und schob ihr den Barhocker zu, der neben ihm frei war.

Nora ließ ihren Blick über den Club schweifen. Die meisten Gesichter kamen ihr fremd vor, lediglich ein paar hatte sie in der Schule schon einmal gesehen. Sie leerte ihr Glas in mehreren Zügen und rutschte auf dem Hocker hin und her.

»Meine Güte, du hast es ja eilig. Kann ich hier nicht mal in Ruhe meinen Cocktail genießen?«, tat Joshua genervt.

»Wir sind nicht hier, um uns zu betrinken«, antwortete sie ungeduldig.

»Nicht?«, lachte er.

»Nein! Ich möchte auf die Tanzfläche! Die Musik hören. Meine Energie herauslassen.«

»Ich merke es schon. Na dann, auf ins Gefecht«, antwortete er, kippte den Rest seines Getränkes schnell hinter und stellte sein Glas neben ihres auf den Tresen.

Es war eine der wärmsten Sommernächte in diesem Jahr. Schweißtropfen rannen nur so den Rücken herunter, aber niemanden störte es.

Ganz im Gegenteil – Nora liebte es. Sie lebte in diesem Moment, genoss jede Sekunde Freiheit, die sie in der Bewegung spürte. Es fühlte sich an, als würde sie in einer Blase leben. Für einen kurzen Moment blieb sie stehen und sah sich um. Beobachtete die Menschen wie in Zeitlupe, wie sie zur Musik tanzten und lachten. Unbeschwert. Wie in einer Welt, in der es Dinge wie Alltag, finanzielle Sorgen und Zukunftsängste nicht gab. Die Menschen waren glücklich. Sie war glücklich.

Nach der kurzen Verschnaufpause wollte sie sich gerade wieder zu Joshua drehen, als ihr Blick an einem jungen Mann hängenblieb, der lässig an einer Säule lehnte und sie ansah. Es war nicht aufdringlich, aber auch nicht zu leugnen, dass er sie im Visier hatte und sie mit seinem intensiven Blick in eine Art Bann zog.

Sie betrachtete ihn genauer, mit dem Wissen, dass es ihm vermutlich nicht entgehen würde. Seine blonden, kurzen Haare waren leicht zur Seite gestylt. Er trug eine kurze Jeanshose und ein schwarzes Hemd, das er an den Ärmeln hochgekrempelt hatte und das zu seinem hellen Teint einen starken Kontrast bildete. In der Hand hielt er eine Flasche, jedoch konnte sie nicht genau erkennen, was drin war. Es sah aus wie Limo. Oder Bier? Egal.

Er konnte es sich offensichtlich leisten, denn sein Körper sah sportlich aus. Nicht zu durchtrainiert, sondern genau richtig. Attraktiv. Schön. Er war schön.

Nachdem Nora ihn einmal von oben bis unten betrachtet hatte, lächelte sie ihn zögerlich an.

Er lächelte zurück und zugegebenermaßen war es das schönste und süßeste Lächeln, was sie je gesehen hatte. Ihre Augen klebten förmlich an seinen Lippen und kurz überlegte sie, auf ihn zuzugehen, als die leise Stimme in ihrem Ohr ihr riet, es nicht zu tun. Nicht, weil der blonde Typ verdächtig wirkte, sondern weil sie sich geschworen hatte, sich in den nächsten drei Monaten nicht zu verlieben, geschweige denn mit jemandem auszugehen, denn das würde ihre gesamten Pläne durcheinanderbringen.

Unschlüssig versuchte sie, sich abzulenken und mit Joshua zu tanzen, doch selbst das war fast unmöglich. Oft erwischte sie sich dabei, wie sich ihr Kopf wie fremdgesteuert in die Richtung des unbekannten jungen Mannes bewegte und sie nichts dagegen tun konnte.

Nach gefühlten Stunden auf der Tanzfläche setzte sich Nora an den Bartresen und bestellte eine kalte Cola. Sie beobachtete ihren besten Freund, wie er mit einem Mädchen flirtete und amüsierte sich über die Art und Weise, wie er sie mit seinen Witzen um den kleinen Finger wickelte.

Mittlerweile war es schon nach Mitternacht und die Müdigkeit setzte auch bei ihr allmählich ein. Sie ließ sich fangen von einer Art Blase, in der die Musik immer weiter in den Hintergrund rückte und ihre Gedanken an ihr vorbeiflossen.

In drei Monaten würde all das vorbei sein. Die meisten ihres Jahrgangs bewarben sich bereits für ein Studium oder eine Ausbildung und andere würden sich eine Auszeit nehmen, Länder bereisen oder weiterhin die Freiheit genießen. Letzteres galt ebenso für Nora, denn für sie sollte es weggehen. Weit weg. Ihr reichte es nicht, in ein Nachbarland zu fliegen, stattdessen wollte sie nach Australien, um ein halbes Jahr weg von der Heimat zu verbringen. Sich selbst finden und in Ruhe darüber nachdenken, was die Zukunft bringen würde. Auch wenn es ihr gleichzeitig Angst machte, weg von ihrer Familie und ihrem besten Freund zu sein, wusste sie, dass dieser Plan richtig war.

Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Ist der Platz neben dir noch frei?«

Nora drehte sich um und schaute in zwei strahlend blaue, wunderschöne Augen. Seine Augen.

»Ich denke schon«, sagte sie schmunzelnd und schaute auf den leeren Barhocker, der neben ihr stand.

Der junge Mann gab seine Bestellung beim Barkeeper auf und Nora nutzte die Chance, ihn unauffällig zu mustern. Sie kannte ihn nicht und doch strahlte er allein mit seiner Anwesenheit eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sie bei niemandem zuvor erfahren hatte. Noch dazu hatte er eine Stimme, die ihr direkt durch den Magen ging. Rau und gleichzeitig warm.

»Ich bin Colin. Colin Haber«, sagte er und reichte ihr seine Hand, nachdem er Noras offensichtliche Blicke gespürt haben musste.

Zögerlich ergriff sie seine Hand und lächelte ihm schwach zu. »Hallo Colin, ich bin Nora. Nora Winter.«

Sie hatte keine Ahnung, wie viele Sekunden vergangen waren, denn seine Anwesenheit schien ihr jegliches Zeitgefühl zu nehmen. Was sie jedoch wusste, war, dass sein Daumen ungewöhnlich lange mit leichtem Druck auf ihrem Handrücken ruhte, sodass sie sie nicht entziehen konnte. Er war so nah vor ihr, dass sie das Gefühl hatte, von diesen blauen Augen durchbohrt zu werden.

»Nora, darf ich dich auf einen Drink einladen? Deine Begleitung scheint sehr beschäftigt zu sein«, stellte er fest und nickte in Richtung Tanzfläche.

Sie riss ihren Blick von seinen Augen und schaute zu Joshua, der mit geschlossenen Augen in eine völlig andere Welt vertieft zu sein schien, und musste lachen.

. . .

Colin beobachtete sie. Ihr Lachen fiel ihm schon auf, als er sie vor Stunden das erste Mal auf der Tanzfläche gesehen hatte. Es strahlte eine Wärme aus, die andere sofort in den Bann zog. Ihre langen, dunkelblonden Haare wellten sich über ihrem schwarzen Top und ihre kurze Hose betonte ihre sportliche Figur.

»Was ist mit dir? Wo ist deine Begleitung abgeblieben? Ist sie nicht eifersüchtig, wenn du einer fremden Frau einen ausgibst?«, witzelte sie.

»Nein, nein, sie hat sich schon daran gewöhnt«, lachte er und deutete auf seinen Kumpel etwas abseits der Bar. »Also Nora, was trinkst du gern?«

Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zu der Getränkekarte und wieder zurück. »Eigentlich wollte ich gerade gehen. Es ist schon recht spät und ich muss ehrlich zugeben, dass mir der eine Cocktail vorhin ordentlich zugesetzt hat.«

Enttäuscht sah er sie an. »Das solltest du dir noch einmal gut überlegen, ob du diese Chance verpassen willst.«

»Eine Chance wofür?«

»Mich näher kennenzulernen«, gab er wieder und ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht.

Fast schon hätte er meinen können, er hätte sie mit seinem Humor überzeugt, doch bis auf ein schüchternes Lächeln gab sie nichts zurück. Sie blickte ihn eine Weile aus ihren braungrünen Augen an und zog ihre Stirnfalten zusammen, als würde sie ihre Entscheidung noch einmal überdenken.

»Ein Drink«, sagte sie und das Grinsen in seinem Gesicht wurde noch breiter. Er bestellte ihr einen Tequila Sunrise bei dem Barkeeper und beobachtete, wie sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Seine Nähe schien sie nervös zu machen, also räusperte er sich und setzte zu einem Gesprächsthema an. »Du bist zum ersten Mal hier, oder?«, fragte er.

»Wie kommst du darauf?«

»Nur so ein Gefühl.«

»Ja, es ist mein erstes Mal. Also im Club«, fügte sie noch schnell hinzu, aber bei seinem Grinsen stieg ihr die Röte ins Gesicht.

Er mochte es. Die Art, wie sie auf seine Worte und sein Verhalten reagierte, fand er amüsant. Sie wirkte jung und unschuldig, doch gleichzeitig hatte sie etwas Entschlossenes und Selbstbewusstes an sich. Es fiel ihm schwer, sie einzuschätzen, was ihn nur noch neugieriger machte. »Macht dein Freund sich öfter an andere Mädels ran, wenn du dabei bist?«, fragte er und nickte in Joshuas Richtung.

Ihr Blick folgte seinem und blieb an dem Typen mit den zotteligen, braunen Haaren hängen, der eng verschlungen mit einem hübschen, blondhaarigen Mädchen tanzte. Dann schaute sie wieder zurück zu Colin. »Er ist nicht mein Freund. Also schon, aber nicht auf romantische Art oder so. Wir sind nur sehr gute Freunde. Und nein, sonst passt er immer gut auf mich auf. Ich fürchte, heute wollte er den Abend einfach für sich genießen. Aber ich brauchte sowieso mal ein paar Minuten für mich, also habe ich kein Problem damit«, antwortete sie auf seine Frage.

»Nun ja, gut für mich würde ich sagen«, erwiderte er und prüfte ihre Reaktion.

Ihre Mundwinkel bewegten sich ein Stück nach oben, doch noch immer wirkte sie reserviert auf ihn. Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk, das der Barkeeper vor sie gestellt hatte und rührte unsicher darin herum.

»Also, was machst du sonst so, wenn du nicht gerade feierst?«, setzte Colin neu an.

»Das klingt fast so, als wäre ich die Partygängerin schlechthin.«

»Bist du?«

»Nein, eigentlich nicht. Es ist nicht nur das erste Mal in diesem Club, sondern auch das erste Mal in einem Club. Wir feiern heute unsere bestandenen Abschlussprüfungen.«

»Das ist natürlich ein guter Grund zum Feiern.«

Wieder rührte sie in ihrem Cocktail herum, in dem mittlerweile das Eis geschmolzen war, doch inzwischen lächelte sie. Immerhin ein Fortschritt.

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, jetzt käme der Teil, indem du mir eine Frage stellst«, witzelte er.

»Ich … tut mir leid, ich wollte nicht abweisend wirken, es ist nur …«, setzte sie an, aber fand nicht die richtigen Worte, um ihren Satz zu beenden.

»Du hast mich nur vorhin angestarrt, weil ich etwas im Gesicht habe und eigentlich wolltest du gar nichts von mir?«, ergänzte er ihre Antwort unsicher.

»Was? Nein … Du hast nichts im Gesicht. Das ist es nicht.«

»Wieso hast du mich dann so ausführlich betrachtet?«, fragte er direkt.

»Ähm … Ich …«

Die Röte stieg ihr ins Gesicht. Offensichtlich fühlte sie sich ertappt. »Ich finde dich sehr attraktiv. Außerdem konnte ich deinem Blick nicht ausweichen, so intensiv wie du mich angestarrt hast«, fuhr sie fort.

Wieder grinste er. »Tut mir leid, ich wollte dir kein unwohles Gefühl geben mit meinen Blicken. Ich konnte nur nicht anders.«

Nun lachte sie mit diesem schönen Lächeln, das er auf der Tanzfläche gesehen hatte. »Bist du immer so direkt?«, fragte sie.

»Nein. Eigentlich nicht. Ich bin selbst überrascht von mir. Das muss an dir liegen«, grinste er.

Belustigt schüttelte sie den Kopf. »Okay, wow. Du gehst wohl All-in, oder?«

»Nein. Noch nicht.«

»Mhm«, sagte Nora, doch als Colin sie weiterhin betrachtete, fuhr sie fort. »Dann bin ich an der Reihe. Wie alt bist du?«, stellte sie ihm nun eine Frage. Der Alkohol schien sie allmählich gelassener zu machen.

»Einundzwanzig.«

»Und was machst du, wenn du nicht gerade feierst und Mädchen an der Bar aufreißt?«

»Ich reiße keine Mädchen an der Bar auf. Zumindest würde ich es so nicht bezeichnen.«

»Wie würdest du es dann bezeichnen?«, hakte sie nach.

»Ich weiß nicht. Vielleicht, dass ich versuche, dich kennenzulernen. Aufreißen klingt recht arrogant. Außerdem spreche ich nicht so häufig jemanden an.«

»Also sollte ich mich geehrt fühlen?«

»Auf jeden Fall«, lächelte er.

»Okay. Also, jetzt, wo wir das geklärt haben, kannst du mir ja auf meine vorige Frage antworten.«

»Ich arbeite in der Werkstatt meines Vaters. Er hat eine Tischlerei in Görlitz, anderthalb Stunden entfernt von hier. Wenn ich dann noch Zeit habe, mache ich Sport oder schaue mir neue Orte in der Nähe an«, sagte Colin.

»Du scheinst ja sehr beschäftigt zu sein«, stellte sie fest.

»Ich versuche es zumindest. Es beruhigt mich, etwas Sinnvolles zu tun zu haben. Nichts ist für mich schlimmer als nur herumzusitzen.«

»Warum?«

»Weil man dann zu viel nachdenkt über sich, Gott und die Welt.«

»Das ist ja aber prinzipiell nichts Schlechtes. Ich finde es sogar wichtig, sich manchmal Zeit und Ruhe für sich zu nehmen.«

»Wenn du das sagst, sollte ich mir das vielleicht zu Herzen nehmen«, lächelte er sie an.

Nora lächelte zurück. Dann fischte sie nach ihrem Strohhalm und nahm den letzten Zug ihres Cocktails. Keiner der beiden sagte etwas, doch beide wussten, dass dieser eine Drink, den sie ihm versprochen hatte, nun leer war.

»Bist du immer noch der Meinung, dass es bei dem einen Getränk bleiben sollte?«, fragte er enttäuscht.

Sie schmunzelte und nickte langsam. »Aber es war schön, dich kennenzulernen, Colin.«

Die Art, wie sie seinen Namen aussprach, gefiel ihm. Es gefiel ihm so gut, dass er den Wunsch verspürte, ihn noch sehr viel öfter aus ihrem Mund zu hören.

Bevor sie sich von ihrem Barhocker erhob, griff er sachte nach ihrem Arm.

Sie hielt sofort inne, als er sanft mit seinem Daumen über die dünne Haut streifte.

»Würdest du mit mir ausgehen, Nora?«

Nora drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Ich … Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.«

Er wusste nicht, wieso sie sich unsicher war, doch so schnell gab er nicht auf. Ein weiteres Mal fuhr er über ihren Unterarm und hinterließ eine Gänsehaut bei ihr, die er sogar im schummrigen Licht des Clubs sehen konnte. »Nur ein einziges Mal. Ein Date. Gib mir die Chance, dich von weiteren Dates zu überzeugen. Wenn ich das nicht schaffe, werde ich dich nie wieder danach fragen«, bat er sie.

Einen Moment lang dachte sie darüber nach. Dann nickte sie zögerlich. »Ein Date. Nur ein einziges Mal.«

. . .

Nora nahm eine Serviette vom Tresen und holte einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche. Sie schrieb ihre Nummer darauf und schob sie zu ihm herüber.

»Ich werde es nicht vermasseln«, grinste Colin und steckte die Serviette in seine Hosentasche.

»Das ist auch nicht meine Sorge.« Bevor sie sich von ihm verabschieden konnte, rief jemand ihren Namen von Weitem. Sie drehte sich um und blickte zu Joshua, der etwas neben der Spur auf sie zukam. Mit einem entschuldigenden Blick in Colins Richtung lief Nora ihrem besten Freund entgegen. »Was ist denn?«

»Ich wusste nicht, wo du bist. Also habe ich dich gesucht.«

»Ich saß an der Bar. Das habe ich dir doch vorhin gesagt.«

»Nora, verdammt, es geht mir gut. So, so, gut. Ich will ins Auto steigen und in die Berge fahren. Oder ans Meer? Lass uns irgendwas machen.«

Nora musste ihm noch nicht mal in seine Augen schauen, deren Pupillen so groß wie Teller waren, um zu wissen, dass es ihm ganz und gar nicht gut ging. »Was hast du genommen, Joshua?«, fragte sie ernst.

»Kristalle«, schwärmte er. Er blickte sich um und winkte das Mädchen zu ihnen, mit dem er vorhin getanzt hatte.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Was hast du genommen? Rede mit mir!«

Sein Kiefer spannte sich an und er versuchte zu lächeln, doch es war ganz anders, als Nora es sonst von ihm kannte. Es war irgendwie verkrampft.

Das blonde Mädchen gesellte sich zu ihnen, doch sie schien ebenso neben der Spur zu sein.

Joshua zog sie nah an sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Dann drehte er sich wieder zu Nora. »Das ist … Ach, keine Ahnung, ich habe ihren Namen vergessen. Ich gehe mit ihr nach Hause.«

»Was? Nein. Joshua, das ist keine gute Idee, ich …« Sie hörte auf zu reden, als sie merkte, wie ihr bester Freund das blonde Mädchen erneut umarmte und sie wild küsste. »Joshua, verdammt, was zum Teufel ist los mit dir?«, sah Nora ihn entsetzt an und während sie versuchte, Joshua zum Reden zu bringen, hörte sie Colins Schritte näherkommen.

»Methamphetamin«, sagte er nur.

»Was?«

»Crystal Meth.«

Immer noch verwirrt sah sie Colin an.

»Die Kristalle. Ich denke, er hat Crystal Meth genommen. Das wird leider besonders oft in diesem Club verkauft. Führt bei vielen zu starken Glücksgefühlen und Tatendrang.«

Besorgt sah sie zwischen Colin und Joshua hin und her. Während ihr bester Freund noch immer mit dem blonden Mädchen beschäftigt war, schaute Colin sie ernst an.

»Wir müssen ihn nach Hause bringen. Er braucht dringend Ruhe, viel zu trinken und jemanden, der auf ihn aufpasst«, sagte er.

»Aber … Ich …«

»Ich kann mitkommen, in Ordnung? Hol am besten schon mal eure Sachen. Ich mache mich mit ihm auf den Weg nach draußen.«

»Okay«, brachte sie nur hervor und lief in schnellem Tempo zur Garderobe. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wie kann man nur auf so eine dumme Idee kommen und irgendwelche Drogen aus einem Club in sich hineinstopfen?

Die Schlange an der Garderobe war zum Glück nicht lang. Innerhalb von fünf Minuten hatte sie ihre und Joshuas Sachen geholt und sich durch die Menschenmassen nach draußen gekämpft. Es dauerte keine Sekunde, bis sie die beiden entdeckte.

Joshua unterhielt sich aufgedreht mit einem der Türsteher, während Colin versuchte, ihn davor zu bewahren, mit einem blauen Auge nach Hause zu gehen.

Selbstbewusst setzte sie ihr schönstes Lächeln auf, entschuldigte sich überfreundlich bei dem Kasten von Mann in schwarzer Uniform und zog Joshua mit sich.

Die Bushaltestelle war eigentlich nur drei Minuten zu Fuß entfernt. Mit Joshua brauchten sie eine halbe Stunde. Dreißig Minuten, die er sie mit völlig ausgefallenen Ideen und Wünschen zu quatschte und interessiert an jeder Hausecke stehenblieb.

»Wie weit ist es bis zu ihm nach Hause?«, fragte Colin.

»Zum Glück nur zehn Minuten mit dem Bus.«

»Okay. Das ist gut.«

Kurz drehte sie sich einmal um, aber ihr bester Freund lief immer noch direkt hinter ihnen.

»Ist es das erste Mal, dass er etwas genommen hat?«, fragte Colin leise.

»Nein. Er hat schon andere Dinge probiert. Gras geraucht oder so. Aber noch nie was Härteres.«

»Du solltest in der nächsten Zeit ein Auge auf ihn haben. Dieses Zeug ist nicht zu unterschätzen. Wer einmal etwas davon genommen hat, belässt es meistens nicht dabei.«

Nora dachte über seine Aussage nach. Sie dachte schon die ganze Zeit über ihn nach. Er schien sich mit diesem Thema gut auszukennen. Zu gut. »Sprichst du aus Erfahrung?«

»Ja.«

Mehr sagte er nicht. Er lief einfach weiter und beobachtete sie.

Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Es war offensichtlich, dass er nicht weiter darauf eingehen wollte, aber sie war neugierig. Was bewegte einen jungen Menschen dazu, sich so etwas anzutun? Sie wusste es nicht. Sie hatte noch nicht mal geraucht oder übermäßig viel Alkohol getrunken. Eigentlich hatte sie keine Ahnung davon. »Nimmst du immer noch Drogen?«, fragte sie zögernd.

Colin schüttelte den Kopf. »Nein. Schon eine Weile nicht mehr.«

Unschlüssig betrachtete sie ihn von der Seite. »Warum … Also wie lange … Wann?«

»Du meinst, warum ich in meinem Alter schon davon berichten kann?«

Sie nickte.

»Verschiedene Gründe. Am Anfang war es Neugier und nachdem ich herausgefunden hatte, was das Zeug mit mir macht, habe ich es in bestimmten Situationen öfter genommen.«

Das war nicht unbedingt die Antwort, die sie sich erhofft hatte. »Was hat es denn mit dir gemacht?«

»Es hat mich in eine andere Welt geholt. In eine bessere. Mir war danach einfach alles egal. Die Droge hat Glücksgefühle freigesetzt, die schon lange nicht mehr da waren.«

»Das klingt sehr düster.«

»Tut mir leid, das Letzte, was ich wollte, war, dich schon vor unserem ersten Date abzuschrecken.«

Es machte sie unsicher, wie er immer wieder dieses erste Treffen erwähnte. Obwohl sie nur für ein Date zugesagt hatte, vertiefte sich das Gefühl in ihr, er würde schon weiterdenken. »Es schreckt mich nicht ab. Es macht mich nur neugierig, was hinter den Menschen steckt, die so einen Ausweg nehmen.«

»Ich würde es dir gern sagen, doch das ist dann eher eine Story für das zweite Date«, antwortete er und grinste sie an.

Da war es wieder. Sie musste zugeben, dass ihr die Art gefiel, wie er versuchte, sie um seinen Finger zu wickeln. Er war lässig, aber auch irgendwie bestimmt und selbstsicher. Als wäre er es gewohnt, dass er kein Nein von anderen Mädchen hörte. »Du bist ja ziemlich überzeugt davon, dass es nicht nur bei einem Treffen bleibt«, gab sie zu.

Er drehte sich um, sodass er nun rückwärts vor ihr lief. »Überrascht dich das?«

Nora nickte kurz. »Schon. Ich meine, du kennst mich gar nicht. Vielleicht habe ich auch einen furchtbaren Charakter und bin eine unerträgliche Ziege, sodass du es bereuen wirst, mich auf ein Date gebeten zu haben.«

»So langsam habe ich das Gefühl, du möchtest es mir schwer machen«, sagte er immer noch grinsend.

Nora hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte, denn ein Fünkchen Wahrheit hatte seine Aussage. Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich zu Joshua um, der immer noch durcheinander hinter ihnen her schlenderte. Sie erkannte den Bus, der ein paar hundert Meter entfernt um die Ecke bog. Einen kurzen Moment blieb sie stehen und hakte sich bei ihrem besten Freund ein, um ihn zu der Haltestelle zu ziehen, die nur noch ein paar Schritte entfernt war.

Der Bus hielt direkt vor ihnen. Sie stiegen ein und setzten sich. Nora nahm neben Joshua Platz und Colin wählte den Sitz ihr gegenüber. Die Busfahrt dauerte zehn Minuten. Nur zehn Minuten, die sich fast wie eine Ewigkeit anfühlten.

Während Joshua weiterhin in seiner rosaroten Welt umherirrte, spürte sie Colins Blicke auf ihrem Körper. Er musterte sie von oben bis unten, ohne auch nur einen Zentimeter auszulassen.

Das Blut schoss ihr in den Kopf und krampfhaft lenkte sie sich damit ab, aus dem Fenster zu schauen und die vorbeiziehenden Häuser anzusehen.

Als Colin es ihr nachtat, sah sie ihn unauffällig aus dem Augenwinkel an. Es war nicht zu leugnen, dass er attraktiv war. Sein Körper war gut gebaut, seine Gesichtszüge waren weich und seine blonden Haare passten perfekt zu seiner hellen Haut. Doch am anziehendsten waren diese blauen Augen. Immer, wenn er sie damit ansah, hatte sie das Gefühl, er würde sie festhalten. Er visierte sie und sie konnte nichts dagegen tun.

»Du hast keine Ahnung, was du mit diesen Blicken mit mir anstellst, Nora.«

Erschrocken fuhr sie hoch und stellte fest, dass sie ihn nicht mehr nur aus dem Augenwinkel betrachtete, sondern ihn direkt anstarrte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn ihr auch noch Sabber aus den Mundwinkeln lief.

Er beugte sich zu ihr und berührte mit seinen Fingerspitzen ihr linkes Knie. Sein Daumen streichelte in kleinen Bewegungen auf und ab, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Er nahm Nora für einen kurzen Moment den Atem und lehnte sich anschließend zurück in seinen Sitz.

Diese Berührung von einem Typen, den sie gerade mal einen Abend lang kannte, hatte ihr ihren ganzen Verstand geraubt. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, das konnte sie nicht bestreiten. Und doch war da noch das Teufelchen der Vernunft, das den Engel der Gefühle vertrieb.

Tief atmete sie ein und wieder aus und versuchte, sich damit etwas zu beruhigen. Sie war froh, dass sie in dem Moment an ihrer Haltestelle einfuhren und sie aussteigen konnte. Die frische Luft war genau das Richtige, um die Hitze in ihrem Körper zu regulieren, die sich während der Fahrt angestaut hatte.

Joshua stellte sich direkt hinter sie und stützte sich auf ihrer Schulter ab. »Nora, gehen wir an den Strand?«, fragte ihr bester Freund beiläufig und sah sie hoffnungsvoll an.

»Wir haben hier keinen Strand«, antwortete sie, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Schade. Gehen wir wandern?«

»Wir haben auch keine Berge hier.«

»Schade. Gehen wir noch in eine Bar, oder so? Auf einen kurzen Absacker?«

»Wir sind gleich bei dir zu Hause, okay? Dort gebe ich dir dann ein Glas Wasser.«

Angewidert verzog Joshua das Gesicht. »Wasser. Was soll ich denn mit Wasser? Haben wir nichts anderes?«

»Nein, für dich heute nicht.«

»Vielleicht hättest du auch etwas von diesem Zeug nehmen sollen, dann wärst du wenigstens entspannter.«

»Ja, vielleicht hätte ich etwas nehmen sollen, um dein Gejammer besser ertragen zu können«, reagierte Nora gereizt.

»Meine Güte, ist ja schon gut. Die ist ja schlimmer als meine Mutter«, flüsterte er Colin so leise es ging zu.

»Das habe ich gehört«, fuhr sie ihren besten Freund an.

»Nimm es ihm nicht übel. Er steht unter Drogen, da sagt man manchmal Dinge, die man nicht so meint«, sagte Colin leise.

»Tja, oder man sagt Dinge, die man genauso meint.«

»Ich denke, insgeheim ist er froh, jemanden wie dich zu haben.«

»Jemanden wie mich?«

»Ich hätte mir damals gewünscht, es wäre in diesen Momenten jemand für mich so dagewesen, wie du für ihn. Der einen nicht dafür verurteilt, sondern einfach dafür sorgt, dass das Gefühl bald wieder besser wird.«

»Gab es denn wirklich niemanden?«

»Nein.«

Seine geheimnisvolle Art machte es ihr immer schwerer, nicht weiter nachzufragen. Sie wollte mehr von ihm erfahren. Sie wollte am liebsten alles von ihm erfahren. Und doch wäre es falsch. Es ging sie nichts an, da sie ihn vermutlich nur noch ein einziges Mal sehen würde. Doch diese flüchtigen Gefühle, die sich in ihr anbahnten, machten ihr klar, dass sie genau das wollte. Mehr von ihm. Und das nach nur wenigen Stunden.

Mittlerweile waren sie an Joshuas Haustür angekommen. Sie fragte ihren besten Freund nach den Schlüsseln und ließ ihn in die Wohnung. »Ich komme gleich nach«, rief sie ihm hinterher, aber da war er schon in der Küche verschwunden. Sie drehte sich zu Colin und sah ihn an. An ihm war plötzlich etwas Verletzliches, aber sie konnte nicht genau sagen, woher das kam.

Er sah abwechselnd zu Nora und auf den Boden. Als ob er nicht wusste, was er sagen sollte. Dann zeigte er in die Richtung, in die Joshua vor wenigen Sekunden verschwunden war. »Er wird nichts essen und trinken wollen, also musst du dafür sorgen, dass er es tut.«

»Okay«, sagte sie und erinnerte sich an das, was er vorhin zu ihr gesagt hatte. Die Drogen haben Glücksgefühle freigesetzt, die lange nicht mehr da waren. »Wie weit hast du es noch bis nach Hause?«, fragte Nora, als Colin nichts weiter hinzufügte.

»Ich fahre heute nicht mehr nach Hause. Es wären anderthalb Stunden Zugfahrt und ich glaube nicht, dass in der Nacht noch irgendwas fährt. Wahrscheinlich schlafe ich bei einem Freund.«

»Okay.« Nora lehnte sich gegen den Türrahmen. »Vielen Dank noch mal für deine Hilfe.«

»Gern geschehen.«

»Also dann. Schlaf gut«, verabschiedete sie sich zögerlich.

»Schlaf du auch gut, Nora«, antwortete er und lächelte ihr schwach zu. »Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen.«

»Mich auch.« Sie wollte gerade die Tür schließen, als er sich noch mal zu ihr umdrehte.

»Nora?«

»Ja?«

»Du wirst es nicht bereuen. Ich melde mich bald bei dir.«

Sie zögerte einen Moment. Sie wollte ihn wiedersehen. Aber sie wäre sowieso in drei Monaten nicht mehr da. Sollte sie sich wirklich noch auf etwas einlassen, das nur eine kurze Zeit andauern würde? »Okay«, gab sie nur zurück und schloss die Tür.

Die Neugier war zu groß. Nora wollte ihn kennenlernen. Sie brauchte sich nichts vorzumachen. Das Kribbeln in ihrem Bauch wurde von Minute zu Minute stärker. Er hatte es ihr angetan. Sich einzureden, dass da keine Gefühle wären, hätte keinen Sinn. Allein schon der Gedanke, dass sie ihn bald wiedersehen würde, ließ ihr Herz schneller schlagen. Nora stellte ihre Tasche ab und ging zu Joshua in die Küche.

»Werdet ihr euch wiedersehen?«, fragte er plötzlich ohne jegliche Emotionen. Die Art, wie er zusammengekauert am Küchentisch saß und sein Blick ins Leere ging, sagten ihr, dass es noch lange nicht vorbei war.

»Ja«, antwortete sie und unterdrückte den Drang, sofort wie ein kleines Kind zu grinsen. Sie füllte ein Glas mit Leitungswasser und stellte es vor ihn.

Joshua sah sie skeptisch an. »Du weißt schon, dass du bald weg sein wirst? Bist du dir sicher, dass du dir das antun willst?«, fragte er mit einem zynischen Unterton.

»Was? Du meinst, Spaß haben?«, gab Nora genervt zurück.

Joshua zuckte mit den Schultern. »Ich will nur nicht, dass du dir selbst das Herz brichst.« Er sagte es mit einer Gleichgültigkeit, die überhaupt nicht zu dem Satz passte, doch sie verstand die Message dahinter.

»Das werde ich schon nicht, okay? Wir reden hier von einem Treffen. Mehr wird es nicht sein.«

»Wieso belügt man sich immer selbst? Warum machen Menschen das?«, fragte Joshua mehr in sich hinein. Dann verließ er die Küche, ohne das Glas Wasser angerührt zu haben und verzog sich in sein Schlafzimmer.

Er hatte recht. Das wusste Nora nur zu gut. Die Wahrscheinlichkeit, dass es bei dem einen Treffen blieb, war möglicherweise geringer, als sie sich einzureden versuchte.

3. Kapitel – Nora

Nora setzte sich mit ihrem Kaffee auf eine Bank mitten auf dem Campus. Das Sommersemester neigte sich dem Ende zu und man sah die meisten Studenten nur gestresst zwischen ihren Gebäuden hin und her laufen. Was auf sie zum Glück nicht zutraf, da ihr Stundenplan zu Beginn des Semesters so von ihr organisiert wurde, dass sie montags erst elf Uhr ihre erste Vorlesung hatte.

Seit etwas weniger als vier Jahren studierte sie schon an der Universität in Dresden. Direkt nach ihrem Auslandsaufenthalt schrieb sie sich für den Studiengang Lehramt ein und es machte ihr unglaublich viel Spaß. Die Dozenten waren nett, mit ihren Kommilitonen verstand sie sich super und die Stadt bot für Studenten genügend Unternehmungsmöglichkeiten an. Jedes Wochenende wurden Partys veranstaltet, es gab Bars, in denen Studenten alle Cocktails für den halben Preis bekamen und im Sommer konnte man sich mit einem kühlen Bier an die Elbe setzen, was gerade jetzt im Juli sehr beliebt war.

»Ich kenne wirklich kaum jemanden, der Montag früh völlig entspannt mit einem Kaffee in der Sonne sitzen kann«, stellte Joshua fest und legte seine Informatikbücher auf die Bank.

»Höre ich da etwa Neid in deiner Stimme?«, fragte sie belustigt.

»Nein, absolut nicht. Ich stehe gern sieben Uhr früh auf, nachdem ich drei Stunden Schlaf hatte.«

»Das glaube ich dir aufs Wort. Vielleicht hast du dir einfach den falschen Studiengang ausgesucht«, lachte sie und hielt ihm einen zweiten Thermobecher Kaffee entgegen.

»Du bist ein Schatz. Ich glaube, ohne dich würde ich in meiner nächsten Vorlesung einschlafen.«

»Siehst du, und schon bist du froh, jemanden zu kennen, der Montag früh in der Sonne sitzen kann.«

»Ja, wohl war.« Er trank einen Schluck aus seinem Becher und packte seine Bücher wieder zusammen. »Ich muss dann auch erst mal los. Informations- und Kodierungstheorie wartet auf mich.«

»Das klingt wahnsinnig spannend. Hätte ich das gewusst, hätte ich eher Schnaps in deinen Becher gefüllt.«

»Sehr witzig«, gab er wieder und setzte sich seinen Rucksack auf. »Sehen wir uns heute Abend noch?«, fragte er sie schon halb im Gehen.

»Jap. Wir wohnen zusammen, schon vergessen?«

»Nein, das ist mir noch bewusst. Das meinte ich nicht. Alex schmeißt eine Party bei sich zu Hause zum Semesterende. Wenn du Lust hast, komm doch gern mit.«

»Mal sehen. Ich denke darüber nach.«

Er nickte ernst. »Schreib mir, wenn du dich entschieden hast. Dann nehme ich dich mit.«

»Ist gut. Bis dann.«

Joshua hatte sich damals zur selben Zeit mit ihr an der Uni eingeschrieben. Obwohl er Informatik studierte und seine Veranstaltungen in einem ganz anderen Gebäude waren als ihre, sahen sich eigentlich jeden Tag auf dem Campus und wenn es nur in der Mensa war. Außerdem wohnten sie zusammen, was es umso schwerer machte, sich nicht zu sehen.

Ein letztes Mal schloss sie die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne, bevor sie ihre Sachen packte und sich auf den Weg zur Bibliothek machte. Zwei Stunden waren es noch bis zu ihrer ersten Vorlesung und bis dahin musste sie einiges schaffen. In neun Tagen war die Deadline für ihre Arbeit in einem Englischkurs, den sie letztes Semester belegt hatte. Leider hatte sie sich das Thema damals weitaus spannender vorgestellt, als es war und nun blieb ihr nach zwei Verlängerungsanträgen nichts mehr übrig, als die nächsten Tage durchzubeißen.

Sie suchte sich einen Tisch in einer ruhigen Ecke, öffnete verschiedene Bücher über Westernfilme und männliche Idealbilder in diesem Genre und quälte sich durch die ersten paar Seiten.

Wie im Flug waren anderthalb Stunden vergangen, als sich ein bekanntes Gesicht an ihren Tisch setzte. Monika. Ausgerechnet. Mit ihr war sie damals in eine Schulklasse gegangen. Sie war das Instagram Girl schlechthin. Ihr Account bestand überwiegend aus Selfies und irgendwelchen Möchtegerninfluencer-Kaffeebildern. In der Schule hatte sie sich immer nur mit den besonders Coolen und Reichen abgegeben, um damit auf den sozialen Medien prahlen zu können, aber die meisten bezweifelten, dass sie überhaupt richtige Freunde hatte. Andere Mädchen hatten entweder zu ihr aufgeschaut oder sie für eine oberflächliche Ziege gehalten. Die Jungs hatten das schon etwas anders gesehen. Mit ihren blonden, langen Haaren, den blauen Augen und ihren knappen Sachen, die gerade so alles bedeckten, was bedeckt werden musste, klebten sie förmlich an ihr.

Nora selbst hatte eigentlich zu gar keiner Gruppe gehört. Was auch der Grund dafür war, weshalb Menschen wie Monika sie vermutlich eher wie einen Geist wahrnahmen. Anwesend, aber irgendwie auch nicht.

»Oh mein Gott, es ist ja so schön, dich zu sehen!«, rief Monika und zog die Blicke aller Studenten an, die um sie herumsaßen.

Na großartig. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Offensichtlich war sie doch kein Geist. »Hallo Monika.«

»Nora, meine Güte, hast du dich verändert. Schlank bist du geworden. Du siehst viel besser aus als früher.«

Es war klar, dass ihr sowas als Erstes auffiel. Einige der anderen mussten sich schon ein Lachen verkneifen und am liebsten wäre Nora im Boden versunken. »Äh. Ja. Ich wusste gar nicht, dass du hier studierst.«

»Oh, ich studiere nicht, ich finde nur die Atmosphäre hier so toll, deswegen komme ich oft zum Fotografieren her. Du weißt schon, für meinen Instagram Account. Ich mache das jetzt professionell und verdiene einen Haufen Geld damit«, prahlte sie.

»Wie schön«, antwortete Nora nur, weil sie sonst keine Ahnung hatte, was sie dazu sagen sollte.

Monika lächelte und warf sich die blonden Haare hinter die Schulter. »Wie auch immer. Seit wann bist du wieder hier? Ich habe deine Bilder gesehen in Australien. Das sah so aufregend aus. Ich an deiner Stelle wäre einfach dortgeblieben. Aber erzähl mal, wie war es?«