Der Windfisch - Ralf Rothmann - E-Book

Der Windfisch E-Book

Ralf Rothmann

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Beschreibung

Wer hat nicht schon davon geträumt, dem »erstickenden Unsinnsgefüge« unserer Wirklichkeit den Rücken zu kehren und in exotischer Ferne einen Neubeginn zu wagen? Nach seinem Prosadebüt Messers Schneide gelingt Ralf Rothmann erneut das Kunststück, diese Sehnsucht nach einem anderen Leben in spannungsreicher, ungestüm belebender Sprache aufzuheben. Bedrohlich-schmerzhafte Erfahrungen erleidet Guntram Lohser, ein aus Berlin stammender Fotograf, in Muisne, einem ecuadorianischen Dorf am Meer, zwischen Sumpfland und Kokospalmen, die im obszönen Lied vom Windfisch besungen werden ... Ein Mann, der sich nicht mehr in seinem Element befindet, ein Fisch im Wind eben, wird Lohser in die Such- und Vergeltungsaktion einer französischen Jüdin gegen einen SS-Mörder verwickelt und gerät selbst unter Mordverdacht. Ein alptraumartiger Polit-Thriller nimmt seinen Lauf ...

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Ralf Rothmann

Der Windfisch

Erzählung

Suhrkamp

Wir verlaufen uns im Leben, aber das Leben weiß, wo wir sind.

John Ashbery

Inhalt

Platz der Schweine

Tangohammer

Altes Jahr

Platz der Schweine

Man kann eine Frau, einen Mann, einen Hund verlassen. Man sagt den Freunden, dem Bäcker, dem Barmann Adieu, läßt alle Türen, Fragen und Rechnungen offen. Man zeigt dem Polizisten an der Ecke einen Vogel, sagen wir, eine Elster, gibt dem dicken Hintern der Gepflogenheiten einen Tritt und macht sich aus dem Staub. Kurz: Man kann einen Ort verlassen. Deutschland ist kein Ort.

Spiralartig stieg die Maschine auf über Mexico-City. Die Nacht hinter dem Dunstkreis war dunkelblau, und die 18-Millionen-Stadt in der Tiefe sah aus wie eines jener Häufchen glühender Kohlen, vor denen sich um diese Zeit die Prostituierten der Ausfallstraßen wärmten.

Die Klischees sollten gnädiger mit mir sein, dachte Guntram Lohser, ein Fotograf, während die Stewardeß den zweiten doppelten Cognac brachte. Als sie sich im Schein der Nachtbeleuchtung zu ihm beugte, um den dritten zu servieren, sah er hauchzarten Flaum an ihrer Wange, wie Rauhreif.

Deutscher also, sagte sein Nachbar, ein Peruaner, der die Stiefel ausgezogen hatte und ihre Messingspitzen abwechselnd mit einem Läppchen und einem Lächeln polierte. – Ein Mann sollte nur ein Paar Schuhe besitzen, finden Sie nicht? Ein Leben lang ein einziges Paar – es wäre irgendwie poetischer.

Am Rand der gezackten Andenschatten, die über dem Airport von Quito lagen, rollte die Maschine langsam aus. Lohser nahm seine Tasche vom Gepäckband und wartete wie gewöhnlich auf die Aluminiumbox, in der sich seine Ausrüstung befand; wartete verschlafen, bis alle Reisenden ihre Koffer davongetragen hatten und nichts mehr auf dem Karussell kreiste als eine gelbe Plastikente für die Badewanne.

Erst da fiel ihm ein, daß er das ja hinter sich hatte: die Fotoausrüstung und alles, was damit zusammenhing. Eine Schwalbe flog durch die morgenhelle Halle, er dachte an den Kündigungsbrief, den er mit dem Lippenstift der mexicanischen Bardame verfaßt hatte, an seine Unterschrift über den Blattrand hinaus, und froh über die Leichtigkeit seiner Reisetasche, wäre er fast an den Zollbeamten vorbeigelaufen. Ihre Sonnenbrillen spiegelten den Schalterraum bis hin zur Drehtür, vor der eine lndianerin in rotem Poncho bettelte.

Auf dem Weg zur Botschaft mußte er ein Stück weit durch die überlaufene Altstadt, durch den Auspuffrauch der Busse, die einander Stoßstange an Stoßstange die steilen Gassen hinaufschoben. Das Licht war anstrengend wie eine ungewohnte Dioptrie, alle Erscheinungen überdeutlich. Jeder Stein prunkte mit sich selbst, und alles Grün wirkte abweisend und kühl; manchmal schien es nahezu schwarz.

Vor dem Parlamentsgebäude standen Militärfahrzeuge und Wasserwerfer, von Steinwürfen oder Karambolagen verbeult. Ein Kind ging von Wagen zu Wagen und versuchte, den Soldaten eine einzelne Zigarette zu verkaufen.

In der Botschaft hielt der Wachmann einen Detektor an seinen Körper. Als er damit über die Hosentasche fuhr, ertönte ein Summen. – Schlüssel? – Schlüssel, sagte Lohser und klopfte mit der Hand an sein Stilett.

Es gab zwei Briefe für ihn. Sein Freund Benno schrieb, daß ein Rohr gebrochen sei in Lohsers Wohnung, Frost. Wasser im Schlafzimmer der Nachbarn, alle Möbel infolge der Feuchtigkeit verzogen, die Türen der Frisierkommode ließen sich nicht mehr schließen, man werde klagen. Außerdem wünschte er gute Ferien.

Seine Freundin Lydia schrieb aus Äthiopien, wo sie im Entwicklungsdienst arbeitete. Die Hilfsgüter vermoderten in den Bäuchen der Frachter, weil immer erst die Waffenlieferungen gelöscht würden. Die Krankenstation, die man aufgebaut habe, sei schon am ersten Tag hoffnungslos überlaufen gewesen. Alle Patienten hätten neben ihren furchtbaren Leiden immer auch noch eine Geschlechtskrankheit. Wer nur eine Geschlechtskrankheit habe, gelte als gesund.

Jeder Mensch, dem wir hier das Leben retten, schrieb sie, nimmt anderen die Nahrung weg. Und gibt es zeitweise genug Weizen für die meisten, sind die Frauen sofort wieder schwanger. Wenn wir dann nach zwei Jahren die Zelte und damit die Gesundheitsfürsarge abbrechen, wird alles um ein Tausendfaches schlimmer sein als vor unserer Ankunft. Glaube von mir, was Du willst, aber manchmal denke ich wirklich: Sterben lassen.

Und Du? Wie geht es Dir nach allem? Hast Du Deine Arbeit erledigt? Ich sehne mich nach Dir und sorge mich um uns.

Vor dem Diebstahl seiner Ausrüstung hatte Lohser für Presseagenturen und eine Illustrierte fotografiert. Mitte Dreißig, arbeitete er seit fast zehn Jahren in der Branche, zuletzt bei einer Zeitschrift, deren »junge Redaktion« mit konziliantem Trotz und erlesenen Fotos vom Elend aller Art erfolgreich vertuschte, etwas anderes als das Geld der Anzeigenkunden im Sinn zu haben. Außerdem war ihm der Auftrag zu einem Bildband über Mexico zugefallen.

Angefangen hatte er mit Portraits von Theaterschauspielern und Schriftstellern; für Kalenderverlage fotografierte er eine Weile Landschaften, die es längst nicht mehr gab, und schließlich knipste er alles.

Denn eines Tages wurde ihm klar, daß es egal war, welche Arbeit man machte, daß jede in gleicher Weise obszön ist, da sie das ganze vernichtende, vergiftende, erstickende Unsinnsgefüge in Gang hält, das man Wirklichkeit nennt, und daß es für einen Menschen mit einem Rest Herzblut zu dieser Stunde der Weltzeit nur noch eins geben kann: alles liegen- und stehenlassen und sich vor die Räder eines Raketentransporters oder die Auslieferungstore einer Automobilfabrik werfen. Alles liegen- und stehenlassen und sich an den Kühlturm eines Kraftwerks oder die Abwasserrohre eines Chemiekonzerns ketten. Sich mit Benzin übergießen und brennend über den Kudamm rennen.

Zu all dem war er freilich zu träge, zu feige, was ihn müde machte und empfänglich für jede Form von Ablenkung und Flucht – etwa, drei finanzierte Monate lang das »tropisch-üppige, faszinierend fremdartige, wilde, rauhe Mexico« zu fotografieren; für die Bildbandreihe eines Zigarettenkonzerns. Um nicht zu früh zurückzukehren in den Berliner Winter, wollte Lohser an seine Arbeit noch ein paar Wochen Ferien in Ecuador hängen.

Er durchquerte eine Grünanlage, die offenbar für ein Fest vorbereitet wurde. Die Holzkohlefeuer an den Wegkreuzungen rochen nach Weihrauch. Die Palmen wurden bis in Mannshöhe mit weißer Schlämmkreide gestrichen, und zwischen den Stämmen hingen Kabel voll glasklarer Glühbirnen. Eine Frau auf einem Stuhl tauchte sie in einen Farbtopf, aus dem sie wie kandierte Äpfel rot zum Vorschein kamen.

In der Telefonzentrale des »Sheraton« meldete er ein Gespräch nach Berlin an. Benno schien nicht überrascht. – Du machst es richtig, sagte er, fährst in der Weltgeschichte herum und läßt uns hier verfaulen. Schneit es bei dir auch? Als Kind und Briefmarkensammler war Ecuador immer mein Lieblingsland. Diese schwarzen Vögel mit den riesigen orangeroten Schnäbeln, wie heißen sie noch? In Hamburg wohnte der ecuadorianische Botschafter in meiner Nachbarschaft. Netter alter Herr, fuhr ihm mal aus Versehen in den Mercedes –

Ich brauche wahrscheinlich Geld, unterbrach Lohser. Schick bitte ans Konsulat, was sich noch auf dem Konto befindet. – Und der Wasserschaden? Deine Vermieterin ist sauer. Hätte jemand geheizt, wäre das Rohr nicht geplatzt. – Kündige das Zimmer. Die Bücher gehören dir, der Rest der Müllabfuhr. – Und wo willst du wohnen? – Hier, sagte Lohser, in diesem Pullover.

Am Rand eines bevölkerten Marktplatzes – es gab keine Stände, Obst und Gemüse haufenweise auf dem Pflaster, dazwischen schmale Pfade – wurde ein schwarzes Schwein geschlachtet. Kinder hielten die hochgestreckten Beine auseinander, ein Mann tauchte die Arme bis zu den Ellenbogen in den aufgeschlitzten Bauch, warf die blaugrau glänzenden Gedärme neben das Tier in den Staub.

Lohser fragte eine Händlerin nach der Busstation und kaufte einen Rasierpinsel, ein Schnapsglas voller Gießharz, in dem ein Busch Borsten steckte.

In der Nähe bemerkte er eine rotblonde Frau in engen Armeehosen und einem lichtdurchlässigen Herrenhemd.

Schritt für Schritt bewegte sie sich in einer langen Reihe von Marktbesuchern vorwärts. Mit beiden Händen hielt sie den Fotoapparat fest, der ihr vor dem Bauch hing, und trat sich selber mehrmals auf die Füße. Ihr Mund war geöffnet, die großen, grünlichen Augen überblickten staunend Glanz und Farbenpracht der Waren.

Ein Pfiff von irgendwoher – und plötzlich läuft sie auf, stößt gegen eine sehr dicke Indianerin, die stehengeblieben ist. Ausscheren geht nicht, es sei denn, übers Gemüse; also will sie einen Schritt zurückweichen – doch auch hinter ihr eine Indianerin, auch sie sehr dick. Derart bedrängt, reißt die Frau sich den Fotoapparat hoch an die Brust, versucht ein Knie zu heben, stößt mit den Ellenbogen und kreischt.

Ringsum rührt sich niemand. Ein Kind, das auf einem Zitronenberg sitzt, sieht aufmerksam zu ihr hin, bohrt sich mit einem Bambusstöckchen in der Nase. Lohser schnuppert an seinem Rasierpinsel, der nach Salmiak riecht.

Aus der Menschenmenge am Rand des Platzes löst sich ein Junge, vielleicht vierzehn, und setzt mit der Eleganz eines Hürdenläufers über die Warenhaufen; kein Kohlkopf, keine Orange gerät ins Kollern. Seine zu weiten, zerrissenen Kleider flattern; zwischen den schmutzigen Fingern glänzt eine Rasierklinge.

Señora! ruft Lohser warnend und winkt. Die Frau, in der Klemme, reißt den Kopf herum – und wird so abgelenkt von dem Jungen, der auf der anderen Seite heranschnellt, ihre Tasche zerschlitzt, die außen aufgesetzte Hosentasche, herauskrallt, was er zu fassen bekommt, und schon in der Menge verschwunden ist.

Die Indianerinnen gingen weiter. Die Frau trat zwischen zwei Gemüsehaufen, klappte einen Fetzen ihrer Militärhose hoch. Der schwarze Strumpf darunter war unversehrt.

O Scheiße, sagte sie auf deutsch und blickte Lohser an. – Flugticket und zweihundert Dollar. Du hast es gesehen. Sie sprach mit französischem Akzent, und in ihren Augen glitzerte es vor Wut. Lohser nickte.

Du hast es gesehen und bist nicht eingeschritten, Mann! Lohser schüttelte den Kopf. Sie stampfte auf in ihren Cowboystiefeln, warf das schwere Haar zurück. – Typisch deutsch!

Che cosa? fragte er – da preßte sie ihre Lippen zu einem Strich zusammen und ging quer über den Marktplatz davon, wobei sie einen kleinen Apfel zertrat. Über die Andenhänge streiften Wolkenschatten, dazwischen der eines Flugzeugs. Erst als es außer Sicht war, hörte man Motorenlärm.

Sie verschwand im Bürogebäude der Busgesellschaft und kam einen Augenblick später mit einer Reisetasche heraus.

Als Lohser über die Straße ging – vor dem Tor der Station lag ein Haufen Truthähne, die an den Beinen zusammengebunden waren; die rotblauen Hautlappen über den Schnäbeln zitterten, und die Augen der Tiere sahen müde wie durch Jahrhunderte her –, wurde er um ein Haar von einer ruckartig startenden Limousine angefahren. Der Mann am Steuer war alt und fett, trug eine Sonnenbrille im ungerührten Gesicht und machte eine Handbewegung, mit der man auch Viehzeug verscheucht.

Wenn ich dich jetzt lieben könnte, wäre ich fein raus, dachte Lohser. Er trat gegen den Kotflügel, daß es krachte. Der Mann fletschte die Zähne, große, gelbe Zähne, riß die Handbremse hoch, und Lohser drängte sich eilig durch die Menschenmenge, die den Vorplatz der Station bevölkerte. Die Frau sprang auf das Trittbrett eines anfahrenden Busses.

Im Büro löste er eine Karte bis Muisne, über Esmeraldas. – Ah, Muisne! rief der Verkäufer. Sonne! Freiheit! Kokosmilch mit Rum! Er schob Lohser die Passagierliste und einen Kugelschreiber hin. Gemäß polizeilicher Verordnung trug er Name, Adresse und Reiseziel ein und las ein paar Spalten höher: Jovita Goldblat-Blanc, Toulouse, Frankreich. Da alle Wagen der Gesellschaft bis Esmeraldas fuhren, hatten die meisten Passagiere auch Esmeraldas hinter ihre Namen geschrieben. Nur hinter dem der Französin stand nichts.

In dem kleinen, mit rotgelben Ornamenten bemalten Bus zog er sein verschwitztes Hemd aus und kramte ein frisches aus der Tasche. Eine Indianerin, die ihm bereits vor dem Fahrkartenschalter aufgefallen war, sah unverhohlen dabei zu. Sie säugte ihr Kind und kaute ein Stück Zuckerrohr, wobei sie den Mund weit und träumerisch träge öffnete. Dabei schien sie Lohser und seinen Blick auf ihre Brust gar nicht zu sehen, reagierte auch nicht, als er lächelte, wendete sich nur ganz langsam ab. In ihren dicken schwarzen Zopf war ein langer Grashalm geflochten.

Unterwegs stiegen mehr und mehr Fahrgäste zu, man saß beengt, Säcke voller Bohnen und Reis wurden ins Gepäcknetz gewuchtet. Es regnete Staub und Häcksel, wann immer der Bus durch ein Schlagloch fuhr.

Die Felswände am Straßenrand glänzten braun, ein dunkles Braun, dem Himmel zu schwefelgelb geädert. Die Hänge waren mit Mais, hauptsächlich aber mit Bananen bepflanzt. Unter den Stauden wuchsen schwarze, schwanzartige Stengel, an deren Enden die geschlossenen Blüten in Form violetter Mohnkapseln hingen. Aus großer Höhe stürzten Bäche in die Straßengräben, hinter den Gischtwolken strahlten Bremslichter auf.

Am Abend erreichte der Bus Esmeraldas, eine mittelgroße Provinzhauptstadt an der Pazifikküste. Auf den Dächern flatterte Wäsche, Spruchbänder hingen über den Straßen, Reklame. An den Ampeln standen halbnackte Männer, schlürften Benzin und spuckten sich riesige Feuerwolken zu, die in der Luft ineinanderfuhren. Kongaspieler in den Toreinfahrten, Karren voller Obsthaufen, Lampen aus Melonenscheiben. »Singender Boxer hofft, am Sonntag ein Schlagkonzert zu geben!«

Ein Polizeiwagen steckte fest im Stau, trotz Blaulicht und Sirene; die Autos standen so eng, daß man die Türen kaum öffnen konnte. Ein Kind riß einem Fahrer die Armbanduhr ab und floh ein Stück weit über Kühlerhauben, die sich knallend bogen unter seinem Fuß.

Die Busstation, ein Platz aus festgewalztem Lehm, war leer. Durch das Fahrkartenhäuschen aus honiggelbem Plastik schien die Abendsonne. Der Fahrer hupte; von den Imbißbuden am Ufer, über denen ein riesiger Rabenschwarm kreiste, trabten Gepäckträger mit ihren Karren heran. Zimmervermittler versperrten die Tür, ein Schuhputzerjunge schleuderte sein Bänkchen zwischen Lohsers Beine, schrie seinen Preis.

In den Imbißbuden wurden Windlichter angezündet; über die Gesichter der Essenden strich der grünliche Reflex des Flusses, und Lohser, während er seine Schuhe putzen ließ, wunderte sich einmal mehr über den jähen Einbruch der Nacht in den Tropen. So blickte der flötende Junge, der sich mit abendrotem Gesicht über seine Arbeit gebeugt hatte, bis das Leder wie Blaustahl glänzte, plötzlich still aus schwarzen Augenhöhlen zu ihm auf und hielt eine verkrümmte Hand hoch. Eine Prothese, wie Lohser an dem Klang der Münze erkannte.

In jedem Winkel der Bierbar, in die er sich setzte, wurde gespielt; auf den Tischen schob man sich Streichhölzer zu, unter den Tischen Geld. Er strich einen Bogen Luftpostpapier glatt; die Bleistiftmine war in der Tasche abgebrochen. Als er auf das Knöpfchen seines Stiletts drückte, flogen die Blicke hoch.

Er schrieb kein Datum über den Brief; seine Entscheidung, dachte er, war Datum genug. – Liebe Lydia ...

Eine schwarze Hand bedeckte das Blatt. Einer der drei Kartenspieler am Nebentisch beugte sich herüber und bot Lohser eine Partie Poker an. Er lehnte ab, schob die Hand beiseite. Der Mann wollte wissen, was er in Esmeraldas suche und wohin er weiterreise. Lohser trank einen höflichen Schluck aus der goldfarbenen Bierdose, die ihm angeboten wurde. – Muisne? Der Schwarze zeigte auf einen seiner Freunde, der die Karten mischte. – Sein Bruder ist dort Polizist. Und ein gewaltiges Lachen spaltete die Gesichter der drei.

Liebe Lydia. Ich staune, wie weit ich reisen mußte, um die banale Einsicht zu gewinnen, daß man immer nur sich selbst bereist. Je rauher es seit meiner Landung in Mexico zuging, je schmutziger, trostloser, ärmer auch, desto näher kam ich mir und bin nun wohl am Ziel. Einem Ziel ohne Grund und Boden. Was ich erlebe oder zu erleben glaube, hat jeden Hintergrund verloren. Wo bin ich denn? Muß ich erst eine Untat begehen, um wieder einen Zusammenhang zu fühlen? Was weiß ich –

Die rotblonde Frau schlenderte vorbei, aß Zuckerwatte – ein Auto richtete sein Fernlicht darauf. Lohser schob den Stuhl zurück, wollte aufstehen – als ihm der Schwarze erneut eine Hand auf die Schulter legte.

Muisne? Haben Sie vorhin Muisne gesagt? Er zeigte auf seinen Freund, der gerade einen Packen Geldscheine wegsteckte, und sagte durch die zusammengebissenen Zähne: Sein Bruder ist dort Polizist! Lohser lachte, falsch, aber schallend. Die Spieler, in ihre Karten vertieft, verzogen keine Miene.

Auf den dunklen Veranden der Häuser knarrten die Halteringe der Hängematten, und überall standen Karren mit erleuchteten gläsernen Aufbauten voller Popcorn und Schokolade. Kinder scharten sich darum; das grelle Licht der Gaslampen schien durch ihre Ohren.

Die Frau verschwand in einer Kirchentür. Ein Hund sprang heraus, eine Kerze zwischen den Zähnen.

Im Hauptschiff war es dunkel; unter der Kuppel flatterten Tauben, flaumige Federn schwebten durch einen Mondstrahl. Im Seitenschiff, auf Eisentischen, die vor riesigen Sträußen weißer Lilien standen, flammten unzählige Kerzen, und die Lasur goldgerahmter Gemälde reflektierte ihren Schein.

Indianer beteten vor einer großen, mit rotem Samt bespannten Tafel, die gespickt war mit winzigen Nachbildungen menschlicher Körperteile – Beine, Arme, Herzen aus Blech oder Blei. In einem Cellophantütchen lag ein Backenzahn.

Gläubige in langer Schlange berührten im Vorübergehen das Knie der Madonnenfigur. Der Lack war ab, darunter glänzte helles Holz. Lohser blickte sich vergeblich nach der Frau um, sah aber nirgendwo einen zweiten Ausgang. Er zündete eine Kerze an, bekreuzigte sich flüchtig und staunte; es war eine Wohltat. Er bekreuzigte sich nochmal. Es blieb eine Wohltat.

Wenn es ihm, dem Liebhaber und Geliebten des Augenscheins, tatsächlich einmal gelang, seine automatische und wohl darum schon fragwürdige Skepsis zum Schweigen zu bringen, wenn er in einem Gottglauben mehr als nur neue, aufgeschreckte Religiosität und panische Besinnung von Verseuchten auf dem Sterbelager sehen konnte, empfand er ihn als gewaltigen Trost, als Kraft, mit der sich alles, selbst das eigene Ende, bestehen ließ.

In seiner Nähe stand die Indianerin und lächelte. Strahlenfeine Fältchen gingen von ihren Augenwinkeln aus, an ihren Ohren blitzten Fische aus Silber. In den Zopf hatte sie statt des Grashalms einen Perlendraht geflochten. Außer dem Säugling im Tuch waren noch zwei Kinder bei ihr; beide zerlumpt und verdreckt, zogen sie an Lohsers Pullover und hielten ihm bettelnd die Hände hin. Die Mutter befahl sie mit einem Zischen zurück.

Wollten Sie nicht nach Muisne, Señor? – Ja, ich fahre morgen weiter. Sie nickte, strich einem Kind die Haare aus der Stirn; es schnappte mit den Zähnen nach ihr. – Und nun bitten Sie um eine gute Reise. –