Der Gott jenes Sommers - Ralf Rothmann - E-Book

Der Gott jenes Sommers E-Book

Ralf Rothmann

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Beschreibung

Ein Kind im Krieg: Anfang 1945 muss die zwölfjährige Luisa Norff mit ihrer Mutter und der älteren Schwester aus dem bombardierten Kiel aufs Land fliehen. Das Gut ihres Schwagers Vinzent, eines SS-Offiziers, wird ein unverhoffter Raum der Freiheit: Kein Unterricht mehr, und während alliierte Bomber ostwärts fliegen und immer mehr Flüchtlinge eintreffen, streift die Verträumte durch die Wälder und versucht das Leben diesseits der Brände zu verstehen: Was ist das für eine Beunruhigung, wenn sie den jungen Melker Walter sieht, wer sind die Gefangenen am Klostersee, wohin ist ihre Schwester Billie plötzlich verschwunden, und von wem bekommt die Perückenmacherin eigentlich die Haare? Und als ihr auf einem Fest zu Vinzents Geburtstag genau das widerfährt, wovor sich alle Frauen in jenen Tagen fürchten, bricht Luisa unter der Last des Unerklärlichen zusammen.

War Ralf Rothmanns großer, in fünfundzwanzig Sprachen übersetzter Roman Im Frühling sterben ein aufwühlendes Drama am Rand der Schlachtfelder, so ist Der Gott jenes Sommers eine ebenso erschütternde Geschichte über das Klima von Verblendung und Denunziation in den letzten Monaten eines Krieges, der jedem für immer die Seele verdunkelt und schon eine Zwölfjährige mit Recht sagen lässt: »Ich hab alles erlebt.«

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Ralf Rothmann

Der Gott jenes Sommers

Roman

Suhrkamp

Ich habe diese Welt beschaut und bald gesegnet: Weil mir auf einen Tag all Angst der Welt begegnet. Wo ihr die Tage zählt; so bin ich jung verschwunden. Sehr alt; wofern ihr schätzt, was ich für Angst empfunden.

Andreas Gryphius

Lag sie lesend auf ihrem Bett

Lag sie lesend auf ihrem Bett und hörte die Flugzeuge über dem Gut, versuchte sie sich vorzustellen, wie das überschneite Land mit dem Kanal in den Augen der Piloten aussah. Die gewundene, von Wäldern und Äckern gesäumte Pflasterstraße, ein Rest des alten Ochsenweges, führte am Kloster vorbei nach Bovenau und teilte das Gehöft in zwei Hälften. Über eine stählerne, den Entengraben in sanftem Bogen überspannende Brücke gelangte man auf die Westseite, zu dem weiß gestrichenen Herrenhaus. Dominiert von einem Portikus auf vier Säulen – dorisch ausgekehltem Gips –, war es ziegelgedeckt und hatte elegante, mit französischen Läden versehene Rundbogenfenster, in denen sich die Hoflinde spiegelte.

Ihm gegenüber ragte das Reetdach des großen, für dreihundert Tiere gedachten Kuhstalls samt Futterboden höher in den Himmel als manche Kirche im Gau. Am Giebel hing eine Glocke, mit der die Melkzeiten eingeläutet wurden, und das Tor war gespickt mit Plaketten aus buntem Blech, den Auszeichnungen von Zuchtvereinen und Landwirtschaftsmessen. Zum Acker hin begrenzte die Maschinenscheune den Hof; riesige Pflüge mit blank geschliffenen Scharen standen darin, Traktoren und ein Garbenbinder, an dessen Haspelrad noch Halme von der letzten Ernte hingen.

Aber das konnten die Piloten natürlich nicht sehen, das Dach war unbeschädigt. Hatten sie den Westteil des Gutes und den kleinen, von der Alten Eider umgrenzten Park hinter dem Herrenhaus überflogen, blickten sie zunächst auf die Meierei mit ihren grün glasierten Zinnen. Die Strohscheune, eine Voliere für das Federvieh, verschiedene Ställe und eine Schmiede befanden sich auf dieser Seite der Straße. Manche der kaum mehr genutzten Backsteingebäude waren noch älter als das Herrenhaus und zerfielen bereits. Jeder neue Sturm riss ein bisschen mehr Reet von den Dächern und legte die schimmelschwarzen Mauern oder Nester von Ratten und Mardern bloß.

Obwohl Kiel mit seinem Marinehafen immer wieder angegriffen wurde, war auf dieses schutzlos dastehen-de, keine Autostunde von der Stadt entfernte Gut noch nie eine Bombe gefallen, während des ganzen Krieges nicht. Eine englische Spitfire hatte einmal eine Salve in die Dachuhr gefeuert und die Freitreppe zu den Melkerstuben überm Stall zerstört, aber den meisten Pilo-ten mochte die Landschaft mit den sanft gewellten Feldern, den hier und da rauchenden Schornsteinen, dem Treppengiebel des Klosters und den Rehen zwischen den Buchen wie ein Inbild des Friedens erscheinen. Nirgendwo Soldaten, kaum je ein Militärfahrzeug, und aus ihren beschlagenen Kanzeln konnten die Männer natürlich auch nicht die Erdbunker oder die getarnten Barackendächer im Fichtenwald sehen – von den U-Booten, die über den Kanalgrund Richtung Nordsee glitten, ganz zu schweigen.

Wieder war es weit nach Mitternacht geworden. Kein Laut auf dem Hof und in der Mansarde, und als plötzlich Wachs auf die Buchseite lief, eine klare Lache, unter der die jäh vergrößerten Lettern wie Insektenbeine zuckten, blies Luisa die Kerze aus. Sofort kam ihr das Zimmer kühler vor, und sie krümmte sich zusammen unter ihren Decken, rieb gähnend die Füße und dachte momentlang, einen Nachschein des Flämmchens auf den Umrissen der Möbel zu sehen. Am Wasserglas zuckte ein rötlicher Rand.

Sie stand auf, trat in die Fledermausgaube, behauchte die Frostkristalle auf der Scheibe. Kein Mond über den Feldern, nur vereinzelt Sterne, und doch konnte man die Chausseebäume erkennen, ihr schwarzes Geäst, und im Osten ein Lodern hinter einem Schleier, von dem sich nicht sagen ließ, ob es Nebel war oder Rauch. Jedenfalls brannte dort hinten Kiel.

Das dünne Eis in den Spuren der Trecker krachte unter den Sohlen, als sie am nächsten Morgen zur Meierei ging. An der Alten Eider standen Karren und Pferdewagen, zwei Dutzend oder mehr; fast täglich kamen neue hinzu. Manche waren bis zur Radnabe eingesunken im Uferschlamm, die Deichseln ragten kreuz und quer in den Himmel.

Die Sonne schien, aber der Wind war schneidend auf der Rampe. Flüchtlinge mit Eimern, Töpfen und Kannen warteten dort, manche Frauen trugen Stiefel aus Filz und mehrere Kopftücher übereinander, und kaum jemand sprach. Alle, auch die Kinder, starrten zur Tür, wo der alte Thamling mit Litermaßen und Quarkspachteln hantierte. Luisa mochte seine hellen, oft tränenden Augen, den weißen Seehund-Schnäuzer und sein immer wohlgemutes »Dat löpt sich torecht! Dat löpt sich bestemmt torecht.«

Aber als er sie heranwinkte, an allen Wartenden vorbei, war ihr das peinlich. Die Milch wurde limitiert, und die Letzten gingen oft leer aus. Schon glaubte sie ein Murren zu hören; eine alte Frau zischte etwas Unverständliches, ein Mann auf Krücken, dem eine Böe die dünne Jacke blähte, machte ihr nur widerwillig Platz. Der Verwalter grinste. »Na, lütt Deern? Wat soll’n denn die Ringe unter’n Augen? Ist das jetzt Mode? Hast wieder die ganze Nacht geschmökert, stimmt’s? Dein Fenster war hell.«

Nur schwer ließ sich der Deckel von der verbeulten Aluminiumkanne ziehen. Ein Zettel mit der Handschrift ihrer Mutter fiel dabei heraus, eine Bitte um Fett, und Luisa raffte den dicken, von ihrem Atem bereiften Schal vom Mund. »Gar nicht die ganze Nacht!« sagte sie. »Höchstens ein paar Stunden.«

Der Verwalter fuhr mit der Kelle, die einen armlangen Stiel hatte, durch das geflieste Becken. »Trotzdem hab ich Licht gesehen, eine flackernde Kerze, und die Piloten tun das auch, weißt du … Schon mal was von Verdunkelung gehört? Mensch, deine Zeit möchte ich haben. Kannst schlafen und schläfst nicht. Wo bist du denn jetzt?«

»›Winnetou II‹«, antwortete sie. »›Don Quijote‹ war aber besser. ›Die Schatzinsel‹ habe ich morgen durch, und nächste Woche fange ich vielleicht mit ›Effie Briest‹ an. Die Geschichte soll sehr traurig sein … Hat Kiel letzte Nacht gebrannt?«

Er schenkte ihr noch einmal Milch nach, und als er den Deckel auf die randvolle Kanne drückte, quollen Blasen darunter hervor. Dann zeigte er auf die Fässer vor den Mosaikfenstern, das leere Tretrad für den Hund. »Schöne Grüße an deine Eltern, aber Butter gibt’s erst morgen wieder, Motte hat lahme Pfoten. Und Kiel, oder was davon übrig ist, brennt fast jede Nacht, meine Hübsche. Ist nämlich Krieg, falls dir das noch keiner gesagt hat.«

Sie nickte verlegen, bedankte sich und stieg vorsichtig von der Rampe. Locker die Winkeleisen an den Stufen, und der Gutsverwalter hob noch einmal den Kopf und rief: »Luisa? Bevor du wieder zu den Büchern gehst, sag bitte deiner Schwester, sie soll ihre Rumba-Schuhe ausziehen in der Wohnung. Ist ja nicht auszuhalten, das Getrampel. Sonst kann sie demnächst mal Jauche fahren!«

Weder Pulsschlag noch Atem, und doch ist es Leben. Wir müssen es nur zu benennen wissen. Aber welche Schrift stillt das Leid unserer Tage, das bis in alle Zeitenferne strahlt, welcher Buchstab wäre mehr als ein Halm unter den Hufen der Armeen, die wenig wissen vom Recht, so sie auch in seinem Namen meucheln. Es fauchten die Flügel im Wind: Nur noch Flammen mahlte die Mühle, und Funken stoben ins Heu, verheerten die Arbeit von Wochen in einem Nu. Der Armbrust Pfeile durchschlugen manchen Wams, und wer dagegenhielt mit Stock oder Forke, wer sein Liebstes wollt schützen, hatte sogleich der Krieger fünf auf dem Leib. Der Müller, dem ein Keulenhieb das Licht nahm, verzuckte vor seinem Weibe, ihre Kinder warf man in den Brand. Die Fremden machten tüchtig Blut, es dampfte im frostigen Grase, und in der Angst, in den Fesseln, starb sich mancher voraus.

Einer der Schinder, ein Officier mit blauer Feder am Hut, gab dem Schulze einen Trunk von Jauche, des Goldes wegen und wo es vergraben, und als der das Füllrohr zerbiss, schnitt man ihm ab bei lebendigem Leib, was nicht zu sagen. Ein anderer Mann, so gewaltig wie ein Ochs, ergriff dessen Tochter, die eine heilige Schwester war und aus Husum gekommen, zu weihen die neue Kapelle am See. Er band sie fest auf dem Altar und tat ihr unter dem Kreuze gegen alle Gelübde, worauf der Zarten die Sinne schwanden. Für tot wurde sie befunden, doch lebte sie und kehrte zurück in den Stift, des Gesangs fürderhin nicht mehr fähig.

So also das Gut verbrannt bis auf den Grund und alle Keller leer, wollte niemand mehr wohnen an der Schläfe des Wassers, wo noch der Heere Nachzügler gingen im Pikenwald, auch anderes Gesindel, der Mordlust voll, der Gier zudem. Aller Hoffnung auf Linderung der Zeiten bloß, war heißes Tränenvergießen im Dorfe, und die Arbeit verkam. Viel Feld, das der Pflege bedurfte, versank im Kraute, und Streit wuchs zwischen den Äckern, dem Grund von Toten. Die Milch floss sauer aus den Kühen, die Kälber starben im Muttertier, und vom Kranksein und vom Zagen toll, ging man wie in einem schlimmen Traum.

Aus dem Lande traf kaum mehr Nachricht ein, nur Fledderer schlichen herbei, und denen bläute man den Buckel, so sie der Leichen Schmuck feilboten. Doch gab es ledige Männer, die machten sich unkeusch mit einer Handvoll Weibshaar, und es kam ein Fahrender mit fein geflochtenen Armreifen und Ketten, derart golden, dass einem wonniglich das Herz aufging in dieser schwarzen Zeit. Dem Bartholmes bot er sie an, dem Geprüften, als der den Steg wollt richten für seine Arbeit, die Fischerei. Und nicht nur erkannte er den Perldraht vom Markt in Lübeck wieder, mit dem das Haar umwunden. Sein Weib, fortgerissen von den Marodeuren, war das einzige im weiten Kreis mit Glanz und Fülle solcher Art, und das Gedächtnis seiner Hände sagte ihm, dass er ihren Schopf hielt. Tot brach er ins Wasser, und der Schuft entkam.

Es dünkt dem Verfertiger dieser Zeilen, Bredelin Merxheim mit Namen, nicht angemessen, von eigenem Leid zu sprechen, denn es ist gering im Vergleich. Das Leben ist gelebt, man hat Hühner und Roggen im steinernen Haus und kann trotz Gicht und Augenflecken schreiben und lesen, also geht es gut. Scheint das Glück auf die Auen und beschenkt uns mit Früchten, denkt keiner daran, die Feder zu spitzen, Pergament oder Bütten sind rar. Wenn aber der Mord umgeht und der Brand seine Wirkung hat und alles ihm gleich macht, gibt es Ruß und Galläpfel für Dinte hinlänglich. Und so wollen wir fortfahren mit dieser Chronik und der Schrift Genüge tun.

Nur noch ein paar Einjährige standen in dem großen Stall; die jüngeren Kälber waren requiriert worden. Stattdessen brachte man jetzt die Pferde der Flüchtlinge darin unter, die »Zigeunergäule«, wie ihre Mutter sie nannte. Abgesehen von zwei schwarzen Trakehnern waren die meisten braun, und man sah ihnen die Strapazen der Trecks an, den Hunger und die Erschöpfung. Spitz zeichneten sich die Hüft- und Schulterknochen unter dem Fell ab, das stumpf und wundgescheuert war von Kummet und Geschirr.

Es gab für alle nur wenig zu fressen, ein paar Armvoll Heu am Tag, und die meisten dösten oder schliefen im Kot, als Luisa durch den Gang kam. Doch die Stute, die abseits im Schatten des Wassertanks stand, schien schon auf sie zu warten. Starr blickte sie ihr entgegen aus den eingesunkenen Augen, und der Schweif wischte über die Mauer. Sie war das magerste Pferd von allen, man konnte die Rippen zählen, und außerdem fehlte ihr ein Ohr. Unbeschlagen hatte sie einen großen Karren voller Menschen und Hausrat von Ostpreußen bis an die Kieler Bucht gezogen, und nun waren ihre Gelenke dick geschwollen, die Hufe sahen wie verwittertes Holz aus.

Weder grau noch weiß das Fell, eher von einem schmutzigen Gelb, und es waren wohl Schmerzen, die ihre Unterlippe mit den Fühlhaaren zittern ließen. Blut lief aus den Spalten und Abszessen über die breitgetretenen Hufkapseln, und die anderen Pferde drängten sie immer wieder vom Heuhaufen weg; es gab Bissstellen an ihrer Kruppe und am Hals. Nicht einmal die alten Schwalbennester, die von den Wänden oder aus den Dachsparren fielen, ließ man sie fressen, und manchmal schrie sie auf in ihrer Not, ein schriller Ton. Aber der Verwalter hatte nur mit den Schultern gezuckt, als Luisa deswegen zu ihm gelaufen war. »Ach, die aus Kruschwitz … Die stirbt. Und wer mag schon den Tod bei sich haben.«

Auch an diesem Morgen kamen die anderen Pferde witternd näher, als sie der Kranken, die sie Brise nannte, den Hals klopfte. Manche legten die Ohren an, schlugen mit den Hufspitzen Splitter aus dem Ziegelboden, und sie schloss einen Trennzaun und schüttete ihr gerade so viel Milch in den Futterstein, dass es zu Hause nicht auffiel. Dann brockte sie etwas Zwieback dazu, und plötzlich roch sie den Rauch und blinzelte in die Sonnenstrahlen, die durch die verstaubten Fenster fielen.

»Na, schau dir das an«, sagte Sibylle. »Jetzt wird mir einiges klar!«

Ihr Schatten glitt über die gekalkte Wand, an der eine Reihe Strohgarben lehnte. Der schmal taillierte schwarze Mantel mit dem Persianerkragen und die hohen Stiefel verliehen ihr ein fast damenhaftes Air – wozu gut stimmte, dass sie den bordeauxroten Seidenschal trug, bauschig gebunden. Trotz der Frühe waren ihre Lippen geschminkt und die Nägel lackiert, und die Ohrclips aus durchbrochenem Gold, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem neunzehnten Geburtstag, glitzerten in der Sonne.

»Wo kommst denn du her?« fragte Luisa verblüfft. »Hast du nicht zu Hause geschlafen? – Man soll hier nicht rauchen. Alles kann brennen.«

Ihre Schwester, rothaarig wie sie und ähnlich gelockt, hatte im Gegensatz zu ihr dunkle Augen – ein Braun, in dem sie selten mehr sah als Braun – und viel weniger Sommersprossen. Sie schnippte die Zigarettenasche auf den Boden. »Ach, das wissen wir ja langsam, das haben wir nun reichlich erlebt. Dass alles brennen kann, meine ich. Aber ich glaube, du bist unser Schutzengel, wenn auch ohne Heiligenschein. Weiß übrigens der Alte, was du hier treibst? Ich kann mich erinnern, dass er Flüchtlinge in den Ställen nicht mag …«

Luisa warf sich den Schal über die Schulter, trat in den Gang und schloss das Gatter. »Wieso, du bist ja auch hier«, erwiderte sie. »Außerdem sind wir keine Flüchtlinge. Wir kommen aus Kiel!«

Sibylle gähnte. »Was du nicht sagst. Und warum sind wir da weg? Lass mich nachdenken: Kann es sein, dass es unter dem verkohlten Dach ein bisschen ungemütlich wurde? Jede Nacht im Luftschutzkeller, das war wohl kein Traum, oder? Also haben wir gepackt, und sind vor den Bomben geflohen.« Mit dem kleinen Finger kratzte sie sich neben der Lippe, wo es ein Erbmal gab, einen winzigen Doppelpunkt: »Und wie nennt man noch mal Menschen auf der Flucht, kleiner Klugscheißer?«

Luisa fühlte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, ein kühles Brennen. Aber ihre Schwester, die meistens die Augen verengte und kalt triumphierte, wenn sie die Zwölfjährige bei etwas Ungereimtem ertappte, nutzte ihre Überlegenheit an diesem Morgen nicht aus. Sie lachte nur leise durch die Nase, kramte in ihrem Mantel und hielt ihr ein Päckchen Zigaretten hin, »Sondermischung«. Auch das hatte sie noch nie getan.

»Marketenderware« stand auf der Banderole, »Verkauf im freien Handel verboten!«, und Luisa runzelte die Brauen. »Die behalt mal«, sagte sie. »Du willst dich ja nur einschmeicheln, damit ich dich nicht verpetze. Außerdem ist rauchen ungesund!«

Auf dem Pflaster waren Pneus zu hören, das Schleifen einer Bremse. Durch die spinnwebverhangenen Fenster konnte man einen Personenwagen erkennen, zwei Soldaten im Fond. Der Fahrer schlug auf die Hupe und Sibylle grinste. »Was du nicht sagst. Hab mich schon gewundert, warum mir der Atem so pfeift. Aber weißt du, was noch schädlicher ist? Immer ernst und vernünftig sein, Süße. Das ist mit das Schlimmste. Davon kriegt man schmale Lippen, einen giftigen Blick und ist schon als junges Ding ganz alt. Schau dir unsere Stiefschwester an.«

Die Zigarette zwischen den Zähnen, streifte sie ihre Handschuhe über, öffnete den Durchschlupf in dem großen Tor und trat auf die Straße. »Also: Sollte man mich suchen, ich bin im Kuchen. Und jetzt bring gefälligst die Kanne nach Hause, und tu nicht wieder Wasser rein! Nichts schmeckt trauriger als verdünnte Milch.«

Nach Bovenau fuhr sie durch den Wald. Mehrere alte Linden waren umgerissen worden von den Druckwellen der Bomben, die ein Pilot hier abgeworfen hatte, obwohl es nirgends ein Ziel gab; womöglich wollte er Last loswerden vor der Rückkehr zum Stützpunkt. Frau Thamlings Rad war noch etwas zu groß für Luisa, meistens stand sie auf den Pedalen. Nur wenn es einmal abwärts ging, setzte sie sich auf den Sattel und streifte das Gestrüpp am Feldrand mit den Stiefeln. Im Ort war der Weg dann gepflastert, glänzende Katzenköpfe, und der Deckel ihrer Klingel rappelte leise, als sie auf den Simonis-Hof bog.

Das Schulhaus, in dem die Lehrerfamilie auch gewohnt hatte, war ausgebrannt, die Giebelmauer eingestürzt. Verkohlte Balken ragten in den Himmel und zeigten helle Flächen, wo Herr Simonis etwas abgesägt hatte. Zusammen mit dem Reet verfeuerte er die Stücke in dem Kanonenofen in der Scheune, ihrem derzeitigen Unterrichtsraum. An der Wand hing die Hakenkreuzfahne mit dem versengten Saum, und auch sein Stehpult und die Tafel hatte er aus den Flammen retten können. Indessen waren die Bänke zerstört; jedes Kind hatte sich einen Stuhl oder Hocker mitzubringen, und das eine oder andere trug ihn mittags wieder heim.

Noch vor wenigen Monaten war das Klassenzimmer, in dem Herr Simonis sämtliche Jahrgänge gleichzeitig unterrichtete, voll gewesen. Mittlerweile aber wurden viele Schülerinnen und Schüler im Lazarettdienst oder als Flakhelfer eingesetzt, manche sogar in Hamburg. An den Tischen aus gehobelten Bohlen warteten an diesem Morgen gerade einmal vier Mädchen aus der Kinderlandverschickung, die beiden Kleber-Brüder in HJ-Uniformen und der kleine Ole Storm. Er hatte Buntstifte dabei und zeichnete Vögel auf ein Stück Pappe, als der Lehrer vom Heuboden herunterkam. Die wurmigen Stufen knarrten.

Das Hitlerbild unter dem Arm, den Mantel offen, trug er wie jeden Morgen seine Uniformjacke, zwei verschieden lange Hosen, eine Wollmütze mit Schirm und Handschuhe ohne Finger. Seit dem Angriff der Flieger lebte er mit seiner jungen Frau und dem Säugling in einer Knechtkammer neben den Heuhaufen, und offenbar plagten ihn immer noch Läuse; jedenfalls roch er nach »Goldgeist«. Er musterte die Kinder, erwiderte ihren halblaut geleierten Gruß mit einem Nicken und hängte das Portrait an die Wand. Den gleichen Bart wie der Abgebildete trug er, ein graues Quadrat.

Nachdem sie das Horst-Wessel-Lied gesungen hatten, setzte er seine alte, mit Pflaster geflickte Brille auf und ließ sich die Hausarbeiten auf den gerahmten Schiefertafeln zeigen, die mittlerweile fast alle benutzten; es gab kaum noch Papier. Je nach Klasse waren es Bruchrechnungen, Deklinationen, geometrische Zeichnungen oder Schönschreibübungen, und er korrigierte sie mit seinem immer spitzen Griffel, an dessen Quietschen man erkannte, wie unzufrieden er war. Die jeweiligen Schüler hatten dabei gerade zu stehen.

Der kleine Ole, der neben Luisa saß, schlug sogar die Absätze zusammen und legte die Hände flach an die Schenkel. Trotz der Kälte trug er kurze Hosen unter der Marinejacke, wenn auch mit langen Strümpfen. Er hatte die Ohrenklappen seiner Mütze vorm Kinn zusammengebunden, aus den knöchelhohen Schuhen ragte Zeitungspapier, und der Lehrer, ein ehemaliger Ausbilder in der Junkerschule, ließ ein raues Seufzen hören. »Zum Düvel auch, wie oft muss ich es dir sagen, Junge! Du bist fast neun, du solltest langsam unsere Sprache beherrschen! Also: Alle Dinge, die man sehen und anfassen kann, werden …?«

Er blickte in die Runde, und eines der Kinder, die blonde Walburga mit den Affenschaukeln, reckte den Arm hoch, ließ die Finger schnippen. »Großgeschrieben, Herr Simonis. Weil sie nämlich Hauptwörter sind.«

Der Lehrer nickte. »Hast du gehört? Ein deutscher Junge möchtest du sein, zur HJ willst du mal und in die Leibstandarte – und kriegst nicht in deinen Kopf, was sich sogar ein Mädchen merken kann? Eine Stunde nachsitzen!«

Er strich etwas durch auf der Tafel und schob sie so achtlos über den Tisch, dass ein paar Farbstifte herunterrollten und auf den Estrich fielen. Das lackierte Holz klang hell wie Glas, und ohne auf die jähe Blässe, die verzerrten Lippen und die feuchten Lider des Kleinen zu achten, nahm er ein beidseitig beschriebenes Blatt aus seinem Pult und legte es vor Luisa hin. Es war ihr Aufsatz vom Wochenende. »Und nun zu uns, mein liebes Fräulein Norff …«

Da aber sprang Ole noch einmal hoch, wischte mit dem Ärmel über die Augen und schluchzte: »Natürlich, das weiß ich ja längst, Herr Simonis. Tuwort klein, Wiewort klein, Dingwort groß. Alles was man anfassen kann … Haus, Bratfisch, Tasse Kakao. Aber die Mimmi ist so flink wie der Wind, die lässt sich nicht greifen! Die schlüpft einem blitzschnell durch die Finger!«

Das Lachen der Kleber-Brüder, Söhne des Fleischers in Steinwehr, klang höhnisch, und Tränen tropften ihm vom Kinn, als er auf die Knie sank, um seine Stifte zu suchen. Ein Knopf seines Halters hing herab, die Haut zwischen Strumpf und Hose war blau marmoriert vor Kälte, doch der Lehrer sah nicht auf von Luisas Blatt. »Ja, ja«, sagte er nur, »um Ausreden seid ihr nie verlegen. Trotzdem wird Kätzchen großgeschrieben.«

»Gut van Cleef« stand auf dem handgeschöpften Bogen, ein Geschenk von Herrn Thamling, und das Schriftbild ihres Aufsatzes mit dem vorgegebenen Titel »Was ich nach dem Sieg tun werde« sah etwas zerlaufen aus; das faserige Papier saugte mehr Tinte, als für die einzelnen Wörter nötig. Dennoch hatte der Lehrer wohl alles lesen können; er streckte den kleinen Finger vor, wies nacheinander auf die rot umrandeten Wörter und sagte: »Amüsieren, flanieren, frittieren, Champagner und Portemonnaie – da frage ich mich jetzt, was das für eine Sprache ist.«

Luisa strich eine Locke hinters Ohr, sah ihn verständnislos an. »Ja, meine«, sagte sie. »Keiner hat mir geholfen, ich hab es ganz allein geschrieben. Nur bei den Blumennamen musste ich unsere Gudrun fragen, die war mal Lehrerin. Ich verwechsle immer Rhododendron mit Hortensien und weiß nie, ob Stockrosen und Kletterrosen dasselbe sind.« Aber mit einem Mal wurde ihr klar, worauf er hinauswollte. »Oder meinen Sie«, fügte sie leiser hinzu, »die fremden Wörter? Das Französisch?«

Der Lehrer schnalzte. »So ist es, junge Dame, guten Morgen! Und wer spricht diese Sprache?«

Winzig sah Luisa sich gespiegelt in den konvexen Brillengläsern, zwei kupferfarbene Punkte. »Na ja …«, sagte sie und schluckte. »Unsere Feinde?«

Simonis öffnete die Ofenklappe, schob ein Scheit in die Glut und stocherte nach. »Worauf du Gift nehmen kannst. Und jetzt erfahre ich bestimmt auch noch, was du dir dabei gedacht hast, nicht wahr. Warum verwendest du so viele französische Wörter in einem Aufsatz, der den deutschen Sieg, unseren verdienten Endsieg, zum Thema hat. Was verbindet dich mit deinem schlimmsten Feind?«

Luisa, der einfiel, dass er vor kurzem das Versteck zweier Deserteure, eine Höhle in der Rübenmiete, an die Feldjäger verraten hatte, holte Atem, ein zittriger Zug. »Mich? Aber gar nichts … Ich meine, so spricht man bei uns. Mein Vater hat ein Restaurant in Kiel, das Casino in der Marine-Kaserne, und vorher hatte er eins in Lübeck. Der Minister Speer war schon mal da, und ich durfte seinen Nachtisch essen, Erdbeeren mit Rahm.« Sie schluckte. »Ist Portemonnaie denn nicht richtig?«

Das Holz war feucht, zischte und knallte, der Lehrer drückte die Klappe zu. »Verflucht noch mal, nein!« rief er und warf den Feuerhaken in die Ecke. Aus der löchrigen Kreideschale neben der Tafel rieselte Staub. »Geldbörse oder Brieftasche heißt es! Und wir sagen auch nicht amüsieren, sondern vergnügen, nicht flanieren, sondern spazieren gehen, nicht frittieren, sondern braten oder sieden. Champagner heißt auf gut Deutsch Schaumwein, Coiffeur Frisör, und euer Restaurant ist kein Restaurant, Luisa, es ist ein Gasthaus, ein Schankraum oder eine Speisewirtschaft. Du schreibst das gefälligst alles noch mal! Und hinsetzen, sechs!«

Seltsam porös klang seine Stimme, heiser und schrill zugleich; das Baby über ihnen weinte. Aus den Fugen des Ofens puffte Rauch, die Halme, die vom Heuboden herabhingen, begannen zu zittern, und plötzlich, als wäre eine Wolkenwand jäh durchstoßen worden, hörten sie die Motoren in der Luft, das gewaltige Dröhnen eines weit über Felder und Wälder ausschwärmenden Geschwaders. »Spitfires! Spitfires!« rief der kleine Ole und sprang auf. »Englische Flieger!«

Sofort zog Luisa ihn auf den Sitz zurück. Der Lehrer, der das Hitlerbild gerade gerückt hatte, fuhr herum; in den Augen blitzte kalte Verachtung. »Unsinn, Kerl, wie kannst du so dumm sein! Die feigen Kadaver scheuen das Licht und kommen nur nachts, das wisst ihr doch wohl! Die haben Angst vor unserer Flugabwehr, den famosen Schützen an der Grenze!«

Das Brummen wurde lauter, die Scheiben in den rautenförmigen Oberlichtern vibrierten in den Rahmen, und Simonis öffnete das Scheunentor einen Spalt, schob sich den Kappenrand aus der Stirn. »Na bitte: Unsere eigene Luftwaffe ist das, die da Richtung Berlin fliegt, der Stolz des Reichsmarschalls. Das sind die tapferen Piloten, die Deutschland frei fegen werden von jedem Feind, und wer weiß, vielleicht ist das schon die Vorhut der Wunderwaffe. Los, los, alle raus! Winkt mit euren Mützen, ruft ihnen zu! Wir begrüßen den Sieg!«

Das Neugeborene auf dem Arm, kam seine Frau die Treppe herunter, sah ihn mit ängstlich geweiteten Augen an. Er aber riss die Fahne von der Wand, und froh über die Unterbrechung der Stunde, sprangen die Kinder auf und folgten dem Lehrer über den Hof auf die Straße. Erst am Ackergraben drehte er sich um, beschirmte den Blick mit einer Hand und schwenkte das Tuch. Rot-weiße Reflexe huschten über seine Brillengläser, und alle außer Luisa rissen die Mützen vom Kopf und hüpften winkend auf und ab. Sie trug nie eine, hatte dichtes Haar.

Die Verbände, scheinbar den ganzen Himmelsraum einnehmend, flogen sehr hoch unter den Wolken; die Aufschriften oder Insignien waren nicht auszumachen, jedenfalls nicht für die Kinder. Aber die Begeisterung und die Tränen in den Augen des Lehrers, während er an der Lippe nagte, ließen keine Zweifel an der Zugehörigkeit der Flieger aufkommen. Die blonde Walburga griff nach einem Zipfel der Fahne, um sie mitzuschwenken, und auch der kleine Ole winkte mit beiden Händen und rief, fast überkippend die Stimme: »Heil, Heil! Willkommen, lieber Sieg!«

Die Kleber-Brüder standen stramm, mit Deutschem Gruß, wobei der ältere den Armwinkel des jüngeren korrigierte, und erst als das Dröhnen der Bomber mit den vier Propellern und den Glasschnauzen durchkreuzt wurde von einem anderen Ton, einem schmerzhaft schrillen, als würde man mit der Zirkelspitze über die Tafel fahren, verstummte der Jubel. Tief unter den Verbänden tauchten einmotorige Jagdflieger auf, eine sichernde Eskorte mit Camouflage-Anstrich, und deutlich waren die Kreise auf den Rümpfen und unter den Flügeln zu erkennen: blau, weiß und rot. Zudem war auf manche eine Krone gemalt.

Wortlos bewegte Simonis die Lippen. Die Piloten trugen Lederhauben mit eingelassenen Funkhörern und getönte Brillen, und ungläubiges Staunen weitete seine Augen, als eine erste Salve aus der Bordwaffe so einer Spitfire in das Scheunendach schlug, das sofort rauchte. Er schob sich die Brille zur Nasenwurzel, und das jäh erbleichte Gesicht wurde zu einer Grimasse des Entsetzens. »In Deckung!« schrie er und knüllte die Hakenkreuzfahne zusammen, stopfte sie unter den Mantel. »Lauft weg, um Gottes willen! Rennt!«

Eine zweite Salve traf die Miete am Feldrand, zerfetzte Rüben flogen über den Hof, und Luisa, die sich in den Straßengraben neben der Zufahrt geworfen hatte, bedeckte den Hinterkopf mit beiden Händen. Eisiges Wasser lief ihr in die Schuhe, irgendetwas Großes, Schweres traf sie mit Wucht im Bauch, und sie riss den Mund auf, um Atem zu holen. Da schien jedoch keine Luft mehr zu sein, oder sie kam nur bis zur Kehle, wie einmal schon in Kiel, in ihrem Garten, als die mürben Schaukelseile gerissen waren. Brust und Wirbelsäule wie gelähmt, atmete sie behutsam in flachen Stößen, denn sie fühlte, dass kein tieferer Zug möglich war, oder nur zum Preis einer geplatzten Ader oder einer Panik, an der sie dann ersticken müsste.

Noch einmal eine Salve irgendwo, entfernte Schreie, leises Wimmern. Brand- und Uringeruch stiegen ihr in die Nase, das feuchtwarme Gewicht an ihrer Seite nahm zu, und als sie den Kopf drehte, erkannte sie Ole, halb von der kalten Erde bedeckt. Blut am Ohr, hatte er die Lider fest zusammengekniffen, fuhr mit der Zunge über die Unterlippe und flüsterte: »Müssen wir jetzt sterben?« Er kroch noch näher an sie heran, schob die Arme unter ihren Mantel, schmiegte die Wange an ihre Brust.

»Nein«, keuchte Luisa, die nun, als wäre der Luftdruck gesunken, wieder durchatmen konnte. Das Motorengeräusch wurde schwächer, und in der Stille war nichts mehr zu hören, auch nicht das Neugeborene. Sie spuckte etwas Erde aus und zupfte Ole Stroh aus dem Nacken, knüpfte seinen Strumpf an den Halter. »Wir müssen nicht sterben«, sagte sie. »Es ist schon vorbei.«

Als sie am nächsten Morgen vom Milchholen kam, war die Küche bereits warm. Ihre Schwester brockte Terpentinseife in den Topf, der früher zum Einkochen gedient hatte und aus dem sich nun Schlüpfer und Leibhemden blähten. Das Wasser schwappte über, während sie mit einem Holzlöffel darin rührte, große Tropfen glitten ein Stück weit wie zittrige Quallen über die heiße Herdplatte, ehe sie verdampften.

Luisa stellte die Milchkanne auf den Tisch und wickelte die Butter aus dem Papier, einer Seite des »Völkischen Beobachters«. Die Druckerschwärze hatte abgefärbt, »Lieber sterben als kapitulieren!« stand spiegelverkehrt auf dem Fett, und sie verwischte die Zeile mit dem Finger und fragte: »Haben wir Nachrichten vom Papa?«

Die Nase kraus, die Lippen schmal, drückte Billie die Wäsche tiefer in den Topf, und ihre braunen Augen funkelten in dem Feuer, das durch die Ofenringe schien. »Hättest du nicht den ganzen Kofferraum blockiert mit deinen Schmökern, wäre noch Platz gewesen für die Dose Persil und das Bleichpulver«, sagte sie, Luisas Frage ignorierend. »Wie soll ich den Dreck hier rauswaschen mit der Kuhseife, verdammt! Die schäumt kaum und stinkt wie Teer, und nachher kriege ich Ausschlag oder was!«

Sie hatte die Haare mit einem Bernsteinkamm hochgesteckt und trug nur einen Unterrock, cremefarben. Die Stirn glänzte im Dampf, und Schweiß rann aus ihren Schlüsselbeinmulden und machte den Satinstoff stellenweise transparent. Als sie Luisas Blick bemerkte, stutzte sie und sah an sich hinunter. »Was ist? Warum starrst du mir auf die Brüste?«

Die leckte sich den Finger ab, das bläuliche Fett, das ein wenig nach ihrem Malkasten schmeckte. »Nur so«, sagte sie. »Weil sie so hässlich sind. Die eine ist viel kleiner als die andere.«

Zwar mochte das stimmen, aber eigentlich fand Luisa sie sehr schön mit ihren Sommersprossen am Ansatz, dem kecken Schwung und den hellen, kaum von der Haut sich unterscheidenden Warzen; die verliehen ihrer Schwester eine Zartheit, die sie gar nicht hatte. »So eine wie dich würde Rhett Butler nie küssen.«

Vor einigen Tagen, als sie wegen der Kälte zusammen ins Bett gekrochen waren, hatte sie ihr »Vom Winde verweht« vorgelesen, die Szenen mit Tante Pittypat, aber Billie war eingeschlafen und hatte sogar geschnarcht. Luisa sprang zur Seite, als der Kochlöffel angeflogen kam. »Nie!« wiederholte sie. »Er hat nämlich Klasse, und du … Du bist nur durchtrieben. Meinst du, ich hätte nicht gemerkt, was du mit dem Vinzent anstellst, sogar hier in der Wohnung, wenn die Mama schläft? Er ist dein Schwager!«

Die andere hob das Kinn, zog die rötlichen Brauen zusammen und versuchte streng auszusehen, musste aber schmunzeln. Assistent des Gauleiters und Abgeordneter im Reichsnährstand, war Vinzent Landes seit Kriegsbeginn mit ihrer Halbschwester Gudrun verheiratet, der Tochter ihrer Mutter aus erster Ehe. Sie wohnten in einem großen Haus bei Rendsburg, in dem es sogar einen Bunker gab, und ähnlich oft wie in seiner SS-Uniform, er war Hauptsturmführer, sah man ihn in maßgeschneiderten Anzügen – auch wenn er Felder und Ställe inspizierte.

Sein verstorbener Vater, ein Halbbruder von Admiral Dönitz, hatte ihm die Traktoren- und Drescherfabrik »Landes« vererbt, in der nun zivile Autos für die Front umgerüstet wurden, unterirdisch, denn die Hallen waren zerbombt. Sibylle lachte, ein spöttischer Laut. »Was verstehst denn du von Klasse, Bücherwurm. So wenig wie von Männern. Der arme Vinzent ist unglücklich, siehst du das nicht? Der hat sich von der falschen Frau bequasseln lassen. Mit ihren neunundzwanzig Jahren redet die, als hätte sie das Parteibuch verschluckt, und desinfiziert sich wahrscheinlich nach jedem …«

Ihre Mutter kam in die Küche. Sie trug den samtblauen Morgenmantel mit den violetten Aufschlägen und ein Geschirrtuch als Schal und stellte die Wärmflasche in die Spüle. Kümmerlich der fahle Mund, eingefallen die Wangen, und der Ansatz ihrer schwarz gefärbten, am Hinterkopf flach gedrückten Haare war schon wieder grau. Auf den Gruß der Töchter antwortete sie nicht, oder nur mit einem Nicken.

Die Finger zitterten, als sie eine Tasse vom Wandbrett nahm. »Was machst du denn da, Kind?« hauchte sie und schöpfte eine Kelle Kaffee aus dem Topf am Herdrand. »Lass die Unterhosen nicht so lange kochen, hörst du. Ich will nicht wieder tagelang Gummis einziehen.«

Mit einem Ächzen sank sie auf ihren Stuhl, und Sibylle, die soeben noch gedämpft gesprochen hatte, halb hinter den Zähnen, drückte den Rücken durch und sagte lächelnd: »Nein, mach ich nicht, Mammilein, kennst mich doch. Hab sie gerade erst eingeweicht. Aber ich muss ja wenigstens die Flecken rauskriegen. – Hast du immer noch Kopfschmerzen?«

Ihre Mutter schloss die runzligen Lider und gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten; man konnte ihre Plomben sehen. Unter dem offenen Mantel und dem Nachthemd trug sie eine von den langen Trikothosen, die ihr Vater ihnen geschickt hatte, raue Mischwolle aus Wehrmachtsbeständen, und sie kratzte sich die Knie. »Ach, mir tut alles weh, jedes Gelenk. Kaum auszuhalten ist das. Die Gudrun muss mir unbedingt neue Tabletten besorgen.« Dann goss sie etwas Milch in die Tasse. »Wieso ist die Kanne nur halb voll?«

Luisa schluckte und sah ihre Schwester an, ein drohender Blick. »Es gab nicht mehr«, log sie. »Zu viele Flüchtlinge. Und diese Truppenversorgung nimmt’s auch vom Lebendigen. Aber dafür haben wir ja Butter, eine Extra-Ration ohne Marken. Das ist bestimmt ein Pfund! – Hast du was von Papa gehört? Kiel hat schon wieder gebrannt, ich konnte den Feuerschein sehen!«

Die Tasse in beiden Händen, starrte ihre Mutter aus dem Fenster. »Zu viele Flüchtlinge«, murmelte sie. »Mein Gott, wo führt das hin; die fressen uns die Haare vom Kopf. Kein Land hält das aus. Und am Ende quartieren sie uns hier welche ein …«

Aber dann besann sie sich auf die Frage ihrer Jüngsten. »Woher sollte ich denn was hören, Spatz! Es gibt in dem ganzen zerbombten Kiel kein funktionierendes Telefon mehr. Kannst aber ruhig sein, deinem geliebten Vater passiert schon nichts. Dem passiert nie was, der hat sieben Leben. Steckt den Kopf in den Ofen und vergisst, das Gas aufzudrehen. Und ob wir uns an dem ekligen Pumpenwasser vergiften oder uns die Schwindsucht holen in dieser Bude, warum sollte ihn das kümmern? Der Wind heult auf dem Trockenboden, und mein eigenes Bibbern hat mich geweckt.« Sie blickte auf den Tisch. »Wo sind die Zigaretten?«

Sibylle ging zum Büfettschrank, kramte in der Lade und legte eine weiße Sechserpackung »Juno« auf den Tisch. »Ich glaub, das ist die letzte«, sagte sie erstaunt. »Dabei hätte ich schwören können … Na ja, was soll’s. Zur Not habe ich noch ›Sondermischung‹. Muss Vinzent eben neue bringen.«

Sie gab ihrer Mutter Feuer, und Luisa öffnete das beschlagene Fenster und stellte die Milchkanne hinaus. »Aber wie kannst du denn sagen, der Papa tut nichts!« protestierte sie. »Wir haben fast alles, was wir brauchen, das Wasser kann man abkochen, und gäbe es noch Kohlen, hätte er uns längst eine Heizung eingebaut, der Brenner steht im Stall. Ist es seine Schuld, dass er nicht mit Holz funktioniert?«

Ihre Mutter schwieg. Sie zog an der Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, ein Signal für Sibylle. Die trocknete sich die Hände am Unterrock ab und harkte ihr das stumpfe Haar aus der Stirn. Dann rieb sie ihre Ohrläppchen zwischen den Fingerkuppen und massierte ihr sanft die Schläfen, was sie aufstöhnen ließ wie sonst nur im Bad. »Oh ja, das tut gut, meine Liebe. Wunderbar machst du das, ganz wunderbar. In deinen Händen möchte ich Mann sein!« Den Rauch durch die Nase stoßend, sah sie mit verdrehten Augen hinter sich. »Apropos … Woher weißt du eigentlich, dass er noch Vorräte hat, der schöne Vinzent?«