Der Weisse Wald - Lara Neuhauser - E-Book

Der Weisse Wald E-Book

Lara Neuhauser

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Beschreibung

Niemand ist bisher aus dem Weißen Wald zurückgekehrt – doch seine düsteren Geheimnisse sind nur allzu verlockend. Bayern, 1819 Um Rache für seinen ermordeten Bruder zu nehmen und für das Militär Informationen einzuholen, wagt sich Jacob in den Weißen Wald – einen Ort voll unbekannter Gefahren und bösartiger Magie. Er ist fest entschlossen, die düsteren Geheimnisse des Waldes auzudecken, damit all das Übel darin vernichtet werden kann, das seinen Bruder einst das Leben gekostet hat. Jacob findet dort jedoch nicht nur blutgierige Wölfe und seelenfressende Zauberer, sondern auch den mysteriösen Leonides, der sein Leben rettet und sein Herz in Aufruhr versetzt. Allmählich stellt Jacob alles infrage, woran er glaubt. Als sich jedoch ein großes Unheil anbahnt und er eine Seite wählen muss, ist es vielleicht schon zu spät.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

DER WEISSE WALD

Text © Lara Neuhauser, 2022

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Gwynnys Lesezauber

Satz & Layout: Phantasmal Image

eBook: Grit Bomhauer

Covergrafik © shutterstock

Innengrafiken © shutterstock

ISBN: 978-3-98792-065-3

© GedankenReich Verlag, 2022

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Das sind nur Sterne, Hyperion,

nur Buchstaben, womit der Name

der Heldenbrüder am Himmel geschrieben ist; in uns sind sie!

Lebendig und wahr, mit ihrem Muth und ihrer göttlichen Liebe, und Du,

Du bist der Göttersohn, und theilst mit deinem sterblichen Kastor

deine Unsterblichkeit!

Friedrich Hölderlin, aus »Hyperion«

Dichter Nebel lag über dem Wald. Wie ein schwerer, dicker Teppich aus nasskalter Watte, der jeden Atemzug beschwerlich machte. Keine Spur von der Morgensonne, durch den Dunst drang nur fahles, graues Dämmerlicht. Es warf unheimliche Schemen und Schatten, die bedrohlich über dem Waldboden waberten.

Hin und wieder ragten schwarze Baumstämme aus den Schwaden, die ihre Äste gierig ausstreckten und passierende Eindringlinge scheinbar festhalten wollten.

Ich fror.

Die Feindlichkeit, die von dem Wald ausging, erfolgte ohne den leisesten Laut. Es lastete eine gespenstische Stille über dem Morgen. Das einzige Geräusch, das sie durchbrach, waren kaum hörbare, angespannte Atemzüge und vorsichtig schleichende Schritte. Am lautesten aber war die Angst. Sie manifestierte sich in meinem pochenden Herzen, das schmerzhaft gegen meinen Brustkorb schlug und in meinen Ohren widerhallte.

Die Furcht hatte von uns allen Besitz ergriffen. Niemand sprach es aus, niemand sprach überhaupt ein Wort, doch ich wusste, dass wir sie alle spürten. Die Angst drückte uns nieder, durchdrang unsere Kleidung, unsere Haut, sie saß uns in den Herzen. Bald wusste ich nicht mehr, ob ich diesen Eindruck durch den Nebel gewann. Er war eine lebendige Erscheinungsform des Grauens, das sich um uns und über den ganzen Wald gelegt hatte.

Mit klammen Fingern hielt ich mein Gewehr fest. Immer wieder sah ich mich nach meinen Kameraden um. Ich konnte nur die vier sehen, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung befanden. Alle anderen wurden von dem dichten Dunst verschluckt. Ich hoffte, dass sie noch da waren.

In den Augen der anderen sah ich stets den gleichen Schrecken. Die Nacht hatten wir überstanden, das Schlimmste, sollte man meinen. Doch die Erleichterung blieb aus. Über uns hing eine unheilvolle Wolke, und plötzlich hatte ich das erdrückende Gefühl, dass wir alle dem Untergang geweiht waren.

Ich schauderte. Es war eine schlechte Idee gewesen, mitzukommen. Wie hatte ich glauben können, für das hier schon bereit zu sein? Sie hatten mich gewarnt, alle. Besonders Carl. Hätte ich doch auf ihn gehört.

Ich zwang mich, den schwarzen Strudel meiner Gedanken zu beruhigen. Die unheimliche Stille konnte auch Gutes bedeuten: Vielleicht waren wir allein. Warum sollte in dem Nebelmeer, das wir nicht durchblicken konnten, hinter jedem Baum ein Unheil lauern? Bisher hatten wir von Gefahr und Bedrohung noch nichts Greifbares gesehen. Die Gerüchte mochten falsch sein.

Wieder warf ich einen Blick nach rechts, links und dann nach hinten. Ich stutzte. Hinter mir war niemand mehr. War der Nebel dichter geworden? Waren die Männer hinter mir zurückgefallen? Oder … Nein, sie waren sicher in der Nähe.

Der Soldat zu meiner Linken, Josef, sah ebenfalls über seine Schulter und stieß einen leisen, verwunderten Laut aus, als er genau wie ich niemanden mehr entdeckte. Wir wechselten einen stummen, alarmierten Blick, rückten unwillkürlich näher zusammen und hefteten uns an die Fersen unserer vorausgehenden Kameraden. Etwas Unheilvolles war hier am Werk.

Ich wollte Ferdinand warnen, der zu meiner Rechten war, damit er den Anschluss nicht verlor. Doch als ich den Kopf drehte, erschrak ich – Ferdinand war ebenfalls verschwunden.

Die Angst, die über mich gekrochen war, glich nun einer stechenden Eisklinge in meinem Herzen. Ich brachte keinen Ton über die Lippen und hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Erlaubten sich die anderen vielleicht nur einen Spaß, um uns Neuen einen gehörigen Schrecken einzujagen?

Diese Möglichkeit wollte ich mir gerade einreden, als vor uns plötzlich ein Geräusch ertönte.

Der erste Schrei.

Er klang gedämpft, und durch den grauen Dunst erschien alles so unwirklich, denn ich konnte nur einen winzig kleinen Ausschnitt der Welt sehen und wahrnehmen. Doch es war eindeutig ein menschlicher Schrei gewesen, voller Schmerz und Grauen. Etwas Schreckliches musste geschehen sein.

Das hier war kein schlechter Scherz, sondern die entsetzliche Wahrheit dieses Waldes, die uns nun heimsuchte.

Plötzlich stieß auch Josef neben mir ein markerschütterndes Brüllen aus, gefolgt von einem Schuss und einem zweiten – bis urplötzlich eine krallenbewehrte Pranke aus dem dichten Schleier schoss und ihm das Gewehr aus der Hand fegte. Ich reagierte schnell und feuerte einen Schuss auf die groteske Klaue ab. Doch ehe ich sie treffen konnte, war von der Gestalt keine Spur geblieben. Einen Moment lang herrschte wieder vollkommene Stille.

Ich lud zitternd mein Gewehr nach, doch wagte nicht, zu feuern. Wie sollte ich schießen, wenn ich meinen Gegner nicht sehen konnte und nicht wusste, ob ich Freund oder Feind traf?

Josef sah mich mit furchtsam aufgerissenen Augen an. Die Hand, mit der er das Gewehr gehalten hatte, blutete, und da sah ich, dass ihm stumme Tränen über das Gesicht liefen.

Die Stille war kaum auszuhalten. Mein Herz pochte in einem Trommelwirbel. Hinter mir spürte ich einen Luftzug. Ich wirbelte herum.

Doch das war ein Fehler.

Noch bevor ich registrierte, dass hinter mir niemand war, hörte ich Josef schreien. Als ich mich zurückdrehte, war er verschwunden.

Rennende Schritte näherten sich. Niemand war zu sehen.

»Keinen Schritt weiter!«, warnte ich mit bebender Stimme. »Sonst schieße ich!«

»Ich bin es, Carl!« Im nächsten Moment löste sich die dazugehörige Gestalt aus dem Nebel.

»Carl!« Erleichterung durchströmte mich, ehe ich seinen Zustand bemerkte. »Du bist verletzt!« Er hatte eine lange Schramme im Gesicht, seine Uniform wies zahlreiche Blutflecke und Risse auf. »Wer … was greift uns an, Carl?«

»Ich weiß es nicht.« Kraftlos schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht. Wir können sie nicht sehen – sie greifen aus dem Nichts an! Fast alle Männer sind verschwunden, ich habe keine Ahnung, wohin sie gebracht worden sind. Ob überhaupt noch einer lebt.« Seine Stimme zitterte, schnell sprach er weiter. »Du musst fliehen. Es ist aussichtslos, wir müssen hier verschwinden!«

»Fliehen? Aber-«

»Das ist ein Befehl, Jacob!« Carl legte seine gesamte Autorität in seinen Tonfall und straffte sich.

»Nicht ohne dich!«

»Ich bin direkt hinter dir. Versprochen.«

Ich zögerte. »Wohin können wir überhaupt fliehen? Sie sind überall.«

»Wir müssen einfach laufen, bis wir diesen verfluchten Wald hinter uns haben. Und zwar jetzt, Jacob. Jetzt!«

»Du bist hinter mir?«

»Ja. Jetzt lauf!« Carls Befehlston ließ keinen Widerspruch zu. Die Dringlichkeit in seiner Stimme brachte mich dazu, mich ohne weitere Diskussion umzudrehen und loszurennen.

Ich rannte, fort von der Stelle, an der sie uns angegriffen hatten. Ohne Orientierung, ohne zu wissen, ob ich im Kreis lief. Der Nebel machte es unmöglich, etwas zu sehen. Hin und wieder stolperte ich über schwarze Wurzeln und Steine.

Carl war jedoch nicht hinter mir.

An meine Ohren drang ein entfernter Schmerzenslaut. Je länger das Echo nachhallte, desto größer wurde meine Gewissheit, dass es Carls Schrei gewesen war.

»Das kann so nicht weitergehen.« Major Schönbein ballte seine knochige Hand zur Faust und schlug sie auf die Schreibtischplatte. Er fuhr sich mit der anderen Hand durch das kurze, graue Haar und zog die buschigen Brauen über zwei wachen, stechend stahlblauen Augen zusammen.

Er hatte schlechte Laune.

Eben war ein Bericht mit erwartbaren, aber dadurch nicht weniger schockierenden Neuigkeiten eingetroffen. Der Bote, ein junger, schlaksiger Soldat mit roten Haaren und ungewöhnlich blasser Haut, warf nervöse Blicke von einem zum anderen. Abgesehen von ihm, dem Major und mir war noch ein beleibter Leutnant namens Winkler anwesend.

Wir befanden uns im Büro des Majors, einem kleinen, wie üblich spartanisch eingerichteten Raum mit kahlen, weißen Wänden, in dem es neben einem quadratischen Fenster nur einen klapprigen Schreibtisch aus hellem Holz, zwei ebenfalls hölzerne Aktenschränke an den Wänden und einen Stuhl gab. Auf letzterem hatte Major Schönbein nun hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Über der Tür hing ein schlichtes, metallenes Kreuz, sonst fehlte dem Raum jegliche persönliche Einrichtung.

»Sie können wegtreten«, informierte der Major den Boten nach einer kurz andauernden angespannten Stille unfreundlich.

Sichtlich erleichtert folgte dieser dem Befehl. Die Tür schlug hinter ihm mit einem Knall zu, und ich blieb etwas nervös mit den grimmigen Mienen der Offiziere zurück.

Der Major atmete tief ein. »So kann es nicht weitergehen«, wiederholte er dann etwas ruhiger. »Der Plan war, diese Angelegenheit bis spätestens 1817 ad acta zu legen – das war vor zwei Jahren.« Sein Blick wurde finster. »Ich kann nicht zusehen, wie wir uns wieder und wieder zum Gespött der Leute machen. In der preußischen Armee lacht man schon über uns.«

Ich fand nicht, dass dies unser größtes Problem war, zumal Preußen und Bayern ständig Gründe für gegenseitige Sticheleien fanden. Doch so etwas würde ich natürlich niemals aussprechen.

»Und nicht nur das«, fuhr der Major erregt fort, »wir müssen dieses Problem ein für alle Mal in den Griff bekommen! Unsere Ressourcen werden an anderen Stellen benötigt. Wir haben schon so viele Männer – gute Männer! – in diesem verfluchten Wald verloren. Und was hat uns ihr Opfer bisher gebracht? Sind wir auch nur einen Schritt weitergekommen? Haben wir irgendeine leise Ahnung bekommen, gegen wen … oder gegen was wir hier kämpfen?«

Die Antwort auf all diese Fragen musste er nicht aussprechen.

»Wir wissen genauso viel wie vor dreieinhalb Jahren, als wir zum ersten Mal den Fehler begangen haben, einen Fuß in diesen Wald zu setzen«, fuhr er dennoch fort. »Deshalb müssen wir unsere Strategie ändern.«

Jetzt wurde es interessant. Ich warf einen schnellen, verstohlenen Blick zu dem Leutnant. Er blickte starr geradeaus auf irgendeinen Punkt an der Wand, ich konnte in seinem Gesicht weder den Ausdruck von Neugier noch von Überraschung entdecken. Offenbar wusste er also, was der Major gleich sagen würde.

»Wir werden das Problem nun anders angehen«, begann er. »Der jüngste Bericht bekräftigt mich nur in diesem Vorhaben. Schlehdorn«, rief er unerwartet laut, und ich zuckte beim Klang meines Nachnamens so heftig zusammen, dass der Major seine Augenbrauen für den Bruchteil einer Sekunde verwundert hob. »Ich hoffe, Sie sind darauf vorbereitet, noch heute von hier abzureisen.«

Ich bezähmte meine Neugier und antwortete lediglich vorsichtig: »Selbstverständlich, Major Schönbein. Darum haben Sie in Ihrem Schreiben bereits gebeten.«

»Gut. Ich habe nämlich einen Auftrag von außerordentlicher Wichtigkeit für Sie. Ich erwarte, dass Sie ihn vorbildlich und furchtlos erfüllen.«

Mit einem mulmigen Gefühl antwortete ich nach kurzem Zögern: »Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Glücklicherweise hatte der Mann keinen Sinn für Dramatik. Deshalb machte er es nicht länger spannend und erklärte in nüchternem Tonfall: »Unser Plan, den Wald mit Soldaten zu besiegen, die für den Kampf gegen Menschen ausgebildet sind, ist gescheitert. Bewaffnete und Gruppen werden getötet. Diese herkömmlichen Methoden schützen uns nicht, ganz im Gegenteil. Wir müssen die Gefahren und Schwachstellen des Waldes in Erfahrung bringen, um zu wissen, welches Vorgehen mehr Erfolg verspricht. Und das ist Ihre Aufgabe, Schlehdorn. Sie werden in den Wald gehen und alles darüber herausfinden, was Sie können.«

Ich runzelte die Stirn und überlegte, etwas zu sagen, doch der Major war noch nicht fertig. Bevor ich meinen Mund öffnen konnte, ergänzte er: »Und zwar diesmal möglichst unauffällig. Deshalb werden Sie allein gehen.«

Mir lagen tausend Einwände auf der Zunge, doch ich sprach keinen davon aus. Ich konnte den Major nur schockiert ansehen, während ich mich fragte, ob er mich absichtlich in den Tod schicken wollte.

»Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, schnaubte der Major. »Ich bin kein Dummkopf – mir ist bewusst, wie gefährlich der Wald ist. Aber glauben Sie nicht, ich hätte mir dabei nichts gedacht. Allein fallen Sie weniger auf. Auch das könnte Sie schützen. Davon bin ich überzeugt – wissen Sie, warum?« Er wartete keine Antwort ab. »Weil es Ihnen schon einmal gelungen ist, auf sich allein gestellt zu überleben. Drei Tage waren es, nicht wahr?«

Mein Hals war staubtrocken geworden, also konnte ich nur nicken.

»Sie sind der Einzige, der bisher lebend aus diesem Wald herausgekommen ist.«

»Das war reiner Zufall, Herr Major«, krächzte ich.

Er winkte ab. »Ja, ich erinnere mich an Ihren Bericht. Zufall oder nicht, es ist ein Fakt, dass Sie der Einzige sind, und das qualifiziert Sie vor allen anderen für diesen Auftrag. Deshalb habe ich Sie gebeten, anzureisen.«

Ich holte tief Luft. Mehr als ein Jahr war vergangen, doch die Erinnerung war noch so lebendig wie damals. Fast drei Tage lang war ich durch den Wald geirrt. Ich war nicht stehen geblieben, bis ich durch Zufall einen Weg hinausgefunden hatte. Draußen am Waldrand war ich zusammengebrochen. Und so hatten sie mich gefunden: am Ende meiner Kräfte, weinend und wirre Dinge brabbelnd. Sie hatten gedacht, ich wäre verrückt geworden. Der Wald hätte mir meinen Verstand entrissen.

»Herr Schlehdorn!«, riss mich die barsche Stimme des Majors zurück in die Realität. »Damit Sie das nicht missverstehen: Mir ist bewusst, dass Sie nicht versessen darauf sind, dorthin zurückzukehren.« Sein Tonfall wurde etwas freundlicher. »Der Verlust Ihres Bruders hat uns alle schwer getroffen. Und obwohl Sie keine militärische Ausbildung besitzen, scheint mir dieser Auftrag gerade im Hinblick auf Ihre persönliche Haltung eine gute Gelegenheit zu sein, eigenhändig etwas gegen den Wald zu unternehmen. Zu verhindern, dass Sie noch mehr Personen an diesem unglückseligen Ort verlieren.«

Ich bemerkte genau, was Major Schönbein mit mäßiger Geschicklichkeit versuchte: Er wollte meine Emotionen ansprechen und mir einreden, dass ich es mit diesem Auftrag dem Wald und der Kreatur, die Carl ermordet hatte, nun endlich heimzahlen konnte. Es erschien mir wie eine Verzweiflungstat. Die Befehlshaber mussten am Ende ihrer Weisheit angelangt sein, wenn sie jemanden schicken wollten, der für diese Gefahren nicht ausgebildet war – nur weil ich zufällig als Einziger überlebt hatte.

Doch sie sandten auch die Neuzugänge immer wieder in den Wald. Kanonenfutter hatte Carl es einmal anklagend formuliert. Im Weißen Wald spielte es jedoch keine Rolle, wie erfahren man war. Letztendlich hatte er alle verschluckt.

Nur mich nicht.

Und obwohl ich all das wusste und mir klar war, dass ich allein nicht das Geringste gegen die Ungeheuerlichkeit des Weißen Waldes ausrichten konnte, hatte mich der Major trotzdem überzeugt. Zu lange war ich in Untätigkeit versunken und hatte nicht recht gewusst, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.

Eines Tages hätte ich mich ohnehin überwunden und wäre dorthin zurückgekehrt.

Carl hatte sein Versprechen nicht gehalten. Ein Teil von mir hatte es gewusst – nie hätte er seine Männer zurückgelassen. Und trotzdem war ich geflohen.

Sie hatten mich mal mehr, mal weniger scherzhaft als Helden gefeiert, als ich wieder einigermaßen bei Verstand war. Ich fühlte mich nicht wie einer. Sondern wie ein Feigling, der Carl im Stich gelassen hatte. Und das Militär hatte ich kurz darauf ebenfalls verlassen. Wenn ich jetzt die Gelegenheit erhielt, in den Wald zurückzukehren, um es diesmal besser zu machen, war das ein schwacher Trost.

Trotzdem muss ich sie ergreifen.

»Wie lautet mein Auftrag?«, fragte ich.

Noch verstand ich nicht, was ich allein und ohne Waffen in dem Wald ausrichten sollte.

»Wie gesagt, wir brauchen Informationen. Finden Sie so viel wie möglich heraus. Es ist mir egal, wie Sie das anstellen. Spüren Sie die Kreaturen auf, die dort leben. Spionieren Sie ihnen nach. Meinetwegen freunden Sie sich mit ihnen an, wenn es an diesem gottverlassenen Ort irgendeine Lebensform gibt, die uns Menschen nicht sofort den Kopf abreißen will.«

Das bezweifle ich.

In meinen Augen bestand der gesamte Wald aus Nebel, Dornen und blutgierigen Ungeheuern.

»Fragen Sie die Kreaturen aus. Finden Sie Schwachstellen, Angriffspunkte. Und, um Himmels willen, kehren Sie lebend zurück! Wir brauchen Sie, und wir brauchen Informationen. Verstanden?«

Ich holte tief Luft. »Jawohl.«

Meine anfängliche Skepsis war widerwilliger Zustimmung gewichen, denn der Plan erschien mir tatsächlich sinnvoll.

Immerhin habe ich schon einmal drei Tage lang überlebt, sagte ich mir. Dann kann es auch ein zweites Mal gelingen.

»Gut. Dann vergeuden wir keine weitere Zeit mit Gerede. Sie brechen noch heute auf. Leutnant Winkler wird Ihnen alles zur Verfügung stellen, was Sie brauchen. Ich gebe Ihnen lediglich noch dies mit auf den Weg«, ergänzte er, öffnete eine kleine Schublade an seinem Schreibtisch und holte etwas hervor, das aussah wie ein kleines Buch.

Er überreichte es mir.

Ich nahm es und schlug es auf – es war leer.

»Dort schreiben Sie alles hinein, was Ihnen auffällt. Alles, selbst das unwichtigste Detail. Wer weiß, vielleicht wird uns das einmal den entscheidenden Vorteil in diesem Krieg verschaffen.«

Ich erwachte noch vor dem Morgen durch ein Geräusch. Mit einem Schlag war ich hellwach, schrak auf und sah mich mit pochendem Herzen um. Mein Feuer war längst ausgegangen, und das wenige, gespenstisch graue Licht der nahenden Dämmerung verlieh dem Wald eine noch unheimlichere Stimmung als die beklemmende Finsternis der Nacht.

Da war es wieder.

Ein furchterregender Laut, fast wie ein Knurren, nur viel grauenvoller und bösartiger. Mit zitternden Fingern tastete ich nach meinem Messer. Als ich es gefunden hatte, sprang ich auf die Füße.

Hätte ich doch bloß ein Gewehr.

Das Knurren näherte sich, so kam es mir vor, doch wenn ich glaubte, es würde von rechts kommen, ertönte es im nächsten Augenblick in der entgegengesetzten Richtung. Nein, das stimmte nicht. Es kam aus allen Richtungen.

Waren da mehrere Gestalten?

Ich dachte mit Schaudern an die Gruselgeschichten, die man mir als Kind erzählt hatte. Von einem riesenhaften Ungeheuer, das nachts durch den Wald streifte und Menschen bei lebendigem Leib verschlang. Ein Ungeheuer in der Gestalt eines Tieres, doch mit dem Verstand eines Menschen …

Nein. Nein, Jacob. Ich rang mühsam meine aufsteigende Panik nieder und atmete tief durch. Da ist nichts. Das sind nur ein paar Tiere, und die werden sich nicht einmal in meine Nähe wagen.

Doch das Knurren, das mittlerweile zu einem ohrenbetäubenden Grollen angeschwollen war, konnte ich nicht ignorieren. Ich drückte mich gegen einen Baum, mein Messer in den zitternden Händen, und sprach in Gedanken ein Stoßgebet, dass mich das Ungeheuer nicht fand. Und dann verebbte das Knurren mit einem Schlag – und ich blickte in ein glühendes, gelbes Augenpaar.

Die Augen des Teufels.

Mein Herz schien stehen zu bleiben, und mit ihm alle Muskeln in meinem Körper, sodass ich nichts tun konnte, als schreckerstarrt in die riesigen, gelben Augen zu blicken, die mich gierig musterten.

Doch vor mir stand nicht der Teufel, sondern schlimmer. Es war ein Wolf. Ein gigantischer, schwarzer Wolf, dessen Zähne so lang wie meine Finger waren und selbst im fahlen Licht des Morgens tödlich blitzten. Der Wolf knurrte wieder und setzte zum Sprung an.

Er wird mich in Stücke reißen!

Als ich das realisierte, funktionierte auch plötzlich mein Körper wieder, und ich tat, was ich längst hätte machen sollen: Ich drehte mich um und ergriff die Flucht.

Ich rannte.

Erst hoffte ich, der Wolf würde mich nicht verfolgen. Vielleicht hatte er es auf jemand anderen abgesehen oder es war ihm die Mühe nicht wert. Doch das waren alles nur vage Hoffnungen, also lief ich weiter. Mein Herz pochte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Ich jagte durch den Wald, so schnell, dass meine Beine schon bald protestierten. Aber der Wolf war hinter mir, denn ich hörte ihn wütend grollen und wusste, dass er mir auf den Fersen war.

Ich musste schneller werden.

Ohne Rücksicht auf meine Arme schlug ich jegliches Gestrüpp in meinem Weg beiseite, lief im Zickzack an Bäumen vorbei, um den Wolf vielleicht abzuschütteln. Ich sprintete wie noch nie in meinem Leben, und es war trotzdem nicht schnell genug. Ich hörte keine Schritte hinter mir, der Wolf schien sich fast geräuschlos zu bewegen. Aber ich spürte seinen heißen, gierigen Atem im Nacken und stellte mir vor, wie er mich einholte und seine Zähne in meinen Hals schlug. Es musste irgendwann passieren. Mit jeder Sekunde wurde es wahrscheinlicher. Bei jedem keuchenden Atemzug spürte ich schmerzhaftes Seitenstechen. Dennoch musste ich weiter.

Nicht aufgeben! Nicht-

Da passierte es.

Ich stolperte über eine Wurzel, die ich nicht gesehen hatte – vor lauter Panik hatte ich vergessen, nach unten zu sehen. Ich fiel schwer zu Boden, schlug mir Knie und Hände auf, ignorierte den Schmerz und schaffte es gerade noch, mich auf den Rücken zu drehen – da lasteten schon die enormen Vordertatzen des schwarzen Wolfes auf meinen Schultern.

Ich konnte nicht einmal schreien. Starr vor Schreck blickte ich in die hungrigen Augen. Sein heißer, beißender Atem schlug mir in Wellen ins Gesicht und raubte mir fast den Verstand. Seine blitzenden Zähne waren eine Handbreit von meinem Hals entfernt, klebriger Geifer tropfte mir ins Gesicht.

Mit einem Mal spürte ich etwas Hartes in meiner Hand.

Das Messer, ich hatte es noch!

Verzweifelt zwang ich meinen erstarrten Körper, mir zu gehorchen, riss den Arm nach oben und stach zu. Der Wolf jaulte auf und sprang ein Stück zurück. Ich hatte sein Vorderbein getroffen, doch es setzte ihn nicht außer Gefecht. Es hatte ihn nur wütend gemacht.

Ich schaffte es gerade noch, mich mit wackeligen Beinen hinzustellen und unbeholfen zwei Schritte zurück zu stolpern, als sich der Wolf mit einem mordlustigen Funkeln in den Augen sammelte und zum Sprung ansetzte. Ich konnte nicht fliehen, nicht noch mal. Ich musste versuchen, zu kämpfen. Mir war schlecht vor Angst, als ich mein Messer hob und es ihm – so hoffte ich – drohend entgegenstreckte.

Der Wolf durchbohrte mich mit seinem Blick – nein, er sah über meine Schulter. Plötzlich glommen seine Augen triumphierend auf, so kam es mir jedenfalls vor. Als wüsste er etwas, das ich noch nicht bemerkt hatte.

Mit einer düsteren Vorahnung folgte ich langsam seinem Blick. Und da sah ich es: Keine drei Schritte hinter mir stand eine Gestalt. Sie war in einen schwarzen Mantel gehüllt und hatte eindeutig menschliche Umrisse. Aber viel wichtiger war, dass diese Gestalt einen langen, schwarzen Bogen gespannt hatte und einen Pfeil direkt auf mich richtete.

Das musste der Herr des schwarzen Wolfes sein.

Mein Körper handelte schneller als mein Verstand. Bevor ich begriff, was geschah, hatte ich schon das Messer in seine Richtung geschleudert und stürzte auf ihn zu. Er wich aus – ich hatte schlecht gezielt –, und ließ im selben Moment den Pfeil los. Doch meine Verzweiflungstat hatte ausgereicht: Der Pfeil verfehlte mich um eine Haarlänge – und traf stattdessen den Wolf in die Schulter! Er jaulte auf, drehte sich um und verschwand im Wald.

Mir blieb aber keine Zeit, mich über diese unerwartete Wendung zu freuen. Die schwarze Gestalt war noch da, mein Messer hatte sie verfehlt, und wenn sie mächtig genug war, einen riesigen Wolf zu befehligen, musste sie eine Art Zauberer sein. Obendrein war sie bewaffnet – im Gegensatz zu mir.

Bevor der Unbekannte den nächsten Pfeil einlegen konnte, rannte ich los, stürzte mich auf ihn und schlug ihm den Bogen aus der Hand. Er wich einen Schritt zurück, doch ich hielt ihn am Arm fest. Er versuchte, sich zu befreien, und trat nach mir. Mit einem wütenden Schrei warf ich mich auf ihn und es gelang mir, ihn zu Boden zu reißen. Doch damit schien er gerechnet zu haben, denn noch im Fall bekam er mit seiner freien Hand meine Schulter zu fassen, drückte mich nieder und rollte sich auf mich. Überrumpelt hatte ich seinen Arm losgelassen, und bevor ich diesen Fehler ausgleichen konnte, hatte er meine Handgelenke gepackt und drückte sie auf den Boden.

»Lass mich los!«, fauchte ich ihn an.

Zu meiner grenzenlosen Überraschung lockerte mein Angreifer tatsächlich seinen Griff.

Ohne nachzudenken, nutzte ich den Augenblick, um meine Arme aus seinem Griff zu reißen. Er keuchte überrascht, als ich seine Schultern zu fassen bekam und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Ich schob ihn von mir runter, drückte ihn auf den Boden und hielt ihn dort fest. Er wehrte sich noch einige Augenblicke, merkte aber schnell, dass es sinnlos war.

Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte. Suchend sah ich mich nach meinem Messer um. Nicht weit von hier musste es gelandet sein. Tatsächlich, es lag nur wenig entfernt von dem Kopf meines Gegners. Er hatte aufgehört, sich zu wehren, also wagte ich, ihn mit einer Hand kurz loszulassen, griff nach dem Messer und hielt es ihm an die Kehle.

»Eine Bewegung, und du bist tot«, warnte ich nach Atem ringend.

Statt einer Antwort stieß er plötzlich einen seltsam fauchenden Laut aus und sagte dann etwas in einer fremden Sprache.

Vielleicht ruft er den schwarzen Wolf zurück!

»Still!«, rief ich und drückte das Messer so fest an seinen Hals, dass er zu bluten begann.

Er verstummte sofort. Trotzdem sah ich mich wachsam um. Vielleicht war es ihm schon gelungen, den Wolf oder ein anderes Ungeheuer zu rufen.

In diesem Moment fiel der erste Sonnenstrahl durch das Blätterdach und ließ mich zum ersten Mal meinen Gegner wirklich erkennen. Bei unserem Kampf war die Kapuze von seinem Kopf gerutscht, jetzt erhellte die Sonne sein Gesicht.

Ich starrte ihn überrascht an. Das war kein finsterer, alter Zauberer, auch kein grimmiger Soldat. Es war ein junger Mann, höchstens so alt wie ich. Aber das war es nicht, was mich so überraschte. Es war der Ausdruck von tiefem Schrecken in seinen grauen Augen. Das konnte unmöglich ein böser Zauberer sein. Vor Verwunderung vergaß ich, ihn festzuhalten, und musterte ihn forschend. Er starrte zurück, seine Augen angstvoll geweitet. Wie konnte das der Mann sein, der mich hatte töten wollen?

»Wer bist du?«, fragte ich wachsam. »Hast du den Wolf geschickt?«

Er schwieg.

»Antworte!«, befahl ich heftig.

Er zuckte zusammen – ich machte ihm wirklich Angst.

Sicher, dachte ich, normalerweise hat er ja seinen Wolf als Beschützer.

»Na los!«, knurrte ich. »Warum wolltest du mich töten?«

»Ich wollte dich nicht töten«, sagte er da leise. Seine Stimme war samtig und wohlklingend, wenngleich sie jetzt ein wenig zitterte. Er durchbohrte mich mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich habe dich gerettet!«

»Du hast was?« Verwirrt ließ ich mein Messer sinken und rückte ein Stück von ihm ab.

In all der Panik hatte ich nie daran gedacht, dass er es nicht auf mich abgesehen haben könnte. Doch ich traute ihm nicht, er könnte versuchen, mich zu täuschen.

Der Abstand zwischen uns schien ihn zu beruhigen, der furchtsame Ausdruck in seinem Blick verschwand und er setzte sich langsam auf.

Jetzt konnte ich einen genaueren Blick auf ihn werfen. Er hatte feine, blasse Gesichtszüge mit lebhaften, hellgrauen Augen. Sein fast schulterlanges, schwarzes Haar war jetzt zerzaust und voller Blätter. Das fiel mir jedoch zunächst kaum auf, denn mein Blick blieb an seinem erstaunlich hübschen Gesicht hängen, das beinah so aussah wie bei den marmornen griechischen Standbildern. Doch im Gegensatz zu dem erhabenen Gleichmut, den diese Kunstwerke verkörperten, glitzerten die Augen meines Gegenübers aufgebracht, er runzelte zornig die Stirn.

»Ich habe dich gerettet«, wiederholte er jetzt. »Was glaubst du denn, warum ich auf den Werwolf geschossen habe?«

»Nein, du … wolltest mich töten! Dein Pfeil war auf mich gerichtet, ich habe es genau gesehen. Du hast mich verfehlt, weil ich dich angegriffen habe.«

»Ich habe dich nicht verfehlt«, beharrte er. »Ich schieße doch nicht daneben. Und ganz abgesehen davon: Warum, um alles in der Welt, sollte ich dich umbringen wollen?«

Ich musterte ihn aufmerksam.

Lügt er mich an?Sein Pfeil hat direkt auf mich gezeigt!

Und doch hatte ich aus irgendeinem Grund das Gefühl, dass er die Wahrheit sprach.

Langsam stand ich auf, er tat es mir gleich. Ein schneller, prüfender Blick verriet mir, dass er einen Hauch größer war als ich selbst.

Da er noch immer in Alarmbereitschaft war und mein Messer nicht aus den Augen ließ, steckte ich es nach kurzem Zögern ein und hob demonstrativ die Hände.

»Ich tue dir nichts«, versprach ich. »Ich will nur reden.«

Er machte einen kleinen Schritt zurück. Als ich ihm nicht folgte, drehte er sich urplötzlich um und ergriff die Flucht.

»Nein, warte!«, rief ich und stürzte hinterher.

Bevor er in den Tiefen des Waldes verschwinden konnte, erwischte ich seinen Arm, hielt ihn fest und drängte ihn gegen einen Baum.

»Nicht so schnell«, keuchte ich. »Bitte. Ich brauche ein paar Antworten.«

Ein verärgerter Schatten flog über sein Gesicht. »Was soll ich davon halten? Erst rette ich dein Leben, und noch währenddessen greifst du mich an! Dann drohst du mir damit, mich zu töten! Und jetzt hältst du mich schon wieder fest und forderst Antworten. Du bist mir unheimlich, Fremder! Dein Verhalten lädt nicht gerade dazu ein, nett mit dir zu plaudern.«

»Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Das war ein Missverständnis, ich dachte … Ich habe dich einfach überschätzt, ich dachte, du wärst gefährlich. Ein Zauberer.«

Auf einmal wich seine wütende Miene einem Blick voller Herablassung. »Du denkst, ich wäre nicht gefährlich?«, fragte er leise und verengte seine Augen. »Du magst mich eben bezwungen haben, doch das lag daran – und zwar nur daran –, dass ich von einem Menschen, dem ich Augenblicke zuvor einen hungrigen Werwolf vom Hals geschafft habe, niemals erwartet hatte, dass er mich angreifen würde.«

Ohne auf die Spitze einzugehen, konterte ich: »Und wenn du so gefährlich bist, warum lässt du es dann zu, dass ich dich hier festhalte?«

»Ich lasse das keineswegs zu«, gab er zurück. »Ich warte nur auf einen geeigneten Moment.«

»Natürlich«, höhnte ich.

Betont langsam sagte er: »Ich glaube, Fremder, du hast mich eher unterschätzt. So, wie du diesen ganzen Wald unterschätzt. Das ist ein Fehler, den man hier kein zweites Mal macht.«

»Du klingst ja fast, als wäre es dein Wald.«

Er überging meinen Einwurf. »Ich schlage vor, dass du mich jetzt loslässt und hier verschwindest.« Seine Worte klangen wie eine Drohung, doch ich konnte nichts erkennen, was er gegen mich in der Hand hatte.

»Und warum sollte ich das tun?«, fragte ich.

Als könnte er meine Gedanken lesen, schüttelte er den Kopf. »Vorsicht, Fremder.« Er wies mit einem Nicken nach unten.

Da sah ich, dass er es irgendwie geschafft hatte, mein Messer in die Finger zu bekommen, dessen Spitze er jetzt auf meinen Bauch richtete. Noch spürte ich keinen Schmerz – doch das konnte sich schnell ändern. Ich hielt noch immer seine Schultern fest, hatte aber keinen Zweifel daran, dass er das Messer trotzdem problemlos benutzen konnte.

»Du bist blind für die Gefahren dieses Waldes. Geh dorthin zurück, wo du herkommst. Und jetzt tu, was ich dir gesagt habe, und lass mich los.« Sein Tonfall jagte mir einen Schauder über den Rücken.

Plötzlich ahnte ich, dass ich die Warnung meines Gegenübers ernst nehmen sollte: Er war gefährlicher, als er aussah.

Ein paar Augenblicke lang verharrte ich in meiner Position, ohne seiner Forderung nachzukommen. Ich überlegte, was ich tun konnte. Zwar glaubte ich nicht, dass er mich mit dem Messer ernsthaft verletzen würde, nachdem er mein Leben gerettet hatte. Doch erstens wusste ich es nicht sicher, und zweitens hatte ich nichts davon, ihn weiter festzuhalten. Einen Moment lang hatte ich gehofft, von ihm mehr über den Wald zu erfahren. Ihn gegen einen Baum zu drücken, machte ihn jedoch verständlicherweise alles andere als gesprächig. Also nickte ich schließlich, ließ ihn los und trat zurück.

»Das war doch gar nicht so schwer«, lobte er mich und wirkte gleich viel freundlicher.

Trotzdem sah ich, dass er das Messer noch auf mich richtete. Er traute mir nicht.

Jetzt folgte er meinem Blick und lächelte. »Reine Vorsichtsmaßnahme, Fremder. Du hast mich heute schon zweimal überwältigt, ein drittes Mal wird es nicht geschehen.« Er ging ein paar Schritte rückwärts, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Nimm den schnellsten Weg aus dem Wald«, riet er mir dann und deutete in eine Richtung hinter mir. »Im ersten Sonnenlicht ist es hier meist friedlich. Aber das bleibt nicht lange so. Warst du schon die ganze Nacht hier?«

Ich nickte, und er runzelte die Stirn. »Allein?«

»Ja, allein.«

Kopfschüttelnd murmelte er: »Wie leichtsinnig. Du kannst froh sein, dass dich der Werwolf erst gefunden hat, als ich in der Nähe war. Und überhaupt – es ist ein Wunder, dass dich kein Nachtgiger erwischt hat.«

»Was ist ein Nachtgiger?«, fragte ich schnell, doch er wiederholte nur: »Geh nach Hause, Fremder. Wirklich.«

Ich spürte Verärgerung darüber, dass er mich so geringschätzig behandelte. Als wäre ich ein hilfloses Kind, das in diesem Wald keine zwei Schritte überleben konnte. Doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

»Gibst du mir mein Messer zurück?«

»Ich denke schon«, antwortete er und betrachtete mich kurz eingehend. »Du könntest es noch brauchen.«

Er sah sich suchend um, erblickte einige Meter entfernt seinen Bogen, den ich ihm aus der Hand geschlagen hatte, und sammelte ihn zusammen mit den verstreuten Pfeilen auf. Danach ging er auf mich zu, aber zögerte ein paar Schritte vor mir.

»Wenn ich dir dein Messer gebe, versprichst du mir dann, dass du nicht gleich wieder auf mich losgehst? Das scheint dir eine unschöne Angewohnheit zu sein.«

Ich verkniff mir eine scharfe Erwiderung. »Versprochen.«

»Also gut.« Er reichte mir das Messer, blieb noch kurz abwartend stehen, als würde er damit rechnen, dass ich mein Wort brach. Als nichts geschah, nickte er nach einem langen Moment. »Lebe wohl, Fremder. Komm gut zurück nach Hause.«

»Ja«, sagte ich. »Lebe wohl.«

Ohne ein weiteres Wort lief er an mir vorbei und ging ohne Eile davon.

»Warte!«, rief ich ihn noch einmal zurück.

»Ja?« Er sah über die Schulter.

Ich schluckte. »Danke. Dass du mir das Leben gerettet hast.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Es war mir ein Vergnügen.«

Noch während ich ihm hinterher sah, begriff ich, dass ich mir eine einmalige Gelegenheit entgehen ließ. »Warte!«, rief ich erneut und rannte ihm hinterher.

Diesmal lief er nicht davon, mit verschränkten Armen wartete er, bis ich ihn eingeholt hatte.

»Was ist?«

»Wo … musst du denn hin?«, fragte ich.

Er blinzelte mich kühl an. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«

Ich schloss die Augen. »Tut es auch nicht. Ich wollte nur … Eigentlich dachte ich mir, vielleicht könnte ich dich ein Stück begleiten?«

»Wenn du möchtest, dass ich dir einen Weg aus dem Wald zeige, dann-«

»Nein«, fiel ich ihm ins Wort. »Nein, das geht nicht. Ich muss … Ich meine, ich möchte mehr vom Wald sehen.«

»Hast du doch gerade. Und dabei ist dir vielleicht aufgefallen, wie gefährlich es hier ist.«

Der Spott und der herablassende Tonfall des Fremden verärgerten mich, was ich mir jedoch nicht anmerken ließ. »Deshalb frage ich dich ja, ob ich mit dir mitkommen kann. Du scheinst die Gefahren des Waldes ganz gut zu kennen.«

»Das ist wahr«, gab er zögerlich zu. »Aber vielleicht habe ich bessere Dinge zu tun, als einem dahergelaufenen Fremden den Wald zu zeigen und nebenbei aufzupassen, dass er nicht gefressen wird?«

»Ich kann schon auf mich selbst achten«, schoss ich zurück. »Allerdings«, fügte ich hastig in freundlicherem Tonfall hinzu, »kenne ich mich hier nicht aus und wäre für etwas Hilfe sehr dankbar.«

»Fremder, normalerweise würde ich gerne noch ein bisschen mit dir plaudern, aber im Augenblick habe ich es ziemlich eilig. Und du tätest gut daran, möglichst weit von mir weg zu sein.« Er drehte sich um.

»Nein, warte!« Ich griff nach seinem Arm. »Bitte. Ich kann dich auch bezahlen«, bot ich an und kramte nach ein paar Silbermünzen.

Er lachte verwundert. »Was denkst du denn, was ich mir hier kaufen könnte?«

Ich starrte ihn an. »Heißt das, du lebst immer hier im Wald?«

»Weshalb sollte ich mich sonst hier auskennen?«

»Ich wusste nicht, dass es hier Menschen gibt«, murmelte ich.

»Jetzt weißt du es. Wärst du so freundlich, mich loszulassen? Ich muss jetzt wirklich gehen.«

»Lass mich hier nicht allein«, flehte ich nun fast. Ich machte keine Anstalten, seiner Aufforderung nachzukommen, sondern klammerte mich an ihn wie an einen rettenden Ast. »Wenn du kein Geld willst, dann nenn mir irgendeinen anderen Preis.«

Er funkelte mich an. »Also gut, dann will ich es dir anders erklären: Was auch immer du hier vorhast, in meiner Nähe zu sein, wird dir im Augenblick nicht dabei helfen. Ich habe ein paar alte Bekannte, die hinter mir her sind, und wenn sie mich erwischen, wird es wirklich unschön.«

»Was für Bekannte?«

»Isegrim«, sagte er und ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Ein ganzes Rudel Isegrim.«

»Isegrim?«

»Sprechende Wölfe, um es kurz zu fassen.«

Ich war alarmiert und meine Stimme erklang höher, als es mir lieb war. »Noch mehr Wölfe?«

»Ganz genau. Normalerweise wäre ich ihnen weit voraus, aber dank dir und dieser Sache mit dem Werwolf haben sie aufgeholt. Wenn ich mich jetzt nicht sehr beeile, habe ich ein ziemliches Problem. Und du ebenfalls, wenn du noch länger hierbleibst.« Er schüttelte meinen Arm ab. »Geh, Fremder.« Zügig lief er davon.

Nach kurzem Zögern beschloss ich, ihm einfach zu folgen. »Du kannst mir doch nicht erzählen, dass ein mordlustiges Wolfsrudel in der Nähe ist, und mich dann wegschicken!«

Ich keuchte im Laufen. Ganz gleich, was er sagte, er hatte mich vor dem sicheren Tod gerettet. Ich war überzeugt, dass ich mit ihm eine deutlich größere Überlebenschance hatte, auch wenn er angeblich verfolgt wurde.

»Das ist wirklich unklug von dir, aber ich kann nicht mehr tun, als dich ausdrücklich zu warnen«, gab er resignierend zurück.

Er bahnte uns zielstrebig einen Weg durch den Wald, wir wateten durch einen Fluss und stiegen nass und frierend am anderen Ufer wieder heraus.

Da mein Begleiter keine Anstalten machte, weiter mit mir zu sprechen, brach ich irgendwann die Stille.

»Ich heiße übrigens Jacob.«

»Sehr erfreut«, gab er förmlich zurück und lief leichtfüßig weiter.

Ich wartete vergeblich auf eine Gegenauskunft.

»Und wie heißt du?«, fragte ich etwas ungehalten, als deutlich wurde, dass er nichts mehr sagen würde.

Er zögerte zunächst, ehe er schließlich antwortete. »Du kannst mich Leonides nennen.«

Leonides?

Diesen Namen kannte ich höchstens aus dem Geschichtsunterricht. Aber auf diese Bemerkung verzichtete ich lieber.

»Schön, Leonides«, sagte ich schnaufend, während ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten. »Verrätst du mir, warum diese Wölfe hinter dir her sind?«

»Sagen wir, es ist eine persönliche Sache.« Auf meinen fragenden Blick hin ergänzte er nur: »Die Isegrim-Familie und meine Familie sind nicht gerade die besten Freunde.«

»Deine … Familie?«

»Was? Denkst du, weil ich im Wald lebe, hätte ich keine? Das finde ich ja ziemlich …« Plötzlich verstummte er und erstarrte mitten in der Bewegung. Warnend hob er eine Hand und schloss die Augen. »Sie haben uns umzingelt«, flüsterte er.

»Umzingelt?« Ich konnte nichts und niemanden hören, geschweige denn sehen. »Woher-«

»Schnell«, zischte er. »Da entlang.« Er wandte sich nach rechts und rannte los.

Ich beeilte mich, ihm zu folgen. Leonides bewegte sich auch in dieser Geschwindigkeit fast geräuschlos und so geschmeidig, dass er mit dem Wald zu verschmelzen schien. Ich hatte Mühe, ihm hinterherzukommen. Er schien jeden Ast, jeden Stein und jede Unebenheit im Boden zu kennen oder vorauszuspüren, und setzte geschickt über umgestürzte Baumstämme, wich Dornen aus und tauchte unter dicken Ästen hindurch.

Ich stolperte hinterher und hatte bei jedem Schritt Angst, hinzufallen. Wir waren schnell. Bisher hatte ich nicht einmal geahnt, dass ich zu einem solchen Tempo fähig war. Alles, was ich wusste, war, dass ich Leonides um jeden Preis folgen musste. Wurde ich langsamer, verlor ich ihn.

»Leonides«, brachte ich mühsam hervor, »wie kannst du überhaupt wissen, dass sie uns umzingelt haben?«

»Still«, zischte er und warf mir einen warnenden Blick über seine Schulter zu, ohne sein Tempo zu drosseln.

Leonides blieb plötzlich stocksteif stehen, als wir eine Lichtung erreichten. Ich rannte fast in ihn hinein.

»Was ist los?«, stieß ich hervor und bemerkte peinlich berührt, dass er nicht im Mindesten angestrengt aussah, während ich keuchend stoßweise atmete und sicherlich ein puterrotes Gesicht hatte.

Das spielt jetzt wirklich keine Rolle, wir haben gerade ganz andere Sorgen. Reiß dich zusammen, Jacob!, schalt ich mich selbst.

Leonides ignorierte mich und sah sich hektisch um. Plötzlich deutete er auf einen großen, knorrigen Eichenbaum zu unserer Rechten.

»Klettere da hinauf«, befahl er mir.

»Was?«

»Jetzt!« Sein eindringlicher Tonfall ließ mich instinktiv gehorchen. »Klettere weit nach oben«, wies er mich an und sah sich unterdessen weiter um.

»Und du?«, fragte ich, während ich den ersten Ast erreichte und mich ächzend nach oben schwang.

Leonides schritt langsam unter dem schützenden Blätterdach hervor. Er fixierte etwas am anderen Ende der Lichtung.

»Weiter, Jacob«, ordnete er an, als hätte er Augen im Rücken und könnte sehen, dass ich noch immer auf dem untersten Ast saß.

Doch dann hatte er keine Zeit, sich länger mit mir zu befassen. Aus dem Dickicht trat mit funkelnden gelben Augen ein weißer Wolf.

Leonides blieb stehen und nickte angespannt. »Vater Isegrim.«

Der Wolf fletschte seine Zähne.

»Leonides.« Seine tiefe, schnarrende Stimme jagte mir einen Schauder über den Rücken. Noch schlimmer aber waren seine Augen. In ihnen loderten gierige Feuer, und ich wusste, die Flammen galten Leonides. »Wohin so eilig?«, fragte er spöttisch.

Leonides verschränkte die Arme.

»Was wollen Sie?«, fragte er, scheinbar gelassen.

Zuerst dachte ich, der weiße Wolf war allein gekommen, doch dann erschienen neben ihm plötzlich noch ein zweites, ein drittes und ein viertes Augenpaar. Ich vermutete, dass im Wald noch eine ganze Menge Wölfe wartete, gut verborgen vor unseren Blicken.

»Das ist eine ungewöhnliche Tageszeit für Sie«, stellte Leonides fest. »Ich habe nicht erwartet, Sie zu treffen.«

»Du weißt genau, dass wir dich seit drei Tagen verfolgen«, knurrte Vater Isegrim und verzog sein Gesicht zu einem hässlichen Grinsen, das die ganze Pracht seiner tödlich scharfen Zähne offenbarte.

Leonides blieb betont entspannt stehen. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, doch ich würde einiges darauf wetten, dass er mit keiner Wimper zuckte.

»Da scheint es Ihnen ja sehr wichtig sein, mit mir zu reden«, gab er jetzt unbeeindruckt zurück. »Ich frage also noch einmal: Was wollen Sie von mir?«

Der Wolf nickte einmal kurz, sofort raschelte es direkt unter mir. Von allen Seiten traten mehr und mehr Tiere aus dem Unterholz. Manche kniffen die Augen zusammen, als das gleißende Sonnenlicht sie blendete, doch das machte sie nicht minder bedrohlich. Insgesamt zählte ich etwa zwanzig Wölfe, die einen undurchdringlichen Kreis um Leonides bildeten. Dieser zog im Gegenzug einen Pfeil und spannte seinen Bogen, sah jedoch weiterhin nur den Leitwolf an.

»Hast du das noch nicht erraten?«, schnarrte der jetzt.

Der Wolf musste schon sehr alt sein. Sein struppiges Fell war komplett weiß, ganz im Gegensatz zu den dunklen, graubraunen Fellfarben seines Rudels. Sein Körper war mager und etwas eingefallen. Nur seine gelben Augen loderten mindestens genauso feurig wie die der anderen Wölfe. Besonders bedrohlich wurde sein Aussehen durch vier lange, parallel verlaufende Narben, die quer über sein Gesicht verliefen und auf einer Seite direkt zu seinem Ohr führten, das zerfetzt war.

Leonides schnaubte. »Was haben Sie davon, mich zu töten? Was nützt Ihnen ein Moment des Triumphs? Meine Familie wird es schnell merken. Sie werden Sie finden und nicht ruhen, bis Ihr Rudel dem Erdboden gleichgemacht ist.«

Seine Familie? Was kann seine Familie gegen diese Wölfe ausrichten? Angespannt verharrte ich auf dem unbequemen Ast und verfolgte das seltsame Gespräch.

Ein vielstimmiges Knurren erklang aus den Kehlen der versammelten Untiere.

»Du unterschätzt unsere Fähigkeiten«, grollte Vater Isegrim. »Und wir entscheiden selbst, was uns etwas nützt und was nicht. Dafür brauchen wir kein Menschenkind, das sich einbildet, ein Löwe zu sein.«

Zustimmend wurde das allgemeine Knurren lauter.

Leonides schüttelte den Kopf, blieb jedoch ruhig. »Wenn Sie meinen. Aber ich will Ihnen zumindest noch die Gelegenheit geben, Ihre Entscheidung zu überdenken. Ich biete Ihnen einen Handel an.«

»Einen Handel?«, wiederholte Vater Isegrim höhnisch.

»Sie wissen von meinen Beziehungen im Wald. Ich könnte Ihnen vieles beschaffen, das Sie begehren.«

Er schnaubte. »Es gibt nichts, was du uns geben könntest.«

»Mhm. Nun, Vater Isegrim, wie soll ich sagen? Ich will Sie vor Ihrem Rudel sicher nicht in Verlegenheit bringen, deshalb werde ich es nicht erwähnen. Aber ich weiß durchaus, woran Sie Ihr Herz gehängt haben.«

»Das sind alles Lügen«, knurrte der Leitwolf warnend.

»Wenn Sie das sagen. Aber nur für den Fall: Wenn Sie mich und meinen Begleiter in Frieden ziehen lassen, biete ich im Gegenzug an, zu besorgen, was Sie haben wollen. Was auch immer das sein könnte.«

Die Wölfe wechselten Blicke – neugierig und interessiert, wie ich fand.

Doch meine Hoffnungen wurden zunichtegemacht, als Vater Isegrim ohne Zögern antwortete: »Das Einzige, was wir im Austausch für dein Leben wollen, ist das Herz deines Bruders!«

Die Wölfe jaulten zustimmend und rückten gleichzeitig näher.

Leonides seufzte. »Oh, Vater Isegrim, das konnte ich ja nicht ahnen. Es tut mir wirklich leid. Wie kann ich es Ihnen schonend beibringen? Wissen Sie, mit Gawans Herz ist es so eine Sache.« Er machte eine rhetorische Pause. »Ich gebe zu, sein Liebesleben ist sehr wechselhaft, aber ich fürchte, bisher war er nur an anderen seiner Art interessiert.«

Ein Wolf stieß ein ersticktes Husten aus, und als ihm der Leitwolf einen tödlichen Blick zuschoss, überkam mich der Verdacht, dass er lachte.

»Als ich ihn zuletzt gesehen habe«, sprach Leonides weiter, »hat er Ascanius schöne Augen gemacht – was auch Zeit wurde, wenn Sie mich fragen. Meine persönliche Meinung ist, dass Sie mit ihm nicht mithalten können. Aber wer bin ich schon, um das zu beurteilen?«

»Genug geredet!«, blaffte der Wolf, dessen Knurren vor Wut immer intensiver geworden war. »Auf diesen Moment warte ich schon viel zu lange. Und diesmal gibt es niemanden, hinter dessen Rücken du dich verkriechen kannst. Tötet ihn!«, befahl er.

Laut grollend drängten sich die Wölfe um Leonides und setzten zum Sprung an.

»Warten Sie!«, rief Leonides. Er hatte seinen Bogen gehoben und richtete seinen ersten Pfeil direkt auf Vater Isegrim. »Warum müssen wir denn immer auf diese unzivilisierte Weise aufeinandertreffen? Was habe ich …« Er brach frustriert ab. »Ach, es hat doch keinen Sinn. Dann eben auf Ihre Art. Lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich brauche keinen Rücken, hinter dem ich mich verstecken kann. Ich habe diese Waffe, und ich werde sie benutzen. Sie wissen, wie ich damit umgehen kann, Vater Isegrim! Wenn Sie mich angreifen, würde ich damit drei oder vier Ihrer Wölfe töten, bevor mich der Rest überhaupt erreicht. Ist es Ihnen das wert? Das Leben Ihrer Wölfe gegen ein einziges?«

Tatsächlich wichen das Rudel wieder ein Stück zurück, die lodernden Blicke wachsam auf Leonides’ Pfeil gerichtet.

Vater Isegrim allein blieb stehen, und maß den auf ihn gerichteten Pfeil mit verächtlichem Blick.

»Du ahnst ja nicht«, knurrte er voller Hass, »wie viel ich opfern würde, um den Wald endlich von einer Plage wie dir zu befreien. Und außerdem«, plötzlich lächelte er böse, »kenne ich dein schwächliches Menschenherz. Du würdest es nie über dich bringen, einen von uns zu töten. Alles leere Drohungen. Und du willst ein Löwe sein!« Mit einem gehässigen Funkeln in den Augen kam er einen Schritt näher. »Auf ihn!«

Kaum war er verstummt, hatte Leonides’ erster Pfeil einen Wolf in die Schulter getroffen. Er jaulte schmerzerfüllt, machte kehrt und jagte mit eingezogenem Schwanz davon. Der nächste durchbohrte gleich zwei Wölfen das Bein, was auch sie in die Flucht schlug. Und schon hielt Leonides das nächste Geschoss griffbereit, doch da hatten die Wölfe ihn fast erreicht und würden sich jeden Moment auf ihn stürzen.

Ich hatte die ganze Zeit wie betäubt auf meinem Ast gesessen, doch jetzt war es, als würde ich aus einem seltsamen Albtraum erwachen. Mir wurde klar, was ich da tat.

Ich darf Leonides nicht einfach seinem Tod überlassen, immerhin verdanke ich ihm mein Leben!

Ohne nachzudenken, sprang ich von meinem Ast und landete so schwer auf dem Boden, dass mir der Aufprall fast den Atem raubte. Ich kam mühsam auf die Füße, zückte mein lächerliches Messer und rannte los.

Und da geschah es.

Hinter mir ertönte urplötzlich ein ohrenbetäubendes, furchterregendes Brüllen. Wie vom Donner gerührt erstarrte ich. Doch nicht nur ich, sondern alle Wölfe schienen geradezu einzufrieren, alle Köpfe drehten sich in meine Richtung. Doch die unheimlich gelben Blicke galten nicht mir. Bevor ich mich umdrehen konnte, spürte ich einen Luftzug, dann landete eine gewaltige Kreatur schwer vor mir, sodass der Boden erzitterte.

Ein gigantischer Löwe, so groß wie ein Stier.

Ich hatte gedacht, es konnte nicht noch schlimmer werden.

»Ihr wagt es, meinen Bruder anzugreifen!«, dröhnte der Löwe.

Mit einem zornigen Brüllen, nicht minder laut als das erste, schüttelte er wutentbrannt seine Mähne, während er mitten unter die Wölfe sprang und sie mit seinen gewaltigen Pranken aus dem Weg fegte. Als er bei Leonides angelangt war, riss er ihm jedoch nicht etwa den Kopf ab. Zu meinem Erstaunen stellte sich das Ungetüm schützend neben ihn und brüllte den Wölfen so lange ins Gesicht, bis alle ein gutes Stück zurückwichen. Leonides hatte sich eine blutige Schramme an der Wange eingefangen, doch sein schwarzer Mantel war erstaunlicherweise unversehrt, und daher nahm ich an, dass er keine weiteren Verletzungen erlitten hatte. Nur Vater Isegrim stand noch an seinem Platz. Als Einziger wirkte er nicht eingeschüchtert, musterte den Löwen jedoch hasserfüllt.

»Vater Leu. Du hättest nicht kommen sollen, so ganz allein«, knurrte er hasserfüllt.

»Verschwinde von hier«, überging der Löwe mit einem Grollen die Worte des Leitwolfs und sah zornig auf ihn hinab.

Der lachte höhnisch. »Verschwinden? Das tun wir gerne – nachdem wir mit dir und deinem kleinen Bruder fertig sind!«

Der Löwe antwortete mit einem furchterregenden Donnerbrüllen. Mit einem Satz war er über dem weißen Wolf, riss ihn mit einem Prankenhieb von den Füßen und drückte eine Vorderpfote auf seine Kehle.

»Ich sagte«, knurrte er, »verschwinde. Und zwar sofort!«

Die Wölfe jaulten protestierend, doch keiner wagte es, näher zu kommen. Zu groß war die Gefahr, dass der gewaltige Löwe ihrem Anführer den Kopf abriss. Auch Leonides war nicht untätig und richtete einen tödlichen Pfeil drohend auf das abwartende Wolfsrudel. Vater Isegrim keuchte und knurrte, gab seinen Wölfen jedoch keinen Befehl, der Forderung des Löwen nachzukommen.

»Also?«, fuhr der Löwe ihn an und drückte fester zu.

Für einen Moment herrschte gespanntes Schweigen.

»Gut, gut«, stieß der Wolf erstickt hervor. »Wir gehen.«

Der Löwe ließ ihn los, sofort stellte sich der Leitwolf wieder hin. Ich kam nicht umhin, seinen Mut zu bewundern, als er kein Haarbreit zurückwich, sondern sich so groß wie möglich machte und den Löwen unbeeindruckt anfunkelte. Der sah zurück und wartete, bis der Wolf widerstrebend ein paar Befehle an sein Rudel bellte. Dieses leistete umgehend Folge und huschte lautlos ins Unterholz. Einzig Vater Isegrim stand noch auf der Lichtung und setzte sein Blickduell mit dem großen Löwen fort.

»Das war meine letzte Warnung«, grollte Vater Leu. »Wag es noch einmal, Leonides auch nur ein Haar zu krümmen, und es wird deine letzte Tat gewesen sein.«

»Du kannst das Menschlein nicht immer beschützen«, gab der Wolf zurück und lachte bellend. »Nächstes Mal bist du vielleicht nicht zur Stelle. Oder übernächstes Mal. Ich hoffe, das wird dir den Schlaf rauben.«

Bevor der Löwe ihn erneut angreifen konnte, machte nun auch er kehrt und verschwand im Wald. Es raschelte noch ein paar Augenblicke, dann kehrte Stille ein.

Leonides und der Löwe blieben noch einige Zeit regungslos stehen, ihre Blicke wachsam in den Wald gerichtet. Leonides hielt seinen Bogen weiterhin gespannt. Erst als ich schon minutenlang nichts mehr gehört hatte, ließ er ihn langsam sinken und steckte den Pfeil zurück in seinen Köcher.

Auch Vater Leus Haltung entspannte sich, und er wandte seinen gewaltigen Kopf Leonides zu.

»Willkommen, mein Bruder«, sagte er warm.

Der Angesprochene strahlte. »Gawan! Ich bin so glücklich, dich zu sehen.«

Der Löwe brüllte freudig und sprang so schwungvoll in Leonides’ ausgebreitete Arme, dass er ihn fast umwarf. Der verschwand beinahe in der riesenhaften Gestalt des Löwen, der nun auf den Hinterbeinen stand und ihn mit seinen mächtigen Vorderpranken umfasste. Es war ein beinahe komischer Anblick – das gewaltige Raubtier in den Armen eines Menschen.

Ich starrte die beiden fassungslos an. Erst langsam ging mir auf, dass Vater Isegrims Gerede von Löwen wörtlich gemeint gewesen war. Leonides’ Familie waren tatsächlich Löwen.

»Du hast mir gefehlt, Bruder«, grollte Gawan, als er sich wieder auf alle vier Pfoten stellte.

Er stupste ihn mit der Nase an und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht, sodass er nach hinten umfiel.

»Langsam, kleiner Bruder«, rief Leonides und sprang sofort wieder auf die Füße.

»Klein?« Der Löwe stieß ein donnerndes Lachen aus. »Du kannst dich glücklich schätzen, einen kleinen Bruder zu haben, der dir so gerne den Hals rettet.«

»O ja.« Leonides seufzte. »Danke dafür. Die Isegrim werden auch niemals Respekt lernen, oder?«

»Nimm es nicht persönlich«, antwortete der. »Indem sie dich angreifen, wollen sie sich eigentlich gegen mich auflehnen. Es ist Vater Isegrim schon lang ein Dorn im Auge, dass wir Löwen die Herren des Waldes sind. Du bist eben unser Schwachpunkt«, fügte er freundlich hinzu. Ich hätte schwören können, dass der Löwe schmunzelte.

»Gut, gut, das reicht jetzt«, wies Leonides den Löwen zurecht und legte ihm einen Arm um die mähnenbesetzten Schultern. »Du blamierst mich noch vor meiner Klette.« Er deutete auf mich.

Der Löwe wandte sich zu mir um und ich erschrak, als er nun zum ersten Mal seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. Er musterte mich prüfend mit seinem glühenden Blick.

»Das ist Jacob«, stellte Leonides mich vor. »Er hat beschlossen, mich zu begleiten.« Er erzählte, wie er mich vor dem Werwolf gerettet hatte, und klang dabei für meinen Geschmack viel zu selbstgefällig. Als er berichtete, wie ich seine Rettung als Angriff missverstanden hatte, lachte der Löwe schnaubend. »Weißt du nicht mehr, was uns Vater beigebracht hast?«, fragte er scherzhaft. »Seit wann lässt du dich von einem Menschen besiegen?«

»Er hat mich überrascht«, erklärte Leonides und fügte schnell hinzu: »Sonst wäre mir das natürlich nicht passiert. Wie soll ich auch ahnen, dass ich im Angesicht eines hungrigen Werwolfs und eines zitternden Menschen ausgerechnet von dem Menschen angegriffen werde?«

Gawan lachte schnaubend. »Zugegeben, damit kann man nicht unbedingt rechnen.«

»Jedenfalls«, schloss Leonides seinen Bericht, »hat sich Jacob geweigert, meine Warnungen über die Isegrim ernst zu nehmen, und darauf bestanden, mich zu begleiten. Wahrscheinlich wäre es am besten, ihn für heute mit ins Lager zu nehmen.« Er klang fragend.

Nachdem mir Gawan einen langen Blick zugeworfen hatte, nickte der Löwe zustimmend. »Melusine und Kass können ihn ins-«

»Nein«, fiel Leonides ihm hastig ins Wort. »Er ist nicht aus dem Wald.«

»Nicht aus dem …?« Der Löwe starrte mich an.

»Ja, ich weiß auch nicht.« Leonides sah kurz zu mir. »Wir hatten nicht besonders viel Zeit, uns zu unterhalten.«

»Das solltet ihr nachholen«, brummte der Löwe.

»Jacob«, sagte Leonides endlich zu mir, »das hier ist Gawan, mein Bruder. Du kannst ruhig näherkommen, er scheint gerade nicht hungrig zu sein.«

Ich starrte ihn verunsichert an und ärgerte mich, als die beiden nach einigen Momenten in Gelächter ausbrachen.

»Keine Sorge«, sagte Gawan zu mir, »ich fresse keine Menschen. Und einen Freund meines Bruders schon gar nicht.«

Nach kurzem Zögern näherte ich mich den beiden und räusperte mich.

»Es … es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Herr Löwe«, sagte ich unbeholfen.

Er nickte würdevoll. »Auch mir ist es eine Ehre. Viele Menschen verirren sich nicht in den Wald, doch meine Familie und ich waren stets Freunde der Menschen. Daher bist auch du bei uns willkommen.«

»D-das ist sehr großzügig.«

Der hoheitsvolle und prüfende Blick des Löwen wurde freundlich. »Deine Augen sind seltsam. Aber mir gefallen deine Haare. Fast wie die eines Leu.«

Meine Haare waren relativ kurz, lockig und hellbraun – oder in Gawans Augen offenbar löwenfarben. Ein solches Kompliment war das Letzte, was ich von dem furchterregenden Fabeltier erwartet hatte. Was ihn jedoch an meinen Augen störte, die nach meiner Einschätzung einfach blau waren, verstand ich nicht.

Leonides schnaubte amüsiert.

»Ach, Gawan, hör schon auf.« Mit einem Lachen erklärte er mir: »Er sagt das nicht nur, um dir zu schmeicheln. Wie du siehst, könnte ich ja nicht unterschiedlicher aussehen als ein Leu. Sobald er einen Menschen wie dich sieht, scheint mein Bruder stets zu hoffen, dass dessen Erscheinung irgendwie auf mich abfärbt.«

»Diese Hoffnung habe ich inzwischen aufgegeben«, verriet dieser und pustete Leonides gutmütig ins dunkle Haar. Zu mir sagte er: »Wir brechen sofort auf. Präge dir den Weg gut ein, dann findest du uns künftig allein.«

Künftig? Ist das eine großzügige Geste, auf die eine symbolische Reaktion erwartet wird?

Ratlos sah ich zu Leonides, der nur aufmunternd nickte. »Komm mit. Gawan zeigt dir unser Zuhause.«

Der große Löwe wandte sich um und trottete langsam auf den Rand der Lichtung zu. Leonides ging neben ihm her, und mir fiel plötzlich auf, wie katzenhaft auch er sich bewegte. Gawan fragte Leonides über den Zusammenstoß mit den Isegrim aus. Ich erfuhr, dass die Wölfe nicht weit entfernt vom Lager der Leu beheimatet waren.

»Diesmal war es wirklich knapp«, gestand Leonides, und ich fragte mich, wie oft sie schon versucht hatten, ihn zu erwischen. »Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen.«

»Immerhin konntest du sie lange genug ablenken«, sagte sein Bruder ernst.

»Ja, deshalb hasst mich Vater Isegrim jetzt noch mehr. Mir ist leider spontan nichts Besseres eingefallen, also habe ich ihn ein wenig in Verlegenheit gebracht.«

Gawan lachte. »Warum kann ich mir genau vorstellen, was du gesagt hast?«

»Keine Sorge, es ging nicht nur um dich. Vielleicht habe ich auch eine kleine Andeutung gemacht zu dem … na, du weißt schon, wozu.«

»Oh, Bruder!«

Sie lachten, und ich konnte mir immer weniger einen Reim aus ihrem Gespräch machen. Hinzu kam, dass sie mindestens zwei verschiedene Sprachen zu verwenden schienen. Manchmal wechselten sie mitten im Satz zwischen meiner Sprache und einer weiteren, die ich noch nie gehört hatte.

»Wie geht es Mutter?«, fragte Leonides, nachdem wir eine ganze Weile schweigend durch den Wald gelaufen waren.

»Sie wird alt«, antwortete Gawan nach kurzem Zögern. »Und bisweilen etwas launisch.«

»Das war sie doch schon immer«, meinte Leonides frech, womit er seinem Bruder ein belustigtes Schnauben entlockte.

»Aber sie ist gesund«, setzte Gawan dann seinen Bericht fort. »Und, du wirst es nicht glauben, heute Morgen hat sie sich der Jagdtruppe angeschlossen und ganz allein einen Hirsch erlegt. Für dich, hat sie gesagt. Sie wusste, du würdest bald zurückkehren.«

»Oh, Mutter.« Leonides seufzte. »Und was ist noch passiert, während ich weg war? Sind die Jungen da?«

»Das erzählt dir Leandra am besten selbst«, erwiderte er. »Aber, sag, wie ist es dir ergangen? Hast du Bernsteinauge gefunden? Hatte Tigerherz recht?«

Mit den Namen, die ich hörte, konnte ich nichts anfangen. Doch ich wagte nicht, die beiden zu unterbrechen.

»Ja und ja. Er hatte tatsächlich seltsame Visionen. Ich kann euch nachher Genaueres erzählen. Es ist aber komplizierter, als wir dachten. Bernsteinauge ist bereits verwurzelt, er kann selbst nicht mehr reisen. Also hat er mich zum Orakel geschickt, damit ich für ihn herausfinde, was diese Visionen bedeuten.«

»Zum Orakel?« Gawan klang besorgt. »Du weißt, es ist ein gefährlicher Weg dorthin.«

»Ja, ich weiß. Aber ich habe es ihm versprochen. Und ich war schon oft in der Gegend.«

»Ein mächtiger Bussekater wohnt auf dem Weg«, gab er zu bedenken, während er über einen mächtigen Baumstamm setzte. »Ich sollte dich begleiten.« Leonides tat es ihm gleich. Ohne Anlauf zu nehmen, sprang er leichtfüßig über den Stamm.

Ich kletterte deutlich unbeholfener hinterher.

»Das wäre unklug, Bruder«, widersprach Leonides sanft. »Du musst dich um unser Rudel kümmern. Die anderen brauchen dich als ihren Anführer. Und … du bist auch nicht mehr in dem Alter für lange Reisen.« Eine Spur von Traurigkeit lag plötzlich in seiner Stimme. »Außerdem weißt du genau, dass dem Bussekater auch zehn starke Löwen nichts anhaben können.«

»Wir reden später noch einmal darüber«, brummte Gawan unzufrieden.

Darauf sagte Leonides nichts, und sie verfielen für den Rest des Weges wieder in Schweigen. Ich beobachtete das ungleiche Brüderpaar, das einträchtig und stolz nebeneinander dahinschritt. Jetzt begriff ich, dass Leonides deutlich mehr von einem Löwen an sich hatte als nur eine Ziehfamilie.

»Wir sind da, Jacob«, hörte ich Leonides plötzlich sagen.

Gawan zwängte sich soeben durch ein Gebüsch.

Leonides folgte meinem Blick und erklärte: »Der Eingang zu unserem Lager. Vorsicht, das sind Brombeerbüsche, die sind ziemlich dornig.«