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Eine Liebe in Queensland ...
Australien im 19. Jahrhundert. Die junge Kitty wird in eine übereilte Vernunftehe gedrängt. Sie soll den Platz ihrer verstorbenen Schwester an der Seite ihres Schwagers einnehmen. Und das, obwohl sie selbst gerade erst die große Liebe ihres Lebens verloren hat. Kann sie auf den Scherben dieses Verlustes ein neues, glückliches Leben aufbauen?
Eine epische Saga, in der wir die Familie Hall vom 19. Jahrhundert bis in den Ersten Weltkrieg begleiten. Die packende, in sich abgeschlossene Fortsetzung von "Weil die Hoffnung nie versiegt".
Weitere Landschafts- und Familiengeheimnis-Romane von Robyn Lee Burrows bei beHEARTBEAT:
Wind über dem Fluss. Der dunkle Fluss der Sehnsucht. Der wilde Duft der Akazie.
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 674
Veröffentlichungsjahr: 2020
Die Geschichte der Familie Hall:
Weil die Hoffnung nie versiegt
Der wilde Duft der Akazie
Der dunkle Fluss der Sehnsucht
Wind über dem Fluss
Eine Liebe in Queensland …
Australien im 19. Jahrhundert. Die junge Kitty wird in eine übereilte Vernunftehe gedrängt. Sie soll den Platz ihrer verstorbenen Schwester an der Seite ihres Schwagers einnehmen. Und das, obwohl sie selbst gerade erst die große Liebe ihres Lebens verloren hat. Kann sie auf den Scherben dieses Verlustes ein neues, glückliches Leben aufbauen?
Eine epische Saga, in der wir die Familie Hall vom 19. Jahrhundert bis in den Ersten Weltkrieg begleiten.
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Robyn Lee Burrows wurde in New South Wales, an der Ostküste Australiens, geboren und lebt nun im Hinterland der Gold Coast in Queensland. Bei beHEARTBEAT sind fünf Romane der Australierin lieferbar: Der dunkle Fluss der Sehnsucht, Der wilde Duft der Akazie, Wind über dem Fluss und die Saga um die Familie Hall. Robyn Lee Burrows ist verheiratet, hat drei Söhne, fünf Enkelkinder und diverse Haustiere. Besuchen Sie die Homepage der Autorin unter http://www.robynleeburrows.com.
Robyn Lee Burrows
Weil nur die Liebe wirklich zählt
Australien-Roman
Aus dem australischen Englisch von Cécile G. Lecaux
Digitale Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1997 by Robyn Lee Burrows
Titel der australischen Originalausgabe: »Song from the Heart«
Published by Arrangement with Robyn Lee Burrows
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2002/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Penderev/Getty Images, © sara_winter/Getty Images, © Konstanttin/Getty Images, © zhaojiankang/Getty Images
E-Book-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8549-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Adam, Mark und Scott
Kitty erwartet ein Kind?«
Ted ließ sich auf die oberste Stufe der Verandatreppe sinken, fuhr sich mit einer Hand über die Stirn und versuchte zu begreifen, was Mayse eben gesagt hatte. Schwanger! Das Wort wirbelte erst ganz allein durch die Leere in seinem Verstand und verursachte gleich darauf einen dumpfen, pochenden Schmerz an seiner rechten Schläfe. Langsam ließ er den Kopf sinken und stützte ihn auf die Hände.
Mayse holte tief Luft und beugte sich vor. »Reiß dich zusammen, Ted. Du kannst dich nicht mit dem Mädchen verlustiert haben, ohne dir über die möglichen Konsequenzen im Klaren gewesen zu sein.«
Er blickte ungläubig zu ihr auf. Verlustiert? Was für ein unpassendes Wort. Es klang billig, als wäre das, was in jener Nacht im Stall passiert war … Ganz durcheinander brach er den Gedanken ab, nicht in der Lage, seine Gefühle für Kitty in Worte zu fassen. »Allmächtiger, Mayse. Es war doch nur das eine Mal.«
»Kein Grund, Gott zu lästern.«
»Ich habe nichts gegen ihren Willen getan, falls du das glauben solltest.«
»Was ich denke, tut nichts zur Sache. Es ist passiert und lässt sich nicht ungeschehen machen. Die Frage ist, was jetzt werden soll.«
»Was werden soll? Himmel, ich weiß es nicht. Das kommt so unerwartet. Ich kann im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Ich bin so müde. Können wir nicht ein anderes Mal darüber reden? Morgen vielleicht, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe?«
Mayse schüttelte den Kopf, die Lippen grimmig-entschlossen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Um Himmels willen, Ted. Du machst es mir nicht gerade leicht. Es müssen Entscheidungen und Vorkehrungen getroffen werden. Es bringt nichts, sie hinauszuschieben. Morgen wird sich an der Situation nichts geändert haben. Das Problem wird sich nicht einfach in Luft auflösen.«
Verdammt, dachte Ted und rieb sich die müden Augen. Er stand auf und ging auf der Veranda auf und ab. Seine Schritte hallten laut auf den Dielen. Sie forderte Entscheidungen von ihm. Entscheidungen. Seine Gedanken überschlugen sich. »Sie könnte nach Brisbane gehen und das Kind dort bekommen. Es zur Adoption freigeben. Niemand müsste etwas erfahren«, meinte Mayse.
»Nein!« Ted wirbelte entsetzt herum. »Es muss einen anderen Ausweg geben.«
»Du könntest sie heiraten.«
Er hielt in seinem rastlosen Auf und Ab inne, einen schockierten Ausdruck auf dem Gesicht. Kitty heiraten? Die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau, die er vor Jahren aufgenommen und wie ein eigenes Kind großgezogen hatte? Kitty, das schlaksige junge Ding, das zu einer schönen und begehrenswerten Frau herangereift war? Und doch hatte all das ihn in jener schicksalhaften Nacht nicht davon abgehalten, mir ihr zu schlafen. Plötzlich kam ihm das Ganze beinahe inzestuös vor.
»Kitty heiraten? Das … das kann ich nicht. Was ist mit Maddie? Sie ist noch keine zwei Monate …«
Er brachte es nicht über die Lippen. Tot! Tot! Tot! Das Wort hallte laut in seinem Kopf wider. Maddie: Er würde sie nie wiedersehen, würde nie wieder den betörenden Rosenduft ihres Haares riechen. Das war die eigentliche Ironie des Ganzen. Maddie, seine geliebte Frau, war tot, und schon drängte ihn Mayse in eine neue Ehe. Er fühlte sich leer, ausgeliefert, als hätte er jegliche Kontrolle über sein Leben verloren.
»Maddie ist tot, Ted«, entgegnete Mayse sanft. »Und daran kann keiner von uns etwas ändern.«
»Und was sagt Kitty zu alledem?«, fragte er müde. »Was ist, wenn sie mich gar nicht heiraten will?« Immerhin war Ted 37 Jahre alt, 20 Jahre älter als Kitty.
»Hat sie denn eine Wahl? Hat irgendeiner von uns eine Wahl?«
Ted dachte einen Moment über Mayses Worte nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich denke nicht. Niemand wird ein Kind von mir einen Bastard schimpfen.«
Mayse erhob sich abrupt aus dem Schaukelstuhl. »Dann ist es also beschlossen. Es ist zum Besten, du wirst sehen.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Und was willst du Dan sagen?«
»Dan? Was hat das denn mit Dan zu tun?«
»Kitty hat mir heute erzählt, dass sie und Dan nach Weihnachten heiraten wollten.«
»Dan und Kitty?« Er starrte sie fassungslos an. »Du musst dich irren. Dan hat nie etwas von Heiratsabsichten gesagt.«
»Jeder hat so seine Geheimnisse. Man braucht doch nicht gleich seine Seele vor aller Welt bloßzulegen, oder?«
»Und ich muss jetzt Dan beibringen, dass sie meine Frau wird und nicht seine?« Er konnte Dan unmöglich sagen, dass Kitty von ihm schwanger war. Das wäre ein unerträglicher Vertrauensbruch für ihn. Und Maddie? Er hatte ihren Tod bislang noch nicht wirklich akzeptiert, hatte sie noch nicht endgültig losgelassen.
»Komm«, sagte Ted seufzend. Inzwischen war es stockdunkel. »Ich fahre dich nach Hause.«
Dan rührte in einem Topf auf dem Herd. Er blickte überrascht auf, als er seinen Bruder in der Tür stehen sah. Ted war ein wenig außer Atem, nachdem er zu Fuß gekommen war. Der Marsch zu Dans Hütte auf dem Nachbargrundstück hatte ihn ein wenig beruhigt, und er konnte jetzt wieder klarer denken.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann er. »Kitty und ich werden heiraten. Ich denke, es ist das Beste. Jetzt da Maddie tot ist, muss ich an die Mädchen denken und …«
Ted hörte ein dumpfes Krachen, das von Knochen herrührte, der auf Knochen traf, Sekundenbruchteile, bevor sein von den Ereignissen des Tages benommenes Hirn registrierte, dass Dans Faust seinen Kiefer getroffen hatte. Er taumelte rückwärts durch den Raum. Zwei weitere Schläge in den Magen, und er krümmte sich nach Luft ringend.
»Dan! Warte! Lass mich erklären«, keuchte er und griff Halt suchend nach der Tischkante.
»Erklären!«, schrie Dan und prügelte weiter auf seinen Bruder ein. »Da gibt es nichts zu erklären.«
»Herrgott, Dan. Hör auf!«
»Kitty gehört zu mir. Wir wollten heiraten, sobald Maddies Baby da war. Aber jetzt ist Maddie tot, und alles ist verdorben. Unsere ganzen Pläne. Und jetzt erdreistest du dich, herzukommen und mir zu eröffnen, dass sie dich heiraten soll. DICH!«
Ted rappelte sich schwer atmend auf und sah seinen Bruder an. Dans Züge waren versteinert und hasserfüllt.
»Davon habe ich doch nichts gewusst«, keuchte er.
»Ich habe dir vertraut. Ich habe an dich geglaubt. Aber mir war nicht klar, dass du alles haben willst. Alles, was mir in meinem ganzen Leben je etwas bedeutet hat.«
»Warum hast du mir nichts von euren Heiratsabsichten erzählt?«, hielt Ted dem entgegen. »Wenn ich das gewusst hätte …« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Dan sich erneut auf ihn stürzte und ihm die Linke in den Bauch rammte.
»Wirst du auch sie zerstören? Ist dir denn gar nichts heilig?«
In einem unentwirrbaren Knäuel aus Armen und Beinen rollten sie über den Boden der Hütte. Stühle fielen polternd um, Töpfe und Blechbüchsen mit Mehl und Zucker gerieten auf dem Tisch ins Rutschen und wurden von einem Arm heruntergefegt. Eine weiße Mehlschicht legte sich über den Raum. Ein kleiner Beistelltisch zersplitterte unter dem Gewicht der kämpfenden Brüder.
So plötzlich der Kampf begonnen hatte, so plötzlich war er vorbei. Dan erhob sich und klopfte sich das Mehl von der Hose. Ted setzte sich auf. Er fühlte, wie ihm das Blut an der Schläfe herunterrann. Keuchend sah er zu, wie Dan sich mit dem Hemdsärmel blutigen Speichel aus dem Mundwinkel wischte.
»Es tut mir Leid. Ehrlich. Eines Tages werde ich dir alles erklären, und vielleicht wirst du es dann verstehen.«
Dan bedachte seinen Bruder mit einem grimmigen Blick voll abgrundtiefer Verachtung. »Ich werde es nie verstehen. Nichts, was du sagen könntest, würde es für mich verständlicher machen. Im Übrigen würde ich dir doch nicht glauben.«
»Bitte, ich weiß, dass du verletzt bist, aber ich würde es gerne wieder gutmachen.«
»Fahr zur Hölle«, stieß Dan gepresst hervor, knallte die Tür hinter sich zu und lief hinaus in die Nacht.
Dan blieb an den Stamm eines ausladenden Eukalyptusbaumes gelehnt stehen und blickte zurück zur Hütte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und in seinem Kopf drehte sich alles nach den Ereignissen der vergangenen Minuten. Ein paar Sekunden später kam Ted durch die Tür und starrte in die Dunkelheit.
»Dan?«, rief er.
Dan zog sich hinter den Baum zurück und betete, dass Ted seinen schnaufenden Atem nicht hören konnte. Vorsichtig betastete er seinen Mund. Die Lippen waren bereits geschwollen.
»Komm schon, Dan«, hörte er Ted rufen. »Ich weiß, dass du da draußen bist. Können wir reden?«
Reden! Was sollte Ted ihm noch sagen können, das er nicht bereits wusste? Ted und Kitty! Verheiratet! Glühender Zorn hatte seinen ganzen Körper erfasst, bis er schließlich glaubte, es nicht länger aushalten zu können, und beinahe laut aufgeschrien hätte vor Qual. Kitty, die ihm vor Monaten das Jawort gegeben hatte. Wie konnte sie ihm das antun? Und Ted, der alles hatte – Land, ein Zuhause, seine Töchter, und der ihm das eine nahm, das er für sich begehrte: Kitty!
Er hatte so lange auf sie gewartet, und jetzt hatte Ted sie ihm weggenommen, sie überredet, ihre geheime Verlobung aufzulösen und stattdessen ihn zu heiraten. Was hatte er ihr versprochen, um sie dazu zu bringen, ihre Meinung zu ändern? Dan war sicher, dass sie ihn geliebt hatte. Hatten ihre Küsse ihm das nicht verraten? Reden! Es gab nichts mehr zu sagen. Und was ihn betraf, hatte er von nun an keinen Bruder mehr.
Nachdem Ted nach vergeblichem Rufen gegangen war, kehrte Dan zurück in seine Hütte und stürmte ohne Licht zu machen ins Schlafzimmer, wo er den Koffer, der noch dem Vorbesitzer gehört hatte, vom Schrank nahm und seine spärliche Habe hineinstopfte.
Er fühlte sich wie betäubt, als wäre nichts mehr von Bedeutung. Alles, was er noch registrierte, war ein übermächtiger Instinkt, der ihm sagte, dass er fliehen musste, sofort und weit weg. Er hatte kein festes Ziel, wusste nur, dass er diesem Ort des Todes und der Enttäuschung den Rücken kehren würde.
Als er sein Pferd sattelte, wurde ihm klar, dass er nicht fortgehen konnte, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.
Er wartete, bis in Teds Hütte nacheinander die Lichter gelöscht wurden, und geduldete sich dann noch eine gute halbe Stunde, ehe er zur Tür schlich.
Die Vordertür knarrte. Dan erstarrte und wartete, dass sich etwas rührte. Nichts. Langsam trat er ein und tastete sich am vertrauten Mobiliar entlang.
Kitty lag auf dem Rücken, das rote Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Sie atmete tief und gleichmäßig. Verzaubert stand er da und blickte auf sie hinab. Ein Teil von ihm wollte sie wachküssen, ein anderer war erfüllt von Bitterkeit und Groll. Er war aus dem Bedürfnis heraus gekommen, sie zu sehen, sie anzuflehen, ihm zu sagen, dass das ganze Gerede von einer Heirat mit Ted nur ein grausamer Scherz gewesen war. Aber nun, da er hier stand und sie im Schlaf beobachtete, übermannte ihn grenzenloser Zorn. Kitty hatte ihn betrogen, seine Liebe mit Füßen getreten, versprochen, ihn zu heiraten, um sich dann einem anderen zuzuwenden. Er fragte sich, was vorgefallen sein mochte. Was hatte sie bewogen, ihre Meinung zu ändern? Warum hatte sie so plötzlich beschlossen, statt seiner Ted zu heiraten? Er war von den einzigen noch verbliebenen erwachsenen Mitgliedern seiner Familie hintergangen worden.
Langsam wandte er sich ab, verließ das Zimmer und durchquerte das Esszimmer. Er blieb kurz stehen und prägte sich im schwachen Mondlicht das Zimmer noch einmal ein. Dann griff er nach der gerahmten Fotografie auf dem Esstisch, die früher auf Maddies Nachttisch gestanden hatte.
Er hob das Bild dicht vor das Gesicht. Es war nicht hell genug, um die einzelnen Gesichter erkennen zu können, aber er wusste, dass sie da waren. Er und Kitty, Ted, Maddie, Beth, Emma und die kleine Rose, die nur zwei Jahre alt geworden war. Er strich mit einer Hand über das Glas und stellte sich Kittys Gesicht unter seinen Fingern vor. Nach kurzem Zögern klemmte er sich den Bilderrahmen unter den Arm, so fest, dass das Silber sich durch den Stoff seines Hemdes in sein Fleisch bohrte.
Dan ging zurück zu seinem Pferd. Es gab noch eins, das er erledigen musste, bevor er Boolai endgültig den Rücken kehren konnte: Er musste sich von Dominic verabschieden. Er wusste, dass Dom überrascht sein würde von der Neuigkeit. Welche Ironie. Jahrelang hatte Dominic davon gesprochen, von daheim wegzugehen, und jetzt war er, Dan, derjenige, der davonlief.
Er schwang sich in den Sattel und ritt in Richtung Glengownie, dem Anwesen seiner wohlhabenden Nachbarn. Er schaute nicht zurück. Wenn er es getan hätte, wären die Konturen der kleinen Hütte verschwommen gewesen von seinen Tränen.
Boolai
Im Südosten von Queensland, Oktober 1882
Ted war früh aufgestanden. Kitty hatte im Halbschlaf gespürt, wie er wach wurde, die Beine streckte und gleich darauf aus dem Bett stieg. Sie hörte, wie er barfuß umherging, dann das Rascheln seiner Hose und eines sauberen Hemdes, das Klirren einer Gürtelschnalle. Dann war er fort, und sie hörte die Vordertür knarren, die er leise hinter sich zuzog. Kitty döste wieder ein, versank wieder in grauem, traumlosem Nichts.
Schließlich weckte sie lautes Vogelgeschrei. Sie schlug noch ganz verschlafen die Augen auf und war im ersten Moment verwirrt, wusste nicht, wo sie war. Das Zimmer war fremd und doch vertraut, jedenfalls ganz sicher nicht das ihre. Um sie herum war alles weiß: Wände, Gardinen und sogar die Tagesdecke. Der Vorhang vor dem Fenster bauschte sich im Wind nach innen, gebläht wie ein Segel. Sonnenschein fiel hindurch und hob die strahlende Weiße noch hervor.
Auf dem Nachttisch stand ein welker Blumenstrauß. Und plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Das war ihr Brautstrauß. Celsiana-Rosen, deren cremefarbene Blütenblätter in der Hitze erschlafft waren, obwohl jemand die Blumen in eine Vase gestellt hatte. Das musste Ted gewesen sein. Ted, der bis vor wenigen Monaten noch der Mann ihrer Schwester Maddie gewesen war. Aber Maddie lebte nicht mehr, und ihr Mann war jetzt mit ihr, Kitty, verheiratet.
Sie war jetzt hellwach, stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete die Vertiefung in dem Kopfkissen neben ihr. Sie berührte mit einer Hand die Mulde, die sein Kopf hinterlassen hatte. Dann senkte sie den Blick und schaute versonnen auf den schlichten goldenen Ehering an ihrem Finger. Es kam ihr vor, als läge die Trauung schon eine Ewigkeit zurück. Sie schien nur noch eine verschwommene Erinnerung.
Es war ein komisches Gefühl, verheiratet zu sein, als hätte sie sich von jetzt auf gleich in einen anderen Menschen verwandelt, der ihr fremd war. Gestern um diese Zeit war sie noch Miss Kitty gewesen, und heute war sie Mrs. Katherine Hall.
Ein neuer Name und ein anderes Bett. Kitty seufzte und ließ den Kopf auf das Kissen zurückfallen. Während sie so dalag, umgeben von Weiß und geblendet vom Sonnenlicht, kam es ihr vor, als stünde sie am Rande von etwas Unbestimmtem. Was war es für ein Gefühl, verheiratet zu sein? Sie schüttelte den Kopf; sie wusste es nicht. Allerdings, dachte sie gleich darauf, als Übelkeit in ihr aufstieg, weiß ich wohl, wie es sich anfühlt, schwanger zu sein. Sie kämpfte den Brechreiz nieder, atmete mehrmals tief durch. Zählte bis zehn und entspannte sich bewusst. Die Übelkeit verebbte wieder.
Ihre Gedanken kehrten zurück zu jener Nacht vor fast zwei Monaten. Sie hatte spätnachts auf einem Ballen Heu gesessen und bei der kalbenden Kuh gewacht, als Ted, der eben erst von einem Ausflug zum Pferderennen in Brisbane zurückgekehrt war, hereingestolpert kam, zwei Flaschen Bier unter die Arme geklemmt. Er war bester Laune gewesen und ordentlich angeheitert. Auf sein Drängen hin hatte Kitty schließlich das Bier getrunken.
Anfangs hatten sie sich noch über unverfängliche Dinge unterhalten, nichts Persönliches. Ted hatte immer wieder mit ihr angestoßen, bis ihr ganz schwummerig geworden war. Es war warm im Stall, und die Luft roch durchdringend nach Stroh und Melasse. Nach einer Weile war Ted still geworden, und abgesehen von der Flanke der hochträchtigen Kuh hatte sich nichts mehr gerührt.
Sie wusste bis heute nicht genau, wie es zum Äußersten hatte kommen können, aber einige Einzelheiten waren ihr lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ted, der an den Knöpfen ihres Kleides fummelte, das Glühen, als seine Hand über ihre Wange strich. Teds Körper. Sein Mund, seine Haut.
Rückblickend war ihr klar, dass sie ihm hätte Einhalt gebieten, ihre Würde retten und gehen müssen. Sie hätte zu Dan gehen sollen, der sie liebte und heiraten wollte. Aber dumm wie sie war, war sie geblieben, hatte ihn betrogen, hatte ihre Liebe betrogen, und nun war Dan fort.
Ein einziger, bedauernswerter Fehler, und sie hatte sich ein ungewolltes Baby und eine lieblose Zweckehe eingehandelt. Was hatte Ted noch gleich am Vorabend, nach der Trauung, gesagt? Ich habe dich geheiratet, um unserem Kind den Makel zu ersparen, als Bastard auf die Welt zu kommen. Ich werde für dich sorgen und alles in meiner Macht Stehende tun, um dich glücklich zu machen. Ich kann allerdings nicht versprechen …
Dich zu lieben: Das waren die Worte, die er nicht über die Lippen gebracht hatte.
»Das ist nicht fair«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang ungewollt laut in der Stille der Hütte. Und doch wusste sie, dass Verbitterung ihr nichts bringen würde; es gab eben Dinge im Leben, denen man machtlos gegenüberstand. Es gab kein Zurück, wie sehr sie sich dies auch in den letzten Tagen gewünscht haben mochte.
Widerwillig versuchte sie, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Einmal abgesehen davon, dass sie in etwa sieben Monaten ihr Kind zur Welt bringen würde, waren da noch Teds Töchter. Die erst neunjährige Emma war noch ganz durcheinander vom Verlust ihrer Mutter, die im Kindbett gestorben war. Und Beth, inzwischen 13, lebte im Internat in Beenleigh und wusste noch gar nichts von der Blitzheirat ihres Vaters und ihrer Tante.
»Sie muss informiert werden«, sagte Kitty sich bestimmt. »Je eher, desto besser. Ich werde ihr gleich heute Nachmittag schreiben.«
Kitty stand auf und lief barfuß durch die verlassene Hütte. Als sie an dem Spiegel vorbeikam, der im Wohnzimmer über der Anrichte hing, blieb sie stehen und betrachtete ihr Spiegelbild. Eine wilde, noch nicht hochgesteckte rote Mähne fiel ihr über die Schultern und reichte bis weit den Rücken hinab. Die grünen, braun gesprenkelten Augen wirkten riesig und leuchtend, und die Schatten darunter verrieten, dass sie in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen hatte.
»Meine Güte«, schimpfte sie und kniff sich ungeduldig in die Wangen, um wenigstens etwas Farbe in ihr blasses Gesicht zu zaubern. »Ich sehe ja furchtbar aus.«
Emma saß im Küchenanbau und aß Toast, der dick mit dem Rest aus einem Marmeladenglas bestrichen war.
»Ich habe dich gesehen«, sagte das kleine Mädchen und leckte sich Marmelade von der Oberlippe. »Du hast in Mamas Bett geschlafen.«
»Ja«, entgegnete Kitty und zauste ihrer kleinen Nichte das blonde Haar. »Dein Papa und ich haben gestern geheiratet. Du weißt doch noch, dass Reverend Carey da war und wir anschließend die leckeren Sandwichs gegessen haben und die kleinen Küchlein?«
Emma schwieg eine Weile nachdenklich. Auf ihrem runden Gesicht mit den lustigen Grübchen lag ein so trauriger Ausdruck, dass Kitty sich fragte, ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. »Heißt das, dass du jetzt meine Mama bist?«
Kitty schüttelte den Kopf.
»Dann ist es gut«, sagte Emma sichtlich erleichtert. »Ich habe nämlich schon eine Mutter, auch wenn sie tot ist. Und man kann ja nicht zwei Mütter haben, oder?«
Bei diesen Worten fühlte Kitty, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Nein, Schatz.« Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und fügte hinzu: »Ich bin nur deine Stiefmutter.«
Bei einer Tasse Tee grübelte Kitty über ihre neue Beziehung zu Beth und Emma nach. Als die Töchter ihrer Schwester waren sie bisher ihre Nichten gewesen. Nachdem sie ihren Vater geheiratet hatte, waren sie nun ihre Stieftöchter. Und das neue Baby? Cousin und Halbbruder. Oder Halbschwester, fügte sie in Gedanken hastig hinzu. Immerhin gab es keine Garantie, dass es ein Junge wurde.
Nachdem die Hausarbeit erledigt war, nahm Kitty den Korb mit den Flickarbeiten und setzte sich auf die Vordertreppe. Emmas Stimme drang gedämpft aus der Hütte. Sie las laut aus einem Irish National Readers vor, den Maddie vor Jahren in der Stadt abonniert hatte.
Es war selbst im Schatten sehr warm, und auch die Brise, die durch die Baumwipfel fuhr, brachte kaum Kühlung.
Kitty schloss die Augen und lauschte dem leisen Rascheln. Plötzlich tauchte vor ihrem geistigen Auge Dans Gesicht auf. Ihr stockte der Atem. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, wo er sein mochte, wohin er wollte. Sie wusste, dass er eine ordentliche Summe Geldes angespart hatte.
Stirnrunzelnd verdrängte Kitty die Gedanken, als sie nahendes Hufgetrappel vernahm. Ted würde nicht vor dem Abend zurückkehren, das wusste sie.
Kurz darauf tauchte ein gut gekleideter Mann auf einem Rappen aus dem Dickicht auf, das zwischen Haus und Straße wuchs. Sie erschrak, als sie Randolph Tarlington erkannte.
Den Tarlingtons gehörte das angrenzende Anwesen Glengownie. Hedley, der Patriarch der Familie, hatte sich vor 30 Jahren mit Frau und zwei Kindern – Randolph und Cordelia – als erster Siedler in der Gegend niedergelassen. Kitty konnte sich gar nicht vorstellen, wie es seinerzeit in Boolai ausgesehen haben musste, als die Wildnis noch nicht so großflächig gerodet war wie heute.
Hedley hatte für seine kleine Familie eine Hütte errichtet, das Land urbar gemacht und in große Weiden aufgeteilt. Viele Jahre später, nach dem Tod seiner Frau, hatte er wieder geheiratet. Bridie, die junge Tochter eines von Hedleys Geschäftspartnern aus der Stadt, war in Cordelias Alter gewesen. Sie hatte ihm noch zwei Söhne geboren, Hugh und Dominic.
Nach Jahren hatte die Kolonialregierung beschlossen, das Land in Parzellen aufzuteilen und zur Besiedelung freizugeben. Glengownie blieben nur zwei Parzellen eines bis dahin viel größeren Geländes. Hedley hatte für seine zweite Frau ein repräsentatives neues Haus gebaut, ein elegantes, zweistöckiges Herrenhaus, und neue Siedler hatten seinen ehemaligen Grund besiedelt, darunter die Halls, Kittys Familie.
In der Anfangszeit hatte Randolph Ted immer wieder gedrängt, sein Land an ihn zu verkaufen, weil er expandieren wollte. Kitty erinnerte sich noch gut an sein wiederholtes plötzliches Auftauchen, seine lächerlich niedrigen Angebote für das Land und seine Drohungen, die Ted unbeeindruckt einfach ignoriert hatte. Stattdessen war es Ted zu Randolphs Verdruss gelungen, zwei weitere angrenzende Parzellen zu erwerben, sodass sich zwischen den beiden Männern schwelender Hass entwickelt hatte.
Heute, sieben Jahre später, war Hedley tot, und wenige Wochen nach seinem Begräbnis, erst vor wenigen Tagen, um genau zu sein, hatte Randolph überraschend Glengownie verlassen und eine neue Parzelle, weiter entfernt in Richtung der Berge, gepachtet. Kitty hatte sich schon gefragt, ob es vielleicht innerhalb der Familie Streit gegeben hatte. Bridie, Hedleys Witwe und neue Herrin auf Glengownie, die zusammen mit Cordelia, Hugh und Dominic die Leitung des Anwesens übernommen hatte, hatte sich nicht zu Randolphs Weggang geäußert.
Kitty dachte über die komplexen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie Tarlington nach. Bridie und Cordelia, Hedleys zweite Frau und seine Tochter, hatten sich in den ersten Jahren nicht ausstehen können, und erst ihre gemeinsame Liebe zu Glengownie hatte sie einander näher gebracht. Dann der bodenständige Hugh, der niemals klagte und so ganz anders war als sein Bruder Dominic. Dominic, der das Landleben verabscheute und Randolph hasste. Dan hatte Kitty anvertraut, wie Randolph seinem Halbbruder mit Schlägen und abfälligen Bemerkungen das Leben schwer gemacht hatte. Aber Dominic war inzwischen ebenfalls fort. Er hatte Glengownie vor wenigen Tagen verlassen und war mit Dan auf und davon.
Und damit war sie wieder bei Dan angelangt. Sie verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, und ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Das muss aufhören, sagte sie sich bestimmt. Ich kann nicht ständig an ihn denken. Es ist aus und vorbei. Ich bin jetzt mit Ted verheiratet.
Randolph zügelte sein Pferd, sprang aus dem Sattel und nahm mit schwungvoller Geste den Hut ab. Glatt rasiert und mit bleistiftdünnem Schnauzer auf der Oberlippe stand er vor ihr. Er machte ein grimmiges Gesicht, und tiefe Furchen durchzogen seine Stirn. Das Haar, das sich dunkel von seiner gebräunten Haut abhob, war mit Pomade zurückgekämmt und glänzte in der Sonne.
»Ah, Mrs. Hall, die neue Hausherrin, wenn ich nicht irre.« Sein Tonfall klang aufrichtig, aber um seinen Mund lag ein spöttischer Zug.
»Ich würde empfehlen, dass Sie wieder auf Ihr Pferd steigen und verschwinden, Mr. Tarlington. Sie befinden sich auf Privatbesitz und sind hier unerwünscht.«
»Keine sehr freundliche Hausherrin, wenn ich das sagen darf.«
»Was wollen Sie?«
Er schenkte ihr ein schleimiges Lächeln. »Ich bin gekommen, um Ihnen mein Beileid zum Tod Ihrer Schwester auszusprechen. Ich weiß, dass die Beerdigung schon zwei Monate zurückliegt und ich früher hätte kommen müssen, aber gewisse Ereignisse haben mich davon abgehalten.«
»Danke«, entgegnete sie steif, bemüht, höflich zu bleiben.
»Aber jetzt habe ich gehört, dass man auch gratulieren kann, zur Trauung.« Randolph schob einen Fuß leicht vor und nahm eine entspanntere Haltung ein. Er war, ohne dass sie es recht bemerkt hatte, immer näher gekommen, und musterte sie nun eindringlich aus höchstens einem halben Meter Entfernung. »Der Busch ist natürlich kaum geeignet für alte Traditionen wie die Einhaltung eines Trauerjahres. Wir leben, und wir sterben. Wozu lange trauern?«
Beim Gedanken an Maddie fühlte Kitty zum zweiten Mal an diesem Tag, wie ihr die Tränen kamen. Wütend, dass er es schaffte, sie derart aus der Fassung zu bringen, machte sie auf dem Absatz kehrt, um die Treppe hinaufzugehen, fort von Randolphs prüfendem Blick. Sie wollte nicht, dass er sie weinen sah.
Blitzschnell schoss seine Hand vor und packte ihren Arm. Sie versuchte, sich loszureißen, aber vergeblich. Die Berührung machte sie ganz krank. Die Lüsternheit auf seinem Gesicht ließ sie beinahe zurückzucken vor Abscheu. Sie holte tief Luft und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Wenn Sie gekommen sind, um Grundstücksangelegenheiten zu besprechen, vergeuden Sie Ihre Zeit, Mr. Tarlington. Guten Tag.«
»Vielleicht könnten Sie einem durstigen Nachbarn eine Tasse Tee anbieten? Ich würde gern ein paar Dinge mit Ihnen besprechen.«
»Was sollten wir beide schon zu besprechen haben, Mr. Tarlington, einmal abgesehen von unserer gegenseitigen Abneigung?«, entgegnete sie zuckersüß.
Randolph wich einen Schritt zurück. Ein Tick zuckte im Rhythmus seines Pulses an seiner Schläfe. Er musterte sie ernst. »Sie tun mir Unrecht, Mrs. Hall. Ich bin ein liebenswerter Mensch, wenn man mich erst näher kennt.«
Seine Stimme klang abgehackt, und Kitty wusste, dass sie ihn erzürnt hatte. Mit einer abrupten Bewegung riss sie sich los. »Wie schade, dass ich das nie erfahren werde. So, und nachdem unser Gespräch beendet ist, denke ich, sollten Sie gehen.«
»Bevor ich gehe, möchte ich noch einen Grund für diese angenehme Plauderei nennen. Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht fort möchten von Boolai. Einen neuen Anfang machen. Und als Vorbesitzer erwarte ich, dass Sie mir ein Erstkaufsrecht einräumen.«
Kitty ballte die Hände zu Fäusten. Sie war so wütend, dass sie an sich halten musste, um ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. »Dieses Land gehört den Halls, und das wird auch so bleiben«, erwiderte sie wütend und schob entschlossen das Kinn vor, wobei sie die Hände hinter dem Rücken versteckte, um einen Ausrutscher zu vermeiden. »Und wenn Sie sich einbilden, wir würden ausgerechnet an Sie verkaufen, sind Sie wirklich furchtbar naiv.«
Hierauf fuhr sie herum und stürmte die Treppe hinauf auf die Veranda, um auf Distanz zu gehen zu diesem furchtbaren Menschen. Wie konnte er es wagen, herzukommen, sie zu bedrängen und ihr zu drohen!
Sie lief ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu, mit einem lauten Knall, der noch in ihren Ohren widerhallte, als sie sich schwer atmend mit dem Rücken an das Holz lehnte. Randolphs spöttisches Gelächter folgte ihr durch die stickige Luft.
Wütend ritt Randolph in Richtung Schiffsanleger. Der Muskel an seiner Schläfe zuckte unkontrolliert, und er hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Es war, als hätte sich alles und jeder verschworen, um ihm sein Land zu rauben.
Er war noch ein Kind gewesen, als sie vor 30 Jahren hierher gekommen waren, um ein Stück Land zu besiedeln, das sie Glengownie nannten. Er hatte an der Seite seines Vaters geschuftet von früh bis spät. Land musste gerodet werden, eine Hütte wurde gebaut und Zäune errichtet. Mit der Zeit hatte er das Land erforscht, bis er es kannte wie seine Westentasche, bis er wie ein Liebhaber jede Kuhle und jeden Zaunpfahl auf jeder Weide kannte. Und in gewisser Weise war das Land ein Teil von ihm: das Einzige, was ihm in schlechten Zeiten die Kraft gab, durchzuhalten. Noch heute konnte er Hedleys Worte hören: Dieses Land ist dein Erbe. Eine Prophezeiung, die ihn angespornt hatte. Vergiss nie, Sohn, ohne Land ist ein Mann nichts.
Er erinnerte sich an den Tod seiner Mutter und an das Gefühl der Leere, das er hiernach Jahre nicht losgeworden war. Und vor allem erinnerte er sich an den Tag, da Hedley aus der Stadt zurückgekehrt war und einer fremden Frau vom Wagen geholfen hatte. Das ist Bridie, meine neue Frau. Wir wurden gestern in Brisbane standesamtlich getraut.
Randolph dachte daran zurück, wie sie ausgesehen hatte, als sie als Braut seines Vaters nach Glengownie gekommen war. Schlank und zierlich war sie, mit langem, vollem blau-schwarzen Haar. Er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, hatte sie mit falschen Versprechungen in sein Bett gelockt und ihre Beziehung zu etwas Schmutzigem gemacht. Dafür hatte sie ihn gehasst, aus ihren Gefühlen keinen Hehl gemacht und ihn ihre Verachtung spüren lassen, wo sie nur konnte. Sie hatte Hedley noch zwei Söhne geschenkt, Söhne, mit denen er, Randolph, sein Erbe teilen musste.
Und nun, dachte er wütend, war alles verloren. Das ursprüngliche Glengownie war vor Jahren aufgeteilt worden, und ihnen waren nur zwei Parzellen, ein Bruchteil der ursprünglichen Farm, geblieben. Er hatte miterlebt, wie Siedler über das Land herfielen und in Besitz nahmen, was einst sein gewesen war. Er hatte den Verlust nie verwunden. Und jetzt war sein Vater tot. Er war als Erbe von Glengownie eingesetzt gewesen, so wie Hedley es vor all den Jahren versprochen hatte. Aber das Anwesen war hoch verschuldet, und Randolph besaß nicht die Mittel, es zu halten, sodass er letztlich keine andere Wahl gehabt hatte, als es an Bridie zu verkaufen.
Bridie hatte ihn nach einer Auseinandersetzung fortgeschickt und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie und Cordelia Glengownie künftig mit Hughs Hilfe verwalten würden. Frauen!, dachte er verärgert. Als ob sie in der Lage wären, einen landwirtschaftlichen Betrieb zu leiten. Eines Tages würde er sich zurückholen, was sein war. Und wenn es so weit war, würde es ihnen noch Leid tun, allen dreien! Er legte eine Hand auf seine Jackentasche und seufzte. Ihm war das Land wichtig gewesen, nicht das Geld. Er wollte es zurück. Und zwar nicht nur in seinem derzeitigen Umfang, sondern alles, die Tausende von Morgen, die er und sein Vater ursprünglich bewirtschaftet hatten. Vor allem, dachte er seufzend, die drei Parzellen, die dieser Emporkömmling Hall sich angeeignet hatte.
Der Gedanke lag ihm wie ein Stein im Magen. Irgendwie war es Hall gelungen, zu expandieren, während er, Randolph, so gut wie alles verloren hatte.
Ein unverschämter Kerl, dieser Hall. Und dass er so kurz nach dem Tod seiner Frau wieder geheiratet hatte, noch dazu seine eigene Schwägerin! Schamlos.
Seine Gedanken wanderten zurück zu der Szene bei den Halls vor wenigen Minuten. Er sah wieder Kitty vor sich auf der Treppe stehen, eine Hand in die Hüfte gestemmt, einen verächtlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Kitty, die ihn des Landes verwies, das einmal ihm gehört hatte! Miststück! Eines Tages würde es ihr noch Leid tun, dass sie ihn so schlecht behandelt hatte. Ein wenig Freundlichkeit und Respekt hatte er wohl verdient, und nicht unverhohlene Verachtung und Ablehnung, vor allem von einer so jungen Person.
Im Stillen verfluchte Randolph die ganze Familie und wünschte ihr die Pest an den Hals. In seiner Wut rammte er seinem Pferd brutal die Sporen in die Seiten. Irgendwie würde er einen Weg finden, sich das Land wieder anzueignen. Der von Bridie gezahlte Kaufpreis hatte zwar fürs Erste seine Taschen gefüllt, sodass er ein billiges Stück Land am Fuß der Berge pachten konnte, aber der Boden war trocken und wenig fruchtbar, und bis zum Schiffsanleger waren es viele Meilen, ganz anders als von Glengownie aus, das in unmittelbarer Nähe zum Fluss lag.
Er lenkte sein Pferd auf einen Hof gleich neben dem Anleger, als das Versorgungsschiff gerade festmachte. Das Schaufelrad wühlte das Wasser auf, das sich in kurzen, kleinen Wellen am Ufer brach und über die grasbewachsene Böschung schwappte. Auf einer kleinen Anhöhe am Fluss stand das Haus der O’Reillys. Die Gardinen wehten im Wind, und die Sonne glitzerte auf den Glasscheiben. Gleich hinter dem Haus befand sich die Schmiede, in der Schmied Paddy O’Reilly ein strenges Regiment führte.
Randolph bahnte sich einen Weg durch die Wartenden, bis er neben dem Kapitän des Versorgungsschiffes stand. »Die Vorräte für Tarlington?«, sagte er. »Das heißt, für Randolph Tarlington.«
Der Kapitän musterte ihn misstrauisch und überflog dann die Liste mit den bestellten Waren. »Nichts«, sagte er kopfschüttelnd. »Ist nichts auf diesen Namen dabei. Allerdings ist eine Bestellung für Glengownie dabei, wenn Sie die ausliefern wollen.«
Aus den Augenwinkeln sah Randolph Bridie auf den Hof reiten und absteigen. Er wollte ihr nicht begegnen, nicht heute. Nicht, bevor er sich einen Plan zurechtgelegt hatte.
Mit einem knappen Fluch wandte er sich ab. Kein Glengownie und keine Vorräte. Wie sollte ein Mann da überleben?
Nach dem Essen ging Ted hinaus auf den Hof, und gleich darauf drangen regelmäßige, dumpfe Axtschläge durch die stille Nachtluft herein.
»Komm, Emma«, seufzte Kitty und strich ihrer Nichte über das Haar. »Lass uns abräumen.«
Sie gab heißes Wasser in den Metallzuber und spülte das Geschirr. Emma trocknete ab, ganz still, wie so oft in letzter Zeit. Dann, nachdem sie Emma zu Bett gebracht hatte, setzte Kitty sich in einen Sessel und wartete auf Ted, da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Sie war unsicher. Sollte sie aufbleiben, bis er ins Haus kam? Sie war müde, sogar richtiggehend erschöpft, und der Gedanke an die kühlen Laken war verlockend.
Ted hatte nicht viel gesagt, als sie ihm von Randolph Tarlingtons Besuch berichtet hatte. Stattdessen hatte er die Lippen zornig zusammengepresst und nur einen verhaltenen Fluch ausgestoßen. »Wenn er noch einmal herkommt, geh ins Haus und verriegle die Tür hinter dir«, knurrte er. »Ich will nicht, dass du irgendwas mit ihm zu tun hast.«
Kitty wartete vergeblich, dass er das Holzhacken einstellte. Als sie die Augen kaum noch offen halten konnte, ging sie zur Tür und schaute hinaus. Im Licht, das durch das offene Hüttenfenster fiel, konnte sie Ted drüben beim Holzstapel ausmachen.
Als sie näher kam, hielt er mit erhobener Axt inne.
»Kommst du schlafen? Es ist schon spät.«
Er schüttelte den Kopf. »Geh du nur. Ich komme gleich, ich will nur erst den Stapel fertig machen.«
Der Stapel war bereits gewaltig, und überall lagen frisch geschlagene Scheite herum. Der Vorrat reichte für Monate. Es bestand keine Veranlassung, noch mehr Holz zu hacken.
Kitty nickte nur und kehrte zurück ins Haus. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Als sie in dem breiten Bett lag, das sie jetzt mit Ted teilte, lauschte sie den gedämpften Schlägen und stellte sich Ted draußen im Mondlicht vor, bis sie darüber einschlief und er Teil ihrer Träume wurde.
Als sie aufwachte, war es Morgen, und er war bereits fort.
Beth kam an Weihnachten nach Hause. Die Atmosphäre im Haus war gespannt und bei weitem nicht so locker wie zu Maddies Lebzeiten. Kitty war nervös und blass, Emma schaute mit großen traurigen Augen in die Runde und weinte viel.
Ihr Vater, Ted, ließ sich nur selten blicken. Es schien ihr, als wäre er andauernd beschäftigt oder unterwegs und kaum noch daheim. Er verbrachte nur dann längere Zeit im Haus, nachdem der Postbote Clarrie Morgan die neuesten – bereits mehrere Tage alten – Zeitungen gebracht hatte. Dann setzte er sich an den Esstisch, und im ganzen Haus war nur das Ticken von Mamas alter Uhr zu hören und das leise Rascheln, wenn er beim Lesen umblätterte.
Sogar nach dem Abendessen verließ er das Haus wieder, während Beth, Kitty und Emma aufräumten und sich bettfertig machten. Er schlug stundenlang Holz, obwohl der Aborigine Johnno immer für einen ausreichenden Vorrat an Feuerholz sorgte. Die Axt hob und senkte sich rhythmisch; die im Mondlicht schimmernde Eisenklinge fuhr unermüdlich durch die Luft. Es war, als wäre er lieber allein da draußen als bei ihnen in der Hütte.
Manchmal fragte Beth sich, ob sie ihn irgendwie verärgert hatte, weil er so ernst und grimmig war. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Sie bemühte sich, brav zu sein, half Kitty im Haus und saß stundenlang über ihren Büchern oder ihrer Näharbeit, obwohl sie lieber durch den Busch gelaufen wäre. Aber Papa war nie da, um zu sehen, wie fleißig sie war, wie also sollte er wissen, wie sehr sie sich anstrengte?
Es ließ ihr keine Ruhe, bis sie schließlich Kitty darauf ansprach.
»Natürlich hat es nichts mit dir zu tun, Schatz«, beruhigte Kitty sie und umarmte sie. »Womit hättest du ihn denn verärgern sollen?«
Beth zuckte ratlos die Achseln. »Vermisst er vielleicht Mama? Mir fehlt sie jeden Tag, also könnte es ja sein, dass sie ihm auch fehlt.«
Ein trauriger Ausdruck trat auf Kittys Gesicht. Beth war verwirrt. Wem sollte sie ihre Loyalität schenken? Immerhin war Kitty jetzt mit Papa verheiratet. Vielleicht wurde sie nicht gerne daran erinnert, dass Papa früher mit Beths Mutter verheiratet gewesen war. Beth wusste, dass es nicht Kittys Schuld war, dass Mama gestorben war. Und es war auch nicht Kittys Schuld, dass Papa es auch in den schwülsten Nächten, wenn die Motten in dichten Schwärmen die Lampen umschwirrten und die Frösche unten am Fluss laut quakend nach Regen verlangten, vorzog, draußen zu bleiben. Der Holzstapel an der Schuppenwand wuchs und wuchs, obwohl Sommer war und Kitty den Ofen wegen der Hitze nur möglichst selten befeuerte.
Eine Woche vor Weihnachten erklommen Beth und Emma gemeinsam den grasbewachsenen Hügel, auf dem ihre Mutter begraben lag. Die Dupontii-Rosen, die sie und Kitty vor Wochen auf dem Grab gepflanzt hatten, schlugen aus. Auch Gras spross wieder auf der lockeren Erde, und Feldblumen nickten im Wind mit den Köpfen.
Es war komisch, sich Mama unter dem Erdhügel vorzustellen, unter den Rosen mit den winzigen Knospen. Und es war ein komisches Gefühl, ohne Mama den Christbaum zu schmücken und Kuchen und Pasteten zu backen.
Beth verspürte eine sonderbare innere Leere. In ein paar Wochen würde sie nach Beenleigh ins Kloster zurückgehen, wo sie ihre Schulbildung abschloss. Obwohl sie fast 14 war, ein Alter, in dem die meisten Mädchen von der Schule abgingen, bestand Papa darauf, dass sie noch blieb, um nachzuholen, was sie in den ersten Jahren hier in Boolai versäumt hatte. Emma würde mitkommen.
Beth seufzte bei dem Gedanken daran, wieder wegzugehen. Die Vorstellung war gleichzeitig aufregend und beängstigend, und so stand sie ihrer Abreise mit gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits freute sie sich, aber ein kindlicher Teil von ihr wollte lieber bleiben und sich von Kitty bemuttern lassen, obwohl diese gar nicht ihre Mutter war.
Aber es gab auch gute Neuigkeiten. Erst gestern hatte Papa ihnen gesagt, dass sie ein Baby erwarteten. Beth freute sich auf einen Säugling, ganz klein und weich, mit kleinen Fingern und Zehen. Dann dachte sie an Mama. Mama war bei der Geburt ihres Brüderchens gestorben, und jetzt würde auch Kitty ein Baby bekommen. Eine stille Furcht regte sich tief in ihrem Innersten, und plötzlich fürchtete sie sich davor wegzugehen. Und wenn etwas passierte? Wenn sie das nächste Mal nach Hause kam und Kitty nicht mehr da war?
Mit wem sollte sie dann reden, wem ihre Ängste anvertrauen? Nicht Emma. Sie war noch zu jung, um zu verstehen, selbst noch ein Kind. Und Ted, der allein im Mondschein die Axt schwang? Der hatte keine Zeit für banale Gespräche.
An einem heißen Nachmittag, als Kitty ruhte und Emma las, sattelte Beth sich ein Pferd und ritt zu dem einzigen Menschen, mit dem sie reden konnte. Zu der Frau, die Mamas beste Freundin gewesen war: Bridie Tarlington.
Bridie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und schaute durch das Fenster auf die Staubwölkchen, die um das Haus herum aufgewirbelt wurden. Von der heißen Brise getragen, die vom Fluss heraufwehte, legte der Staub sich auf Jasmin und Geißblatt und bedeckte diese mit einer feinen Schmutzschicht.
Der letzte Rest Zuckerrohr lag auf dem Feld unmittelbar unterhalb. Randolph hatte einen Namen für das bambusartige Rohr gehabt. Süßes Gold, hatte er es genannt und auf einen finanziellen Aufschwung gehofft, aber dann war die Ernte von einer Krankheit befallen worden und wertlos geworden. Nun rissen Hilfsarbeiter die letzten Pflanzen aus der Erde und schichteten sie zu riesigen Haufen auf, die bei Sonnenuntergang verbrannt werden sollten. Dann würden sie zusätzlich zu dem allgegenwärtigen Staub auch noch den Rauch ertragen müssen. Aber das Feuer musste sein, um auch die letzten Spuren von Randolph auf Glengownie zu tilgen.
Randolph hatte das Anwesen nicht freiwillig verlassen, sondern unter lautstarkem Protest und begleitet von Drohungen. Nur der Gedanke an das dicke Geldbündel in seiner Tasche, Geld, das sie ihm für das Land gezahlt hatte, hatte ihn ein wenig besänftigt. Sie sah ihn wieder vor sich, hochrot im Gesicht und mit dem Tick an der Schläfe, und unterdrückte ein Lächeln. Im Laufe ihrer Jahre auf Glengownie hatte sie manchen Kampf mit Randolph ausgetragen. Aber als sie zusah, wie er seine schwere Truhe zum Stall schleppte, wusste sie, dass sie gewonnen hatte. Süßes Gold? Sie betrachtete es lieber als süße Rache.
Und doch hatten die Endgültigkeit und das befriedigende Wissen, ihren verhassten Stiefsohn losgeworden zu sein, einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Glengownie gehört mir! Eines Tages werde ich zurückkommen und für mich beanspruchen, was rechtmäßig mein ist, und wenn der Tag gekommen ist, wird es dir noch Leid tun …
Was hatte er damit gemeint? Und wann würde er zurückkommen? Bridie wusste es nicht. Hedley hätte ihr zweifellos in dieser Sache raten können, aber sie musste sich immer wieder vor Augen halten, dass er nicht mehr lebte. Jetzt lag es bei ihr, sämtliche Entscheidungen zu treffen. Inzwischen hatte sich über die Gerüchteküche herumgesprochen, dass Randolph eine preiswertere Parzelle am Fuß der Berge gepachtet hatte. Und so hatte sie die eingeborenen Arbeiter gebeten, wachsam zu sein und ihr Bescheid zu geben, falls er in der Nähe gesichtet wurde.
Beim Gedanken an Hedley hüllte tiefe Trauer sie ein wie ein schwerer Mantel. In den vergangenen Monaten hatte sie nicht nur ihren geliebten Mann verloren, sondern auch ihre beste Freundin Maddie. Sogar ihr jüngster Sohn Dominic hatte sie verlassen.
Im Grunde war es Randolph gewesen, der den Jungen mit seiner spitzen Zunge vertrieben hatte. Bridie hatte im Laufe der Jahre häufig miterlebt, wie er Dominic behandelte. Die Schläge, die Art, wie er versucht hatte, seinen Geist zu vergiften und ihn gegen sie aufzuhetzen. Randolph hatte immer das Bedürfnis gehabt, sie alle zu beherrschen, und war letztlich mit großem Knall gescheitert. Obwohl Dominic mehr als einmal erwähnt hatte, von zu Hause wegzuwollen, hatte Bridie dies für eine leere Drohung gehalten bis zu jenem Morgen, da seine Kleider verschwunden waren und sein Pferd fehlte. Er hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, keine Erklärung. Nichts. Nur eins stand fest: dass Dan Hall in derselben Nacht verschwunden war.
Süße Rache, dachte Bridie erneut mit einem Seufzer. Randolph hatte den Jungen vertrieben, und im Gegenzug hatte sie Randolph davongejagt. Die Ironie war nur, dass Bridie keine Möglichkeit hatte, Dom wissen zu lassen, dass sein verhasster Halbbruder fort war.
Sie alle hatten sie verlassen, all die Menschen, die sie am meisten liebte. Jetzt, da nur noch sie selbst, Cordelia und Hugh auf Glengownie lebten, kam ihr das Haus fast leer vor.
Nachdenklich stieg Bridie die Treppe hinunter und trat hinaus auf die Veranda. Die Äcker weiter entfernt waren grün von Mais und Pfeilwurz. Das neue Bewirtschaftungsprogramm, das sie und Cordelia ersonnen hatten, zeigte bereits erste Resultate. Kein wertloses Zuckerrohr mehr. Künftig würden sie sich an erprobte Saaten halten.
Eine Bewegung seitlich des Hauses erregte ihre Aufmerksamkeit, und als sie sich umdrehte, sah sie ein Pferd auf sich zutraben. »Beth, Liebes«, rief sie aus, half dem Mädchen aus dem Sattel und rief einen der eingeborenen Stallburschen herbei. »Erzähl, was verschafft mir das Vergnügen?«
Ted brachte Emma und Beth mit dem Wagen nach Beenleigh ins Internat, und Kitty ging bis zur Straße mit und winkte, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Das Letzte, das sie sah, bevor der Wagen um die Kurve verschwand, war Emma, die sich sichtlich mühte, nicht zu weinen.
»Beth hat schreckliche Angst, dich auch noch zu verlieren«, erzählte Bridie ihr, als die beiden Frauen zusammen in der Küche saßen. »Schließlich musste sie erleben, wie ihre Mutter im Kindbett starb, und seit sie weiß, dass auch du bald ein Baby bekommst, ist sie halb tot vor Angst. Sie war bei mir und hat versucht, sehr erwachsen zu klingen, aber ich glaube, eigentlich wollte sie sich nur ausweinen.«
»Sie vermisst ihre Mutter«, entgegnete Kitty und schenkte ihnen Tee ein. Sie tranken aus feinen Porzellantassen, an denen Maddie ganz besonders gehangen hatte. Wo sie auch hinsah, alles erinnerte an ihre Schwester. »Das tun wir alle. Ich denke, wir alle haben mit dem Verlust zu kämpfen. Vor allem Ted.«
»Und was ist mit dir und Ted?«
Kitty zuckte die Achseln. »Er ist aufmerksam, wenn er zu Hause ist, was allerdings nur sehr selten der Fall ist. Er ist ein anständiger Mann, fleißig, ehrlich, ein guter Vater.« Sie schob eine Tasse auf Bridie zu und konzentrierte sich darauf, nichts zu verschütten.
»Aber? Du verschweigst mir doch etwas.«
Kitty blickte auf ihre Hände. Sie lagen auf dem Tisch; die Knöchel hoben sich weiß von der umliegenden Haut ab. Sie rührte ihren Tee nicht an. »Er liebt mich nicht«, entgegnete sie, von einem seltsamen Zorn erfüllt. »Und wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass er das nie tun wird. Keiner von uns hat diese Ehe gewollt, Bridie, so wie auch keiner von uns dieses Baby gewollt hat. Ein dummer, dummer Fehler. Aber es ist passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Vielleicht hätte ich fortgehen und das Baby zur Adoption freigeben sollen. Dann hätte niemand etwas erfahren.«
»Hättest du das denn übers Herz gebracht?«
Kitty zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber ein Leben ohne Liebe? Das sind recht trostlose Aussichten für den Rest meines Lebens. Mit Dan wäre alles so anders gewesen.«
Bridie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte Kitty aus grünen Augen. Sie hatte das dunkle Haar zu einem eleganten Knoten geschlungen und trug ein schickes graues Kleid, eine Farbe, die sie dieser Tage zu bevorzugen schien. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ist das alles?«
Kitty fühlte, wie brennende Hitze ihr Gesicht überzog, und gleichzeitig wallte trotzige Bitterkeit auf, die sich in zornigen Worten äußerte.
»Himmel, Bridie, ich hätte mir etwas Rat gewünscht. Ich bin mit einem Mann verheiratet, der sagt, er könne mich niemals lieben, einem Mann, der vergeht vor Trauer über den Verlust seiner Frau, und alles, was dir dazu einfällt ist ›Ist das alles‹.«
»Rat? Ich glaube kaum, dass ich die Richtige wäre, dir zu raten, Kitty!«
Kitty schämte sich bereits für ihren Ausbruch. Als Maddies engste Freundin war Bridie gekommen, um ihr in Freundschaft die Hand zu reichen, und sie hatte wahrlich keine Vorwürfe verdient. »Nein, wohl nicht«, seufzte sie.
»Du bist schwanger geworden, und Ted hat dich geheiratet«, fuhr Bridie fort, ohne weiter auf Kittys Ausbruch einzugehen. »Dann muss er doch etwas für dich empfinden.«
»Er hat gesagt, er würde mich aus Pflichtgefühl heiraten, damit niemand sein Kind einen Bastard nennen kann.« Kitty starrte auf ihre Fingernägel und hörte, wie Bridie scharf Luft holte.
»Dann hat er dich geheiratet, um dem Baby einen Namen zu geben? Aus Pflichtgefühl?«
»Und vermutlich, weil er sich geschämt hat. Weil er meinte, dass die Leute sich das Maul zerreißen würden.«
»Niemand zerreißt sich das Maul, Kitty«, entgegnete Bridie. »Du bist schwanger von Ted. Ein Kind ist das kostbarste Geschenk, das eine Frau einem Mann machen kann.«
»Nicht, wenn er es nicht haben will.«
Bridie warf ihr einen durchdringenden Blick zu. »Ich werde dir jetzt ein kleines Geheimnis verraten. Als ich Hedley heiratete, war ich so alt wie du, gerade mal siebzehn, noch ein halbes Kind. Seine Frau war an einem Fieber gestorben, und er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Die näheren Umstände unserer Trauung waren ähnlich wie bei euch.«
»Dann hat er dich auch nicht geliebt?«
Bridie schüttelte den Kopf. »Anfangs nicht. Es war eine reine Zweckehe. Wir konnten einander etwas geben, was der andere brauchte. Die Liebe kam erst später.«
Kitty seufzte tief und stützte das Kinn auf die Hände. »Dann hat er dich aber später doch geliebt?«
Bridie stellte energisch ihre Tasse ab und nahm Kittys Hände in die ihren. »Die Liebe zwischen zwei Menschen entsteht nicht unbedingt über Nacht. Das Umfeld muss stimmen, und die Saat muss gehegt und gepflegt werden, damit sie keimen und gedeihen kann. Wie deine Rosen. Wenn du sie gut behandelst, werden sie es dir mit einer Blütenpracht danken. Du und Ted habt noch ein wundervolles gemeinsames Leben vor euch, aber bevor die Zukunft beginnen kann, müsst ihr die Vergangenheit bewältigen. Natürlich trauert er um Maddie. Sie war seine Frau, die Mutter seiner Kinder. Und ich weiß, dass du Dan vermisst. Siehst du? Das ist es, was einer glücklichen Ehe zwischen euch im Wege steht.«
»Und was kann ich dagegen tun?«, fragte Kitty ungeduldig. »Ich hasse mein Leben, so wie es jetzt ist.«
»Zeit«, entgegnete Bridie schlicht. »Es wird einige Zeit dauern. Aber Ted wird lernen, dich zu lieben.«
»Glaubst du wirklich?«, fragte Kitty zweifelnd.
»Ich bin mir in meinem ganzen Leben noch nie so sicher gewesen.« Bridie erhob sich abrupt vom Tisch. »So, und jetzt muss ich zurück nach Glengownie. Es gibt viel zu tun, und es ist schon spät. Denk daran: Zeit. Das ist die Antwort. Vergiss Dan, wie schmerzlich das auch sein mag, und akzeptiere, was sich nicht ändern lässt.«
»Dann liegt es bei mir?«
»Ja, Kitty. Es liegt bei dir.«
Sie dachte einen Moment über Bridies Worte nach. Dann schob sie geräuschvoll ihren Stuhl zurück und stand auf. Der Rat der älteren Frau war vernünftig, der einzige praktikable Weg. Sie musste das Kapitel Dan abschließen und nach vorn blicken. »Ich will und werde es schaffen.«
»Das ist die richtige Einstellung. Du bist eine Kämpfernatur, Kitty, ein Mensch, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Und wenn das Kind erst da ist, wird es ein Band zwischen dir und Ted knüpfen, das niemand mehr zerreißen kann.«
Sie strich Kitty mütterlich über die Wange. Es war eine ganz spontane, flüchtige Geste, aber Kitty konnte noch lange die Wärme der Finger auf ihrer Haut fühlen.
Nachdem Bridie sich verabschiedet hatte, räumte Kitty die Tassen fort und ging dann hinüber in das Schlafzimmer, das sie jetzt mit Ted teilte. Sie setzte sich auf die Bettkante und fuhr mit der Hand über die Tagesdecke. Die Daunendecke darunter gab unter der Berührung nach. Sie hatte ihrer Schwester gehört, so wie die meisten anderen Gegenstände im Raum. Maddies Bibel auf dem Nachttisch neben Maddies Messingbett mit dem hohen Kopfteil. Maddies Bürsten und Kämme auf Maddies Frisierkommode. Sogar die Gardinen an den Fenstern hatte Maddie genäht.
Kitty ließ mit Tränen in den Augen verzweifelt den Blick durch den Raum schweifen. Sie war rundum von Dingen umgeben, die die Erinnerung an die Vergangenheit wach hielten. Sie sah Maddie auf dem Bett sitzen und sich mit der silbernen Bürste durch das Haar fahren; Maddie, die aus der Bibel las. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Maddie, die wie eine Mutter für sie gewesen war, lebte nicht mehr. Das war schlimm, und doch sagte ihr der gesunde Menschenverstand, dass das Leben weitergehen musste.
Bruchstücke ihres Gesprächs mit Bridie fielen ihr wieder ein. Ihr müsst beide die Vergangenheit bewältigen.
Wie sollten sie und Ted je miteinander glücklich werden, wenn ihn alles in diesem Zimmer an seine verstorbene Frau erinnerte?
Bridies Worte wiederholten sich in ihrem Kopf immer wieder wie eine Litanei. Liebe entsteht nicht über Nacht. Das Umfeld muss stimmen, und die Saat muss gehegt und gepflegt werden, damit sie keimen und gedeihen kann.
Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf und lief ans Fenster. Entschlossen nahm sie die Gardine ab und tauschte sie gegen jene aus Emmas und Beths Zimmer aus. Dieser Stoff war weicher, durchsichtiger und blähte sich schon beim leisesten Windhauch.
Nachdem das erledigt war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Rest des Zimmers. Die Bibel verstaute sie im Bettkasten am Fußende des Bettes, und Maddies persönliche Dinge verschwanden in einer Schublade.
Und jetzt das Bett. Dort hatte Ted mit seiner Frau geschlafen, und ihre Kinder waren auf derselben Matratze gezeugt und geboren worden. Und hier war Maddie auch bei der Geburt ihres Sohnes gestorben. Kitty betrachtete lange nachdenklich das verschnörkelte Kopfende, die kleinen Bögen und Spiralen, die handbemalten Porzellanköpfe oben auf den Pfosten. Ein Familienerbstück aus England, das sie seinerzeit aus der Heimat mitgebracht hatten. Das Bett war vermutlich ziemlich wertvoll, und sie beschloss, dass es bleiben musste. Das galt jedoch nicht für die Tagesdecke.
Sie zog sie vom Bett, lief in die Küche und öffnete die Ofentür. Vom Feuer waren nur einige glühende Kohlen übrig. Ohne zu zögern, stopfte sie die Tagesdecke hinein und sah zu, wie erste Flammen hochzüngelten und den Stoff versengten. Als sie sicher war, dass die Decke verbrennen würde, schlug sie die Ofentür wieder zu.
Ganz atemlos ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, verschränkte die Arme auf dem Küchentisch und fing zu ihrer eigenen Überraschung an zu weinen. Tränen liefen ihr über die Wangen, gefolgt von Schluchzern, die ihren ganzen Körper erbeben ließen und gar kein Ende mehr nehmen wollten. Sie weinte ebenso um die Vergangenheit wie um die Zukunft. Weinte um Maddie und Dan. Um das winzige Wesen, das sie unter dem Herzen trug, und um die schöne Tagesdecke.
Schließlich versiegten die Tränen, und auch die Schluchzer wurden immer weniger. Nachdem sie sich die Nase geputzt hatte, kehrte Kitty zurück ins Schlafzimmer. Sie fand, dass der Raum schon viel besser aussah. Nackter, beinahe spartanisch, aber wenigstens nicht mehr so überladen mit Erinnerungen. Als Nächstes holte sie mehrere leere Vasen aus der Anrichte im Esszimmer und füllte sie mit Wasser. Dann plünderte sie den kleinen Blumengarten.
Die Rosen standen im Spätsommer in voller Blüte. Fast wie im Fieber schnitt Kitty Dutzende von ihnen. Die meisten waren cremefarben, und ihre Namen waren ihr so vertraut wie ihr eigener Herzschlag: die zweifarbige rosa Isaphan, die fliederfarbene Marie Louise, die perlmuttfarbene große Mme Zoetman, die rosigen schweren Blüten der Botzaris. Zuletzt kam sie zu den Celsiana. Es waren nur einige wenige Rosen übrig, und eigentlich waren sie schon verblüht, aber sie erinnerten sie an ihren Brautstrauß. Sie drückte den inzwischen recht dicken Rosenstrauß so fest an die Brust, dass sie durch das Kleid hindurch die spitzen Dornen fühlte.
Im Schlafzimmer stellte sie bunte Sträuße zusammen, die sie auf die verschiedenen Vasen verteilte. Schon bald erfüllte ihr betörender Duft den ganzen Raum. Als sie fertig war, trat Kitty zurück und begutachtete ihr Werk.
Im schwindenden Licht des späten Nachmittags lag ein Glanz über allem, eine Art dunstiges Strahlen. Die durchscheinenden seidigen Blütenblätter warfen einen samtigen Schimmer an die Wände. Flüchtig verspürte Kitty ein Gefühl der Beklemmung. Was würde Ted sagen, wenn er das veränderte Zimmer sah? Vielleicht hätte sie ihn vorher fragen oder noch warten sollen?
»Es ist mir egal, was er sagt«, murmelte sie dann resolut und dachte wieder an Bridies Rat. »Es musste sein.«
Sie hoffte inständig, dass Bridie Recht behielt. Die ermutigenden Worte der Herrin von Glengownie waren alles, woran sie sich in den kommenden Monaten festhalten konnte. Ihre Ehe musste nicht unbedingt ein verpatztes Leben bedeuten. Wenn sie daran arbeitete, würde Ted vielleicht wirklich eines Tages lernen, sie zu lieben.
Die Vorstellung gefiel ihr und schenkte ihr neue Kraft. »Vielleicht kann ich dich dazu bringen, mich zu lieben, Ted Hall«, sagte sie laut zu sich selbst.
Die Gardinen blähten sich, wie um ihr Mut zu machen. Im Luftzug lösten sich mehrere Blütenblätter und fielen lautlos zu Boden: Die letzten Celsiana verwelkten bereits. Sie musste ihre eigene Ehe auf einem stärkeren Fundament errichten.
»Ja!«, sagte sie entschlossen und nickte bestimmt. »Ich werde dafür sorgen, dass du mich liebst, und wenn es das Letzte ist, das ich tue.«
Und dann fügte sie noch in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, hinzu: »Das wäre doch gelacht!«
Ted sagte nichts zu den Veränderungen im Schlafzimmer. Kitty lag im Bett und las, als er am Abend hereinkam und in der Tür kaum merklich zögerte. Ein verdutzter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als frage er sich, ob er vielleicht irrtümlich im falschen Zimmer gelandet war. Kitty hielt die Luft an und wappnete sich für eine möglicherweise bevorstehende Auseinandersetzung, aber Ted ging nur wortlos zum Fenster und zog die Vorhänge zu.
Jetzt da Beth und Emma nicht mehr da waren, kam es ihr sonderbar vor, mit Ted ganz allein in der Hütte zu sein. Kein Stimmengemurmel von nebenan, keine Emma, die sie zu Bett bringen musste, und auch keine Beth, die mit unglücklichem Gesicht dasaß. Mir fehlt Mama jeden Tag … Keine Kinder, die sie ständig daran erinnerten, dass sie in vieler Hinsicht Maddies Platz eingenommen hatte, auch wenn es nie ihre Absicht gewesen war, an ihre Stelle zu treten.
Sie brauchte jetzt auch kein Theater mehr zu spielen. Der Rollenwandel von der Schwägerin zur Ehefrau und umgekehrt vom Bruder-Ersatz zum Ehemann vollzog sich langsam. Es war für sie beide neu und fremd.
Februar. Es war drückend heiß. Kittys 18. Geburtstag. Ted war tagsüber gewöhnlich außer Haus und erledigte allerlei draußen auf den Feldern, während Johnno auf dem Hof herumwirtschaftete. Johnno war ein groß gewachsener, kräftiger Mann mit fast schwarzer Haut, der gern und viel lächelte. Seine Frau, Layla, kam mehrmals in der Woche vorbei, um Kitty bei der Wäsche zur Hand zu gehen.