Der wilde Duft der Akazie - Robyn Lee Burrows - E-Book

Der wilde Duft der Akazie E-Book

Robyn Lee Burrows

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit, ein lang gehütetes Geheimnis und eine wahre Liebe

Callies Leben wird mit dem geplanten Verkauf ihres Hauses auf den Kopf gestellt. Seit Generationen ist es im Besitz der Familie. Zudem löst sich gerade Callies Beziehung in Nichts auf. Doch als plötzlich ein Fremder auftaucht und merkwürdige Fragen stellt, muss sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben und entdeckt lang gehütete Geheimnisse. Zusammen mit dem Fremden, Michael, taucht Callie in die Liebesgeschichte zwischen ihrer Großtante Hannah und dem jungen Schmied Ben ein: eine wahre Liebe - schön und traurig zugleich. Doch was ist damals mit den beiden passiert? Und was hat ihre Geschichte mit Michael und Callie zu tun?

Ein romantischer und bewegender Roman über Liebe, Verlust und neue Hoffnung - der sich über zwei Generationen entspinnt.

Weitere Romane von Robyn Lee Burrows bei beHEARTBEAT:

Der dunkle Fluss der Sehnsucht. Wind über dem Fluss. Weil die Hoffnung nie versiegt. Weil nur die Liebe wirklich zählt.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


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Seitenzahl: 864

Veröffentlichungsjahr: 2020

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INHALT

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Epilog

WEITERE TITEL DER AUTORIN

Der dunkle Fluss der Sehnsucht

Wind über dem Fluss

Die Geschichte der Familie Hall:

Weil die Hoffnung nie versiegt

Weil nur die Liebe wirklich zählt

ÜBER DIESES BUCH

Eine Reise in die Vergangenheit, ein lang gehütetes Geheimnis und eine wahre Liebe

Callies Leben wird mit dem geplanten Verkauf ihres Hauses auf den Kopf gestellt. Seit Generationen ist es im Besitz der Familie. Zudem löst sich gerade Callies Beziehung in Nichts auf. Doch als plötzlich ein Fremder auftaucht und merkwürdige Fragen stellt, muss sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben und entdeckt lang gehütete Geheimnisse. Zusammen mit dem Fremden, Michael, taucht Callie in die Liebesgeschichte zwischen ihrer Großtante Hannah und dem jungen Schmied Ben ein: eine wahre Liebe – schön und traurig zugleich. Doch was ist damals mit den beiden passiert? Und was hat ihre Geschichte mit Michael und Callie zu tun?

Ein romantischer und bewegender Roman über Liebe, Verlust und neue Hoffnung – der sich über zwei Generationen entspinnt.

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

ÜBER DIE AUTORIN

Robyn Lee Burrows wurde in New South Wales, an der Ostküste Australiens, geboren und lebt nun im Hinterland der Gold Coast in Queensland. Bei beHEARTBEAT sind fünf Romane der Australierin lieferbar: Der dunkle Fluss der Sehnsucht, Der wilde Duft der Akazie, Wind über dem Fluss und die Saga um die Familie Hall. Robyn Lee Burrows ist verheiratet, hat drei Söhne, fünf Enkelkinder und diverse Haustiere. Besuchen Sie die Homepage der Autorin unter http://www.robynleeburrows.com.

Robyn Lee Burrows

Der wilde Duft der Akazie

Aus dem australischen Englisch von Susanne Kregeloh

Digitale Erstausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2000 by Robyn Lee Burrows

Titel der australischen Originalausgabe: »When wattles bloom«

Published by Arrangement with Robyn Lee Burrows

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2007/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © pkujiahe / Getty Images, © alexandr_1958 / Getty Images, © HPS-Digitalstudio / Getty Images, © thehague / Getty Images, © Zerbor / Getty Images, © loeskieboom / Getty Images, © Maria Jeffs / Getty Images

E-Book-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8546-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meine GroßmutterElizabeth Annie Barton(geb. McLaughlin)1894 –1972

Akazie f., Bezeichnung für über 800 Arten der Akazie, die in Australien beheimatet ist. Immergrün. Blüht vom Spätwinter bis zum Frühling mit gelben Blüten, die zu kugelförmigen Köpfchen angeordnet sind. Aus den Blüten entstehen die schotenähnlichen Früchte, die die Samen enthalten. In den Anfängen der Kolonialzeit errichtete man die Wände der Häuser aus einem Flechtwerk aus Zweigen des Akazienbaums, das mit Lehm versiegelt wurde. Dieses Verfahren ist der Ursprung des Ausdrucks »wattle and daub«. Die Goldakazie (Acacia pycnantha) ist das florale nationale Symbol Australiens.

KAPITEL 1

Callie stand auf der hinteren Veranda und sah auf den Garten. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und die Tränen, die in ihren Augen brannten, verschleierten ihren Blick auf die üppig wachsenden, sonnenbeschienenen Sträucher. Ein bleiernes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus und setzte sich in ihrem Magen fest.

Das Haus verkaufen?

Die Worte ihrer Mutter wirbelten wie verrückt durch Callies Kopf, vermischten sich mit einer Abfolge willkürlicher, Jahre zurückliegender Bilder: Rufus, der Irische Setter, der einem geworfenen Stock hinterherjagte und seine steifen Beine dabei auf seltsam gestelzte Art bewegte; ihr Vater Alex, der den alten Rasenmäher über die Wiese schob, während ihre Mutter sich nach der Wäscheleine reckte, um die Bettlaken festzuklammern. Die Bilder schienen so real, dass Callie meinte, das frisch gemähte Gras zu riechen, zu sehen, wie sich die weißen Laken im Wind aufblähten und deren Flattern zu hören.

Das Haus verkaufen?

Callie schüttelte kaum merklich den Kopf und verscheuchte die Erinnerungen. Zurück in die Vergangenheit, wohin sie gehörten, in eine weit zurückliegende Kindheit, in der die Träume noch bunt und strahlend gewesen waren.

Das Haus in der Brunswick Street 27 war um 1900 von Callies Ururgroßeltern John und Elizabeth gebaut worden, und deren drei Kinder waren die erste Generation der Cordukes gewesen, die dort aufwuchsen. Thomas, der jüngere Sohn, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Hannah, Thomas’ Zwillingsschwester und die einzige Tochter, hatte einen Viehzüchter von der Westküste geheiratet. Nur der älteste Sohn David, Callies Urgroßvater, war hier geblieben. Nach Davids Tod war der Besitz an dessen Sohn Davie übergegangen, der ihn wiederum seinem einzigen Sohn Alex hinterlassen hatte, Callies Vater.

Callies Gedanken wanderten zurück zu ihrem Vater. Seit dessen Tod teilte sich Bonnie, Callies Mutter, das Haus mit Alex’ unverheiratet gebliebener Schwester Freya.

»Wozu gutes Geld ausgeben und zwei Haushalte führen«, hatte Bonnie zu ihrer Schwägerin gesagt, nachdem ihr Kummer abgeflaut war und ihr praktisches Wesen einmal mehr die Oberhand gewonnen hatte. »Ich sitze hier ganz allein in diesem großen alten Haus herum, dabei ist Platz für eine ganze Armee.«

Freya Corduke, der finanzielle Engpässe nicht fremd waren, hatte dem Vorschlag bereitwillig zugestimmt.

Das ist vor fast zehn Jahren gewesen, stellte Callie jetzt mit einigem Erstaunen fest.

Niedergeschlagen stieg sie die Treppenstufen hinunter und ging durch den Garten. Obwohl die Sonne schien und die Luft warm war, verspürte sie ein leichtes Frösteln und schlang die Arme um sich. Ein riesiger Maulbeerbaum beschattete den Hof. Die Sonnenstrahlen tanzten durch das Laubdach des riesigen Maulbeerbaums, der im Hof stand und dessen Blätter ein gedämpftes grünes Licht und eine Spur von Kühle spendeten. Jenseits des hinteren Zauns schlängelte sich träge ein kleiner Bach durch sein Bett, ehe er sich über eine Schwelle aus Steinen in einen großen, von Schwertlilien gesäumten Teich ergoss.

Der Garten war Freyas Stolz und Freude. Er wirkte einladend, mit seiner wunderbaren Mischung aus einheimischen Gewächsen und traditionellen englischen Pflanzen: Rosen, Campherlorbeer und Grevilleen, Myrten und Bauhinien und Koniferen, eine mächtige Palme, Bougainvilleen, die sich über Beeten mit Narzissen rankten, Stiefmütterchen und Schmucklilien. Am meisten jedoch liebte Callie die Akazien, die entlang des hinteren Zaunes verschwenderisch wuchsen. Seit jenen letzten kalten Winterwochen vor einigen Monaten trugen sie keine Blüten mehr, und jetzt, Mitte September, schienen die hellen Blätter mit den grünen Spitzen ein doch eher farbloser Ersatz für die goldenen pelzigen Blütenbälle zu sein.

Das Haus verkaufen?

Mit einem tiefen Seufzer wandte sich Callie um und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Geräumig und von ansprechender Architektur war das Haus typisch für seine Ära. Genau die Art von Haus, für das die Leute zurzeit übermäßig hohe Preise zahlen, dachte sie sarkastisch. Bonnie würde daher kein Problem haben, einen Käufer zu finden.

Der Zuschnitt der Räume war Callie so vertraut wie ihr Herzschlag. An den Vordereingang schloss sich ein großzügiger, zentraler Korridor an, von dem die Haupträume abgingen: drei große Schlafzimmer, ein riesiges Wohnzimmer, das Esszimmer und die Küche, die noch immer den alten AGA-Herd beherbergte, obwohl Bonnie ihn nur noch selten benutzte. Sie zog den modernen elektrischen Herd mit dem Backofen vor, auf dessen Kauf Alex vor Jahren bestanden hatte.

Callies Ururgroßvater John Corduke hatte als Direktor die Bank der Stadt geleitet und bei der Innenausstattung des Hauses keine Kosten gescheut. Die Zimmer hatten hohe Decken, deren Randleisten in einem Muster aus Blüten- und Blattornamenten schwelgten. Lampen aus Messing hingen aus passenden Deckenrosetten herab, und die Wände bestanden noch aus dem ursprünglichen Gips, der oberhalb der taillenhohen Wandverkleidung aus Holz begann. Irgendwann – Callies Erinnerung reichte nicht so weit zurück – war die hintere Veranda verglast worden, um so einen Wintergarten zu erhalten, während die Veranden vorne und an den Seiten sich mit einer Vielfalt an Kletterpflanzen schmückten: Jasmin und Geißblatt, und, zu der Vorderseite, eine tiefrot blühende Bougainvillea, die immer von einer Fülle von Blüten bedeckt zu sein schien, ungeachtet der Jahreszeit.

Das Haus verkaufen?

Traurigkeit legte sich wie ein Mantel um sie, als sie durch den Garten zurück auf das Haus zuging. Sie lag in ihrer Brust wie eine schwere drückende Last, die sich zu einem Übelkeit erregenden Knoten zusammenballte, der ihr in die Kehle stieg. Wie könnte sie es ertragen, diesen Ort zu verlieren? Niemals wieder durch den Garten zu gehen? Niemals wieder den Duft der Rosen zu riechen?

Ihre Mutter wartete am Fuß der Treppe auf sie. »Ich weiß, dass du schockiert bist, Liebes«, stellte Bonnie ruhig fest und legte den Arm um Callies Schulter, »und es tut mir leid, aufrichtig leid. Wenn es einen Weg gäbe, dass wir bleiben könnten, würden wir es tun.«

Callie wandte den Kopf ab und starrte angestrengt in den Garten. Noch immer saß dieses bleierne Gefühl in ihrer Brust. Sie fragte sich, ob ihre Mutter es für seltsam halten würde, würde sie jetzt weinen. Du bist zweiunddreißig, ermahnte sie sich. Es ist dumm, wegen eines alten Hauses sentimental zu werden. Doch dieser Ort hatte etwas …

Bonnie lächelte ihre Tochter mitfühlend an. »Es ist viel zu groß für uns, Liebes. Wir werden älter, Freya und ich. Wir können das Haus nicht mehr so instand halten, wie es nötig wäre. Und der Rasen, der Garten. Freya kann sich nicht mehr so gut bücken. Die Arthritis …«

Es stimmt, dachte Callie und versuchte, die Argumente ihrer Mutter zu verstehen. Bonnies Gesicht schien faltiger als gewöhnlich, fiel ihr nun auf, und das Haar lag silbergrau um ihre Schläfen. Und Freya, der Callie vorhin begegnet war, als sie über die von Bougainvilleen überrankte Vorderveranda das Haus betreten hatte, war kaum fähig gewesen, die Gartenschere in ihren von der Krankheit gezeichneten Händen zu halten.

»Und wo wollt ihr hinziehen?«, fragte sie bedrückt. Sie gab sich Mühe, die Verzweiflung aus ihrer Stimme zu verbannen, doch es wollte ihr nicht gelingen.

»Wir dachten an eine Wohnung.«

»Eine Wohnung! Ihr würdet euch niemals darin wohlfühlen!«

»Nun, eigentlich ist es keine Wohnung, sondern eines von diesen Stadthäusern. Unten an der Bucht sind sie dabei, welche zu bauen. Zwei Schlafzimmer mit einem schönen Blick über das Wasser und ein kleiner Garten. Wir dürften einen guten Preis für das Haus bekommen und noch etwas übrig behalten für eine Reise und vielleicht ein paar neue Möbel. Wir dachten, dass wir das meiste von dem alten Zeug mit dem Haus verkaufen.«

Callie dachte an Davie Cordukes Schreibtisch, der in der Ecke des Esszimmers stand, und sie zuckte unwillkürlich zusammen, als weitere Erinnerungen aus irgendeinem verborgenen Winkel ihres Bewusstseins aufblitzten, aneinandergereiht wie die Bilder alter Schwarzweißfilme im Kino. Briefumschläge, die auf dunklem Mahagoni liegen, weißes Löschpapier, Federschale und Tintenfass, das Gesicht ihres Großvaters – ein Bild tiefer Konzentration, während seine knotigen Hände sich mühten, vollkommene gestochene Buchstaben zu formen. Hände, die so steif und geschwollen gewesen waren wie die ihrer Tante Freya.

Ein Mischung aus Trauer und Wut erfüllte sie. Worte des Protestes strömten aus ihrem Mund, und sie war machtlos, sie aufzuhalten. »Ich verstehe nicht, wie du es ertragen kannst, dieses Haus aufzugeben. Es ist seit so langer Zeit in der Familie!« Sie verstummte, da ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf geschossen war. Wie der Griff nach einem Strohhalm, dachte sie sarkastisch. »Wenn der Garten das einzige Problem ist, dann werde ich jemanden einstellen, der sich um den Garten kümmert.«

»Es ist nicht nur das Geld, Liebes. Es ist das Haus selbst; es verlangt nach jüngeren Leuten.« Bonnie wandte sich um und stieg die Treppe hinauf.

»Jüngere Leute?«, fragte Callie und sah ihrer Mutter hinterher.

»Was dieses Haus braucht«, erwiderte Bonnie ernst, »ist eine Schar Kinder, die durch die Zimmer tobt.«

Michael Paterson verlangsamte die Fahrt, als er an die T-förmige Kreuzung kam. »Brunswick Street« stand auf dem Schild, das nach links wies. Er bog in die Straße ein und schaute sich aufmerksam um.

Es war eine dieser breiten, schnurgeraden, von Bäumen gesäumten Straßen. Flammenbäume warfen gefleckte Schatten auf die grasbewachsenen, akkurat geschnittenen Seitenflächen. Nur die Mitte der Straße war geteert und durch einen schmalen Kiesstreifen vom Rasen getrennt. Die Häuser lagen ein Stück weit von der Straße zurück, zum Teil verborgen hinter dichten Mauern aus Büschen.

Er bremste und sah auf den Zettel, der auf dem Beifahrersitz lag. Nummer siebenundzwanzig, entzifferte er seine unordentliche Handschrift. Und dort war es, die Ziffern standen groß und weiß auf dem dunkelgrünen Briefkasten.

Michael hielt den Wagen an und nahm den Fuß vom Gas, ehe er die Zündung ausstellte. Man erwartete ihn, da er am vergangenen Wochenende angerufen hatte. Die Frau, Bonnie, die am Telefon gewesen war, hatte freundlich geklungen, wenn auch merklich überrascht. »Wenn ich Sie aufsuchen könnte …«, hatte er hinzugefügt und war damit auf den Punkt seines Anliegens gekommen.

»Nun«, hatte sie erwidert, »vielleicht sollten Sie wirklich kommen. Das alles klingt sehr interessant, aber ich bin sicher, dass ich keine große Hilfe für Sie sein werde.«

Sie hatten dann den Termin vereinbart. Sonnabend. Um zwölf Uhr.

Michael sah auf seine Uhr, deren Zeiger sich unaufhaltsam auf die verabredete Zeit vorgeschoben hatten, wie er jetzt feststellte. Er nahm seine Brieftasche, öffnete die Tür und schwang seine langen Beine aus dem Wagen.

Das Haus lag still schlafend im Sonnenschein, verborgen hinter einem Meer aus Bleiwurz, dessen Blüten größtenteils schon abgefallen waren und einen mauvefarbenen Teppich geschaffen hatten. Auf einem gepflasterten Fußweg ging er auf das Haus zu, über die große Veranda und blieb vor der Eingangstür stehen. Die Farbe schälte sich in schmalen Streifen davon ab, obwohl das Holz darunter unversehrt schien. Es gab einen Türklopfer aus Messing und eine Glocke an der Wand neben der Tür. Michael entschied sich für die Glocke und konnte deren melodische Töne durch das Haus hallen hören. Kurz darauf folgte der Klang von Schritten, und dann wurde die Tür geöffnet.

»Bonnie?«, fragte er und versuchte, die junge Frau, die vor ihm stand, mit der Stimme am Telefon in Einklang zu bringen. Irgendwie hatte die Stimme viel älter geklungen.

»Nein, ich bin Bonnies Tochter Callie.«

In diesem Moment tauchte eine Frau hinter ihr auf. Sie war älter und untersetzt und hatte kurzes graues lockiges Haar. »Ich bin Bonnie.«

Michael streckte ihr die Hand hin. »Michael Paterson. Ich hatte vor einer Woche angerufen.«

Bonnie starrte ihn an, einen nichtssagenden Ausdruck auf dem Gesicht. Plötzlich veränderte sich ihre Miene. Sie strich sich mit der Hand durch das Haar und lächelte angespannt, während sie ihre Tochter ansah. »Ach herrje, bei all dem Gerede über den Hausverkauf hatte ich das ganz vergessen.«

Er hatte nicht bedacht, dass Bonnie nicht dasselbe Interesse wie er haben könnte. Am Telefon hatte sie sich ziemlich neugierig angehört. Eine Welle der Enttäuschung dämpfte seine Begeisterung. »Ich kann ein andermal wiederkommen, wenn es jetzt nicht passt.«

Bonnie lachte und winkte ihn herein. »Du meine Güte, nein. Freya und ich wollten gerade essen. Bleibst du, Callie?«

Callie sah auf die Uhr und lächelte. »Sehr gern. Stuart wird mich nicht vor eins abholen.«

Das Mittagessen bestand aus einer Auswahl an Sandwiches – Schinken und Lachs und Hühnchen, garniert mit Petersilie –, die auf dem großen Mahagoni-Tisch im Esszimmer serviert wurde. Die Tischdecke war steif, wahrscheinlich gestärkt, und war an den Rändern mit einem zarten Muster bestickt. Vermutlich ein Familienerbstück, dachte Michael und fragte sich unwillkürlich nach dem Alter der Decke. Er kam sich linkisch vor, als er Platz nahm und feststellte, dass er kaum Appetit hatte.

»Nun, Michael, dann erzählen Sie uns doch einmal, warum Sie hier sind«, forderte Freya ihn auf, die Frau, die Bonnie als ihre Schwägerin vorgestellt hatte, während sie sich von dem Tablett mit den Sandwiches bediente.

Die drei Frauen sahen ihn groß und fragend an und warteten auf seine Erklärung. Doch er hatte keine. Keine wirklich überzeugende jedenfalls. Der Anlass dieses Besuchs war eher ein … Ja, was denn eigentlich?, fragte er sich, und für einen Augenblick fehlten ihm die Worte. Ein Zufall? Eine Kleinigkeit, die er vor zwei Wochen entdeckt hatte?

»Vor ungefähr vierzehn Tagen habe ich eine Kiste mit Dingen durchgesehen, die meinem Vater gehört haben. Es waren Dinge, die er aus seiner Kindheit aufbewahrt hatte. Sie wissen schon … das erste Paar Schuhe, ein Taufkleid, die Taufurkunde, solche Dinge eben.« Michael kramte in seiner Tasche, und seine Hand schloss sich um ein Stück kaltes Metall. Er zog es hervor und legte es auf den Tisch. »Dies hier habe ich zwischen den Fransen einer Babydecke gefunden.«

»Was ist das?« Callie griff nach dem j-förmigen Gegenstand und hielt ihn ins Licht.

»Es ist ein Hufeisen«, erklärte Michael. »Oder genauer gesagt, eine Hälfte davon.«

»Merkwürdige Farbe für ein Hufeisen«, stellte Freya mürrisch fest.

»Es ist versilbert. Schauen Sie sich die Bruchstelle an. Darunter können Sie das ursprüngliche Material durchschimmern sehen.«

»Ich weiß nicht, was ein altes Hufeisen mit uns oder unserer Familie zu tun haben soll«, meinte Bonnie, die ein wenig ratlos aussah.

Michael beugte sich über den Tisch und legte die Hand auf das Metall. »Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie den Namen ›Ben‹ oben im Bogen eingraviert finden. Und es gibt noch eine weitere Gravur, entlang der Seite. Sie ist kaum leserlich, aber sie sieht aus wie ›immer lieben‹. Und auf der Rückseite sind noch die Worte ›Hannah Elizabeth Corduke, Brunswick Street, 1915‹ zu erkennen.«

Bonnie nahm die Hufeisenhälfte und betrachtete sie eingehend. »Das ist ganz sicher Großtante Hannah«, sagte sie und strich mit einem Finger über die Worte. »Wir sind die einzigen Cordukes, die jemals hier in der Gegend gelebt haben.«

»Und wer ist Ben?«, fragte Callie, auf deren Gesicht ein Ausdruck großer Überraschung lag.

Bonnie zuckte die Schultern und legte das Hufeisen auf den Tisch zurück. »Ich habe keine Ahnung.«

»Was veranlasst Sie zu glauben, es könnte irgendeine Verbindung zwischen dem da«, Freya machte eine Pause, während sie auf das Hufeisen deutete, »und Ihnen geben, Michael?« Ihr Blick war offen, ihre Frage direkt. »Wie ist Ihr Vater zu diesem Hufeisen gekommen? Kann er Ihnen nicht bei der Beantwortung Ihrer Frage helfen?«

»Nun, um ehrlich zu sein, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es in den Besitz meines Vaters gelangt ist. Und was das Fragen angeht – er ist seit fast zwei Jahren tot.«

Es war nicht seine Absicht gewesen, seine Worte so harsch klingen zu lassen, aber die ältere Frau und ihr schroffer herablassender Ton hatten ihm das Gefühl gegeben, sich verteidigen zu müssen.

Freya wandte den Blick ab. »Das tut mir leid«, murmelte sie, offensichtlich verlegen.

Michael berührte kurz ihre Hand und bemerkte die geschwollenen Fingergelenke. Sie lächelte ihn ein wenig schief an. »Das muss es nicht. Sie kannten ihn ja nicht.«

Freya stieß ein lautes missbilligendes Schnauben aus und nahm sich ein weiteres Sandwich.

Michael legte einen Finger auf das Hufeisen und brachte das Gespräch auf den Grund seines Besuches zurück. »Ich war überrascht, als ich es gefunden habe, das ist alles«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Und vermutlich war meine Neugier einfach zu stark. Wie ist es unter die Sachen meines Vaters geraten? Welche mögliche Verbindung könnte meine Familie zu Ihrer haben? Ich hatte gehofft, jemand von Ihnen könnte ein wenig Licht in das Dunkel bringen.«

»Vielleicht können wir das, wenn Sie uns ein bisschen über Ihre Familie erzählen«, schlug Bonnie vor. »Stammt sie hier aus der Gegend?«

»Das ist ja das Seltsame. Mein Vater war ein Einzelkind, und seine Eltern waren schon älter, als er geboren wurde. Sie alle waren Stadtmenschen und hatten überhaupt nichts mit der Gegend hier zu tun. Ich war noch sehr jung, als meine Großeltern starben, und kann mich kaum an sie erinnern.«

Bonnie schien interessiert zu sein, deshalb erzählte er ihr, was er wusste. »Es ist seltsam, nicht wahr?«, schloss er mit einem Grinsen. »Erst vor kurzem habe ich den Wunsch verspürt, mehr über meine Abstammung zu erfahren. Als ich das Hufeisen fand, dachte ich, es könnte ein Schlüssel sein, ein Hinweis, um etwas herauszufinden. Vermutlich habe ich mich geirrt.«

Freya hatte schweigend zugehört. Abrupt streckte sie jetzt die Hand nach dem Stück Metall aus und unterzog es einer flüchtigen Prüfung, ehe sie es klirrend auf den Tisch zurückfallen ließ. Ihr Gesicht war eine undurchdringliche Maske. »Es könnte jedem gehört haben, und jeder hätte Hannahs Namen auf die Rückseite gravieren lassen können, aus welchem Grund auch immer. Soweit ich es sehen kann, ist es wertloser Plunder«, schnappte sie, »und gehört in den Mülleimer. Und was das Herumwühlen in der Vergangenheit betrifft, so weiß ich nicht, warum Sie sich die Mühe machen. Es ist nichts als Wichtigtuerei, mehr nicht.«

Michael schaute auf und sah, dass Callie ihre Tante anstarrte, ihre grauen Augen groß vor Verwunderung. »Es tut mir leid«, sagte er steif angesichts der Feindseligkeit in der Stimme der älteren Frau. »Es war seltsam, einen solchen Gegenstand zu finden, und vermutlich ist meine Neugier mit mir durchgegangen. Normalerweise habe ich Spaß an einem Rätsel, und dieses hier schien mir geradezu auf einem Tablett serviert worden zu sein.«

Bonnie warf Freya einen nicht misszuverstehenden ärgerlichen Blick zu. »Mir tut es auch leid, Michael. Ich habe auch keine Erklärung dafür, wie das Hufeisen in den Besitz Ihres Vaters gekommen ist, aber es ist ausgeschlossen, dass Hannah in irgendeiner Verbindung zu Ihrer Familie stand. Sie hat die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens im westlichen Queensland verbracht und hatte keine Kinder. Deshalb gibt es auch niemanden sonst, den Sie fragen könnten.«

Sie schob Michael das Hufeisen zu, doch er lehnte enttäuscht ab. »Nein, behalten Sie es«, beharrte er. »Wenn es Hannah gehört hat, dann sollten Sie es haben.«

»In den Mülleimer damit«, drohte Freya, während sie geräuschvoll die Teetassen verteilte, die ineinandergestellt in der Mitte des Tisches gestanden hatten, und begann, den Tee einzuschenken. Bonnie schnitt vier Scheiben von dem Kuchen ab, den sie aus der Küche geholt hatte.

Michael sah den trotzigen Ausdruck auf Freyas Gesicht und fragte sich, was er als Nächstes sagen könnte. All die Fragen, die ihm vorher durch den Kopf gegangen waren, fielen ihm jetzt nicht mehr ein. Plötzlich wünschte er sich, er wäre nicht gekommen.

»Ich würde es gern behalten«, sagte Callie und wies auf das Hufeisen. »Wenn niemand sonst es will, heißt das.«

»Hmm!«, brummelte Freya.

Gerade als Callies Finger das Metall berührten, ertönte vor dem Haus eine laute Autohupe. »Das wird Stuart sein«, sagte sie und ließ das Hufeisen in ihre Manteltasche gleiten. »Für mich bitte keinen Kuchen. Ich muss los, Mum.«

Freya stieß ein ärgerliches Schnauben aus. »Ich weiß nicht, warum dieser Freund von dir nicht wie jeder normale Mensch hereinkommen und Bescheid sagen kann, dass er da ist«, brummelte sie ärgerlich und ging in die Küche, um die Teekanne wieder aufzufüllen.

»Es war nett, Sie kennenzulernen, Michael«, sagte Callie, während sie aufstand.

Verschwörerisch lächelte Bonnie ihrer Tochter zu. »Ärgere dich nicht über Freya«, flüsterte sie, während sie Callie aus dem Zimmer begleitete. »Sie ist in letzter Zeit ein wenig garstig.«

Von der Veranda her konnte Michael die Stimmen der beiden Frauen hören, leise und gedämpft. »Ich weiß, Mum, die Arthritis …«

Ein Lachen. Es war Bonnie. »Nein, eigentlich glaube ich, dass sie befürchtet, dieses alte Haus zu vermissen, wenn wir wegziehen. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, Liebes. All das wird einfach zu viel. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken.«

Durch die geöffneten Fenster konnte Michael das schrille Zirpen der Zikaden hören und von etwas weiter entfernt das schwache Dröhnen eines Rasenmähers. Er füllte einen Löffel Zucker in seinen milchigen Tee, beobachtete, wie die Körner in die Flüssigkeit glitten, und rührte geistesabwesend in seiner Tasse herum. In der Küche hörte er Freya eine Schublade mit lautem Knall schließen.

Die Autohupe ertönte wieder, diesmal ungeduldig.

»Ich gehe jetzt besser, Mum. Wiedersehen.«

Kies spritzte auf, als der Wagen davonschoss und mit aufkreischenden Rädern um die Ecke verschwand.

Callie lag wach und starrte an die Decke. Aus dem Wohnzimmer klangen gedämpft die Geräusche aus dem Fernseher herüber. Irgendein Agentenfilm mit jeder Menge Autoverfolgungsjagden und mit genügend Gewalt, um für eine Woche Albträume zu garantieren. Und mit der üblichen aufreizenden Blondine. Mein Gott, seufzte sie. Sie hasste solche Filme. Sie hätte lieber das verdammte Ding ausgeschaltet und eine CD aufgelegt, sich entspannende Musik angehört, um ein versöhnliches Ende für das zu finden, was sich als aufregender Tag herausgestellt hatte. Aber Stuarts Augen hatten wie gebannt am Bildschirm gehangen, und er hatte ihren Gutenachtgruß kaum wahrgenommen.

Das Haus verkaufen!

Als sie an die Worte ihrer Mutter dachte, begannen ihre Gedanken sich wieder zu überschlagen, wie es schien, schon zum tausendsten Mal heute. Vorhin war ihr eine Überlegung durch den Kopf gegangen, die sie durch ihre Einfachheit überrascht hatte. »Wir könnten die Wohnung verkaufen und von dem Geld das Haus meiner Mutter kaufen«, hatte sie Stuart nach dem Abendessen vorgeschlagen. »Auf diese Weise würde es in der Familie bleiben.«

Stuart, der auf einem Stuhl aus Chrom und Leder an einem Kaffeetisch aus Chrom und Glas gesessen hatte, war entgeistert gewesen. »Himmel, Callie!«, hatte er gerufen. »Du machst wohl Witze!«

»Nein«, hatte sie ruhig entgegnet. »Es ist mir todernst.«

Aus schmalen Augen hatte er Callie streng angesehen. »Mir auch. In diesem Mausoleum wohnen? Niemals!«

Michael löschte das Licht und streckte sich auf dem Bett aus. Nach dem Lärm der Stadt war es in dem kleinen, an der Bucht gelegenen Motel angenehm ruhig. Kein Verkehrsrauschen, kein Heulen von Sirenen war zu hören, nur das träge Schlagen des Wassers gegen den Strand und das Seufzen des Windes in den Kasuarinen.

Er schaute zum Fenster und beobachtete die sanften Bewegungen der Vorhänge im Wind. Ein blasser Mond war aufgestiegen und tauchte das Zimmer in perlenglänzendes Licht. Michael schloss die Augen und ließ seine Gedanken zur Ruhe kommen. Die Geschehnisse des Tages zogen im Geiste an ihm vorüber, zufällig und unzusammenhängend, scheinbar ohne irgendeine Ordnung. Bonnie und ihr freundliches Lächeln, Freya mit den zusammengepressten Lippen und ihrer feindseligen Art. Callie mit den rauchgrauen Augen und einer Ansammlung von Sommersprossen auf ihrer Nase, das kastanienbraune Haar schulterlang und zu einem Pagenkopf geschnitten. Sie war auf eine ungewöhnliche Weise hübsch, trotz des zu breiten Mundes, dessen Winkel sich nach oben zogen, wenn sie lächelte.

Nun gut, dachte Michael grimmig und verdrängte die Bilder. Der ganze Tag hatte sich als Zeitverschwendung herausgestellt. Das Hufeisen hatte sich als Blindgänger erwiesen. Und er hatte die mürrische Miss Corduke verärgert. Kurz gesagt, er war aus einer Laune heraus in ihr Leben geplatzt und hatte nichts erreicht.

Trotz seines Grübelns kam der Schlaf zu ihm. Er konnte ihn spüren, war fast betäubt von dessen Schwere. Dunkelheit verschmolz mit gedämpften Schatten, das verschwommene Bild eines Hauses im lichtgesprenkelten Schatten eines Baumes tauchte auf. Das Haus in der Brunswick Street, dachte er schläfrig und fragte sich, ob er schon träumte. Ein Stück zurückgesetzt von der Straße sah er es vor sich, wie eine Katze, die träge in der Sonne döste.

Ein wunderschönes Haus, das Erinnerungen an eine andere Zeit barg, die lange vergangen war. Wer war dieser unbekannte Ben? Warum war Hannah Cordukes Name auf der Rückseite des Hufeisens eingraviert? Und warum hatte dieses halbe Hufeisen in einer Babydecke gelegen, wo es Jahre später an einem anderen Ort gefunden worden war?

Wie seltsam, dachte Michael, dessen Gedanken im Halbschlaf planlos durcheinanderwirbelten. Und wie enttäuschend, weil er zu gerne Teil von dem allen sein wollte, mehr als alles andere.

KAPITEL 2

Es war Sonntag. Die Hauptstraße lag verlassen da – bis auf ein paar Teenager, die in Richtung Strand gingen, ihre Rucksäcke lässig über die Schultern geworfen. Bei ihrem Anblick wunderte sich Callie über deren Zähigkeit. Es war kaum Frühling, und der starke Wind, der von der Bucht herwehte, erinnerte noch an kältere Tage. Während die Gruppe um die Ecke verschwand, gab Callie einem unwillkürlichen Frösteln nach und ging auf den Eingang der Gärtnerei zu.

Vor dem großen Schaufenster blieb sie stehen, als ihr Blick an einem leuchtend gelben Farbtupfer hängen blieb: ein Topf mit Narzissen. Sie passen perfekt auf den Balkon, dachte sie. Zu dieser Zeit des Jahres wirkte er stets etwas trostlos. Sie bezahlte an der Kasse und schlug das Angebot des Ladeninhabers aus, ihr den Einkauf zum Auto zu tragen. Der Topf war nicht schwer, nur ein wenig ausladend. Sie konnte kaum über die hohen nickenden Blütenköpfe hinwegsehen, als sie vorsichtig zu ihrem Suzuki ging, den sie in der Nähe geparkt hatte.

»Hallo.«

Mühsam den Topf balancierend, wandte sie sich um und versuchte herauszufinden, wem die Stimme gehörte. Es war Michael, der Mann, der am Tag zuvor in die Brunswick Street gekommen war. »Hallo.«

Er griff nach dem Blumentopf. »Lassen Sie mich das tragen.« Mühelos hob er den Topf in seine Arme und schenkte Callie ein breites Lächeln. »Haben Sie es weit?«

»Der Wagen steht dort drüben.« Sie deutete auf den blauen kleinen vierrädrigen Untersatz, den sie im Schatten eines riesigen Feigenbaums abgestellt hatte.

»Kellie, nicht wahr?«, fragte er.

»Callie, genau genommen.«

Er sah sie fragend an, ein Netz feiner Fältchen lag auf seiner Stirn. »Mit einem C«, erklärte sie und betonte den Buchstaben. Sie waren beim Auto angekommen, und Callie kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. »Es ist die Abkürzung für Calliandra. Der Name ist ein wenig lang, also nennen mich alle Callie.«

Endlich war die Autotür aufgeschlossen und geöffnet. Michael beugte sich hinunter und stellte den Topf in die Mitte des Rücksitzes. »Dort steht er sicher«, meinte er, während er wieder aus dem Fahrzeug auftauchte.

Einen Augenblick lang stand er da und sah Callie an; ein nachdenklicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Kann ich Sie zu einem Kaffee überreden?«, fragte er schließlich.

Y Old Coffee Shope lag ein ganzes Stück weiter von der Straße zurück als die benachbarten Gebäude, wodurch vor dem Haus ein kleiner Hof entstand. In Holztrögen wuchsen Zwergkoniferen und Geranien, die bis zum Boden herunterrankten, und auf den Tischen lagen rot-weiß karierte Decken. Michael schlug vor, dass sie sich draußen hinsetzten. »Der Tag ist zu schön, um drinnen zu sitzen«, lächelte er und bestellte bei der Serviererin zwei Cappuccino.

Geschützt vor dem Wind, spürte Callie die Sonne auf ihrem Gesicht. Die Frühjahrssonne verströmte eine sanfte Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete und sie entspannte. Michael lehnte sich im Stuhl zurück, streckte seine langen Beine aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Angenehm so?«, fragte er.

Callie nickte. »Wie lange bleiben Sie in der Stadt?«

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht ein paar Tage. Ich dachte, dass ich mich vor Ort ein wenig umschaue, um ein bisschen von der Atmosphäre mitzukriegen – wenn ich jetzt schon hier bin.«

»Das wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen«, meinte Callie lachend. »Die Stadt ist sehr klein – verglichen mit einer Großstadt, meine ich.«

Michael beugte sich vor und deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die umstehenden Gebäude. »Es sieht nicht so aus, als hätte sich der Ort im Laufe der Jahre sehr verändert.«

»Nein, nicht sehr. Der Schlachter, das Schuhgeschäft, der Kurzwarenladen. Diese Läden gibt es schon so lange, wie ich denken kann. Clarke’s Emporium war noch älter, aber es ist vor zwei Jahren abgebrannt.« Sie lachte ein wenig. »Himmel, was habe ich als Kind diesen Laden geliebt. Dort gab es Rohre, die an der Decke entlangliefen, in denen das Geld in kleinen Metallgehäusen zu einem Kassierer transportiert wurde. Ich war davon fasziniert, genauso wie von dem lauten klirrenden Geräusch, das das Wechselgeld machte, wenn es zurückkam. Aber jetzt ist alles verschwunden. Dafür gibt es ein paar neue Läden … den Feinkostladen, die Bäckerei – die Patisserie, sie bestehen darauf, so genannt zu werden – und den Supermarkt am Stadtrand. Aber die meisten der anderen Geschäftshäuser sind ungefähr zwischen achtzig und hundert Jahre alt.«

Michael wirkte einen Moment lang nachdenklich, dann wechselte er das Thema. »Wegen gestern – ich hoffe, ich habe niemanden verärgert.«

Callie zuckte mit den Schultern. »Freya schien nicht besonders angetan. Laut meiner Mutter, die mich heute Morgen anrief, hat Freya Sie einen ungezogenen jungen Mann genannt, nachdem Sie gegangen waren.«

»Ungezogen?« Ein Ausdruck der Verwirrung überzog sein Gesicht. »Ich war eigentlich eher nervös als alles andere.«

»Ich weiß.«

»Sind Sie immer so scharfsinnig?«, neckte er sie, und seine Miene entspannte sich zu einem Lächeln.

»Nein, aber ich kenne Freya. Sie kann recht einschüchternd sein.«

Er lachte. Es klang angenehm, tief und warm, und Callie ertappte sich bei der Feststellung, dass sie den Mann mochte, der ihr gegenübersaß. Die Bedienung kam zurück und servierte den Kaffee. Während Callie an ihrem Cappuccino nippte, erzählte Michael ihr ein wenig von seinem Job. Er sei Fotograf, erklärte er, bei einer der führenden Zeitungen der Stadt. Er habe dort klein angefangen und sich seinen Weg nach oben erarbeitet. Es hatte mit Fotos von Einweihungen öffentlicher Gebäude begonnen, mit Aufnahmen hoffnungsvoller Kandidaten für die Ratsversammlungen und so weiter. Das war vor zwanzig Jahren gewesen. Jetzt machte er Aufnahmen für den tagesaktuellen Teil der Zeitung, womit meistens das Arbeiten vor Ort verbunden war. Daneben übernahm er auch freiberuflich Fotoaufträge. Callie empfand so etwas wie Erleichterung. Irgendwie hatte sie sich nicht vorstellen können, dass er den ganzen Tag in irgendeinem Büro saß. So wie Stuart, dachte sie unwillkürlich.

Verstohlen betrachtete sie ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg, während er erzählte. Er trug leicht ausgeblichene Jeans und ein langärmeliges Hemd, dessen Ärmel bis gerade über die Ellenbogen aufgerollt waren. Er war groß, bestimmt über 1,80 Meter, und von schlanker Gestalt. Sein sandfarbenes Haar lockte sich auf eine zerzauste Art und rahmte ein interessant aussehendes Gesicht ein. Er ist wahrscheinlich Ende dreißig, entschied Callie. Sie schaute auf seine Hände, als er den Zuckerstreuer über den weißen Schaum des Kaffees neigte, Zucker hineinrieseln ließ und den Cappuccino dann gründlich umrührte. Er hatte kräftige schlanke Finger, deren Nägel sorgsam geschnitten waren, und trug keinen Ring.

»… ist wichtig, die Familie. Meine Eltern sind beide tot, und es gibt nur noch mich und meine Schwester Anne. Timothy soll seine Abstammung kennen.«

»Timothy?« In Gedanken versunken, hatte Callie den Faden des Gesprächs verloren.

»Mein Sohn.«

»Oh.« Sie spürte eine vage, unerklärliche Enttäuschung. »Sie sind also verheiratet?«

»Ich war«, korrigierte Michael. »Gaby und ich haben uns vor einigen Jahren getrennt. Es war, wie man so sagt, eine saubere Scheidung. Keine schmutzigen Affären, wir haben uns einfach auseinandergelebt. Eines Tages haben wir Bilanz gezogen und erkannt, dass unser Kind das Einzige war, was uns noch verbindet. Wir sind gute Freunde, was wichtig für Tim ist.«

Callie nickte und dachte an die Abwesenheit ihres eigenen Vaters. »Sie haben es gestern also geschafft, Freya unbeschadet zu entkommen? Ohne Bisswunden?«

Michael lachte herzlich. »Nicht eine«, sagte er und streckte seine Arme aus. Seine Unterarme waren nackt bis auf eine teuer aussehende Taucheruhr. »Ich bin kurz nach Ihnen gegangen. Die Lage schien ein wenig angespannt zu sein. Aber das kann ich durchaus verstehen. Es war mein Fehler, so hereinzuplatzen, ohne wirkliche Fakten nennen zu können. Das nächste Mal werde ich meine Hausaufgaben gründlicher machen.«

»Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken wegen Freya. Ich denke, nächste Woche wird sie das Ganze schon wieder vergessen haben. Und unter ihrer rauen Schale ist sie wirklich ganz nett, wenn man sie näher kennt.«

»Oh, jede Wette«, grinste Michael. »Schade, dass ich nie die Gelegenheit dazu haben werde.«

Er hat so ein nettes Lächeln, dachte Callie, als sie ihre Tasse wieder zum Mund führte.

Die folgenden Tage vergingen ruhig und ereignislos. Mit der Minolta um den Hals erkundete Michael die Stadt und fotografierte die alten Häuser. Vielleicht würde er einen Artikel über diese Gegend zusammenstellen. Sechs oder sieben der besten Aufnahmen, dazu einige hundert Worte Text. Der Zeitungsherausgeber war immer auf der Suche nach etwas Besonderem.

Und diese Stadt ist besonders, dachte Michael, mit ihrem Gerichtsgebäude, der Bank und dem Pub, den gelben Steinfassaden, die im Sonnenlicht buttergold leuchteten. Gotisch, viktorianisch, alter Queensland-Stil: die Baustile ergänzten einander zu einer malerischen Mischung und erzielten eine interessante Wirkung. Die Bibliothekarin der örtlichen Bibliothek war sehr zuvorkommend gewesen und hatte ihm verschiedene Publikationen vorgelegt, die die Geschichte und die Entwicklung der Gegend aufzeigten.

Er empfand eine unerklärliche Anziehung zu dieser kleinen Stadt mit ihren engen Nebenstraßen, die sich durch das hügelige Terrain zogen, den schmucken Häusern in den üppig wachsenden Gärten, der ruhigen Atmosphäre. Sogar die Menschen mit ihren Einkaufskörben, die sie über dem Arm trugen, schienen sich langsamer zu bewegen, mit mehr Muße. Er schlenderte durch den Park und beobachtete die Spatzen, die durch den alten Musikpavillon flogen. Es muss hier früher ganz bezaubernd gewesen sein, vermutete er. Sonntagnachmittage, an denen eine Blaskapelle spielte, Paare und Familien, die vorbeischlenderten, Kinder, die umherrannten.

Hinter dem Pavillon lagen die Tennisplätze, umgeben von sorgsam gestutzten Hecken, und das Kriegsmahnmal. Michael streckte sich in der Sonne auf dem Rasen aus und fühlte durch den dünnen Stoff seines Hemdes, dass die Halme ihn am Rücken kitzelten. In den Baumkronen über ihm veranstalteten die Vögel eine lärmende Kakofonie. Morgen würde er nach Hause zurückfahren und dies alles hier hinter sich lassen. Der Verleger hatte am vergangenen Abend angerufen, um ihm einige Aufträge anzubieten.

An diesem letzten Abend, in dem kleinen Motelzimmer, lauschte Michael auf die Wellen, die unaufhörlich auf die Küste zurollten, ihn einlullten, ihn beruhigten mit ihren geflüsterten, gemurmelten Abschiedsgrüßen. Ungebeten, in jener schattenhaften undefinierbaren Zone zwischen Wachen und Schlafen, glitten seine Gedanken zurück zu dem Haus in der Brunswick Street, zu Bonnie und Freya, und zu Callie mit den grauen Augen. Zurück zu dem Haus, das in der Sonne döste, und zu dem Garten, der in der Mittagshitze ruhte. Und zu dem Hufeisen. Er dachte daran, wie Callie es vom Tisch genommen hatte, neugierig, aber auch fast ehrfürchtig, wie sie es einen Augenblick lang betrachtet hatte, ehe sie es in ihre Tasche steckte.

Ein seltsames Gefühl der Enttäuschung regte sich in ihm, als er daran dachte, dass das Hufeisen jetzt Callie gehörte, dass es fort war und er nicht mehr wusste als vor einer Woche.

Der folgende Sonntag zog hell und klar herauf und versprach, warm zu werden. »Ich dachte, du könntest mit mir zu Mum zum Mittagessen gehen«, schlug Callie Stuart beim Frühstück vor. »Auf dem Dachboden stehen noch ein paar Kisten mit Schulsachen von mir. Du weißt schon, Projektbücher, alte Berichtshefte, Aufsätze und solche Sachen. Ich könnte etwas Hilfe brauchen, sie herunterzuholen.«

Stuart, der, wie Callie wusste, eine Abscheu vor alten Dingen hegte, zog eine Augenbraue hoch. »Für mich hört sich das nach einem Haufen Staub und Müll an. Wo gedenkst du die Kisten unterzubringen?«

»In der Garage, bis ich sie durchgesehen habe.«

»Die Vorboten irgendwelcher Krabbeltiere«, verkündete er finster. Dann: »Entschuldige, Cal. Ich fürchte, es geht nicht. Ich bin zu einer Partie Squash verabredet.«

Callie stand auf und begann, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Stuart wandte sich ab und lief die mit Teppichboden bedeckten Stufen der Treppe hinauf, die zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer führte. Nach einer Weile kam er in weißen Shorts und weißem Hemd wieder herunter, pfeifend und immer zwei Stufen auf einmal nehmend, seine Sporttasche in der Hand.

»Ich seh dich dann später«, verabschiedete er sich und küsste Callie flüchtig auf den Mund.

Callie spürte seine kalten Lippen auf ihren und fröstelte. Ein unerklärliches Gefühl der Verlassenheit erfüllte sie, als Stuart die Tür hinter sich schloss. Und später, als sie allein mit ihrem kleinen Suzuki in die Brunswick Street fuhr, fühlte sie sich seltsam enttäuscht, als sei sie irgendwie von ihm im Stich gelassen worden.

Als Callie über den vorderen Weg auf das Haus zuging, konnte sie Freya auf der anderen Seite des Vorgartens sehen, die sich über die Büsche beugte. Sie war dabei, sie zu schneiden, was die in der Nähe stehende, voll beladene Schubkarre vermuten ließ, über deren Rand abgeschnittene Zweige und Äste ragten.

Nach der Helligkeit draußen schien es im Haus im ersten Augenblick dunkel zu sein. Bonnie hatte die Vordertür gehört und rief: »Bist du das, Callie? Ich bin in der Küche.«

Sonnenschein fiel schräg durch die Fenster und verlieh dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Köstliche Essensdüfte erfüllten die Luft.

»Hmmm. Das riecht gut.«

Bonnie eilte geschäftig hin und her und stand mit dem Rücken zur Tür, während sie eine Quiche aus dem Backofen holte. Ein Tablett mit kaltem Fleisch und Salat stand auf dem Tisch. »Ich habe dein Lieblingsessen gemacht«, sagte sie, als Callie in die Küche kam. Dann wandte sie sich um: »Was ist los, Liebes?«

»Nichts. Warum?«

»Wo ist Stuart? Ich dachte, er würde auch kommen?«

»Er hat sich zu einer Partie Squash verabredet.«

»Mmmm.« Bonnie runzelte die Stirn. »Ihr zwei scheint nicht mehr allzu viel Zeit miteinander zu verbringen. Ist alles in Ordnung?«

Ist das so offensichtlich?, fragte Callie sich im Stillen. »Aber ja, Mum«, erwiderte sie und versuchte, ihre Stimme unbeschwert klingen zu lassen. »Manchmal hast du wirklich komische Ideen.«

Als sei sie nicht ganz überzeugt, sah Bonnie ihre Tochter einige Sekunden lang nachdenklich an, ehe sie sich wieder zum Backofen umdrehte.

Freya kam aus dem Garten und berichtete mürrisch über rote Spinnmilben, die sie entdeckt hatte, und einen Angriff von Blattläusen auf ihre geliebten Rosen. Callie küsste ihre Tante pflichtschuldig auf die wettergegerbte Wange und unterdrückte ein Lächeln, dann half sie ihrer Mutter, das Essen aufzutragen.

Freya murrte noch immer über den Besucher, den sie am Sonnabend der vorigen Woche gehabt hatten, wie Callie mit einem amüsierten Lächeln feststellte. »Das ist Schnüffelei, nichts anderes. Im Leben anderer Leute herumzuwühlen. Ich weiß nicht, was dabei Gutes herauskommen kann, wenn man Dinge hervorzerrt, die längst Vergangenheit sind.«

»Wenn man was hervorzerrt?«, fragte Callie. »Das Hufeisen war nur ein kleiner Teil eines Geheimnisses, mehr nicht. Michael dachte, es könnte eine Verbindung zwischen unseren Familien geben. Seine Eltern sind tot; er kann sie nicht fragen. Er hat niemanden.«

»Er hat eine Frau und ein Kind«, warf Freya triumphierend ein. »Das hat er uns letzten Samstag erzählt. So ist es doch, Bonnie, nicht wahr?«

Bonnie nickte. »Ja, meine Liebe.«

»Er ist geschieden«, stellte Callie richtig. »Aber wie dem auch sei, das eine hat absolut nichts mit dem anderen zu tun. Okay, die Sache mit dem Hufeisen und mit Hannah hat sich als Sackgasse erwiesen. Aber du kannst ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er gefragt hat. Es war nur harmlose Neugier. Und du hättest auch nicht so unfreundlich sein müssen.«

»Callie!« Bonnie warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu. Freya schürzte die Lippen und stieß ein lautes Schnauben aus.

»Freya und ich haben vor, nach dem Essen zu den neuen Stadthäusern zu fahren. Man kann sich dort jeden Nachmittag eine Musterwohnung ansehen. Möchtest du nicht mitkommen?«, wechselte Bonnie das Thema.

Callie schüttelte den Kopf. »Auf dem Dachboden stehen ein paar Kisten von mir. Dad hat sie hinaufgebracht, als ich mit der Schule fertig war. Ich dachte, ich werde sie mitnehmen. Dann ist später weniger auszuräumen, wenn das Haus verkauft wird.«

»Eine gute Idee«, stimmte Freya knapp zu. Callies frühere Kritik gärte offensichtlich noch in ihr. »Es gibt eine Menge alter Sachen da oben, die seit Jahren nicht angerührt worden sind. Und wenn wir so lange Zeit ohne etwas davon ausgekommen sind, dann werden wir sie auch nicht mehr brauchen. Auf den Müll, dorthin gehört das alles. Vielleicht könnte Stuart demnächst mit anpacken, um alles herunterzuholen.«

Nach dem Essen machten sich die beiden Frauen auf den Weg zur Bucht hinunter. Freya hielt das Lenkrad des langsamen alten Vauxhall fest umklammert, als er die Brunswick Street hinuntertuckerte und dabei eine Fahne bläulicher Abgase zurückließ. Callie sah die beiden in einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung davonfahren. Durch den Verkauf des Hauses würden sie zumindest in der Lage sein, sich einen neuen Wagen leisten zu können, einen von diesen spritzigen vierzylindrigen Flitzern, der sie zum Einkaufszentrum und Bonnie zu ihrem Kunstzirkel bringen würde.

Jetzt, da Bonnie und Freya nicht mehr da waren, war es im Haus plötzlich ruhig. Eine würdige Stille breitete sich wie eine Decke darin aus, während draußen ein Glockenvogel lärmte. Der Duft von Jasmin schwebte durch die Fenster herein. Der Duft des Frühlings, dachte Callie, und fragte sich für einen Moment, ob es wirklich ihr letzter Frühling hier wäre. Mit einem Seufzen beendete sie den Abwasch und ging die Leiter holen.

Das Licht der Taschenlampe vermochte kaum den höhlenartigen Bauch des Dachbodens zu erhellen. Callie ging vorsichtig von Bohle zu Bohle und sah, wie die Schatten zu tanzen schienen, im Schein der Lampe hin und her schwebten. Auch hier oben war es still. Es war kein Laut zu hören, bis auf das leise Knarren alter Dachbalken und Holzträger.

Jede Oberfläche war von Staub und Spinnweben bedeckt. »Freya hat recht. Es sieht so aus, als sei seit Jahren niemand hier oben gewesen«, murmelte sie undeutlich vor sich hin und ließ den Worten ein lautes Niesen folgen. »Gesundheit«, fügte sie hinzu und lachte dann über diese einseitige Konversation.

Das Haus hatte ein Spitzdach, was es Callie möglich machte, in der Mitte aufrecht zu stehen. Neugierig schaute sie sich um, Erinnerungen zerrten an ihrem Unterbewusstsein. Wie alt war sie gewesen, als sie das letzte Mal hier heraufgekommen war? Zwölf? Vielleicht dreizehn?

Es war ein Samstagnachmittag gewesen, so wie heute. Unbemerkt war sie die Leiter hinaufgeklettert und hatte die Truhen mit den altmodischen Kleidern entdeckt: Kleider mit Rüschenkrägen und Volants und weiten ausladende Röcken, Schals mit Fransen. Aus einem anderen, runden Behältnis hatte sie eine Auswahl an Hüten zutage gefördert: steife Strohhüte und breitkrempige Damenhüte, geschmückt mit farbigen Bändern oder Sträußen aus Seidenblumen, ein blauer Dolly Varden, eine kecke kleine Kappe, die nicht mehr war als ein zarter Stoff mit einem kurzen Schleier und einem Tuff aus Federn. Zuunterst in einem Koffer in der Nähe hatte sie einige Paare Damenstiefel entdeckt, deren Leder vom Alter steif und rissig geworden war.

Bonnie hatte sie hier oben gefunden, Stunden später, als sie mit ihren Entdeckungen vor dem hohen Spiegel im Mahagonirahmen hin und her spaziert war, die Kleider gegen ihren schmächtigen Körper haltend. »Oh Callie! Hier steckst du! Dein Vater hat sich schon Sorgen gemacht.«

Callie lächelte, als sie wieder das erstaunte Gesicht ihrer Mutter vor sich sah, deren unterdrückter Ärger sich schnell in Erleichterung verwandelt hatte.

Callie hob die Taschenlampe hoch und schaute sich suchend nach vertrauten Gegenständen um. Plötzlich erstarrte sie, als die Schatten einer dunklen Gestalt zu ihrer Rechten nach ihr griffen. Dann unterdrückte sie ein Kichern. Es war Bonnies Schneiderpuppe, verhüllt von Laken.

Sie bahnte sich ihren Weg durch das Durcheinander: zwei Büro-Drehstühle, beide nicht mehr zu gebrauchen; eine alte Remington-Schreibmaschine, deren Tasten unter der Staubschicht kaum zu erkennen waren; eine Reihe bunter Küchendosen, die meisten davon leer. An einer Wand standen einige Folkstone-Koffer verschiedener Größen, alte Tennisschläger, deren Bespannung zerrissen war, und ein Bollerwagen für Kinder, der einmal in einem leuchtenden Rot gestrichen gewesen war, das jetzt zu einem Kastanienbraun verblichen war.

Der Dachboden war überwiegend vollgestellt mit Gerümpel, genau wie Freya gesagt hatte. Callie strich mit den Fingerspitzen über einen reichverzierten runden Vogelkäfig. Er war leer, doch ein paar Samenhülsen lagen noch verstreut am Boden. Dahinter stand ein hochrädriger Kinderwagen mit zerrissener Haube. Ein alter Bücherschrank enthielt eine Sammlung von Büchern, die schon lange nicht mehr verlegt wurden.

Zu ihren Füßen stand eine Kiste, die eine Auswahl an Gläsern und Dosen enthielt: Lamb’s Bohnerwachs, Nye’s Nähmaschinen- und Fahrradöl, Metallpolitur, einige Stücke Colgate & Co Castille-Seife. Fasziniert von den altmodischen Etiketten hockte sich Callie auf den Boden und nahm den Inhalt in Augenschein.

Irgendwann fiel ihr Blick auf ihre Uhr, und Callie stellte überrascht fest, dass sie schon seit fast einer halben Stunde hier oben war. Nun gut, dachte sie, legte die Seife zurück zwischen die seit langem ungeöffneten Gläser und Dosen und richtete sich entschlossen auf, um nach den Kisten zu suchen, die ihr gehörten.

Sie waren schnell gefunden. Verschnürt mit Band, stand ihr Name in großen Buchstaben an deren Seiten. Da Callie sie kaum vollgepackt die Leiter hinuntertragen konnte, holte sie einige Supermarkt-Plastiktüten aus Bonnies Küche und transportierte den Inhalt der Kisten stückweise nach unten, wo sie die Sachen wieder in den jetzt leeren Kisten verstaute und diese schließlich auf den Rücksitz ihres Wagens stellte.

Als Callie sich daranmachte, die Leiter das letzte Mal hinunterzusteigen, bemerkte sie in einer Ecke des Dachbodens einen Koffer, den sie bis jetzt übersehen hatte. Der Staub lag zentimeterdick auf seinem Deckel. Ihre Neugier war geweckt, also machte sie sich auf die Suche nach einem Eimer, Wasser und einem Putzlappen.

Unter dem Schmutz kam rotes Leder zum Vorschein. »Ich glaube, das ist eine Art Handkoffer«, vermutete sie, während sie mit einem Finger über die gekörnte Oberfläche strich und dabei einen unerklärlichen Anflug von Aufregung verspürte. Sie kniete sich auf die rauen Dielen, beugte sich über den Koffer und klappte den Deckel hoch.

Die rostigen Scharniere knarrten beim Öffnen wie ein bedauerndes Seufzen. Callie merkte, wie sie den Atem anhielt, als sie den Inhalt betrachtete. Einen nach dem anderen nahm sie die Gegenstände heraus: alte Kochbücher, Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten, Ausschnitte aus Zeitungen. Es gab eine Reihe von Schulheften, Einladungen zu Hochzeiten und Taufen, Bücher, einige Traueranzeigen – alle waren an den Rändern vergilbt. Sie rochen modrig und waren vermutlich seit vielen Jahren nicht mehr in die Hand genommen worden. Darunter lagen Dutzende von Briefumschlägen, in denen offensichtlich noch die Briefe steckten, die sie Jahre zuvor befördert hatten. Es gab drei Stapel davon, jeder zusammengebunden mit einem blassblauen Band. Nach der Handschrift zu urteilen, schienen sie von verschiedenen Personen geschrieben worden zu sein.

Callie schaute sie sich genauer an und entzifferte die Anschrift auf dem obersten Umschlag. Miss Hannah Corduke. Bright Street, Kangaroo Point, Brisbane, lautete sie. Der Poststempel war ausgeblichen, aber noch zu entziffern. Bleu. Frankreich. 28. November 1916.

»Hannah«, wisperte sie, während ihre Hand auf dem brüchigen Papier ruhte und sie sich augenblicklich an das halbe Hufeisen erinnerte, das sie vorige Woche zum ersten Mal gesehen hatte. Der Name hallte beharrlich in ihrem Kopf wider, verlangte Aufmerksamkeit, als sie auf die langsam zerfallenden Erinnerungsstücke ihrer Urgroßtante starrte. Behutsam strich sie mit der Hand über einige der Dinge, betrachtete sie nachdenklich, während ihr Freyas Worte durch den Sinn gingen:

In den Mülleimer, dorthin gehört das alles.

Hannahs Leben zwischen Abfall und Dreck, vermischt mit dem Leben anderer Menschen? »Nein!«, stieß sie hervor und nahm einen Arm voll von Papieren aus dem Koffer. Es durfte nicht geschehen, dass Freya das vernichtete, was noch übrig war.

Callie arbeitete schnell. Sie rechnete damit, jeden Moment das Schnaufen und Keuchen des zurückkommenden Vauxhalls zu hören. Sie konnte nicht sagen, warum es so wichtig war, dass Hannahs Habseligkeiten aufbewahrt wurden. Nachdem sie den Koffer geleert hatte, war er beträchtlich leichter. Mit einigen Schwierigkeiten gelang es ihr, ihn die Leiter hinunter zu bugsieren und ihn auf dem Autorücksitz zu verstauen, zusammen mit den anderen Kisten. Wenig später befand sich der ganze Inhalt wieder wohl verwahrt darinnen. Bonnie und Freya waren noch nicht wieder zurückgekehrt, also stellte Callie die Leiter zurück in die Garage, verließ das Haus und verschloss die Tür hinter sich.

Nach dem Abendessen verkündete Stuart, dass er früh zu Bett gehen wollte. »Kommst du auch?«, fragte er und strich mit dem Finger über Callies Nacken.

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe ein paar Ideen für das Buch und will sie notieren, solange sie noch gegenwärtig sind.«

In der Wohnung war es still, nachdem Stuart das Fernsehgerät ausgeschaltet hatte und zu Bett gegangen war. Callie machte sich eine Tasse Kaffee und nahm sie mit nach unten in das Zimmer, das sie zum Arbeiten nutzte, und schaltete den Computer an.

Die Maschine erwachte brummend zum Leben. Rasch fand Callie die Datei, in der sie zuletzt gearbeitet hatte, und der Cursor blinkte ihr von dem mit Worten übersäten Monitor zu. An der Tür nahm sie eine Bewegung wahr. Oscar kam hereingeschlendert. Er war ein großer Kater, überwiegend weiß, aber mit unregelmäßig geformten schwarzen Flecken. Lässig sprang er auf ihren Schoß, machte es sich dort bequem und schnurrte dabei laut.

Callie starrte auf den Bildschirm. Es war drei Jahre her, seit ihr erster Roman erschienen war. Seitdem hatte es noch einige Veröffentlichungen gegeben, die alle sowohl von den Kritikern als auch von den Lesern mit wohlwollendem Beifall aufgenommen worden waren. Es reichte aus, um ihr ein bescheidenes, wenn auch nicht regelmäßiges Einkommen zu gewährleisten. Aber dieser Roman jetzt, das wusste sie, würde ihr den Durchbruch bringen. Sie hatte die meisten der Kapitel skizziert und einen detaillierten Abriss festgelegt und war von der Handlung ebenso angetan wie von der Art, wie die Charaktere begonnen hatten, sich in ihren Gedanken zu entwickeln. Er wird gut, dachte sie. Verdammt gut. Auch ihr Agent war davon überzeugt.

Callie setzte dort an, wo sie vor kurzem aufgehört hatte, und tippte ein paar Sätze, ehe sie die Stirn runzelte und die Worte wieder löschte. »Verdammt«, murmelte sie und schob die Tastatur von sich.

Trotz ihrer Absicht zu arbeiten war sie mit ihren Gedanken nicht bei dem Roman. Vielmehr lenkten sie die Erinnerungen an die vergangene Woche ab, die ihr durch den Kopf gingen. Bonnies Absicht, das Haus zu verkaufen. Michaels unerwarteter Besuch. Hannah.

Hannah! Als sie an ihre Urgroßtante dachte, fiel ihr der Koffer ein. Begleitet von lautem Murren und Schimpfen über die Möglichkeit einer Kontaminierung durch Kakerlaken oder Silberfische, hatte Stuart ihr am Nachmittag geholfen, ihn aus dem Wagen in die Wohnung zu tragen. Jetzt stand er wie ein Schemen aus verblichenem Leder unter dem Fenster ihres Arbeitszimmers. Sie hatte gedacht, dass sie sich den Inhalt auf der Suche nach irgendetwas von Wert vielleicht genauer ansehen könnte, wenn sie ein paar freie Stunden hatte.

Doch der Wunsch, den Koffer schon jetzt wieder zu öffnen, war stärker als der, weiterzuarbeiten. Ohne zu überlegen, schob Callie die Katze von ihrem Schoß hinunter, ging zum Koffer und kniete sich auf den grauen Teppich, während sie den Deckel zurückklappte.

Derselbe modrige Geruch wie beim ersten Öffnen schlug ihr entgegen. Die Papiere klebten aneinander und fühlten sich trocken und brüchig an unter ihren Fingern. Eines nach dem anderen nahm sie heraus und legte sie auf sauber aufgeschichtete Stapel. In einem Umschlag fand sie einige Fotografien. Überwiegend waren es Aufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg, von einem Soldaten in Uniform, und eine von einer Frau mit dunklem schulterlangem Haar, die ein kleines blondhaariges Kind hielt, das auf ihrer Hüfte saß. Die Frau lächelte ein wenig unsicher in die Kamera.

Schließlich hatte Callie alles aus dem Koffer herausgenommen bis auf ein zerschlissenes Buch, das ganz zuunterst gelegen hatte. Sie griff danach und versuchte zu schätzen, wie alt es sein mochte. Ob es ein Tagebuch ist?, fragte sie sich. Ihr fiel auf, dass zwischen den Buchseiten etwas zu liegen schien, das die Seiten auseinanderdrückte.

Vorsichtig öffnete sie den Buchdeckel. Dort, fest gegen das Papier gedrückt, lag ein metallener, wie ein J geformter Gegenstand. Callie erstarrte augenblicklich und dachte sofort an den vergangenen Sonnabend und Michaels Besuch in der Brunswick Street. Sie griff in die Tasche ihres Mantels, den sie nachlässig über die Lehne ihres Schreibtischstuhls geworfen hatte, und zog den Inhalt heraus, dann hielt sie die beiden Gegenstände aneinander.

Auf der rechten Seite war der Name »Ben« eingraviert; auf der linken »Hannah«. Über dem gebogenen Grund des Eisens standen verblasste Worte, die aber noch zu lesen waren. »Ich werde dich immer lieben.« Die Buchstaben waren gleichmäßig auf jeder Seite der Bruchstelle angeordnet.

Es passt perfekt zusammen, dachte Callie verwirrt. Das silberne Hufeisen, jetzt wieder vollständig, glänzte schwach auf ihrer Hand.

KAPITEL 3

August 1914

Hannah! Thomas! Davie!«

Enid Corduke stand auf der Hintertreppe des Hauses in der Brunswick Street und strich sich mit den Händen über das dunkle Haar. Der Tag begann zu verblassen, und der Sonnenschein wich gedämpften Schatten. Selbst der Kampferlorbeer und die Akazien am Ende des Gartens hatten sich zu einem grauen Schemen aufgelöst.

Alles schien ruhig. Enid wartete, hielt die Arme verschränkt, und ein ärgerliches Runzeln verunzierte ihre Stirn. Die Luft hatte sich schon abgekühlt. Sie schaute zum Haus und zu dem gelben Lichtschein hinter den geschlossenen Vorhängen, der Wärme versprach. Sie fröstelte.

Aus Richtung des Stalles tönte jetzt das Klirren von Metall herüber. Ben Galbraith, der Sohn des örtlichen Hufschmieds, beschlug dort das letzte ihrer Pferde. Eigentlich werden die Tiere jetzt nicht mehr gebraucht, dachte sie. Denn ihr Mann David hatte vor einigen Monaten den Cadillac Phaeton erworben.

Ein leichter Wind kam auf und trug den schwachen Klang des Holzhackens von der Ablaufrinne hinter dem Haus heran. Das musste Thomas sein, Davids jüngerer Bruder, der eine frische Ladung Holz für den Herd zurechtmachte. Tom war diese Woche schon früh nach Hause gekommen, mit dem Nachmittagszug aus der Stadt, wo er seit Anfang des Jahres an der Universität studierte. Er war ein freundlicher, bei allen seinen Altersgenossen beliebter Bursche, und David versuchte erst gar nicht, den Stolz auf seinen Bruder zu verbergen.

Als Enid an Tom dachte, schweiften ihre Gedanken unweigerlich weiter zu Hannah. Wie konnten zwei Kinder, die sich den Platz im Leib der Mutter geteilt hatten, so verschieden sein?, fragte sie sich. Hannah, der um fünfzehn Minuten jüngere Zwilling, war das genaue Gegenteil ihres Bruders. Sie hatte kein Interesse an wissenschaftlichen Themen, ihre Neigung galt mehr der Kunst und der Musik. Enid war der Meinung, dass Hannah manchmal dazu neigte, verträumt zu sein. In Gedanken war sie meilenweit entfernt, wenn sie auf dem Klavier, das in der Ecke des Wohnzimmers stand, mit großer Fertigkeit eine Melodie spielte, oder auch, wenn sie auf dem Herd in einer Pfanne mit Eiercreme rührte, unempfindlich gegen den Geruch von angebrannter Milch und den Klumpen, die sich bildeten.

»Ich komm schon, Mum.«

Es war Davies Stimme, ihr Erstgeborener. Jungenhaft, laut.

Enid fröstelte es wieder in der kühlen Luft, und sie schlang die Arme um ihren Leib, in dem sie die feste Form des Kindes spürte. Das langerwartete Baby sollte jetzt jeden Tag kommen. Noch ein Junge wäre schön, dachte sie, noch ein männlicher Erbe, um den Namen der Familie Corduke weiterzugeben. David hatte bereits vorgeschlagen, ihn nach seinem Vater John zu nennen. Widerwillig hatte Enid zugestimmt, dass es eine angemessene Geste wäre, besonders nach dem Trauma des Unfalls …

Sie hielt inne und zwang ihre Gedanken fort von der Erinnerung, von diesem schlimmen Tag, der ihrer aller Leben verändert hatte. Auf Drängen ihres Mannes waren sie sofort in das Haus in der Brunswick Street gezogen – sie, David und Davie – und hatten versucht, einen Anschein von Normalität in Thomas’ und Hannahs Leben zu bringen.

Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Zwei sich lang dahinziehende Jahre, in denen sie, wenn auch ungern, dazu gezwungen gewesen war, ein Maß an Verantwortung zu akzeptieren, nicht nur für ihre eigene kleine Familie, sondern auch für die Angehörigen ihres Mannes. Mit Thomas kam sie zurecht. Er war jetzt nur noch selten da, denn während der Woche wohnte er in seiner Wohnung in Brisbane und widmete sich seinen Studien. Aber Hannah!

Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus, als sie an das Mädchen dachte, und vermochte nicht einmal zu sagen, was sie am meisten an Davids Schwester störte. Hannah war hübsch, räumte sie widerwillig ein, mit ihren langen dunklen Haaren, dem blassen ovalen Gesicht und der zarten Haut. Ein Ebenbild ihrer Mutter, das, sie wusste es, im Herzen ihres Mannes einen wehmütigen Schmerz auslöste. Oft überraschte sie David dabei, dass er seine Schwester anstarrte, und sie stellte sich vor, dass er daran dachte, wie die Dinge hätten sein können, wären seine Eltern in jener kalten windigen Nacht nicht mit dem Einspänner ausgefahren. Aber sie hatten es getan, und im Bruchteil einer schrecklichen Sekunde hatte sich der Lauf ihrer aller Leben verändert. Hannahs ständige und unvermeidliche Anwesenheit im Haus schien Enid eine Art Störung zu sein, ein Eindringen in ihre ureigene weibliche Domäne.

Langsam ließ Enid die Arme sinken und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie schaute wieder zurück zu den erleuchteten Fenstern des Hauses. Drinnen war der Tisch mit einem neuen blauweiß karierten Tischtuch gedeckt. Dort stand ein Teller mit kaltem Fleisch, übrig geblieben vom Roastbeef, das es mittags gegeben hatte, frischer Salat, saure Gurken und ein Laib Brot, der noch warm war. Und danach gab es ein Glas Marmelade und eine große Schale mit Milch. Eigentlich gehörte das Tischdecken zu Hannahs Aufgaben, aber sie hatte sich heute nicht blicken lassen, und resigniert hatte Enid schließlich selbst diese Arbeit übernommen.