Der Weizen gedeiht im Süden - Schulz Erik D. - E-Book

Der Weizen gedeiht im Süden E-Book

Schulz Erik D.

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Beschreibung

Ein Atomkrieg hat das Leben in der nördlichen Hemisphäre vernichtet. In einem hochtechnisierten Bunker in den Schweizer Alpen hoffen 300 Überlebende auf eine Zukunft. Doch Getreidepest und ein soziopathischer Killer nehmen dem Bunker die Lebensgrundlagen. Verzweifelt wagt Dr. Oliver Bertram zusammen mit seiner Tochter und einer kleinen Gruppe die gefährliche Flucht hinaus in den nuklearen Winter. Ihr Ziel ist Afrika, der einzige Ort, an dem menschenwürdiges Leben noch möglich scheint. Eine lange Reise durch einen lebensfeindlichen Kontinent liegt vor ihnen, die die Flüchtlinge nicht ohne Opfer hinter sich bringen können. Erik Schulz engagiert sich in der Organisation der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Seine Expertise für Bunkeranlagen und die Folgen nuklearer Katastrophen sorgt dafür, dass seine Geschichte erschreckend authentisch wirkt.

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Erik D. Schulz

Der Weizen gedeiht im Süden

Roman

Schulz, Erik D. : Der Weizen gedeiht im Süden. Hamburg, acabus Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-738-1

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-737-4

Print: ISBN 978-3-86282-736-7

Lektorat: Lea Oussalah, acabus Verlag/Dr. Gregor Ohlerich, Freie Lektoren Obst & Ohlerich/Dipl.-Ing. Jonas-Philipp Dallmann, Lektorat Dallmann

Korrektorat: Dmytro Chaplya

Satz: Henry Riedl, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © nouskrabs/stock.adobe.com

Coverhintergrund: © stone36/stock.adobe.com und pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Inhalt

Cover

Impressum

Der Weizen gedeiht im Süden

Autor

TEIL I

Der Bunker

Kapitel 1

Nach über sieben Monaten im Bunker prägte Routine den Beginn der Nachtschicht. Jürg Amstutz saß mit seinen beiden Kollegen im Kontrollraum vor dem Bedienpult, trank Kaffee und checkte die Monitorwand, über die Flure, Panzertüren, alle betriebswichtigen Räume und das Weizenfeld überwacht wurden. Dunkle Ränder unter seinen Augen verrieten, dass er schon seit etlichen Nächten Dienst schob. Er bereitete seinen Rundgang vor, den einer von ihnen alle zwei Stunden zu absolvieren hatte. Bestimmte Ecken des Objekts projizierte er als Großbild auf den riesigen Bildschirm, zoomte Türen heran und prüfte die Messwerte der Luftzusammensetzung. Nach dieser Vorarbeit stand er auf, rückte sich die Uniform mit dem Tarnaufdruck zurecht, griff ans Holster seiner Waffe und zog die Mütze in die Stirn. Das Firmenlogo des Sicherheitsdienstes prangte in roten Lettern darauf: MPIG, McPrince International Group … oder die Firma, wie viele Bewohner sie nannten.

Der Kontrollgang begann in der zweiten Etage des dreistöckigen Betonklotzes, den die Firma für zweieinhalb Milliarden Franken ins Felsmassiv des Pischahorns bei Davos getrieben hatte. Der Boden federte bei jedem von Amstutz’ Schritten, denn die Fußböden waren zur Kompensation seismischer Schwingungen auf Stahlfedern gelagert. Auch wichtige Geräte hatten die Konstrukteure an Federn aufgehängt, um nach einer Druckwelle ihre Funktion garantieren zu können. Davos war von einem direkten Atomtreffer allerdings verschont geblieben.

Die schlichte Eleganz der Flure erinnerte an ein Luxushotel. Rote Teppiche mit Orientmotiven bedeckten die Böden, die Beleuchtung hinter der Holzverkleidung der Decke spendete warmes Licht, und selbst die tragenden Pfeiler waren mit Designelementen verkleidet. An den weißen Wänden hingen Monitore, die Fenster suggerierten. Der Tageszeit angepasst zeigten sie das majestätische Panorama der Alpen oder das nächtlich beleuchtete Davos – ein Davos, das so nicht mehr existierte.

An mehreren Stellen des Bunkers hatte es ungeachtet dieser architektonischen Beruhigungen nach dem Verschluss »Vorkommnisse« gegeben. Vor allem in den ersten Wochen hatten sich einige Bewohner aufgeführt wie vor der Aufnahme in die Psychiatrie. Sie waren fest davon überzeugt gewesen, es nicht einen Moment länger im Berg aushalten zu können, und mussten mit Zwangsmaßnahmen und Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Inzwischen hatten sich die meisten an die Hermetik des Bunkerlebens angepasst, und seit Monaten unterbrach kaum noch ein Zwischenfall den öden Trott des Nachtdienstes.

Amstutz schritt vorbei an der abgeriegelten Firmenzentrale, an Büros, Computerräumen und Wohnbereichen. Er wusste, dass fast die Hälfte von ihnen leer stand. Dann stieg er hinauf zum Obergeschoss, wo sein Weg ihn an dem gigantischen Eingangstor vorbeiführte, der größten Lücke in der Betonfestung. Hinter ihm begann der 300 Meter lange Zugangsstollen. Ratten hatten im ersten Monat in dem verwinkelten Tunnel vor den Druckschleusen und Dekontaminationsduschen einen Großalarm ausgelöst. Mittlerweile waren die Tiere in der Kälte verendet.

Seit dem erfolgreich abgewehrten Angriff einer Bande von Plünderern kurz nach der Verriegelung waren die größten Risiken die Bewohner selbst. Im Obergeschoss hatte in der dritten Verschlusswoche ein auf einem Toaster abgestellter Plastikbecher einen Brand verursacht. Das Feuer hatte eine Wohneinheit zerstört und eine mehrtägige Evakuierung der halben Etage notwendig gemacht. Wie auf einem U-Boot hatte der gesamte Bereich vom Rest des Bunkers durch Schotten abgetrennt werden müssen.

Überall zwischen Wohn- und Arbeitsräumen, Kantine, Küche und medizinischem Komplex stieß Amstutz auf Schilder mit der Aufschrift Bitte Ruhe – und draußen vor den meterdicken Betonwänden lag Europa begraben unter Schutt, Asche und Eis.

Während er die steilen Metalltreppen in das Untergeschoss hinabstieg, zog er die Taschenlampe aus dem Gürtel und atmete durch. Die dritte und tiefste Etage gehörte der Technik. Neben der Brunnenanlage mit den Wassertanks befand sich hier die Energieversorgung, bestehend aus vier Schiffsdieseln und zwei Mini-Atomkraftwerken der Firma Gen4 Energy. Es herrschte beklemmende Enge, und trotz der Klimatisierung war die Luft stickig. Ventilatoren, Pumpen und Apparaturen brummten und ratterten auf unangenehme Weise.

Amstutz arbeitete sich zur Treppe auf der anderen Seite vor, prüfte Druckwerte, las Messgeräte ab und protokollierte alles. Dann passierte er den schmalen Durchgang zwischen den Wassertanks, ohne deren Inhalt das Leben im Bunker rasch erstorben wäre. Hier gab es unübersichtliche Ecken, die er ausleuchten und kontrollieren musste. Auffälligkeiten fand er keine.

Als er wieder zum Kontrollraum hinaufsteigen wollte, bemerkte er unweit vom Fuß der Treppe an einem Tank ein Bündel. Es sah im Halbdunkel aus wie ein Wäschesack, den jemand dort vergessen hatte. Er richtete den Leuchtkegel darauf, der unvermittelt auf einen leblosen Körper traf, unter dem sich eine Blutlache gebildet hatte. Amstutz keuchte und riss die Augen auf.

Nach einem Moment der Starre zog er seine Waffe und zielte in Gänge und Winkel. Nichts. Schließlich näherte er sich vorsichtig dem Toten. Er zitterte, und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, denn er war kein Söldner wie andere in der Firma, denen oft der Tod begegnete.

Das Licht der Taschenlampe fand ein blutverkrustetes, männliches Gesicht. Der rechte Wangenknochen stand heraus, das Fleisch darüber war zerfetzt. Am Kinn verlief eine klaffende Wunde. Knochenstücke zeugten von einer zersprungenen Schädeldecke. Amstutz überwand sich und betastete die Halsschlagader. Nichts, kein Puls. Er blickte an dem Toten hinab. Das rechte Bein sah unnatürlich nach außen verdreht aus, die Hose triefte vor Blut.

Anhand des Namensschildes, das alle Angestellten am Revers trugen, konnte Amstutz den Mann identifizieren: Leandro Turtschi, Technischer Leiter der Wasserversorgung. Zwischen dem Blut erkannte er jetzt auch Turtschis zerzaustes graues Haar und dessen unverwechselbare Aknenarbe.

Turtschi, der ehemalige Chef der Wasserwerke von Zürich, dessen Fachkenntnisse im Bunker von allen geschätzt wurden. Turtschi, der Tüftler mit dem Spitznamen Wasser-Nerd. Er hatte ein brutales Ende gefunden.

Amstutz bebte. Er umklammerte den Griff der Taschenlampe, ging in die Hocke und kratzte sich geistesabwesend mit seinen blutigen Fingern den Nacken. Dann nestelte er das Funkgerät hervor und verständigte seinen Vorgesetzten, Marius Haemmerli, den Leiter der Sicherheitsbrigade. Und anschließend auch noch, weil ihm das nicht genug schien, Bunkerchef Fabio Wiegele.

Zuerst traf Haemmerli am Unglücksort ein. Er war es gewohnt, um halb drei Uhr morgens aufzuspringen. Vor dem Krieg hatte der Mittdreißiger als Milizkommandant bei den Fallschirmaufklärern der Kompanie 17 gedient, einer Schweizer Eliteeinheit. Später war er Berater in Wiegeles privater Militärfirma geworden und hatte am Sicherheitskonzept des Bunkers mitgearbeitet.

Einen Augenblick lang verharrte Haemmerli vor dem Toten wie gelähmt und mit heruntergeklapptem Kinn. Das Entsetzen stand ihm im Gesicht. Er fuhr sich durch sein kurzes, schütteres Haar.

»Nichts berühren! Alles kann von Bedeutung sein!« Als er die blutigen Hände des Wachmanns bemerkte, verzog er den Mund und rollte mit den Augen. »Wie sehen Sie denn aus, Amstutz? Es macht den Anschein, Sie hätten Turtschi erschlagen, oddr.«

»Ich? Nein, ich hab doch nur den Puls tasten und nachschauen wollen, ob er noch am Leben ist«, rechtfertigte Amstutz sich. Er sah auf seine Hände und begriff, in welcher Lage er sich befand. »Nein, Herr Kommandant, oh nein, ich …«

»Schon gut«, unterbrach Haemmerli ihn schroff. »Mir ist klar, dass Sie das nicht gewesen sind.« Er holte sein Smartphone aus der Tasche und fotografierte den Toten und die Umgebung. Um seinen Mund bildeten sich Falten.

Während Haemmerli die Fotos mit Notizen versah, vibrierte die Stahltreppe. Wiegele näherte sich. Seine festen Schritte verrieten Durchsetzungsvermögen. Wenn er einen Raum betrat, umgab ihn eine Aura von Macht und Autorität, und jeder respektierte seine Talente und Führungsqualitäten. Er besaß die Fähigkeit, Menschen für seine Ziele zu gewinnen. Als Schweizer Chef der McPrince International Group war er für den Bau des Bunkers verantwortlich gewesen.

»Sonderlich freuen tue ich mich nicht auf den Anblick, das kann ich wirklich nicht behaupten.«

Wiegele trat aus dem Halbdunkel des Treppenschachts ins Neonlicht, ein attraktiver Mann Anfang vierzig, hochgewachsen, breite Schultern. Sein von einem Vollbart gerahmter Mund war schmallippig, seine kurzen Haare vorzeitig ergraut.

»Großer Gott!«, brachte er hervor, als er die blutüberströmte Leiche sah. »Das war wohl nicht sein Tag heute.«

»Nein, das hat sich Turtschi gewiss anders vorgestellt«, bestätigte Haemmerli spitz.

Ein paar Sekunden standen die drei Männer reglos da und blickten auf den Leichnam. Nur die Pumpen brummten, und das Wasser in den Tanks zischte und gluckerte.

»Ist wohl die Treppe runtergestürzt, was«, mutmaßte Wiegele. »Das sollten wir gleich checken.«

»Ja, das müssen wir genau untersuchen«, antwortete Haemmerli gepresst. »Die Verletzungen passen nicht zu einem Treppensturz, sind viel zu arg. Da brechen nicht gleich reihenweise die Knochen.«

Ein unangenehmer Zug glitt über Wiegeles Gesicht. »Das waren immerhin vier Meter. Wollen wir uns nicht erst die Treppe und die Videoaufzeichnungen ansehen, bevor wir Verschwörungstheorien konstruieren?« Er schob die Männer beiseite, nahm Haemmerlis Taschenlampe und inspizierte die ersten Stufen.

»Hatte sein Leben lang nichts als Wasser im Sinn«, bemerkte Wiegele, »und jetzt liegt er begraben unter einem beschissenen Wassertank. Irgendwie ärgert mich das. Dass sich die Dinge nie so entwickeln, wie man es erwartet. Immer ist irgendein Mist. Da investierst du Milliarden, und dann fällt dir der Wasserexperte die Treppe runter.«

Haemmerlis Gesicht verzog sich, er ballte die Fäuste und folgte Wiegele mit düsterem Blick. »Er ist noch warm«, erklärte er nüchtern.

»Ja, ja, ich weiß.« Ohne eine Miene zu verziehen, suchte Wiegele nach Spuren. »Hier, sehen Sie sich das an!«, rief er. »Überall klebt Blut. Da oben auch. Und hier, sehen Sie nur!«

Tatsächlich war die Treppe an mehreren Stellen mit roten Flecken besudelt.

»Holen Sie Ihre Kamera raus, Haemmerli, und schießen Sie Fotos zur Dokumentation! Ist Ihnen jetzt klar, dass Turtschi die Treppe runtergestürzt ist?«

»Nein, bisher ist mir überhaupt nichts klar. Hier gibt es definitiv mehrere Möglichkeiten.«

»Ja, klar«, spöttelte Wiegele, »wahrscheinlich hat ihn jemand erschlagen und dann unter den Tank gelegt.«

Haemmerlis Wangen bekamen rote Flecken, und sein Blick wurde hart.

»Tun Sie, was notwendig ist«, sagte Wiegele energisch. »Nehmen Sie Fingerabdrücke, führen Sie Verhöre, setzen Sie Verdächtige fest, wenn Sie meinen. Aber ich sehe mir jetzt die verdammten Videos an.«

Beim Hinaufgehen zum Kontrollraum fragte er Amstutz: »Haben Sie vor Ihrem Rundgang irgendwas auf den Monitoren bemerkt?« Seine Stimme klang scharf.

»Nein, nichts. Keiner von uns.«

»Sie und Ihre Kollegen sollen sich eben während des Dienstes nicht zukiffen und einen runterholen! Wozu habe ich überall die Scheißkameras anbringen lassen!«

In der zweiten Etage empfing sie eine angenehme Atmosphäre, warmes Licht und sanfte Farben. Als die Männer an einer Toilette vorbeikamen, wies Haemmerli Amstutz an, sich zu waschen.

»Wir sollten ihn obduzieren lassen«, meinte Haemmerli, nachdem Amstutz verschwunden war.

»Von wem denn?«, entgegnete Wiegele. »Von unserem zartbesaiteten Doktor Bertram, dem Psychiater?«

»Vielleicht von Isler. Der ist Chirurg.«

»Hören Sie, der ist für eine Obduktion ebenso wenig qualifiziert wie ich.« Wiegele fasste sich ans Kinn, sah sich um und senkte die Stimme. »Ich halte das nach dem bisherigen Stand der Dinge ohnehin für überflüssig.«

»Ich nicht.«

»Fragen wir die Kameras. Die werden Sicherheit bringen«, bestimmte Wiegele. »Und anschließend schaffen Sie die Leiche zum Eingang, noch heute Nacht! Ich will hier kein Aufsehen. Später können Sie ihn immer noch obduzieren. Da draußen wird er tiefgefroren. Besser, als wenn wir ihn von einem Dilettanten auseinanderfleddern lassen.«

»Sie wollen ihn einfach so auf Eis legen, ohne Untersuchung?«

»Genau so ist es.«

Widerstand gegen Wiegele war zwecklos, wusste Haemmerli. Nicht zufällig wurde er hinter vorgehaltener Hand Diktator genannt.

Nachdem Amstutz sich gewaschen hatte, ging die Gruppe zum Kontrollraum. Wiegele setzte die anderen beiden Wachmänner mit knappen Worten vom Tod Turtschis in Kenntnis.

»Hätten Sie vielleicht ’ne Cola für mich?«, fragte er, fläzte sich auf einen Stuhl und verschränkte die Hände im Nacken. »Und nun los, die Videos auf den Schirm! Erst den Flur vor Turtschis Wohneinheit im Zweiten, dann der Abzweig zur Treppe nach unten und natürlich die Ecken im Untergeschoss, wo es passiert ist.«

»Und ab wann?«, fragte Amstutz.

Wiegele nahm einen Schluck Cola. »Tja, ab wann … Was weiß ich. Was meinen Sie, Haemmerli?«

»Ich bin zwar kein Experte, aber der Körper war schon etwas abgekühlt. Erste Totenflecken gab’s auch schon. Alles in allem würde ich sagen, ab eins.«

Sie prüften das Videomaterial. Rasch kamen sie zu der Stelle, an der der Techniker sein Zimmer verließ, als bräche er zur Arbeit auf. Mühelos konnten sie ihm bis zur Treppe folgen, laut Zeiteinblendung um 1:13 Uhr.

»Sehen Sie, Haemmerli, das ist eindeutig«, bemerkte Wiegele. »Mal schauen, was jetzt kommt.« Angespannt blickte er auf den Bildschirm.

Da der Abzweig im zweiten Geschoss T-förmig endete, gab es an dieser Stelle einen toten Winkel. Der Treppensturz blieb der Kamera verborgen. Haemmerli verschränkte die Arme vor der Brust und sah aus schmalen Augen auf den Monitor. Die vom Schock der Nachricht gezeichneten Wachmänner verfolgten, wie Wiegele die Untergeschosskamera heranzoomte. Das Licht warf lange Schatten zwischen den Tanks. An der Treppe war kaum mehr zu erkennen als ein Schemen. Der obere Teil blieb komplett im Verborgenen; man sah nur, wie ein unförmiger Körper herabstürzte, zweimal aufschlug, taumelte und reglos unter dem Tank zum Liegen kam.

Wiegele ließ die Sequenz vor- und zurücklaufen, drosselte die Geschwindigkeit, veränderte Kontrast und Helligkeit, doch die Bildqualität verbesserte sich kaum, und der Kameraausschnitt blieb derselbe. Nach der siebten Wiederholung wandten die Wachmänner sich ab.

»Das reicht wohl fürs Erste«, sagte Haemmerli.

»Ja …« Wie aus einem Bann schreckte Wiegele hoch und stand auf. »Gut, ich haue mich jetzt wieder hin. Sie erledigen hier den Rest. So ein Scheiß, die Nacht ist gelaufen.«

Damit verschwand er.

Mit versteinerter Miene blickte ihm Haemmerli hinterher. Dann goss er sich Kaffee aus einer Thermoskanne ein. Er trank in kleinen Schlucken und biss sich auf die Unterlippe. Nach einer Weile setzte er sich wieder zu den Männern.

»Welchen Grund mag Turtschi wohl gehabt haben, mitten in der Nacht aufzustehen und nach den Tanks zu sehen? Hatte er einen Albtraum, dass jemand seine Brunnen vergiftet?«

»Weiß nicht, Herr Kommandant«, antwortete ein Wachmann. »Ist aber schon sehr eindrücklich, so mitten in der Nacht.«

»Ja, gewiss, sehr eindrücklich«, bestätigte Haemmerli und massierte sich ein Ohrläppchen. »Wissen Sie was«, sagte er und drehte sich dem Bedienpult zu, »ich sehe mir das hier mal genauer an. Sie, Amstutz, gehen derweil mit einer Begleitung nach unten und decken Turtschi zu. Sofort, damit nicht noch jemand über ihn fällt.«

»Jawohl, Herr Kommandant!« Man sah Amstutz an, dass er auf die Aufgabe gern verzichtet hätte.

»Und noch was: Besorgen Sie Putzmittel, und kümmern Sie sich darum, dass die Schweinerei in Ordnung kommt. Danach holen Sie eine Trage aus dem OP, ziehen sich einen Mantel über und rufen mich an. Wir bringen die Leiche dann gemeinsam zur Scheune.«

In der nächsten halben Stunde bearbeitete Haemmerli die Tastatur, holte verschiedene Kameras auf den Schirm, verglich Zeiten und scrollte vor und zurück. Neue Erkenntnisse gewann er dabei nicht. Erst nach der zehnten Wiederholung wurde er an der Stelle stutzig, als Turtschi im Flur den Abzweig zur Treppe ins Untergeschoss nahm: Er hob leicht den Kopf, nickte, als grüße er jemanden. Da er nur von hinten zu erkennen war, ließ sich das jedoch nicht mit Sicherheit sagen.

»Wo ist der andere?«, fragte sich Haemmerli.

Doch so sehr er auch die Umgebung absuchte, andere Kameras aufrief – der Unbekannte, den Turtschi scheinbar gegrüßt hatte, blieb verborgen.

Plötzlich bemerkte Haemmerli an der Wand gegenüber für Sekundenbruchteile einen kleinen, verschwommenen Abschnitt neben dem Schatten Turtschis. Eine Störung, eine Interferenz? Er riss die Augen auf und zoomte heran. Die diffuse Stelle war exakt jene, an der der ominöse Unsichtbare einen Schatten hätte werfen müssen.

»Mein Gott!«, flüsterte er bestürzt.

Das Telefon klingelte, die Wachleute hatten ihre Aufgaben erledigt. Haemmerli ging in sein Zimmer und zog sich einen gefütterten Armeeparka über. Er nahm eine Kunstrose aus der Vase und steckte sie in die Innentasche. Dann stieg er ins Untergeschoss.

Der Fundort war professionell gesäubert worden. Auf den ersten Blick war kein Blut mehr zu sehen. Turtschi lag auf einer rollbaren Trage, gehüllt in eine Armeedecke, seine Füße steckten in einer sackartigen Tasche. Die an den Seiten befestigten Planen hatten die Wachleute über dem Toten zusammengeschlagen, Gurte sicherten ihn gegen das Herausrutschen.

Schweigend schoben die Männer die Leiche zum Lastenaufzug. Turtschi hatte im Bunker keine Freunde gehabt, war ein Einzelgänger gewesen. Seine Verwandten waren, wie die der meisten anderen Bewohner, draußen geblieben.

Haemmerlis Chipkarte, die mit hohen Privilegien ausgestattet war, öffnete die Aufzugstür. Schilder warnten: Im Havariefall nicht betreten! Personenbeförderung verboten!

Sie erreichten die obere Etage, verließen den Fahrstuhl und brachten den Toten zum Eingangstor, das einer mächtigen Tresortür glich. Haemmerli drückte einen Code, und langsam, mit der Kraft einer Hydraulik, öffnete es sich. Nachdem sie die Druckschleusen und den Ganzkörpermonitor passiert hatten, befanden sie sich im Zugangsstollen. Der helle Beton und die Beleuchtung hinter Glaselementen erinnerten an einen Autobahntunnel. Ein Shuttle von der Größe eines Kleinbusses mit Elektroantrieb stand bereit, in das sie die Trage hievten.

Die Fahrt zum Eingang dauerte vier Minuten. Die Strecke war unterbrochen von scharfen Kurven, deren Sinn es war, Druckwellen einer Explosion zu brechen. Der Stollen mündete in ein gepanzertes Gebäude, das halb aus dem Berg ragte. Von außen war es getarnt als primitive Holzscheune, die in einem verschwiegenen Waldstück an der Flüelapassstraße stand. Die Straße führte von Davos im Landwassertal auf über 2000 Meter Höhe nach Susch im Unterengadin.

Die sorgfältige Tarnung hatte den Angriff von Plünderern nicht verhindern können. Einschüsse und Manipulationsspuren am Metalltor der Scheune zeugten von einem erbitterten Gefecht. Seitdem war es den Bunkerbewohnern bei Strafe verboten, sich dem Eingangsbereich zu nähern. Jedes Eindringen von Feinden oder von radioaktiv verseuchtem Material sollte so verhindert werden.

Sie erreichten die Sicherheitsschleusen. Bei der Ankunft hatten sich hier alle Zugangsberechtigten einem Iris-Scan unterziehen und eine PIN-Identifizierung durchführen müssen. Den Code hatten die Käufer eines Platzes vor dem Krieg erhalten.

In einem Seitengelass gab es eine Kühlkammer für Leichen. Die Energieversorgung war abgestellt, denn der nukleare Winter sorgte für durchgängige Temperaturen unter minus zwanzig Grad. In der Kammer lagen die Leiche einer an Lungenentzündung verstorbenen Frau und eines saudischen Unternehmers, der zwei Wochen nach Verschluss einem Herzinfarkt erlegen war. Die Todesursache von Jürgen Thiele, einem Unternehmer aus Düsseldorf, hatte nicht eindeutig geklärt werden können. Eines Morgens hatte er tot in seinem Bett gelegen.

Haemmerli öffnete die Metalltür, weiß gekachelte Wände wurden sichtbar. Der Atem der Männer kondensierte zu Nebel, und die Kälte trieb ihnen Tränen in die Augen.

»Warum muss sich so etwas unter so unwürdigen Umständen abspielen?«, fragte Haemmerli.

Amstutz nickte, seine Lippen zitterten.

»Ich spreche noch ein paar Worte, damit das hier wenigstens mit einem kleinen Rest Würde endet.«

Haemmerli öffnete eine Kühlzelle, zog einen Hubwagen heraus und wies die Männer an, Turtschi von der Trage auf die Wanne umzulagern. An einigen Stellen war Blut in die Armeedecke gesickert.

»Allmächtiger Gott, du bist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In deine Arme legen wir Leandro Turtschi. Wir erwarten nicht, dass du unsere Fragen beantwortest. Wir können nichts mehr tun für Leandro Turtschi. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass du für ihn da bist. Dass du deine Arme weit öffnest, für ihn bald eine würdigere Ruhestätte findest und rufst: ›Komm wieder, Menschenkind!‹ Amen.«

»Amen«, antworteten die Wachmänner im Chor.

Haemmerli zog die Kunstrose aus der Innentasche seines Parkas, legte sie dem Verstorbenen auf die Brust und schob die Wanne in die Kühlzelle.

Kapitel 2

Oliver Bertram schlief schlecht. Das lag an den Erwartungen an ihn, mit denen er schwer zurechtkam. Ständig schwirrten Probleme und Sorgen durch sein Hirn.

Er trug die Verantwortung für das Gewächshaus und den Weizenanbau, der für die nächsten Monate oder sogar Jahre einen wichtigen Teil der Lebensgrundlage für 300 Menschen bildete. Seine Kenntnisse in Agrarwissenschaft halfen ihm dabei, aber auf sich gestellt den richtigen PH-Wert des Bodens zu finden, ihn angemessen zu bewässern und zu düngen, die Beleuchtung optimal einzustellen, Schädlingsbefall zu verhindern und die ökonomischste Saatstärke zu ermitteln, all dies waren komplexe Aufgaben.

Erst in den frühen Morgenstunden döste Oliver ein und begann zu träumen, einen in Facetten oft wiederkehrenden Traum. Er saß auf der Terrasse eines französischen Restaurants in Berlin und wartete in der Abendsonne auf seine Frau. Nach einer Weile kam Michelle. Sie gab ihm einen Kuss und sah hinreißend aus, eine zarte, blonde Schönheit. Sie stießen an mit Crémant Rosé. Glückliche Momente ihrer gemeinsamen Zeit zogen vorbei. Er trug Michelle auf den Schultern durchs Grün der schottischen Lowlands … eine erotische Begegnung am Rande einer Party während ihrer Studentenjahre … eine Schifffahrt auf dem Sankt-Lorenz-Strom in Kanada … ein Sonnenuntergang auf ihrem Wassergrundstück bei Berlin … Und dann saßen sie wieder auf der Restaurantterrasse, aßen und tranken. Michelle sagte etwas zu ihm, doch er verstand sie nicht.

Als er aufwachte, fühlte Oliver sich zerschlagen. Montagmorgen. Ein paar Minuten wälzte er sich im Bett und vergrub das Gesicht im Kissen, bevor er langsam die Augen öffnete. Auf dem Nachttisch stand ein Foto von der Frau, von der er soeben geträumt hatte: die langen blonden Haare, der schön geschwungene Mund mit den blutroten Lippen, die leuchtend grünen Augen, ein strahlendes Lachen.

Jeden Tag machte Oliver sich Vorwürfe, dass er Michelle nicht entschlossener gedrängt hatte, ihre Dienstreise nach Brasilien abzusagen. Sie hatte dort als Onkologie-Professorin ein Studienzentrum in Barretos betreut. Bis zum Schluss hatte sie auf eine diplomatische Lösung der USA-China-Krise vertraut. Die meisten Menschen hatten damals gehofft, dass die politische Lage sich beruhigen, alles in gewohnte Bahnen zurückkehren würde. Zwei Tage vor den ersten Bomben war Oliver mit Annabel, seiner Tochter, in den Bunker geflohen. Von Michelle hatte er nie wieder etwas gehört.

Oliver setzte sich auf mit einem langgezogenen Stöhnen, stützte das Gesicht in die Hände und sah sich um. Zusammen mit Annabel bewohnte er ein Zimmer im Obergeschoss, schmucklos, funktional. Hinter einer glänzenden Holzwand verbargen sich Einbauschränke. Eine Marmorablage teilte die zweiundvierzig Quadratmeter in einen Bereich für ihn und Annabel. Es gab eine kleine Küchenzeile, ein weißes Sofa und einen Schreibtisch.

Er stand auf und schlurfte zur Außenwand aus Sichtbeton, um den Vorhang aufzuziehen. Der Bildschirm, der ein Fenster vortäuschte, zeigte die Berglandschaft im Morgengrauen. Die Sehnsucht, ein richtiges Fenster zu öffnen und frische Luft zu atmen, wuchs kurz ins Schmerzhafte. Dann schob er sie weg.

Wie jeden Montagabend stand der Jour fixe mit Fabio Wiegele an. Sie spielten zusammen Tischtennis, gingen an die Bar im Casino oder hörten Musik in Wiegeles luxuriösem Appartement. Das verband sie, doch von Freundschaft hätte Oliver kaum gesprochen, eher von Bekanntschaft. Zu groß war das Spannungsfeld zwischen kumpelhafter Nähe und plötzlich autoritärem Gebaren. Für eine echte Freundschaft fehlte Wiegele die Fähigkeit, Kritik anzunehmen, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Je länger Oliver den Bunkerchef kannte, umso mehr wuchs seine Gewissheit, dass etwas mit ihm nicht stimmte. War es eine Profilneurose oder doch eine gefährliche soziopathische Prägung, tief eingegraben in seine Persönlichkeit? Trotz seiner psychiatrischen Fachkenntnisse vermochte Oliver den beunruhigenden Kern dieses Mannes bisher nicht freizulegen.

Er knipste die Stehlampe an und sah nach Annabel. Sie schlief noch. Ihre Füße lugten unter der Decke hervor, ihre langen rotbraunen Haare breiteten sich wie Strahlen auf dem Kissen aus. Mit 14 ein so langer Schlacks, dachte er zärtlich.

Er zündete ein Teelicht an und stellte es in den Leuchtturm auf ihrem Nachttisch. Sie liebte dieses Souvenir aus Keramik, das sie sich während eines Urlaubs an der Ostsee gekauft hatte. Schon in Berlin hatte der Turm immer neben ihr auf dem Schreibtisch leuchten müssen, beim Fernsehen oder am Bett – ein richtiger Spleen. Er streichelte über ihr Haar und gab ihr einen Kuss, woraufhin sie sich räkelte und murrte.

Vater und Tochter frühstückten an einem kleinen Tisch neben der Küchenzeile.

»Was liegt bei dir heute an?«, fragte Oliver.

»Wir schreiben in Bio einen Test über das Auge. Soll ich dir was darüber erzählen?«

»Sicher. Immerhin erwarte ich von einer Medizinertochter in Bio eine Eins.«

»Immer diese Erwartungshaltung.« Annabel stöhne theatralisch, dann erklärte sie ihrem Vater das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente des Auges: Glaskörper, Iris, Pupille, Netzhaut, Zonulafasern, Ziliarkörper …

»Perfekt!«, lobte Oliver. »Du wirst das schon machen, sehe ich.«

Annabel war überdurchschnittlich intelligent, ihr Hunger nach Wissen erstaunlich. Ihr erklärtes Ziel war es, Ärztin zu werden. Universitäten gab es nicht mehr, doch irgendwie würde sie ihren Traum schon verwirklichen. Ganz die Mama, dachte Oliver.

Ohne Appetit aß er sein Rührei aus Pulver. Er sehnte sich nach frischen Eiern aus dem Bioladen, nach sonnengereiftem Frischobst, nach warmen, knusprigen Brötchen.

»Und was liegt bei dir an, Paps?«

»Ach, ich sehe mal nach meinen Halmen, ob sie strammstehen und gedeihen. Dann mache ich meine Analysen im Labor. Noch einen Ernteausfall kann ich mir nicht leisten.«

Die erste Weizenernte war deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben, was einen Wutausbruch Wiegeles zur Folge gehabt hatte. Er hatte ihm gedroht, ihn vor die Tür zu setzen, wenn sich so ein »beschissener Dilettantismus« wiederholen würde.

»Du wirst das schon machen, Paps.«

Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Annabel trug ein bedrucktes, den Bauchnabel freilassendes Top, das sie selbst geschneidert hatte, darüber eine Fellweste und ein kurzes schwarzes Kleid. Manchmal fand Oliver ihr Outfit zu gewagt, vor allem, wenn es zu sehr ihre sich bereits entwickelnden Reize betonte. Ihn beunruhigten die Blicke, die manche Männer ihr nachwarfen.

Der Unterricht fand in Gruppen zu je sechs Kindern statt. In ihrer Klasse hatte Annabel sich mit Christian Simpkins angefreundet, den sie um den Finger wickelte. Er war häufig bei den Bertrams zu Besuch, um seinen streitenden Eltern aus dem Weg zu gehen. Annabel tanzte mit ihm Streetdance, veranstaltete allen möglichen Blödsinn, und die beiden erledigten zusammen ihre Hausaufgaben – in dieser Rangfolge. Christian half Annabel über den Verlust ihrer Freundinnen hinweg. Auch die sozialen Netzwerke und das Shopping vermisste sie.

Nachdem Oliver sich vor den Schulräumen im zweiten Stock von seiner Tochter verabschiedet hatte, stieg er hinunter in die Techniketage, wo sich die Gewächshäuser befanden. Von einem zwanzig Meter langen Tunnel zweigten drei Höhlen ab, die separat vom Bunker in den Fels gemeißelt waren. Über die Hälfte der Fläche nahm das Weizenfeld ein, ein Bereich war mit Kartoffeln bepflanzt und der kleinste mit Obst und Gemüse. Die 25000 Quadratmeter messenden Areale entsprachen der Größe aller drei Etagen des Bunkers. Obwohl nur 300 der insgesamt 500 Plätze belegt waren, reichte die nutzbare Fläche nicht für eine autarke Versorgung. Sie diente zur Ergänzung der Konserven- und Tiefkühlvorräte.

Der Agraringenieur, der das Gewächshaus hätte leiten sollen, hatte es nicht rechtzeitig in den Berg geschafft. Für ihn wie für 200 andere Inhaber eines Bunkerplatzes war der Emergency Call zu spät gekommen. Oliver hatte seinen Posten bekommen, weil er im Sudan ein halbes Jahr an einem Joint Venture zwischen der Firma seines Vaters und einem chinesischen Unternehmen mitgewirkt hatte, konkret bei der Optimierung des Insektizideinsatzes beim Weizenanbau. Dieser Job war die beste Therapie seiner Burn-Out-Depression gewesen, die er in der psychiatrischen Klinik erlitten hatte. Damals musste er dringend raus aus dem stressigen Alltag, sonst wäre er womöglich als Patient in der eigenen Klinik gelandet. Seitdem hatte er aufgrund von Versagensängsten nie wieder als Psychiater gearbeitet.

Ihn erfüllte die Aufgabe im Gewächshaus mit Stolz und Genugtuung, und sie bewahrte ihn vor Langeweile. Andererseits rief sie ein latentes Gefühl von Überforderung hervor. Neben der Verantwortung für die Erträge hatte er den Hut für zwölf Mitarbeiter auf, Firmenangestellte und Freiwillige, die sich von der Ödnis des Bunkeralltags ablenken wollten. Auf seine Anweisungen hin pflügten, säten, jäteten und ernteten sie, bedienten den kleinen Mähdrescher und regulierten das ausgeklügelte Bewässerungssystem und die High-End-Beleuchtung.

Oliver betrat den mächtigen Stollen, warf einen kurzen Blick hinauf zu den taghellen Lampen an der Decke und begutachtete den Acker. Der Weizen bildete erste Ähren aus. Bald würde die Ernte anstehen. Die Mühe hatte sich gelohnt. Als er mit einem Handbohrstock in den Boden stechen wollte, stand plötzlich Haemmerli neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Verdammt, Marius, hast du mich erschreckt!«

»Unbemerkt anpirschen gehört zu meinem Geschäft«, sagte Haemmerli grinsend, seine Augen aber blickten ernst. »Sorgst für frisches Brot, oddr?«

»Ja, gebe mir Mühe. In drei Wochen ist Ernte.«

»Mein Gott, was ist langweiliger als Landwirtschaft?« Der flache Witz täuschte nicht über Haemmerlis Anspannung hinweg.

»Du besuchst mich doch sonst nicht auf dem Feld.« Oliver rammte den Bohrstock in den Boden. »Also, was hast du auf dem Herzen?«

»Bist du sicher, dass sich nicht Big Brother hinter einem deiner Halme versteckt?« Haemmerli nestelte am Kragen seiner Uniform herum, zog die Augenbrauen zusammen und spähte über das Feld. »Ich hab dir was Wichtiges zu sagen.«

»Was ist los?«, fragte Oliver besorgt. Da Haemmerli ihn nicht ansah, sondern nervös die Höhle absuchte, schob er nach: »Wenn wir leise reden, hört uns kein Mensch.«

»Turtschi ist gestern Nacht aufgefunden worden. Tot!« Die Nachricht brachte Haemmerli langsam und so besorgt hervor, wie Oliver es noch nie bei ihm erlebt hatte.

»Großer Gott! Wie …«

»Er ist die Treppe zum Untergeschoss runtergestürzt und hat sich dabei den Schädel aufgeschlagen.«

»Was? Und war gleich tot?« Hitze stieg in Oliver auf.

»Na ja, Wiegele meint, so ist es gewesen«, sagte Haemmerli. »Turtschi hat eben einen kleinen Unfall gehabt … Alles ganz eindeutig, oddr? Ein Mann rauscht die Treppe herunter, bricht sich den Schädel, der Mann ist tot und damit basta. Keine Untersuchung, Fall abgeschlossen.«

Oliver beschlich die dunkle Ahnung, dass sich das monotone Leben im Luxuskäfig ab sofort grundlegend ändern würde. Auf einmal hatte er das Gefühl, als verwandle sich der Boden unter ihm in Schlamm. Um nicht einzusinken, hob er abwechselnd die Füße. Der Tod Turtschis schockierte ihn. Ein kauziger, chaotischer Einzelgänger, immer freundlich.

»Du glaubst nicht an einen Unfall?«

»Da ragten Knochenstücke aus der Schädeldecke, Oliver. Es sah aus, als hätte ihm jemand mit einer Eisenstange den Schädel zertrümmert.«

»Kann das nicht durch die Treppe passiert sein?«

»Du hast ihn nicht gesehen. Er hat mich an den Mann erinnert, den wir nach dem Sturz in eine Schlucht geborgen haben.«

Einen Augenblick verharrte Haemmerli mit erhobenem Kopf und atmete tief durch. »Ich denke, Turtschi ist ermordet worden.«

»Verdammt, wer sollte so was tun?« Mit kalten Händen umklammerte Oliver den Bohrstock, stocherte in der Krume und blinzelte. »Malst du nicht zu schwarz?«

»Ich male nie schwarz, das weißt du.«

Das stimmte. Haemmerli war der geborene Optimist. Selbst hier unten, nach einem verheerenden Nuklearkrieg, redete er davon, bald wieder nach draußen zu gehen. Die Welt würde sich schon erholen.

»Vielleicht wusste er von Sachen, die wir nicht wissen. Oder er hat dem Diktator in die Suppe gepinkelt. Oder beides. Jedenfalls stimmt hier irgendetwas nicht.« In knappen Sätzen berichtete Haemmerli von den merkwürdigen Artefakten, die er auf den Kamerabildern entdeckt hatte.

»Weißt du was«, resümierte er, »ich glaube, das wurde von langer Hand geplant und gedeckt.«

Betroffen schwiegen die Freunde für einen Moment.

»Mit diesem Verdacht leben wir gefährlich«, meinte Oliver schließlich. Er spürte, wie seine Knie zitterten.

»Ja, vielleicht. Oh, kam auch gar nicht auf Radio Pischahorn heute Morgen.«

Haemmerli begleitete die Bemerkung mit einem sarkastischen Lacher. Der bunkerinterne Sender gab Organisatorisches durch, brachte selbst produzierte Reportagen und Nachrichten. Ansonsten dudelte alpenländische Volksmusik.

»Ich hab ein paar Dateien von Turtschis Computer gezogen«, sagte Haemmerli und fasste Oliver am Oberarm. »Vielleicht kannst du damit etwas anfangen. Mir ist das zu hoch.« Unauffällig schob er ihm einen USB-Stick zu.

»Wie hast du das angestellt?«

»Meine Chipkarte steht auf der Hierarchieleiter ziemlich weit oben«, erklärte Haemmerli und verabschiedete sich.

»Pass auf dich auf!«

Der Milizkommandant wandte sich lächelnd um. »Ich bin ein Siebzehner, hab Vertrauen.«

Kapitel 3

Oliver schritt mit einer Plastiktüte voll Erde und einer mit Pflanzenproben durch das Untergeschoss. In seiner Anspannung nervten ihn die Schwingungen des Bodens. Wie gern hätte er wieder einmal Asphalt unter den Füßen gespürt! Seit dem Verschluss fühlte er sich eingesperrt wie im Bauch eines Frachtschiffes.

Auf dem Weg ins Obergeschoss begegneten ihm ein Wartungstechniker, eine Reinigungskraft, die eine dröhnende Scheuersaugmaschine vor sich her schob, und zwei Wachmänner. Er wunderte sich, denn normalerweise patrouillierten die Uniformierten allein.

Im Labor erinnerte er sich an ein Gespräch mit Turtschi. Der hatte ihm vor ein paar Wochen einen Vortrag über die Wasserversorgung aus den drei Tiefbrunnen gehalten. Die Schilderungen waren verworren gewesen. Nur einzelne Begriffe wie Sedimente, Felsschichten und Radioaktivität hatte er noch im Gedächtnis. Wehmütig dachte er, dass dieser liebenswerte Nerd zeitlebens unfähig gewesen war, sich klar auszudrücken.

Oliver siebte den Boden für seine Analysen, trocknete ihn und bestimmte mit Extraktionsmitteln den Nährstoffgehalt. Er arbeitete so zügig wie seit Monaten nicht mehr, weil er den USB-Stick auswerten wollte. Immer wieder umklammerte er ihn in der Hosentasche. Die Pflanzen- und Bodenuntersuchungen lieferten beruhigende Ergebnisse. Er musste das Feld nur noch mit einem Fungizid besprühen, dann stand einer üppigen Ernte nichts mehr entgegen.

Er schloss das Labor ab und ging in die Kantine im Obergeschoss. Die Lust am Essen war Oliver im Bunker abhandengekommen. Jede Mahlzeit stand lange im Voraus fest. Die Gäste konnten zwischen verschiedenen Dosengerichten wählen. Heute waren es Chili con Carne, Königsberger Klopse und ein undefinierbarer vegetarischer Brei, dazu ein lascher Salat aus dem Gewächshaus. Anfangs zweimal, inzwischen einmal pro Woche gab es Fleisch oder Fisch aus der Kühlkammer.

In der Kantine saßen eine saudi-arabische Familie mit zwei Kindern, Techniker, ehemalige Industrielle, Banker und Menschen, die es oben irgendwie zu Vermögen gebracht hatten oder zum Personal gehörten. Ein Bunkerplatz kostete dreieinhalb Millionen Franken. Ohne seine Eltern hätte Oliver nie das Geld für sich und seine Familie aufgebracht.

Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen. Er grüßte die Leute knapp, wählte Chili con Carne und setzte sich zu Familie von Holtzendorff.

Die von Holtzendorffs gehörten zu einer Dynastie von Medienunternehmern. Vater Georg ging auf die Siebzig zu und war vor dem Krieg Chefredakteur einer großen deutschen Tageszeitung gewesen. Ein hagerer, wie ein Raubvogel wirkender Typ, der meist das missgelaunte Gesicht eines Mannes zog, der sich immer im Recht wähnte. Oliver hielt ihn für depressiv, wofür es gute Gründe gab: Von seinen drei Kindern hatte es nur Tochter Carolin rechtzeitig in den Bunker geschafft. Darüber hinaus hatte er seinen Verlag und damit Macht und Status verloren.

Madeleine von Holtzendorff war über zwanzig Jahre jünger als ihr Mann. Oliver bewunderte ihre Attraktivität und ihren Lebensmut. Er hatte sich sogar ein Autogramm von ihr geben lassen. Die populäre Schauspielerin hatte Rollen in Spielfilmen und am Theater gespielt. Mit ihrer geschulten, ausdrucksstarken Stimme las sie den Kindern im Bunker vor.

Neben ihr saß Carolin, Holtzendorffs erwachsene Tochter. Ihr Gesicht war umrahmt von langen braunen Haaren. Wenn sie lachte, zeigte sich zwischen den Schneidezähnen eine Lücke, was ihre Reize eher unterstrich. Sie hatte Medizin studiert und arbeitete auf der Krankenstation. Ihre Attraktivität und Sinnlichkeit zogen Oliver an.

»Haben Sie schon gehört, was mit dem Turtschi passiert ist?«, fragte Georg von Holtzendorff mit seiner Altherrenstimme.

»Ja, schrecklich«, bestätigte Oliver.

»Wusste gar nicht, dass man bei einem Treppensturz so leicht ums Leben kommen kann. Wenn wir noch oben wären, würde ich meine Leute auf die Sache ansetzen. Das gäbe sicher eine hübsche Story.«

Oliver wusste, dass von Holtzendorff Wiegele verachtete. Dem Gerücht nach hatte er den Begriff Diktator geprägt. Die regelmäßigen Bewohnerversammlungen hielt er für Augenwischerei. Echte Mitbestimmung gäbe es nicht. Das ausschließliche Sagen im Bunker hätte das Konsortium aus sechs Männern, dem Wiegele vorstand.

»Turtschi war ein guter Mensch«, meinte Carolin. »Ich bin total geschockt. Wer sorgt jetzt für unser Wasser? Was wird aus uns?«

»Es gibt ja noch andere Ingenieure hier unten«, entgegnete Oliver und hob ironisch eine Augenbraue. »Die Firma hat organisiert, dass alles doppelt vorhanden ist, selbst die Menschen mit ihren jeweiligen Qualifikationen. Alles zu unserer Sicherheit und für unser Überleben.«

»Also, ich weiß nicht. Mir fällt auf Anhieb niemand ein, der das übernehmen könnte.« Carolin leckte sich die Lippen und nestelte an ihrer Halskette, an der ein Kreuz hing. »So einfach ist das nicht. Turtschi hat aus den drei Tiefbrunnen immer die richtige Zusammensetzung für unser Wasser gefunden, er hat die Filteranlagen gewartet und er hat …«

»Wir verdursten schon nicht gleich, wenn das Wasser mal über einen anderen Kies sickert«, wies ihr Vater sie zurecht. »Das ist wenigstens mal was anderes. Mir fällt sowieso die Decke auf den Kopf.« Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Wenn wir nur bald wieder raus könnten!«

»Das werden wir, Georg«, sagte seine Frau. »Wir dürfen die Zuversicht nicht verlieren. Dann gehen wir zurück nach Hamburg und beginnen noch einmal von vorn. Lieber eine neue Welt mitgestalten, als in der alten sterben.«

»Ich will euch ja nicht die Laune verderben«, wandte Carolin ein, »aber da draußen herrschen minus 25 Grad. Es ist kaum heller, als wenn man hier das Licht ausknipsen würde. Und die Ozonschicht hat sich wahrscheinlich restlos aufgelöst, von der Strahlung ganz zu schweigen.«

»Ich erfriere doch lieber, oder was weiß ich«, brauste ihr Vater auf, »als in diesem Loch für den Rest meines Lebens zu versauern! Mich kotzt auch dieses autoritäre Firmengehabe an, diese Enge, diese Dunkelheit, dieses Scheißessen!« Er stieß seinen Teller beiseite, sodass er klapperte. »Das ist alles Scheiße!«

»Könnten Sie bitte ein bisschen leiser reden?«, beschwor Oliver ihn und sah sich um. »Die Firma hört es nicht gern, wenn Bewohner in aller Öffentlichkeit von Ausstieg reden.«

Längst hatte es sich herumgesprochen, dass das Konsortium überall Kameras und Mikrophone angebracht hatte.

Von Holtzendorffs Gesicht bebte vor Erregung. »Oben könnten wir auch nach Dominik und Nathalie suchen!«, stieß er gepresst hervor.

»Ist ja gut, Papa«, versuchte Carolin, ihn zu trösten, »das werden wir.«

»Ich lasse mir von niemandem den Mund verbieten!«, brüllte ihr Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch.

Carolin blickte nach unten, ihre Lippen zitterten.

»Lass uns aufs Zimmer gehen, Georg.« Madeleine legte den Arm um ihren Mann, der sich sträubte und Flüche brabbelte. Erst nach einigem guten Zureden ließ er sich unter den Blicken der anderen Bewohner aus der Kantine führen.

»Tut mir leid, wie das gelaufen ist«, entschuldigte Carolin ihre Eltern.

»Ich verstehe das«, meinte Oliver. »Er hat zwei Kinder oben gelassen, dazu sein Lebenswerk. Da würde mir auch der Kragen platzen.«

»Wir haben alle Menschen oben gelassen«, entgegnete sie und runzelte das Kinn. Neben Verwandten und Kommilitonen hatte Carolin ihren Freund in Tübingen verloren. »Nein, ich sehe meinem Vater die Ausbrüche nicht mehr nach. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich Journalistik studieren und ins Unternehmen einsteigen müssen.« Sie verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und spitzte die Lippen. »Es war schon ein Kampf, Medizin studieren zu dürfen. Eigentlich hatte ich Lehrerin werden wollen. Aber das hat er mir verboten.«

Ihre warme, intelligente Stimme löste ein Wohlgefühl in Oliver aus. Doch Carolin war mit ihren Gedanken woanders. Sie blinzelte gegen Tränen an.

»Haben Sie auch manchmal Schuldgefühle gegenüber denen, die draußen geblieben sind?«

»Ja, die habe ich.«

Um dieses Thema nicht vertiefen zu müssen, stand Oliver rasch auf.

Gemeinsam gingen sie zu ihren Zimmern. Auf dem Flur waren ruppige Beats zu hören, deren Lautstärke sich bis zu Olivers Tür steigerte. Offenbar veranstaltete Annabel wieder eine ihrer Sessions. Beim Aufschließen wunderte er sich, dass sich niemand über den Lärm beschwerte. Als er Annabel und Christian Simpkins sah, erstarrte er. Carolin hielt sich die Hand vor den Mund und lachte.

Gitarrenriffs fetzten ihnen um die Ohren, der Sänger kreischte, flehte, schrie. Die Teenager tanzten impulsiv und raffiniert zu dem Rhythmus, den sie frei interpretierten. Die offene Tür bemerkten sie nicht. Annabel trug schwarze Skinny Jeans, gehalten von einem Nietengürtel, darüber einen stufigen dunkelgrünen Rock; auf ihrem ärmellosen schwarzen T-Shirt prangte der Name ihrer Lieblingsband: My Chemical Romance. Christian trug ebenfalls ein dunkles Shirt und enge Jeans, sah aber nicht so durchgestylt aus. Beide hatten sich mit schwarzen Lidstrichen geschminkt. Sie streckten ihre Arme in die Luft, klatschten, bewegten sich schnell nach links und rechts, drehten ihre Körper. Sie kickten nach vorn und nach hinten, ohne den Boden zu berühren, tippten mit den Füßen, die in abgetragenen Converse-High-Tops steckten, stampften auf und sprangen in die Luft. Ihre Lederarmbänder vibrierten. Bei der nächsten Drehung bemerkte Annabel ihren Vater und schrie auf.

»Scheiße! Was machst du denn schon hier?«

Sie stürzte zur Anlage und schaltete die Musik aus, wobei ihr das verschwitzte Haar über das wütende Gesicht fiel. »Wie scheiße ist das denn, Mann? Wie lange stehst du schon da? Verdammt!«

Christian schnappte sich seine Tasche, verabschiedete sich mit kurzem Kopfnicken und flüchtete aus der Wohnung.

»Ich geh dann mal auch«, sagte Carolin lächelnd.

»Sehen wir uns morgen in der Kantine?«, fragte Oliver und versuchte zurückzulächeln.

»Gern.«

Er schloss die Tür und wandte sich seiner Tochter zu.

»Ist das megapeinlich!«, begann Annabel ihre Beschimpfung. »Kannst du nicht wie jeder normale Mensch anklopfen, statt uns hinterherzustalken? Am Arsch, ist das peinlich!«

Ihr schlanker Körper bebte vor Wut, doch Oliver ertrug die Tirade gelassen. Nein, das war nicht mehr das kleine Mädchen, das sich noch vor einiger Zeit auf seinen Schoß geschmiegt hatte. Als er das aufhellende Make-up bemerkte, das ihre Sommersprossen übertünchte, veränderte sich sein Gesicht. Das reizte Annabel weiter.

»Was glotzt du denn so?«

»Jetzt krieg dich gefälligst wieder ein«, hielt Oliver dagegen und versuchte, ruhig zu bleiben. »Ich habe angeklopft. Und es ist okay, wenn ihr eine Session abhaltet. Aber ich hab etwas Dringendes zu arbeiten und …«

»Arbeit, Arbeit, Arbeit!«, fluchte Annabel und sah ihn scharf an. »Den ganzen Tag hängst du auf deinem bescheuerten Feld rum, hinter deinem Schreibtisch oder bei irgendwelchen Leuten! Du kümmerst dich einen Scheißdreck um mich! Kein Stück interessierst du dich für mein Leben!«

Minuten vergingen mit einer Flut ungerechter und gerechter Vorwürfe, bis Annabel sich schließlich an ihren Schreibtisch trollte und schweigend an ihre Hausaufgaben setzte.

Oliver brühte sich einen Kaffee, klappte den Laptop auf und stöpselte Turtschis USB-Stick ein. Auf dem Datenträger des Verstorbenen herrschte ein Chaos, das außer ihm vermutlich niemand verstand. Oliver hatte Mühe, den Wust aus wirr benannten Excel-Tabellen und Textdateien zu durchforsten. Nach einer Stunde plagten ihn Kopfschmerzen. Mit allen möglichen Tricks und Suchbegriffen bemühte er sich, Informationen aus den Messreihen und Diagrammen zu saugen.

Im Laufe des Nachmittags konzentrierte er sich auf die Farbe Rot, die er als Signal und Warnung verstand. Er stieß auf Tabellen, in denen Messergebnisse der radioaktiven Isotope Cäsium und Strontium im Trinkwasser des Bunkers eingetragen waren. Langsam gewannen die nebulösen Daten Kontur. Gern hätte er Fakten im Internet recherchiert, doch das gab es nicht mehr. Ihm blieb nur der eingeschränkte Zugriff auf die Datenbank des Bunkers.

Unvermittelt brach Annabel ihr Schweigen und kam zu ihrem Vater herüber.

»Du, Paps«, fragte sie unbekümmert, »kannst du mir mal kurz bei Physik helfen? Ich komm mit dieser bekackten Wärmelehre einfach nicht klar.«

»Natürlich«, antwortete Oliver. Vorbehaltlos und ohne jeden Gram widmete er sich ihrer Frage. Während er ihr die Grundlagen von Schmelz- und Verdampfungswärme erklärte, kam sie ihm plötzlich wieder zerbrechlich und wehrlos in einer aus den Fugen geratenen Welt vor. Hinter ihrer großen, pinkfarbenen Lesebrille schauten ihre klaren Augen ihn an, unschuldig und ernst. Er hatte sich und Michelle geschworen, alles für sie zu tun, ihre gemeinsame Tochter immer zu beschützen. Er würde Gebirge für sie bezwingen, Meere überqueren und Wüsten durchwandern. Er würde für sie töten und sterben.

»Bis auf ein, zwei Kleinigkeiten hast du das hervorragend gelöst«, lobte er sie. »Kluges, fleißiges Mädchen!«

Annabels schönes Gesicht überzog ein Lächeln. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und arbeitete weiter.

Die Unterbrechung hatte Olivers Sinne geschärft. Er holte sich einen Schokoriegel aus der Küche, kochte für sich und Annabel Tee, und während er weiter das Datenmaterial sichtete, ging ihm allmählich ein Licht auf. Ein Licht, dessen Leuchtkraft ihn erschreckte.

Eine Messreihe und eine dazugehörige Grafik belegten eine gefährliche Zunahme von Cäsium und Strontium im Trinkwasser. Die Grenzwerte wurden bereits jetzt um ein Mehrfaches überschritten, und die Kurven zeigten steil nach oben. Turtschi hatte gewissenhafte Arbeit geleistet. Oliver wusste, dass Cäsium sich durch keine Technik aus Wasser herausfiltern ließ, leicht über den Darm aufgenommen wurde und sich dann im gesamten Körper ablagerte. Hier unten konnte man dem krebserregenden Gift nicht ausweichen. Und es gab keine Alternativen. Die Flaschenvorräte waren viel zu gering. Alle Bewohner des Bunkers würden verseucht werden. Eine Katastrophe rollte auf sie zu, von der Turtschi gewusst hatte.

Die Augen zu Schlitzen verengt starrte Oliver auf den Monitor. Plötzlich fühlte er sich wie in einem Panzer gefangen, das Atmen fiel ihm schwer. Voller Angst fragte er sich, wie viele der tödlichen Partikel bereits in seinen und Annabels Körper gelangt waren. Gab es im Bunker überhaupt noch eine Zukunft?

Er versuchte, kühlen Kopf zu bewahren, in Ruhe über das Desaster nachzudenken. Wenn Turtschi sein Wissen Wiegele vorgetragen hatte, ergab sich daraus kein nachvollziehbarer Grund, ihn umbringen zu lassen. Davon abgesehen, hielt Oliver den Diktator nicht für einen Mörder. Aber wenn ein Leben im Felsmassiv des Pischahorns unmöglich werden sollte, blieb den Bewohnern nur die Flucht. Die Flucht an die lebensfeindliche Oberfläche, wo ein nuklearer Winter unter zerstörerischer UV-Strahlung herrschte. Niemand vermochte zu sagen, wie viele totbringende Teilchen dort herumschwebten und im Eis gespeichert waren. Sie wussten ja nicht einmal, ob es in der näheren Umgebung noch Leben gab.

Oliver recherchierte in der Bunkerdatenbank die Wirkung radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper und wie sie gemessen wurde. Was er über die Strahlenwirkungen las, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn und ließ sein Herz rasen. Auf einmal kam er sich nicht mehr vor wie in einem unterirdischen Hotel, sondern wie in einem Gefängnis, in dem die Todesstrafe schleichend vollstreckt wurde – in kleinen, unsichtbaren Portionen.

Die Antwort auf die Frage, wie verseucht sie alle schon waren, lag im Schleusenbereich am Eingang des Bunkers. Dort stand der Ganzkörpermonitor, in dem sich jeder Bewohner zu Beginn seines Aufenthaltes einem Scan hatte unterziehen müssen. Oliver entschloss sich, mit dem Gerät die Radioaktivität seines Körpers so schnell wie möglich bestimmen zu lassen. Dazu brauchte er Haemmerlis Hilfe, denn ohne den Leiter der Sicherheitsbrigade war eine Umgehung der Überwachung unmöglich.

»Was ist los mit dir, Paps?« Annabel riss ihn aus seinen Gedanken. »Du guckst, als hätte dir Mister Doom ’ne schleimige Kröte in den Hals geschoben!«

»Nein, nein, alles okay. Mach dir keine Sorgen.«

Sie neigte den Kopf, sah ihn skeptisch an. »Glaubst du selber nicht, oder?«

Ihre analytische Gabe erschreckte Oliver zuweilen. »Ach«, winkte er ab, »ich hab nur keine Lust auf Tischtennis und einen Abend mit Wiegele. Der Typ ist immer so anstrengend.«

»Kann ich verstehen«, sagte sie und tat, als stecke sie sich den Finger in den Hals. »Der Typ ist gefühlsmagersüchtig und ekelhaft, wenn du mich fragst. Und megagruselig. Das Schwein zieht mich immer mit den Augen aus.«

»Ernsthaft? Du kannst mich jederzeit über das Walkie-Talkie rufen. Ich bin in zwei Minuten bei dir.« Für einen Augenblick senkte Oliver den Blick, weil er wusste, dass bei einem Übergriff das Funkgerät nutzlos sein würde.

»Danke, Paps«, sagte Annabel, »ich pass schon auf mich auf.«

Kapitel 4

Das beklemmende Gefühl hatte sich in Olivers Brust festgesetzt, eine Mischung aus Angst und Ohnmacht. Lustlos packte er seine Sporttasche und wunderte sich, dass das Tischtennismatch überhaupt stattfand. Angesichts der nächtlichen Ereignisse war ihm der Tod noch zu nah für einen entspannten Männerabend.

Seit ein paar Monaten hörten er und Wiegele nach dem Sport in dessen Luxusapartment gemeinsam Musik, eine neue Facette ihrer Bekanntschaft. Beide teilten die Leidenschaft für Rock und Singer-Songwriter. Oliver hatte Wiegele gezeigt, wie er bessere Hörerlebnisse erreicht, wenn er sich in einen entspannten Zustand versetzt und mit einschlägigen Tricks den Elektrosmog aus dem Raum verbannt. Seine fundierten Kenntnisse über die Funktion des Innenohres und der Psychoakustik hatten den Bunkerchef begeistert, der seitdem von einem Flow beim Musikhören schwärmte, einem Zustand, in dem die Zeit verging, ohne dass man es bemerkte. Die raffinierten Manipulationen an seiner Hi-Fi-Anlage wirkten wie Traditionelle Chinesische Medizin, behauptete er. Seinen privaten Zugang zu Wiegele wollte Oliver nutzen, um etwas über dessen mögliche Ziele zu erfahren.

Bevor er sich mit ihm traf, stattete er Haemmerli einen Besuch ab. Mit einem gewinnenden Lächeln und einem festen Händedruck empfing ihn der Freund. Er trug rote Shorts und ein ärmelloses schwarzes Hemd und trainierte gerade seinen drahtigen Körper. Der Boden war übersät mit Hanteln und Gewichten. An der Wand hing ein Waffenschrank. CDs lagen auf dem Tisch, es roch nach abgestandenem Essen und kaltem Kaffee. Das Zimmer wirkte wie eine derangierte Junggesellenbude.

»Na, mein Bester, es macht den Anschein, als wälzt du Probleme. Komm rein! Magst erst mal ein Glas Cüpli? Entspannt dich, oddr?«

»Nein, danke, sonst treffe ich gegen Wiegele keinen einzigen Ball.«

Haemmerli hatte drei Kisten Champagner in den Bunker gerettet, von denen sie sich zuweilen eine Flasche gönnten.

»Ich muss mit dir reden, Marius«, kam Oliver zur Sache und deutete mit einem Blick in Richtung Stereoanlage, ein Zeichen, laute Musik für ein vertrauliches Gespräch anzustellen.

Haemmerli rubbelte sich mit einem Handtuch seine kräftigen Schultern und das nadelscharfe Gesicht ab und drehte dann die Anlage auf. Krachend dröhnte der Motörhead-Song Eat The Rich durch den Raum, den er vor dem Krieg oft mit seiner Band gespielt hatte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen.

»Ich muss die Radioaktivität in meinem Körper messen«, erklärte Oliver.

»Oh, Gütiger, das ist schlecht, äußerst schlecht. Turtschis Stick, oddr?«

Oliver nickte.

»Das Wasser, oddr? Verdammt!« Haemmerli presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Einen Moment überlegte er und strich sich das dünne Haar zurück. »Ich deichsle das irgendwie. Ich hab meine Leute im Griff. Kannst du heute Nacht um zwei oben bei der Tresortür sein?«

»Ja, natürlich.«

Die Freunde lösten ihre Köpfe voneinander. Haemmerli schlug mit imaginären Drumsticks und stimmte in den röhrenden Gesang aus den Boxen ein: »Come on, baby, eat the rich, put the bite on the son of a bitch …«

In dem kleinen, luxuriös ausgestatteten Fitnessstudio stemmten Bewohner Hanteln, schwitzten an Kraftmaschinen, trainierten auf den Crosstrainern und verfolgten Oliver mit verstohlenen Blicken. Er kam sich vor, als wäre er mit einem Promi zum Lunch verabredet. Schutz vor der Neugier fand er im Tischtennisraum, in dem eine einzige Platte auf dem Parkett stand.

Oliver setzte sich auf die Designerbank aus Holz ohne Rückenlehne, blickte auf die gerahmten Portraits von Tennisstars an den Sichtbetonwänden und wartete. Während er stets auf Pünktlichkeit achtete, verspätete sich Wiegele häufig in unverschämter Weise. Das monotone Geräusch der Crosstrainer drang an sein Ohr. Je länger er saß, umso aufdringlicher wurde der Schweißgeruch.

Nach zehn Minuten stand er auf, ging zur Getränkebox und nahm sich ein stilles Wasser. Dabei kam ihm die Idee, drei garantiert cäsiumfreie Flaschen Perrier für Annabel zu hamstern. Wie ein Dieb ließ er sie in seiner Tasche verschwinden.

Nach einer kleinen Ewigkeit, in der er fast eingenickt wäre, erschien Wiegele. Ruhig und selbstsicher betrat er den Raum. Er trug knielange, schwarze Shorts und ein ärmelloses, grellrotes Hemd. Noch im Gehen streckte er Oliver die Hand zum Gruß entgegen.

»Schön, dich zu sehen. Wie geht’s?« Unangenehm lange forschte Wiegele in Olivers Augen. Dann ließ er seine Sporttasche so auf die Bank fallen, dass sie mehr als die Hälfte des Platzes beanspruchte.

»Geht so. Und dir?«

»Ach, ich hab einen beschissenen Kater, Mann. Hab schon alle möglichen Vitaminpillen eingeworfen und den halben Tag trainiert, aber dagegen hilft nur ’ne neue Dröhnung. Freu mich nachher auf die Bar.«

»Nein, das meinte ich eigentlich nicht«, entgegnete Oliver. »Eher Turtschis Tod.«

»Ja, Mann, tragisch.«

Für den Bruchteil einer Sekunde kam es Oliver vor, als würde Wiegele lächeln. Die Kälte seiner Augen erinnerte ihn an frühe Versuche mit künstlicher Intelligenz.

»Sollten wir unser Match nicht besser verschieben? Ich meine, dass …«

»Komm, lass uns das abhaken«, unterbrach Wiegele ihn und berührte Oliver am Arm. Nach einer Pause streckte er den Zeigefinger aus und wies auf die Decke. »Kannst du mir sagen, wie viele da oben umgekommen sind?«

»Keine Ahnung. Ein paar Milliarden?«

»Ein paar Milliarden, und das Leben muss trotzdem weitergehen. Nun stell dir mal vor, wir würden für jeden dieser bedauernswerten Toten unseren Sport um einen Tag verschieben.«

»Du weißt schon, wie ich das meine«, sagte Oliver und rieb sich den Nacken.

»Schon gut, du hast ja recht. Wir heben nachher ein Glas auf den guten alten Turtschi und betäuben den ganzen Scheiß einfach.« Einen Moment strich Wiegele sich mit dem Handrücken über den Bart. Dann packte er seine Tischtenniskelle und chinesische Bälle aus und stellte sich ans Ende der Platte. »Aber jetzt lass uns erst mal den Ball prügeln, okay?«

Wenn Oliver sich auf ein Match konzentrierte, war er der bessere Spieler. Er beherrschte druckvolle Topspins, blockte aggressiv und übernahm die Initiative. Dennoch lag er in der Bilanz hinten, weil er sich ab und zu bewusst schlagen ließ, um Wutanfälle seines Gegners zu vermeiden. Bei einem dieser exzessiven Ausbrüche hätte er beinahe eine Kelle an den Kopf bekommen, die Wiegele durch den Raum geschmissen hatte.

Das Spiel ging an ihm vorbei, von zwei Partien gewann er nicht einen Satz. Ständig schwirrten Gedanken um Cäsium-137 durch sein Hirn, rankten sich um die Arten von Tumoren, die die Strahlung auslösen konnte. Seine Professorin mit ihrem profunden Wissen hätte ihm das sicher verständlich dargelegt. Er vermisste Michelle schmerzlich und verfluchte es, in dieser künstlichen Höhle auf sich allein gestellt zu sein. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr schnürte es ihm wieder die Brust zu. Keuchend fürchtete er, in einem Anfall von Klaustrophobie aus dem Raum stürzen zu müssen.

Erst der Alkohol in der Lounge löste seine Anspannung. Er setzte sich mit Wiegele auf das weiße Sofa, wo sie klirrend ihre Bierflaschen aneinanderschlugen. In der Ecke flackerte ein künstlicher Kamin, und über der Bar spendeten kegelförmige Metalllampen gedämpftes Licht.

»Alter, schön, mit dir hier zu sitzen, ein paar Bier zu trinken und einfach zu quatschen«, sagte Wiegele, dessen V-förmiger Hemdausschnitt den Blick auf seine nackte, rasierte Brust freigab. »Sag mal, Olli, was hast du eigentlich von unserem Wasserprofessor gehalten? Kanntet ihr euch? Also, ich bin aus dem Typen nie richtig schlau geworden. Immer dieses verworrene Gequatsche.«

»Ja, Turtschi war ein Einzelgänger. Ich hab ein-, zweimal mit ihm geredet, aber ich könnte dir nicht mehr sagen, worüber. War wirklich Kauderwelsch.« Oliver bemühte sich, den prüfenden Blicken Wiegeles standzuhalten.

»Merkwürdig, dass ihr nie über eure Arbeit gesprochen habt. Ich meine, Wasser und Landwirtschaft, das gehört doch irgendwie zusammen.«

»Nein, wie gesagt. Und wenn, hätte ich ihn wahrscheinlich nicht verstanden.«

»Schon interessant, wie ein Mensch so abstrus und naiv sein kann. Der hat mich doch damals ernsthaft gefragt, ob im Arbeitsvertrag eine Probezeit festgelegt wird. Und sollte der Krieg tatsächlich ausbrechen, was passieren würde, wenn er sie nicht bestehe. Solche Sachen. Sei’s drum, ich hab ihn trotzdem eingestellt, und er hat ja auch geliefert – leckeres, sauberes Wasser.« Wiegele grinste ironisch und leerte sein Bier. »Meine Güte, die besten Jahre meines Lebens habe ich als Wohltäter vertan. Turtschis Job macht jetzt übrigens Norbert Wiemers. Der leitet die Ingenieure an, dann klappt das schon.«

Wiemers war, wie Oliver wusste, einer der sechs undurchsichtigen Männer aus dem Konsortium, die im Bunker das Sagen hatten. Vor dem Krieg hatte ihm eine Baumarktkette gehört, dazu hielt er ein beachtliches Aktienpaket an der McPrince International Group.

»Was qualifiziert ihn denn für den Job, Fabio? Wir reden hier immerhin nicht vom Befüllen eines Swimmingpools. Ich denke, wer …«

»Warum fragst du?«, unterbrach Wiegele ihn barsch. »Der packt das schon, entspann dich. Denkst du, ich lass da einen Dilettanten ran? Die Ingenieure sind in Ordnung. Einer hat sogar Verfahrenstechnik studiert.«

Oliver drückte seine linke Faust in das Sofa. »Okay, wenn du meinst, der packt das …«

»Na klar. Wir haben so viel Wasser hier unten, die können das gar nicht versemmeln. Die meisten Bunker haben einen Mangel. Wir dagegen halten das hier jahrelang aus. Wir müssen eher aufpassen, nicht zu ersaufen.«

Wiegele öffnete eine neue Flasche Bier und fixierte Oliver mit halbgeschlossenen Lidern. »Komm, wir heben jetzt einen auf unseren Superingenieur! Rest in peace, Turtschi, alter Junge!«

Sie stießen an, und Wiegele sah zur Decke, als proste er dem Geist des Verstorbenen zu.

»Er muss sehr einsam gewesen sein«, stellte Oliver nachdenklich fest.

An der Bar hatten sich zwei attraktive Frauen auf ein Glas Wein getroffen. Oliver kannte sie flüchtig.

»Am meisten fehlen mir hier unten die Clubs«, tuschelte Wiegele und beobachtete die Frauen.

»Okay«, sagte Oliver und hob abwehrend die Hände, »nicht schon wieder diese Storys!«

»Sag bloß, bei dir regt sich nichts, wenn das Büfett aufgefahren wird.«

Bei jeder Gelegenheit erzählte Wiegele von seinen Exzessen auf Geschäftsreisen, davon, wie er in Saunaclubs Sex mit mehreren Frauen gehabt, sich selbst dabei gefilmt, Pornos nachgestellt hatte. Und natürlich, dass er auf sexuellem Gebiet unschlagbar war. Er stand auf junge Frauen, die sich vor dem Sex auf jede bekannte sexuell übertragbare Krankheit testen lassen mussten. Während er sich mit ihnen vergnügte, wartete seine Familie in der Villa am Zürichsee. Auch hier im Bunker schmückte Wiegele sich mit seinen drei Kindern und seiner jungen Frau – und betrog sie regelmäßig. Genervt hörte Oliver sich die Story einer Orgie in Berlin einen Monat vor Kriegsbeginn an, bis es ihm gelang, Wiegele in seine Höhle zu lotsen. Sie war ein vom Rest der Wohnung abgetrenntes, separat zugängliches Zimmer, in dem sich ein riesiges Bett, zwei Ledersessel, ein Schreibtisch, die Hi-Fi-Anlage und eine Bar befanden.

Sie machten es sich in den Sesseln bequem, hörten Billy Joel und die Beatles und fachsimpelten über die Aufnahmen, Toningenieure, Nachhall und andere Fragen rund um den Klang. Wiegele goss sich reichlich Cognac ein und trank sich allmählich in einen Rausch. Je weiter der Abend fortschritt, umso leiser wurde die Musik aus den mächtigen Boxen und umso vertraulicher ihr Gespräch.

»Warum fehlt dir eigentlich der linke kleine Finger, Fabio?«

Die Frage hatte Oliver bislang nie zu stellen gewagt.

»Ach, die öde Story. Du weißt doch, Terroristen haben mich als Vierjährigen in ein Loch in den Alpen verschleppt und wollten von meinem Alten fünf Millionen erpressen. Der hat nicht gleich gespurt, und da haben sie … Schnipp!«

Sein Vater war Vorstandsvorsitzender eines Mischkonzerns im Familienbesitz gewesen. Die Friedrich Wiegele KG war im neunzehnten Jahrhundert um Öl- und Getreidemühlen sowie einen Holzhandel herum entstanden und hatte sich im zwanzigsten Jahrhundert zu einem Hochtechnologiekonzern entwickelt. Zuletzt hatte sie über 10000 Mitarbeiter beschäftigt.

»Ich erinnere mich nur noch an die verfickte Kälte in dem Loch«, fuhr Wiegele fort. »Seitdem hatte mein Vater … wie heißt das doch gleich? Paranoia. Er hat damals zu meinem Schutz sogar eine Sicherheitsfirma engagiert. Rate mal, welche!«

»Die MPIG?«

»Bingo! Die verbarrikadierten unser Haus mit tonnenschweren, magnetgesicherten Türen und gepanzerten Scheiben, auch das auf Teneriffa und das an der Côte d’Azur. Mein Vater hätte zum Schutz meines Lebens oder der Ehre seiner Familie getötet. Oder töten lassen. Auch wenn er eines der größten Arschlöcher der Welt ist, geht es mir genauso. Irgendwann gewöhnt man sich an die Sicherheitstypen, die ständig um einen herumlungern. Aber das bringt ein luxuriöses Leben nun mal mit sich. Und ich liebe dieses Leben.«

»Mit dem ganzen Aufwand könnte ich nicht leben«, meinte Oliver und nippte an seinem Cognac.

»Für mich wäre es eher der Horror, zur grauen Masse zu gehören, wie die meisten hier.« Wiegele spreizte die Beine und hob, während er weitersprach, den Daumen. »Um im Leben zu gewinnen, muss man eine Persönlichkeit sein, ein Löwe. Nicht der größte der Welt, aber ein Löwe.«

Unangenehm berührt, schluckte Oliver. »Und wie bist du zum Löwen geworden?«

Lässig goss Wiegele Cognac nach. »Eigentlich wollte ich Medizin oder Archäologie studieren, aber mein Vater zwang mich zu Wirtschaftswissenschaften. So stieg ich rasch zum Schweizer Chef von McPrince auf. Ich lernte, dass Geld alle Probleme löst, und alles andere Quatsch gewesen wäre. Dafür hab ich gar nicht die Geduld. Ich ließ also die Puppen tanzen und meißelte den verdammten Bunker in den Berg. Und jetzt … jetzt habe ich den Hut für 300 Leute auf.«

Seine Augen wurden schmal, und um seinen Mund spielte ein Lächeln. Er kippte den Cognac hinunter wie Limonade und begann zu lallen. »Mein Gott, ist das ein geiler Song.«

»Ja, James Taylors Akustikgitarre ist unschlagbar.« Oliver fühlte sich von Wiegeles Lächeln, das wie eine Drohung zwischen seinem Vollbart hing, angewidert. Er spürte: Was immer Wiegele umtrieb, bei der Verfolgung seiner Ziele war er fähig, zu allen Mitteln zu greifen, ohne einen Anflug von Schuldbewusstsein.

Langsam ließ Wiegele den Kopf nach hinten sinken, streichelte sich mit der Hand über die Stirn und schloss die Augen. Als hätte er Olivers Gedanken registriert, nuschelte er: »Aber jetzt zwitscher mal ab, Kumpel, und träum was Hübsches. Unser Gespräch wird langsam fade.«