Der Wind war es (eBook) - Nataša Dragnić - E-Book

Der Wind war es (eBook) E-Book

Natasa Dragnic

4,5

Beschreibung

Die Liebe - eine Naturgewalt. Mai auf der kroatischen Insel Bracˇ. Eine junge Laientheatergruppe aus München verbringt einige Wochen in einem winzigen, abgeschiedenen Dorf am Meer: Stefan, der ambitionierte Autor, mit seiner Freundin Barbara. Anton, der Regisseur, der alles auf eine Karte gesetzt hat. Michael, der charismatische Germanistikstudent. Katrin, die heimlich in Michael verliebt ist und immer bestrebt, die richtige ihrer drei Brillen aufzusetzen. Und Lisa, die Medizinstudentin, die ihre gewohnte Zurückhaltung auf dieser Reise aufgeben wird. Im Gästehaus von Barbaras Tante Julia wollen die Schauspieler proben, schlafen, essen – und begegnen sich hier auf engstem Raum. Zunächst scheint ihnen noch die Sonne. Doch dann bricht der Wind herein, der wilde, launische, gefährliche Südwind Jugo. Er tobt und wütet, macht die Köpfe wirr, wirbelt durcheinander, weckt Leidenschaften, lockt Gefühle hervor, schürt Eifersucht. Danach ist nichts, wie es war. Als am Morgen nach der letzten Sturmnacht ein Mitglied der Gruppe tot aufgefunden wird, sitzt der Schock tief. Wer bin ich, was ist das Leben? Wohin gehöre ich? Und gibt es nur diesen Augenblick? Fragen, die sich mit existenzieller Dringlichkeit stellen, als es Abschied nehmen heißt – von einem von ihnen, von der Insel und vom Meer. - Sprachgewaltig und von emotionaler Wucht: ein Roman über die Kraft der Liebe und der Natur - Komponiert mit der Dichte eines Kammerspiels: 11 Personen und ein Hund, durch einen tosenden Sturm von der Welt abgeschottet, zurückgeworfen auf sich selbst, die eigenen Gefühle, Begierden, Sehnsüchte und Ängste

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Nataša Dragnić

Der Wind war es

Roman

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage April 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: ars vivendi, unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture / Lubitz + Dorner

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-696-7

 

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Dank

Die Autorin

 

Für Daša

 

1.

»Wahnsinn!«

Zu sechst standen sie auf dem Felsplateau, hinter ihnen der alte VW-Kombi, vor ihnen der Abgrund, der in einem endlosen, für das Auge fast unerträglich silbrig-, beinahe platinglitzernden Blau endete. Die frische Luft, der Nordwind im Rücken, das stechende Licht in den Augen ließen sie alle sprachlos. Minuten vergingen, Minuten, getarnt als Stunden. Viel gab es nicht zu sehen: eine größere Bucht, an deren beiden Spitzen jeweils ein Haus stand, ein Haus wie ein Leuchtturm. Oberhalb der Bucht weitere Häuser, eher Hütten aus Stein oder lediglich mit Steinplatten bedeckt. Darüber Weinberge an den steilen Hängen. Auf der rechten Seite unzählige kleinere Becken, mehr oder weniger tief, mehr oder weniger felsig, dazwischen größere und kleinere Kiesstrände, alles menschenleer und verlassen. Ein paar durch die Luft segelnde, lautlose Möwen auf der Suche, der Sonne entgegen. Auf der linken Seite ein Hügel, der alles verdeckte, was dahinter lag. Nichts war zu hören außer dem Brausen der Wellen und dem Pfeifen des Windes. Und dann, als hätten sie sich abgesprochen, als hätten sie wieder angefangen zu atmen:

»Ich liebe diesen ersten Anblick, den ersten Eindruck …«

»Wisst ihr, wie der Originaltitel von Jane Austens Stolz und Vorurteil war? First Impression!«

»Ich bin so aufgeregt!«

»Ich hab noch nie so was gesehen!«

»Es ist kälter, als ich dachte …«

»Ich hab Hunger, ihr nicht?«

»Ich hab das Gefühl, ich könnte fliegen.«

»Wieso ist alles so gelb?«

»Das wird ganz toll hier, ich sage es euch, Leute.«

»Das ist Ginster, ich liebe Ginster.«

»Als könnte ich fliegen, wirklich fliegen …«

»Ich rieche Abenteuer, große Abenteuer, boys and girls!«

»Da links, hinter dem Hügel, liegt Bol mit dem berühmten Strand am Goldenen Horn, der sich mit der Strömung bewegt, kann man auf jeder kroatischen Ansichtskarte sehen.«

»Aber wir sind nicht zum Vergnügen hier, ist klar.«

»Da will ich unbedingt hin!«

»Alles ist möglich, spürt ihr das auch? Das Gesetz der Wildnis …«

»Wir wollen ja unser Stück vorbereiten, denkt dran!«

»So stelle ich mir das Leben nach dem Tod vor.«

Alle drehten sich zu Katrin um, sahen sie an, als hätten sie sie nie gesehen oder als hätten sie vergessen, dass sie dabei war. Ihr langes blondes Haar flog um ihr Gesicht wie ein Schleier, verdeckte ihre bebrillten Augen.

»Das ist nur die frische Luft und das Meer und die Sonne. Wenn man aus dem Grau des hohen Nordens kommt … Lasst uns weiterfahren, den besten Teil haben wir noch vor uns«, sagte Barbara und schritt entschlossen Richtung Kombi. Obwohl sie nicht zu der Theatergruppe gehörte – sie war weder eine Schauspielerin noch die Regisseurin noch die Autorin des Stückes –, fühlte sie sich für das ganze Unternehmen verantwortlich, da das Haus ihrer Tante der Ort war, wo die kleine Theaterwahlfamilie in den kommenden Maiwochen das neue Stück von Stefan, ihrem Freund, auf die Beine stellen wollte.

Unwillig, sich von diesem Ausblick loszureißen, und durcheinander redend folgten ihr alle. Anton, der Regisseur, setzte sich hinters Steuer und Barbara neben ihn, um ihm den Weg zu zeigen. Man nannte die beiden »the croatian connection«, weil Antons Eltern aus Split stammten und er selbst auch dort geboren war, erst mit sechs Jahren war er nach Deutschland gekommen; und weil Barbaras Tante Julia, eine echte Münchnerin, einen Kroaten geheiratet hatte, zu ihm auf die Südseite der Insel Brac ˇ gezogen war, in dieses winzige Dorf, das nicht einmal einen Lebensmittelladen oder einen Kirchturm vorweisen konnte, und dort blieb, auch nachdem er vor einigen Jahren zu unerwartet, zu jung, zu lebendig, zu gesund an einem Herzinfarkt gestorben war. Nach einem Jahr Schockzustand hatte Julia, verliebt in diesen Ort, ein Traumhäuschen aus Stein – drei Zimmer, fünf Betten – unter dem ihren bauen lassen, auf einem Felsen direkt am Meer, auf der Westspitze der großen Bucht, und vermietete es von Juni bis Oktober.

»Vorsicht!«, schrie Barbara, als ein großer Stein mitten im Weg erschien. Die enge, steil abfallende Straße war nicht asphaltiert und durch wuchernde Ginsterbüsche unübersichtlich. Anton bremste, alle flogen aus den Sitzen. »Soll ich fahren?«, fragte Barbara.

Anton würdigte sie keiner Antwort.

»Und was passiert, wenn uns jemand entgegenkommt?«, fragte Michael, Germanistikstudent und einer der Schauspieler in Stefans Stück.

»Wir sollten alle beten, dass das nicht passiert«, sagte Barbara und meinte es auch so.

Anton schimpfte vor sich hin, seine Gesichtszüge angespannt, seine Hände verschwitzt und am Lenkrad verkrampft. »Ich brauche eine Zigarette«, sagte er leise. »Gibt es denn keinen andern Weg?«

»Aber klar doch, eine vierspurige Autobahn, aber ich wollte euch ein wenig Abenteuer bieten.« Barbara drehte sich um und lächelte die nervösen Gesichter im hinteren Teil des Kombis affektiert an.

»Schau besser nach vorne!«

»Sollen wir aussteigen und runterlaufen?«

»Könnt ihr machen, aber der Kombi muss trotzdem runter, das Gepäck auch«, meinte Barbara.

»Das ist keine Straße, das ist nichts als Löcher und Steine!«, regte Anton sich auf.

»Und es ist steil, Leute, sehr steil«, fügte Stefan hinzu und schaute aus dem Fenster. »Man sieht die Küste gar nicht, man landet direkt im Meer.«

Katrin schloss fest die Augen und umklammerte Stefans Arm. Ihre Lippen bewegten sich fast unmerklich.

»Hast du Angst, Katrinchen?«, scherzte der Autor und zog an Katrins Haaren.

»Lass das«, flüsterte sie.

»Wie alt seid ihr denn?«, empörte sich Barbara und bedachte ihren Freund mit einem bösen Blick.

»Seid doch alle still, Anton muss sich konzentrieren!«, schrie plötzlich Lisa, Medizinstudentin und die zweite Schauspielerin. Alle sahen sie ­erstaunt an, denn Lisa, die Jüngste unter ihnen, war für ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung berühmt und berüchtigt.

»Wenn du auch Angst hast, Hase, kannst du meine andere Hand halten, Katrin wird sicher nichts dagegen haben«, bot Stefan an.

»Aber ich vielleicht«, beeilte Barbara sich zu sagen.

»In solchen lebensgefährlichen Situationen ist Eifersucht völlig fehl am Platz, meine Liebe.« Dass Blicke ohrfeigen konnten, machte Stefan deutlich, indem er sich an die Wange fasste. »Autsch! Das hat aber wehgetan!«

Barbara hatte sich umgedreht, sie war wieder bei Anton, unterstützte ihn, wo es Sinn und wo es keinen Sinn machte. So schafften sie ein paar Kurven, als das Vorderrad plötzlich wegrutschte. Anton bremste hart, der Wagen blieb am äußersten Rand vor dem Abgrund stehen. Lisa, die am Fenster saß, schrie auf, legte aber gleich eine Hand auf den Mund. Ka­trin ließ die Augen lieber zu, ihre Brille rutschte zur Nasenspitze. Michael fasste sich an den Kopf, und hätte er keine Glatze gehabt, hätte man denken können, er wolle sich die Haare ausreißen. Stefan beugte sich zu Lisa hinüber, wollte sehen, was zu sehen war, und man hörte Steine den Hang hinunterrollen. Stefan schnellte zurück.

»Keiner bewegt sich«, sagte Anton leise, vollkommen ruhig. »Ich brauche eine Zigarette, verdammt.« Er zog die Handbremse an. »In keinem Stück von Shakespeare wird geraucht«, flüsterte Stefan in Katrins Ohr, alle hörten es, aber erstaunlicherweise erwiderte keiner etwas. Es wurde so still, dass man die Windböen deutlich hören konnte. Dann fiel aus dem Nichts ein Vogel auf die Motorhaube, blieb dort unbeweglich liegen. Alle schrien auf. »Ruhe! Genug jetzt!« Antons Gelassenheit war verflogen, tot wie der Vogel vor ihnen.

»Das ist kein gutes Zeichen, oder?«, murmelte Michael, vor sich starrend. Niemand antwortete. Nur flaches Atmen war zu hören.

So saßen sie. Bis Michael sagte: »Was für eine Scheißidee.«

»Eine langsame Höllenfahrt, würde ich sagen.« Stefan behielt sein tückisches Lächeln bei.

»Ich will nicht sterben«, flüsterte Katrin.

»Niemand wird hier sterben!«, schrie Barbara und schlug gegen die Tür. Wieder hörte man Steine hinunterrollen.

»Bist du wahnsinnig?!«, kam es aus mehreren Mündern.

»Im Jahr 1500 verbot Queen Elizabeth I. das Schlagen von Frauen nach zehn Uhr abends … wie spät ist es jetzt?«

Barbara sah Stefan nicht einmal an.

»Der Tag ist zum Sterben zu schön«, meinte Anton und stieg sehr langsam und sehr vorsichtig aus.

Sofort biss ihm der Wind ins Gesicht. Er duckte sich, drehte sich hin und her, um ihm zu entwischen: seine große, magere Gestalt wie ein Spielzeug. Er ging um den Kombi herum und untersuchte die Lage, dann schaute er zu den angespannten Gesichtern hinter den Scheiben. Daumen hoch, es sah nicht so schlecht aus. Er bedeutete ihnen, sie sollten langsam aussteigen. Katrin und Michael jammerten: der Wind, der Wind, der scharfzahnige Wind! Der plötzlich den leblosen Vogel erfasste und mitnahm, einige Male artistisch durch die Luft wirbelte, um ihn schließlich wieder fallen zu lassen, in das Gebüsch am Straßenrand. Alle sahen gebannt zu.

»Wahnsinn.«

»Ich dachte, hier wäre schon Sommer«, sagte Lisa, hinter Stefans breiten Schultern Schutz suchend.

»Wieso das denn! Es ist erst Anfang Mai, da muss man mit allem rechnen«, erklärte Barbara irritiert.

»Hier werden nicht mal die Toten in Ruhe gelassen. Was für eine gottlose Gegend!«, sagte Michael besorgt. Oder gespielt besorgt.

»Seit wann kümmern dich Gott und sein Treiben?«

»Schluss jetzt mit dem Unsinn. Wir haben zu tun.« Anton legte die Hand vorsichtig auf die Haube. »Wir müssen das Auto hier, an der Seite, alle gleichzeitig anheben und nach rechts schieben, klar?« Anton sah sie erwartungsvoll an.

»Das schaffen wir nie, es ist zu schwer«, murmelte Katrin, die Brille auf der Nasenspitze.

»Ach was, das ist ein Kinderspiel«, meinte Stefan und postierte sich rechts an der Stoßstange. »Also, los geht’s!«

Der Wagen bewegte sich, schwankte nach rechts, alle stöhnten.

»Noch einmal!«, rief Anton.

»Ich kann nicht mehr …«

»Alle zusammen, eins, zwei, drei und …«

Plötzlich rutschte Michael aus und stürzte, blieb am Straßenrand liegen.

»Michael, pass doch auf!«

»Jetzt komm schon!«

Als er sich aufrichten wollte, stellte er den linken Fuß auf einen lockeren Stein, der wackelte, Michael wackelte mit und rutschte noch einmal aus, fiel rücklings – diesmal den Hang hinunter. Er schrie auf, wedelte mit den Armen, suchte Halt und rollte und rollte und rollte, und mit ihm unzählige Steine und Erdbrocken –, bis er in einem großen Busch, fast schon auf dem nächsten, viel weiter unten gelegenen Straßenabschnitt hängen blieb. Er rührte sich nicht. Auch seine Freunde oben am Straßenrand rührten sich nicht, ein umfassender Schockzustand. Dann schrie über dem Meer eine Möwe – und alle wachten mit einem Mal auf, erschraken. Gleichzeitig brüllten sie in den Wind, während Michael jaulte, um Hilfe rief.

»Wir kommen, warte!«

»Wir kommen von unten!«

»Keine Angst, Michael, wir sind gleich bei dir!«

»Schnell, Leute, noch mal anheben!«

Keiner beschwerte sich, alle konnten plötzlich, und so stand der Wagen wieder auf der Straße. Anton stieg ein und fuhr langsam los, die anderen liefen vor ihm her, um so schnell wie möglich bei Michael zu sein.

»Passt auf die Steine auf!«, rief Barbara.

»Und auf die Löcher!«, ergänzte Stefan, der als Erster ankam und zu der Stelle hochkletterte, wo Michael in einem Strauch lag, hing, jammerte, nach Gott rief. Die Rettungsaktion dauerte eine gute Viertelstunde, in der Michael nicht aufhörte zu heulen. Schließlich saß er auf einem großen Stein am Straßenrand, alle sorgten sich um ihn, geschäftig, fassten ihn an, zogen an ihm und stellten Fragen nach seinen Wunden, dem Schmerz.

»Wie gut, dass wir eine Ärztin dabeihaben«, meinte Stefan und sah Lisa nicht an, Lisa, die rot wurde und schwieg.

Als schlussendlich ein wenig Ruhe einkehrte, meldete Anton entschieden: »Nichts gebrochen.«

»Woher weißt du das? Bist du jetzt auch Arzt?«, regte Michael sich auf.

»Du kannst doch laufen, oder? Und dich bewegen?«

»Ja, aber es tut weh …«

»Klar tut es weh, so ein Sturz, es ist ein Wunder, dass du ihn überlebt hast, wenn ich nur daran denke …«, sagte Katrin leise, schaute Michael mit großen, ängstlichen Augen an. Blicke wurden ausgetauscht, und dann saßen sie wieder im Kombi und fuhren weiter, noch langsamer als zuvor. Lisa, den Erste-Hilfe-Kasten auf dem Schoß, kümmerte sich um Michaels Schnittwunden im Gesicht und am Kopf, während er ununterbrochen wiederholte: »Ich bin fast gestorben, mein ganzes Leben zog an mir vorbei. Ich bin fast gestorben, mein ganzes Leben …«, bis Stefan ihn anschrie, er solle die Klappe halten, sonst werde sein Leben noch einmal an ihm vorbeiziehen, aber diesmal endgültig. Katrin weinte ein wenig und schüttelte den Kopf, sodass ihre Ersatzbrille, die sie immer in den Haaren trug, herunterglitt. Sie ließ sie zwischen den Füßen liegen.

»Wenn das kein vielversprechender Anfang ist!«

Irgendwann und irgendwie kamen sie schließlich an, in der tiefen Bucht, und wunderten sich, wo der Wind und mit ihm die Bedrohlichkeit der letzten Stunde geblieben sei.

 

2.

In der Zwischenzeit hatte Julia auf der Terrasse gestanden, im Windschatten des Berges, wo die Sonne ungehindert ihre Wärme entfaltete, und gewartet, ihr Cockerspaniel Diva zu ihren Füßen. Ihr Blick verfolgte, auf die Serpentinen gerichtet, die Odyssee des grünen Kombiwagens. Toma, der ewig Verfrorene, saß im Liegestuhl neben ihr, eingewickelt in eine Decke, und folgte ihrem Blick.

»Soll ich ihnen entgegenfahren?«, bot er sich an.

»Nein, lass sie allein klarkommen, das gehört dazu«, Julia lächelte, sah ihn aber nicht an und spielte mit einer Zigarette, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie rauchen wollte oder nicht.

Toma setzte an, etwas zu erwidern, hielt dann doch den Mund und machte die Augen zu. »Was kann ein ehemaliger Polizeibeamter und ein verwundeter Kämpfer im kroatischen Heimatkrieg schon anderes tun, als am Meer in der Sonne zu liegen, vor sich hin zu dösen und seine verdiente Rente zu genießen«, sagte er ironisch, leise, aber laut genug, um von Julia gehört zu werden. In greifbarer Nähe der Frau, die er schon seit Jahren hoffnungslos liebt, fügte er unausgesprochen hinzu.

»Ach du«, war alles, was Julia dazu zu sagen hatte. Ein wenig abwesend langte sie nach dem Feuerzeug auf dem Tisch. Mitten in der Bewegung schrie sie leise auf, und Toma öffnete schlagartig die Augen: »Was ist?« Im Nu stand er bei ihr.

»Da, schau!«, zeigte sie in die Höhe, wo mitten am Berg der VW-Kombi ins Wanken geriet und mit einem Rad über dem Abgrund hing. Eine Windböe erwischte ihn seitlich, und er rutschte noch ein Stück weiter ab. »Das könnte unangenehm werden«, meinte Toma besorgt. »Soll ich wirklich nicht hinfahren?«

Julia wusste selbst nicht, was am besten wäre. Sie zündete die Zigarette an. Sie wollte sich nicht mehr als nötig einmischen. Barbara, ihrer Lieblingsnichte, hatte sie gesagt, sie und ihre Freunde könnten zwar kommen und im Gästehaus wohnen – aber das sei auch schon alles. Sie wollte den Frieden ihres Alltags bewahren, sich nicht gestört oder verpflichtet fühlen. Und Barbara, die ein häufiger Gast bei Julia war und sich gut auskannte, nicht nur in der Gegend, sondern auch mit allen Unannehmlichkeiten und Tücken dieses abgeschiedenen Lebens, hatte ihr versichert, voller Dankbarkeit, sie würde nicht einmal merken, dass sie da seien. Julia war damals schon genauso skeptisch gewesen wie heute, während sie die Szene am Berghang beobachtete. Aber auch besorgt und erschrocken, und die Muttergefühle, die sie – in Ermangelung eigener Kinder – für ihre Nichte hegte, wirbelten alles durcheinander.

»Also, was sagst du?« Toma sah sie von der Seite an, traute sich nicht, ihr den Arm um die Schultern zu legen.

Sie schüttelte den Kopf, zog tief an der Zigarette, bevor sie sagte: »Nein, die machen das schon.«

»Wenn du meinst«, erwiderte Toma, Kummer in den Augen. »Aber hör auf mit dem Rauchen, das wird niemandem helfen.«

»Lass mich doch!«

Diva wurde ebenfalls unruhig, stand auf und drehte sinnlose Kreise, bellte kurz den Berg an und stubste dann leicht gegen Julias Bein.

Julia streichelte ihr über den schwarzen, lockigen Hundekopf. »Alles in Ordnung, Diva, musst nicht bellen.« Toma wünschte sich manchmal, sie würde mit ihm in diesem kuscheligen Ton sprechen.

»Julia …«, fing er an, aber plötzlich hörten sie Schreie und sahen Steine und noch etwas anderes herunterrollen. »Was war das? Ist das ein Mensch? Ist da jemand runtergefallen?« Julias Stimme bebte vor Aufregung, ihre Hand blieb krampfhaft auf Divas Kopf liegen. Diva winselte und entzog sich ihr, dann bellte sie ganz laut und deutlich die Steine an, die sich wie ziellos geworfene Bocciakugeln gegenseitig den Weg abschnitten, anei­nanderschlugen, wild herumsprangen.

»Sollen wir die Polizei rufen?«

Aber Toma war schon ins Haus gegangen, telefonierte mit den ehemaligen Kollegen, scherzte sogar ein wenig, bevor er die Lage schilderte.

»Sie werden kommen«, sagte er, als er wieder neben Julia stand.

»Also werden sie nicht kommen«, sagte sie leise, wie selbstverständlich.

»Man weiß es nicht.« Toma schwieg, schlechtes Gewissen verbreitete sich in ihm wie Regenwolken. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie in diesem Augenblick anzusehen, wäre zu viel gewesen. »Es ist Sonntag.«

»Natürlich.«

Gebannt verfolgten sie die Ereignisse auf der Möchtegernstraße, die zu ihnen führte und schon für viele Schreckmomente gesorgt hatte. Aber sowohl Julia als auch Toma hatten sich, wie die große Mehrheit der Dorfbewohner, gegen eine asphaltierte, weniger gefährliche Umgehungsstraße erklärt – sie alle fürchteten die Touristenströme, die schon Bol und andere Orte auf der Insel überrollt hatten.

»Schau!«, sagte Toma und fasste Julia am Arm. Der grüne Kombi setzte sich in Bewegung – ja, doch, man konnte es Bewegung nennen, obwohl der Fortschritt mit dem bloßen Auge kaum zu sehen war. Julia lachte laut auf, Diva bellte verständnislos, aber freudig. »Ich mache ihnen was zum Essen, die werden völlig fertig sein, wenn sie irgendwann endlich ankommen«, sagte Julia und ging langsam ins Haus. »Ich dachte, du wolltest dich nicht einmischen, nicht mal den kleinen Finger rühren …«, zog Toma sie auf.

»Nur heute, heute ist der erste Tag, heute zählt nicht.«

»Natürlich nicht.«

Toma ging in die Hocke und fasste Diva unter die Ohren, ihre Zunge schnellte heraus und leckte ihn über das ganze Gesicht. Toma protestierte, es nutzte nichts, Diva wiederholte ihre Liebesbekundung noch einige Male, und dann stürzte sie sich auf Toma, warf ihn um, und sie wälzten sich auf den warmen Steinplatten.

»Meinst du, dein Frauchen mag mich, was glaubst du?« Diva bellte zustimmend. »Ja, wirklich? Weißt du das auch ganz sicher?« Bellen, was das Zeug hält. »Gut, ich glaub dir, ist in Ordnung.« Bellen, was die Kehle hergibt.

»Was macht ihr denn da?« Julia erschien am Fenster, eine Tomate und ein Messer in der Hand, ein lächelndes Fragezeichen im meeresblauen Blick. Zwei Köpfe drehten sich zu ihr, zwei verlegene Blicke, einer unschuldig, der andere als ob.

3.

»Das Begrüßungskomitee«, sagte Anton leise, hatte aber nicht einmal mehr die Kraft zum Schmunzeln. Barbara sprang aus dem Wagen, noch bevor er den Motor ausmachte, und fiel ihrer Tante in die Arme.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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