Der weiße Wal erzählt seine Geschichte - Luis Sepúlveda - E-Book

Der weiße Wal erzählt seine Geschichte E-Book

Luis Sepulveda

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Beschreibung

»Moby Dick« erzählt aus der Perspektive des weißen Wals. Mit »Moby Dick« ist der sagenumwobene weiße Wal als Schiffe zerstörendes Ungeheuer in die Weltliteratur eingegangen. Luis Sepúlveda lässt den Wal selbst zu Wort kommen, der seine Stimme voller Weisheit gegen die erbarmungslosen Jäger erhebt. Als Ältester der Herde war es seine Aufgabe, sich den Walfängern entgegenzustellen, um seine Schutzbefohlenen vor dem Tod zu retten. Ein starker Text, ein eindringliches Plädoyer für den Schutz der Wale und der Natur und eine erschütternde Anklage gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Meere – für alle von 9 bis 99 Jahren.

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Seitenzahl: 49

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Luis Sepúlveda

Der weiße Wal erzählt seine Geschichte

Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen

Mit Illustrationen von Simona Mulazzani

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehn

Und die Wale stiegen auf, um Gott im tanzenden Flimmern des Wassers zu erspähen. Und Gott ward gesehen durch das Auge eines Wals.

HOMERO ARIDJIS, Das Auge des Wals

 

Das Auge des Wals vermerkt von ferne, was der Mensch ihm ist. Es wahrt Geheim- nisse, die zu kennen uns nicht zusteht.

PLINIUS DER ÄLTERE, Naturalis historia

EINSDie alte Sprache des Meeres

AN EINEM MORGEN des südlichen Sommers 2014 fand man an einem Kieselstrand ganz in der Nähe von Puerto Montt in Chile einen verendeten Wal. Es war ein Pottwal von fünfzehn Metern Länge, und sein seltsam aschfarbener Leib bewegte sich nicht.

Einige Fischer meinten, es handle sich um einen Meeressäuger, der die Orientierung verloren habe; andere vermuteten, dass er vielleicht an all dem Müll, der ins Meer geworfen wird, verendet sei. Eine tiefe, bedrückende Stille war unsere Ehrenbezeugung für das große Meerestier unter dem grauen Himmel am südlichen Ende der Welt.

Knapp zwei Stunden wurde der Pottwal von den schwappenden Wellen der Ebbe gewiegt, bis ein Schiff sich näherte, in kurzer Entfernung ankerte und ein paar Männer ins Wasser sprangen, die mit dicken Tauen ausgerüstet waren, welche sie an der Schwanzflosse des Tieres verknoteten. Danach richtete das Schiff seinen Bug nach Süden und schleppte den leblosen Körper des Giganten der Meere langsam hinaus auf die See.

»Was werden sie mit dem Wal machen?«, fragte ich einen Fischer, der mit seiner Wollmütze in den Händen zusah, wie das Schiff sich entfernte.

»Ihm Respekt bezeugen. Wenn sie am südlichen Ende des Golfs das offene Meer erreichen, werden sie seinen Körper aufschneiden und entleeren, damit er nicht mehr schwimmt, und dann lassen sie ihn in die kalte Dunkelheit des Ozeans hinabsinken«, sagte der Fischer leise.

Schon bald verschwanden Schiff und Wal zwischen den flirrenden Umrissen der Inseln, und die Leute verließen den Strand. Nur ein kleiner Junge blieb und starrte weiter hinaus aufs Meer.

Ich ging zu ihm. Seine dunklen Augen suchten den Horizont ab, zwei Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Ich bin genauso traurig. Bist du von hier?«, fragte ich anstelle eines Grußes.

Der Junge setzte sich auf den Kieselstrand, bevor er antwortete, und ich tat das Gleiche.

»Sicher. Ich bin Lafkenche. Weißt du, was das bedeutet?«, fragte er.

»Leute des Meeres«, antwortete ich.

»Und du, warum bist du traurig?«, wollte der Junge wissen.

»Wegen des Wals. Ich frage mich, was ihm zugestoßen ist.«

»Für dich ist er ein toter Wal, aber für mich ist er viel mehr. Deine Trauer und meine sind nicht dieselbe.«

Wir saßen eine Zeit, die vom Auf und Ab der Wellen gemessen wurde, schweigend am Strand, dann überreichte er mir etwas, das ein wenig größer war als seine Hand.

Es war eine Napfschneckenmuschel, deren Oberfläche runzelig und grau wie Stein, im Innern jedoch weiß wie eine Perle war und von den Menschen hier sehr geschätzt wurde.

»Halte sie an dein Ohr, dann wird der Wal zu dir sprechen«, sagte der kleine Lafkenche und lief schnellen Schrittes über den dunklen Kieselstrand davon.

So tat ich. Und unter dem grauen Himmel am südlichen Ende der Welt sprach zu mir eine Stimme in der alten Sprache des Meeres.

zweiDie Erinnerung des Wals spricht vom Menschen

DER MENSCH empfand immer Furcht vor meiner Größe, und Groll, weil er meiner nicht Herr werden konnte. So ein großes Tier; wozu soll das gut sein?, hat sich der Mensch vom Anbeginn der Zeit an gefragt. Ich habe ihn beobachtet, seit er zum ersten Mal ans Meer kam und feststellte, dass sein Körper nicht dafür geschaffen war, die Tiefe des Meeres zu erkunden, aber dass er etwas Schwimmendes nutzen konnte, um den stürmenden Wellen zu widerstehen.

Und so sah ich, wie der Mensch sich auf ein paar zerbrechlichen Brettern über das Wasser bewegte. Wir schauten uns aus sicherer Entfernung an; der Mensch voller Argwohn und ich neugierig und erstaunt ob seines Unterfangens. Ich bewunderte seinen Mut und wie beharrlich er sich dem Ansturm der Wellen stellte in Schiffen, die an felsigen Küsten zerschmettert wurden oder auf Korallenriffen, wenn das Wasser nicht tief genug war.

Er wird es schon noch lernen, sagte ich mir, wenn ich ihn zuversichtlich und hartnäckig seine Schiffe steuern sah, wobei er niemals die Küste aus den Augen ließ aus Furcht vor den Unwägbarkeiten des Horizonts.

Der Mensch lernte bald, sich auf dem Meer zu bewegen, und so wie ich, der mondfarbene Wal, von einem anderen Wal und der wiederum von einem anderen in die Geheimnisse des Meeres und der Strömungen eingeweiht wurde, so gab auch der Mensch sein Wissen weiter und besiedelte die Meere. Seine Schiffe wurden größer, und er lernte, den Wind in wehenden Flächen einzufangen, die er Segel nannte, und bald entdeckte er den Himmel und die Sterne, die ihm die Richtung wiesen. Da wagte sich der Mensch auch nachts hinaus aufs Meer und hörte auf, den Horizont zu fürchten.

Hin und wieder begegneten wir uns in der unendlichen Einsamkeit des Ozeans, wenn ich, der mondfarbene Wal, zum Atmen an die Wasseroberfläche kam. Ich erblickte die Menschen an Bord ihrer Schiffe und fühlte mich nicht bedroht, sondern war nur erstaunt, wenn die Seeleute ihre Arme ausstreckten und riefen: »Da, der weiße Wal!«

Ich kam ihren Schiffen nie zu nahe. Ich respektierte die Menschen wegen ihres Mutes und betrachtete sie gleichermaßen als Bewohner des Meeres.

So gingen die Zeiten dahin; ewig wiederkehrend mit der vom Wind und den Strömungen herangetragenen Hitze oder Kälte. Der Mensch war damit beschäftigt, sein ungewisses Schicksal zu meistern; die Wale, ihr salziges Element zu durchpflügen, vom Anfang bis zum Ende ihrer Tage.

DREIDer Wal erzählt von seiner Welt