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Um Würde oder ihr Fehlen geht es in diesen neun Erzählungen, in denen die Menschen sich bemühen, dem Ideal eines halbwegs gelungenen Lebens etwas näher zu kommen – oder doch am Ende nicht allzu zerknirscht dazustehen. Vom Alleinsein versehrt sind manche, »Engel auf Krücken«, die ahnen, dass es nicht unbedingt Flügel braucht, um über sich und die Umstände hinauszugelangen; Liebe würde schon genügen.
»Jede wahre, jede leuchtende Kurzgeschichte hat einen romanlangen Schatten«, schrieb Ralf Rothmann einmal und stellt es mit Museum der Einsamkeit erneut unter Beweis. Ob er von dem »Budenzauber« eines kleinen Jungen erzählt, der während der Abwesenheit der Eltern den weinenden Bruder tröstet, oder von einer Dozentin, die ihre Mutter in ein Seniorenheim mit seltsamen Kratzspuren an den Türen gibt, ob er einen Handlanger an der Seelenkälte der Maurer oder einen Pfarrer, dessen Tochter stirbt, an Gott verzweifeln lässt – immer offenbart sich uns eine »Wahrheit hinter der Wahrheit«, was nicht zuletzt an der Spannkraft und der magischen Genauigkeit von Ralf Rothmanns Sprache liegt.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ralf Rothmann
Museum der Einsamkeit
Erzählungen
Suhrkamp Verlag
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
Erste Auflage 2025Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung und Foto: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-78215-6
www.suhrkamp.de
Sometimes I wonder what it's gonna take To find dignityBob Dylan
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Normschrift
Herr Dingens
Eine kleine Metall-Unterhaltung
Die Melodie bei Nacht
Budenzauber
Engel auf Krücken
Schimmel in der Orgel
Abschied von Baden-Baden
Psalm und Asche
Informationen zum Buch
Fast jeden Morgen wurde ich wach, bevor es in den Lautsprechern rauschte und knackte. Sehr leise erst, ein Wispern auf den langen Fluren und in den Waschräumen, kam die Musik von einem Endlosband und wurde jede Viertelstunde etwas lauter gedreht. Herr Pinnegg, der Hausmeister, den alle Pillek nannten, hatte die Stücke selbst aufgenommen, eine Mischung aus Schlagern und softem Pop, und es war unüberhörbar, dass er Dusty Springfield mochte, einen Star seiner Jugend. Bis zum Arbeitsbeginn auf der Schulbaustelle um halb neun hörte man mindestens drei Mal »Son of a Preacher Man«, »I Just Don't Know What to Do with Myself« oder »Just a Little Lovin'«.
Die keuschen Kleider und Betonfrisuren der Sängerin fand ich immer zum Wegsehen, aber ich mochte die Stimme mit dem zarten, leicht aufgerauten Silberrand gern. In jenen Wochen hatte sie etwas mit dem Duft der Brötchen auf den Tischen des Speisesaals zu tun, mit den durchsonnten Honiggläsern und dem heißen Kaffee in Zweiliterkannen, und sie war in den morgenmüden Bewegungen der Köchinnen und dem Wiegen der Pappeln am Horizont. Vor allem aber klang sie nach dem Rauch der ersten Zigarette.
Zu Hause wachte ich kaum je einmal vor dem Rasseln des Weckers auf; oft hörte ich ihn gar nicht, und dann klopfte meine Mutter an die Tür, wobei sie den Ringfinger benutzte, ihren scharfkantigen Achat. An den Wochenenden schlief ich mindestens bis zum Mittagsläuten von Sankt Jakobus, durchwachte die Nächte lesend oder zeichnend, übersetzte mir die Songs meiner Lieblingsbands mit dem Wörterbuch und ging erst im Morgengrauen wieder ins Bett. Doch auf der Schulbaustelle, die alle Lehrlinge jedes Jahr ein paar Wochen lang absolvieren mussten, war das anders.
Hier, in einem ehemaligen Karmeliterkloster am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, wo an die hundert zukünftige Maurer, Betonbauer, Zimmerer und Schlosser in Vierer- oder Sechserzimmern untergebracht waren, hatte man bis zum Verlöschen des Lichts um Mitternacht keine ungestörte Minute. Jeder betrat fraglos jedes Zimmer, die Duschen waren ein einziger großer Raum, die Klokabinen hatten nur brusthohe Wände mit Pendeltüren, und lärmende Kassettenrekorder, brüllende Skat-Runden oder Flur-Schlägereien wegen des Fernsehprogramms waren das Normale. Und wenn man dann ins Bett sank und glaubte, endlich schlafen zu können, kriegte man noch ein »Gute Nacht!« der besonderen Art und griff in irgendetwas Feuchtes, Klebriges oder Stacheliges unter dem Kissen.
Die einzige Chance, Ruhe zu haben und wirklich für sich zu sein, gab es folglich am frühen Morgen, vor dem Arbeitsbeginn. Wie spät ich in der Nacht auch zum Schlafen gekommen sein mochte – sobald ein Hauch von Dämmerung hinter den Vorhängen zu ahnen war, wurde ich ohne jeden Wecker wach, raffte meine Kleider, Schuhe und Reclam-Hefte zusammen und stahl mich aus dem Zimmer, das ich mit drei anderen Maurerlehrlingen teilte. Unter den nackten Füßen waren immer Sandkörner zu spüren, und während ich mir im Waschraum die Zähne putzte, schaute ich über die Dächer der Theorie-Baracken zum Horizont, wo das frühe, von Vögeln durchzuckte Licht die weiße Wand des Autokinos überglühte.
Und dann freute ich mich auf die ungestörten Stunden im Speisesaal, die vor mir lagen, auf das Alleinsein mit der Zeitung oder den Erzählungen von Tschechow und auf den heißen Kaffee. Denn auch wenn offiziell ab sieben Uhr geweckt wurde, kamen die meisten erst um kurz vor halb neun aus den Federn, kippten eine Tasse des mittlerweile lauen Kaffees im Stehen hinunter, belegten sich zwei Brötchen und gingen mampfend über den großen, von Materialschuppen und Silos umstellten Hof zu ihrem Werkstück, einer halb eingeschalten Kragplatte etwa, einem gemauerten Spitzbogen mit Rosette, einer Wendeltreppe ins Blaue hinauf.
Die Lehr- oder Schulbaustelle Wildruff war eine Einrichtung der Industrie- und Handelskammer und verdankte sich wohl der immer häufigeren Verwendung von Fertigteilen und dem dauernden Zeitdruck auf dem Bau. Was man unter solchen Bedingungen längst nicht mehr lernte, sollte wenigstens einige Zeit im Jahr praktiziert werden, denn es gehörte zum Berufsbild des Handwerkers, und manche Prüfer fragten es ab. Obschon die meisten Architekten Formsteine aus der Fabrik verplanten, mauerte man hier noch Konvexbögen oder komplizierte Kaminverbände mit Ziegeln im Normalformat. Obwohl man inzwischen alle Gewölbe, sofern sie nicht gleich aus dem Betonwerk kamen, mit Blechen oder biegbaren Sperrholzplatten einschalte, nagelte man die Hohlformen hier noch aus konischen Leisten zusammen, Zentimeter für Zentimeter, tagelang. Und auch wenn es kaum mehr Dächer mit Dachreitern oder Fledermausgauben gab, wurden sie in Wildruff gezimmert und verschindelt wie vor hundert Jahren.
Die Schulbaustelle, auf der nachmittags sogar Kuchen serviert wurde, war für die meisten eine Erholung: Man arbeitete nicht mehr mit der Uhr im Nacken und konnte sich unterstellen im Regen; man musste nicht mehr durch jeden Dreck kriechen, nur weil man Lehrling war, es gab keinen Akkord, keine Überstunden und keine brüllenden Poliere. Allein die Qualität der Werkstücke zählte, die Genauigkeit oder auch Schönheit ihrer Ausführung, von geduldigen Meistern überwacht, und ich war sicher nicht der Einzige, der in Wildruff zum ersten Mal so etwas wie Handwerkerstolz fühlte.
An jenem Donnerstag Anfang August hatte ich in Erwartung des Wochenendes kaum ein Auge zugekriegt, was ausschließlich an Lynn lag, einer Schauspielschülerin an der Folkwangschule in Essen. Fast zwanzig, also gut drei Jahre älter als ich, hatte sie mich in der »Ampütte« angesprochen, einem Essener Lokal ohne Sperrstunde, in dem viele Theaterleute verkehrten, und obwohl wir jede Menge Bier und Wein tranken an dem Abend, brachte ich sie auf meinem Moped nach Steele, wo sie wohnte. Seit ich Lynn kannte, hörten sich die morgendlichen Songs von Dusty Springfield anders an; plötzlich waren irgendwelche Heimlichkeiten darin, das Rascheln von Nylonstrümpfen, endlose Knutschereien in Hauseingängen, ein atemloses »Nicht, nicht, nicht!«, und besonders in »I Close My Eyes and Count to Ten« klang mir die zärtliche Stimme wie vor Liebe entzündet.
Mit dem alten Mercedes-Cabrio von Lynns Vater wollten wir am Freitagnachmittag in die Eifel fahren, in das Ferienhaus der Familie bei Maria Laach, nur wir zwei, und der Gedanke, nach all den raschen Sachen auf der Parkbank oder im Kino in einem frisch bezogenen Bett mit ihr zu liegen und in aller Ruhe die Dinge zu tun, die Männer und Frauen in der Nacht zusammen machen, wieder und wieder, bis Montag früh, hatte mich um den Schlaf gebracht. Noch vor dem Sonnenaufgang schlurfte ich zu den Toiletten, stellte eine Stange Wasser in die Ecke und ging in den Waschraum, wo die Zahnputzbecher auf einem gekachelten Sims standen und an den Haken darunter die Handtücher hingen.
Normalerweise. Doch an dem Morgen lagen alle auf dem genoppten Steinboden, ein großer Haufen, aus dem ein dunkelblonder Schopf hervorsah; alle außer meinem, und ich knipste eine Lampe über den Spiegeln an. Socke, ein Betonbauer, der eigentlich Detlef Sobotta hieß, hatte es hängen lassen, und als ich mich über ihn beugte und ihm mit gekrümmtem Finger gegen die Stirn klopfte, schreckte er zusammen. Stift war er noch, also im ersten Lehrjahr, und die Angst in seinen großen Augen sah durch die Schlafbenommenheit irgendwie nackter aus, dramatisch fast. »Ach du«, keuchte er, setzte sich auf und rieb sich bibbernd die Schultern; dann sackte er gegen die Kachelwand. »Ich dachte schon, die Killer kommen.«
Er trug nur eine Turnhose und ein Unterhemd, und die Lücke, die seit einigen Tagen in seiner oberen Zahnreihe klaffte, ein Geschenk von Thersek, einem Maurerlehrling auf seinem Zimmer, ließ ihn etwas nuschelnder sprechen. Ich griff in den Haufen, befühlte die Handtücher; fast alle waren klamm. »Was soll denn das!«, sagte ich. »Hast du etwa die ganze Nacht hier auf den kalten Kacheln geschlafen? Brauchst du einen Krankenschein, oder bist du einfach nur bescheuert?«
Er gähnte, kratzte sich den Kopf mit beiden Händen. Fahl die Wangen, blutleer die Lippen, und sogar die selbstgestochenen Tätowierungen auf seinem linken Arm, gekreuzte Dolche und ein fast fertiges Herz, das wie eine Kartoffel aussah, wirkten blasser. »Ja, was konnte ich denn tun«, sagte er und schluckte hart; der große Adamsapfel an seiner Kehle ruckte auf und ab. »Die haben mich ausgesperrt, Mann. Ich sollte Sachen machen … Kann man keinem erzählen. 'ne Gurke hatten die!«
Den größten Teil des Tages arbeitete er bei den Eisenbiegern, seine Fingernägel waren rostbraun gerändert, und obwohl er auch sonst etwas ungewaschen aussah, mit getrocknetem Speichel in den Mundwinkeln und eitriger Akne auf der Stirn, galt er vielen damals als »Hundertfünfundsiebziger«. Mir war nicht klar, wie man so etwas überhaupt erkannte; völlig von der Schönheit von Mädchen verzaubert, von ihren Stimmen, ihrer Frechheit und ihrem Witz, fehlte mir womöglich das Sensorium dafür. Jedenfalls war er sowohl bei den Ausbildern als auch bei den Lehrlingen nicht sehr beliebt, und dass man ihm meistens kühl oder gar ruppig begegnete, lag vielleicht auch an der Furcht, selbst als homosexuell zu gelten. »Wieso ausgesperrt?«, sagte ich. »Es gibt doch gar keine Schlüssel.«
Er grunzte spöttisch, zog das Kinn an den Hals. »Machst du Witze, Mann? Wir haben zwei Bauschlosser auf der Bude …«
Die Sonne ging auf, erste Pappelschatten wuchsen über die Kinowand jenseits des Bauhofs, und ich sah mich um, wobei mich ein leises Missbehagen überkam. Es gab keine Schilder über der langen Reihe emaillierter Haken, die Namen, die manche mit Filzstift darübergeschrieben hatten, waren im Duschdampf schon wieder herabgetränt, und da mein Frotteetuch, ein weißes mit eingewebtem Möwenmuster, als einziges an seinem Platz hing, würde man wohl mich verdächtigen, alle anderen auf den Boden geschmissen zu haben. »Na, ich hoffe jedenfalls, du hast dir gemerkt, welche Lappen wo hingehören«, sagte ich. »Sonst werden sie dich nämlich kopfunter an den Kran hängen und in den Speiß tunken. Oder dein Spezialfreund Thersek nagelt dich an sein Kreuzgewölbe.«
»Na und? Soll er!« Grinsend zeigte er auf ein großes, mit dem blauen Schalke-Logo bedrucktes Tuch in der Ecke. »In dem seins hab ich reingewichst«, sagte er. »Drei Mal. Ich hatte solche Schmerzen in der Lücke, weißt du, und gegen Zahnweh hilft am besten Wichsen. Der wird Augen machen, wenn er sich das Gesicht abtrocknet – falls er es überhaupt wäscht.«
Er rappelte sich auf, zog etwas Rotz unter der Nase hoch, leckte sich die Lippen. So dürr, wie er war, konnte keine Beschreibung sein. Die haarlose Brust schien sich leicht nach innen zu wölben, und er trug ein Goldkettchen mit einem aufklappbaren Amulett; darin war, er hatte es mir einmal voller Stolz gezeigt, das Bild von Pep, seinem Jack Russell Terrier. »Hör mal, Simon«, sagte er und gähnte erneut. »Meinst du, ich könnte mit einem aus deinem Zimmer tauschen? Vielleicht mit dem Kalde? Der ist doch auch aus dem Münsterland, oder? Der würde sich mit dem dicken Schwein gut verstehen.«
»Nein, der ist Ostwestfale«, antwortete ich und versuchte, ein paar Handtücher aus dem Gedächtnis an die richtigen Haken zu hängen; das Schalke-blaue rührte ich allerdings nicht an. »Kein Mensch versteht sich mit deinem Thersek, nicht einmal sein eigener Vater. Den hat er auch schon mal zusammengedroschen. Das ist ein krimineller Fall.«
So alt wie ich, war er annähernd zwei Meter groß, und in seinem Gesicht ließ sich vor Fett kaum je eine Miene erkennen. Kein Wochenende und schon gar keins mit einer Kirmes in Oberhausen und Umgebung, an dem er sich nicht in eine Prügelei stürzte; seine Fäuste waren immer zerschrammt. Wir hatten in den ersten beiden Jahren in derselben Firma gelernt, bei »Küppers«, doch eines Tages betrank er sich während der Arbeit, pisste gegen den Jaguar eines Bauherrn und wurde entlassen. Aber er konnte seine Lehre bei »Trapp« fortsetzen und war jetzt schon ein ziemlich guter Maurer, besser als viele Gesellen. »Du solltest ihm endlich die Kehle durchschneiden und das Herz aus dem feisten Leib reißen. Wenn er schläft, meine ich.«
Wie ein kleines schwarzes Loch in dem frühgoldenen, in allen Spiegeln funkelnden Morgenlicht sah Sockes Zahnlücke aus, als er lachte. Die Schultern bis zu den Segelohren hochgezogen, krümmte er die Finger und sagte mit verstellter Stimme, einem unterirdischen Krächzen: »Genau, Alter! Und dann sauf ich sein Blut, bis mich das Fieber überkommt und mir das Wolfsfell den Nacken hochkriecht, und noch seine Kinder und Kindeskinder werden zittern vor meiner Rache …«
Ich nickte. »So will ich dich haben. Immer zum Äußersten bereit«, antwortete ich und sah auf die Uhr. »Hör zu, ich brauch einen Kaffee und meine erste Zigarette, sonst krieg ich Verstopfung. Du kannst noch gut zwei Stunden pennen; hau dich in mein Bett, bevor es kalt wird. Aber pass auf, das Türglas scheppert im Rahmen. Wenn der olle Kalde erst mal wach ist, quasselt er dich zu. Der kennt die Namen aller Kühe, die sein Vater früher hatte, auch die vor seiner Geburt.«
Sockes Augen wurden seltsam starr, schienen plötzlich sogar vorzustehen, und die Mundwinkel mit den getrockneten Speichelspuren zuckten. Er griff sich an den Hals und befühlte das goldene Amulett, rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger und fragte leise, fast flüsternd: »Ist das jetzt dein Ernst?« Er schluckte erneut. »Könnte ich da rein?«
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, er würde gleich weinen; jedenfalls glänzte es feucht zwischen den Lidern. »Ja, wieso nicht?«, sagte ich im Davongehen. »Wir Oberhausener müssen zusammenhalten, oder? Dafür kriege ich natürlich deinen Pudding heute Mittag. Und die Laken bleiben sauber, klar?!«
Dass das Hauptgebäude ein ehemaliges Kloster war, sah man allenfalls noch im Treppenhausturm, wo es ein paar bunt verglaste Fenster mit den Bildern der Kreuzigungs-Utensilien gab: Hämmer, Nägel und die Dornenkrone. Auch Geißeln und Würfel auf einem tiefroten Gewand waren abgebildet, und die eine oder andere Konche hatte früher wohl eine Heiligenfigur beherbergt; jetzt befanden sich Feuerlöscher in den halbrunden Wandnischen und hier und da auch diese Einmal-Aschenbecher aus Aluminium, die der Hausmeister täglich verteilte.
Der Duft des Rasierwassers, das Herr Pinnegg mehr als reichlich benutzte, schwebte mir bereits im ersten Stock entgegen. Als ich die Eingangshalle durchquerte, stand er in der Mitte des Terrazzosterns, stemmte die Fäuste an die Hüften, was den mächtigen Bauch betonte, und blickte in die Höhe. Wie immer trug er einen grauen Kittel mit unzähligen Kugelschreibern in der Brusttasche. »Wie kann ich da raufkommen?«, murmelte er und kratzte sich die Glatze. »Das ist doch eine Schnapsidee! Auf dem ganzen Lehrbauhof gibt es keine Leiter, die so lang ist. Oder soll ich mich durch die Dachluke abseilen? Was meinst du, Simon?«
Ich bog den Kopf in den Nacken. Auch dort oben, unter der Treppenhauskuppel, befand sich eine kleine Nische, die freilich noch nicht ausgeräumt war. Das schmale Gesicht der Statue lag im Schatten eines Umhangs, seines gekräuselten Saums, an dem ein Rest Blattgold schimmerte. Die Hand, mit der sie einmal gegrüßt oder gesegnet hatte, war abgebrochen, und trotz der dicken Staubschicht konnte man einen blauen Mantel erahnen. »Weshalb wollen Sie denn da hoch?«, fragte ich.
Er betrachtete mich kurz, wischte mir irgendwas vom Hemdkragen, und ich erstarrte, um nicht reflexartig zurückzuweichen; damals berührten sich erwachsene Männer, die sich nicht prügeln wollten, höchstens beim Handschlag. »Na, die Madonna soll weg! Befehl von oben. Die fängt an zu bröckeln in der Luft hier. All das schwüle Testosteron …« Er zwinkerte mir zu. »Aber du bist ja versorgt, oder? War das eigentlich deine Freundin, diese Kleine mit dem Mercedes neulich?«
»Sie ist nicht klein«, sagte ich. »Sie ist sogar eine Handbreit größer als ich. Und der Wagen gehört ihrem Vater. Der ist Professor für englische Literatur in Bochum.«
Er nickte. »Süß, wirklich schnuckelig, diese Mädchen mit den kurzen Haaren neuerdings. Ich meine, wenn sie schlank sind … Und was macht sie? Studentin?«
»Ja«, sagte ich. »Schauspiel, in Essen. Sie kann geschlagene sechzig Sekunden lang ausatmen, das lernen die da. Und einatmen und sprechen zugleich.«
»Du liebes bisschen!« Die Augen rollend, rieb er sich das Kinn, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie stummelkurz seine Finger waren und wie verhornt die Kuppen. Er konnte recht gut Gitarre spielen und bot auch Unterricht in seiner Wohnung an, der umgebauten Kapelle im Souterrain; doch außer dem pickeligen Socke, der Ukulele bei ihm lernte, ging keiner zu ihm. »Oh, meine Schauspielerinnen früher!«, stöhnte er. »Darf gar nicht dran denken. Die mimen immer, oder? Die können gar nicht anders. Ob sie schreien oder flüstern, weinen oder lachen – für die ist die ganze Welt eine Bühne. Ich glaube, die spielen sogar, wenn sie Kinder kriegen, ein Balg für die Requisite.« Er stieß mich mit dem Ellbogen an. »Aber ich will dir deine frische Liebe nicht verderben. Mit dem Körper können sie jedenfalls umgehen, die Biester.«
Dann blätterte er in einem kleinen Block aus seiner Kitteltasche, hakte etwas darin ab und stapfte die Treppe hoch. »Übrigens, wolltest du nicht mal Gitarre lernen? Schlaggitarre? Diese ganzen Beatles-Lieder sind gar nicht so schwer. Eigentlich braucht man nur vier Akkorde, und die Mädels stehen auf sowas. Wenn du nach Feierabend vorbeikommst, bringe ich dir rasch ein paar Griffe bei, zum Spezialtarif …«
»Danke«, antwortete ich. »Vielleicht später einmal.«
»Später?«, sagte er, und obwohl er schon außer Sicht war, glaubte ich, eine leise Giftspur in seiner Stimme zu hören. »Später kommt der Peter!«
In jenem Sommer kurz vor der Gesellenprüfung musste ich nicht viel arbeiten in Wildruff, jedenfalls nicht körperlich; ich hatte einen Bürojob, was mir recht gut gefiel. Da jedes Wort und jede Zahl in den Berichtsheften und auf den Bauplänen in einer serifenlosen Schrift mit festgelegtem Neigungswinkel und genauer Punktgröße ausgeführt werden sollte, hatte man mit einer Schablone zu arbeiten, ein zeitraubendes Gefummel, das ich seit dem ersten Lehrjahr hasste. Oft geriet man aus der Linie, weil die Plastikscheibe rutschte, oder man zog sie zu früh vom Blatt oder blieb mit dem Stift im tückischen Semikolon hängen, so dass die Tusche verwischte und die ganze Arbeit verdarb. Dann musste man von vorn anfangen, Deckweiß war verboten, und so brachte ich sie mir freihändig bei, diese Deutsche Normschrift, was sogar einigermaßen gelang; ich hatte eine ruhige Hand, und in der Berufsschule fiel keinem etwas auf.
Doch Herr van Eicken, unser Ausbilder auf der Lehrbaustelle, bemerkte natürlich, dass ich viel schneller als die anderen war und immer als Erster unter dem Vordach der Theorie-Baracke stand, um zu rauchen. Und so kam es, dass ich plötzlich an einem großen Schreibtisch mit Telefon saß, wo ich sein gesamtes Unterrichtsmaterial, Dutzende Aktenordner voller Bauvorschriften und Zeichnungen, auf Folien für den Overhead-Projektor übertragen sollte. Dafür standen mir die modernsten Rapidographen und Winkelmesser zur Verfügung, und machte ich einmal Fehler, gab es exzellente Glasradierer – mit denen sich sogar kleine Rostpickel am Moped entfernen ließen. Von meinem gepolsterten Drehstuhl aus hatte ich einen guten Blick über den Bauplatz und die anderen Maurer, die mich neidisch beäugten, und wenn ich gelegentlich telefonierte – ich sollte mir die Nummern der Anrufer notieren, falls Herr van Eicken nicht im Büro war –, sah ich vermutlich vollends wie befördert aus. Dabei waren die meisten von ihnen viel bessere Handwerker als ich.
Der alte Apparat schrillte so laut, dass es mich nicht selten aus der Konzentration riss, aber an dem Tag, an dem nur die Jahresringe und Holzmaserungen der Verschalungen zu zeichnen waren, schreckte er mich eher aus meinen Träumen, und dann knackte es in der Leitung, Herr Pinnegg verband mich, und schon am Räuspern am anderen Ende erkannte ich Lynn. »Hey, wie geht's dir?«, fragte ich. »Alles okay?«
»Ja«, sagte sie und seufzte leise. »Ich muss grad mal deine Stimme hören; ich bin so traurig. Fast hätte ich geweint. Ihr habt doch jetzt Pause, oder?«
Die begann erst in zwanzig Minuten, und als ich sie fragte, was denn los sei, seufzte sie noch einmal nachdrücklicher, wie unter einem schweren Gewicht, und sagte, dass unser geplantes Wochenende in der Eifel ausfallen müsse und wie unendlich leid ihr das tue. »Aber es ist eine einmalige Gelegenheit, hab überhaupt nicht damit gerechnet. Unser neuer Schauspiellehrer ist befreundet mit diesem Regisseur in Stuttgart, hab den Namen vergessen, und wir, also er, zwei Kommilitonen und ich, fahren gleich zu einer Probe vom ›Othello‹, den wir demnächst auch aufführen wollen. Ich soll die Desdemona spielen. Kennst du Shakespeare?«
Ich hob die Schultern, als würde sie das sehen. »Weiß nicht«, sagte ich. »Kann sein. Wie lange bleibst du denn weg? Ich meine, wenn heute die Probe ist, könntest du ja vielleicht …«
»Nein, nein«, erwiderte sie rasch. »Bis Stuttgart braucht es ja eine Weile, der hat so eine Klapper-Ente. Die Probe ist morgen, Freitag früh, wahrscheinlich bis in den Abend. Am Samstag, dem letzten Tag der Theaterferien, folgt die Generalprobe, und Sonntag ist Premiere, mit anschließender Feier. Vor Montag bin ich also kaum zurück. Sei bitte nicht sauer, das ist eine Auszeichnung, verstehst du. Unser Lehrer hätte auch drei andere Studenten mitnehmen können …«
»Klar, verstehe ich. Und wo übernachtet ihr?«
»Wie, wo übernachten wir? Im Bett, will ich doch hoffen. Schon mal was von Hotels gehört? Oder willst du mir am Ende misstrauen?«
Tatsächlich war ich bis dahin noch nie aus dem Ruhrpott herausgekommen, sieht man von einer Schulfahrt nach Xanten ab, und hatte auch noch nicht in einem Hotel übernachtet, und dass es für sie so selbstverständlich zu sein schien, kam mir ziemlich mondän vor; aber ihr Vater besaß ja sogar ein Ferienhaus. »Nein, nein, schon gut«, sagte ich ein wenig eingeschüchtert. »Das ist sicher wichtig für deine Karriere, da solltest du unbedingt hin. Was genau kommt denn jetzt vor in diesem ›Othello‹?«
Ich hörte ein Feuerzeug klicken, und ich weiß nicht, ob es am inhalierten Rauch lag oder ob sie ihre Stimme dunkler machte; jedenfalls klang sie plötzlich wie meine Mutter, als sie sagte: »Hattet ihr das nicht in der Schule? O Mann, das ist ein eminent politisches Stück. Halt ein Klassiker. Mit einem schwarzen General auf Zypern, der komplett durchdreht. Liebe und Eifersucht zwischen Ruinen und so. Ich erzähl dir später mehr. Wünsch mir eine gute Fahrt, ja?«
Der Pausengong, ein Dreiklang, hallte aus den Lautsprechern über den Platz, die Maurer ließen ihre Kellen in die Mörtelfässer fallen, die Einschaler hackten die spitzen Hämmer ins Holz. Irgendjemand im Hintergrund sagte etwas auf Englisch, vielleicht Lynns Vater, und ich hörte, wie sie ihren Rauch in mein Schweigen blies, schluckte trocken und wünschte ihr eine gute Fahrt.
Aus den Hoflautsprechern wisperte Musik vom Endlosband, Dusty Springfield natürlich, und zusammen mit Socke ging ich in den Speisesaal. Die Senkel seiner Sicherheitsschuhe schlappten lose herum, und der gelbe Helm, der ihm etwas zu groß war, wackelte bei jedem Schritt. Wir holten uns die Tabletts von der Essensausgabe, die Terrinen mit Eintopf, die es jeden Donnerstag gab, stellten einige von den pyramidenförmigen Kakaotüten daneben und blickten uns um. Wo immer Socke sich hinsetzen wollte, war der Stuhl angeblich schon besetzt, und schließlich landeten wir wie so oft an dem Katzentisch neben dem Garderobenständer.
»Linsen«, ächzte er angewidert, legte seinen Helm auf die Fensterbank und strich sich ein paar schweißnasse Haare aus der Stirn. Seine zarten Hände waren braun vor Rost: So wie die Maurer ihren Mörtel, ein Ton-Lehm-Gemisch, stets wieder von den Steinen kratzen und neu durchsieben und aufmischen mussten, hatten die Betonbauer nach Beendigung eines Werkstücks die Moniereisen gerade zu biegen und die krummen Nägel aus den Verschalungen zu ziehen, damit sie wieder verwendet werden konnten. Keiner machte das gern, man verloste die Leute, wobei es selten mit rechten Dingen zuging. In diesem Sommer war es meistens Socke, der den ganzen Tag im Schuppen stand, krumme Nägel aus der einen Kiste nahm, sie mit dem Hammer auf einem kleinen Amboss gerade klopfte und in die andere Kiste fallen ließ, acht Stunden am Tag.
»Wie hast du denn geschlafen?«, fragte ich und stieß den Trinkhalm durch das vorgestanzte Loch in der Kakaotüte.
»Ganz gut«, sagte er, »danke. Ich hätte mir auch ein Parterre-Bett aussuchen sollen damals. Da kann dir keiner von unten gegen die Matratze wummern.« Er grinste, und obwohl er den Mund dabei kaum öffnete, konnte ich wieder das Schwarz der Zahnlücke sehen; es machte sein Gesicht vielleicht nicht älter, aber doch um Jahre trauriger. »Triffst du am Wochenende wieder deine Mieze?«, fragte er. »Die mit dem Mercedes?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Eher nicht«, antwortete ich und fischte mir ein Wurststück aus den Linsen. »Sie hat einen Termin in Stuttgart, muss mit ihrem Schauspiellehrer eine Generalprobe anschauen, ein politisches Stück. Wie es aussieht, ist er ein wichtiger Mann und hält sie für begabt …«
Er nickte ernst, stocherte in seiner Terrine herum, aß jedoch nichts. Endlich hob er den Kopf und starrte aus dem Fenster auf die weiße »Leinwand« des Autokinos, eine riesige, leicht vorgeneigte Betonplatte. »Sag mal Simon, du kennst dich doch aus mit Frauen, oder? Ich hab ja noch nie … Ich meine, ich wollte mal ins Puff gehen, in die Flaßhofstraße, weil ich dachte, 's wird langsam Zeit, wenn du 'n Mann werden willst, aber da war schon am Eingang Ausweiskontrolle, und der Typ hat geknurrt, ich soll mir mein Lehrgeld sparen, ich hätte gesunde Hände. Und dann hatten wir eine schöne dicke Lilly in der Siedlung, die hat alle rangelassen, nur mich nicht, weil ich so gezittert hab; mein Zittern hat der Angst gemacht, stell dir vor. Deswegen heißt das fickerig, glaube ich. Aber was ich fragen wollte: Wo genau liegen eigentlich die Eierstöcke bei denen?«
Der Schluck Kakao, den ich im Mund hatte, stieg mir in die Nase. »Die was?«, fragte ich und zog mein Taschentuch hervor. »Wie kommst du jetzt darauf, Mann?«
»Erklär ich dir später. Sag mal, wo liegen die?«
»Keine Ahnung!« Ich schnäuzte mich. »In Ostwestfalen wahrscheinlich.«
Aber er lächelte nicht; er nagte an einem Daumennagel. »Hab nämlich grad mit meiner Alten telefoniert«, murmelte er und ergänzte rasch, als hätte er Angst, ich könnte ihn für ein Muttersöhnchen halten: »Ich meine, sie hat beim Pillek angerufen. Es geht ihr nicht gut, glaub ich. Sie ist krank, irgendein blöder Krebs oder sowas. Sie muss ins Johanniter-Hospital, am Montag schon.«
»Oha«, sagte ich und sah auf die Uhr; ab halb zwei durfte im Speisesaal geraucht werden. Herr Pinnegg verteilte schon die Aschenbecher. »Das hört sich ja übel an, tut mir leid. Was meinen denn die Ärzte? Kommt sie durch?«
Auch wenn ich mit der Fernseh-Floskel nur meine Ratlosigkeit verbergen wollte, schämte ich mich bereits dafür; doch er reagierte nicht, brockte ein Stück Brot in den Eintopf. Als er aufsah, bemerkte ich Tränen in seinen Augen, und auch die Unterlippe zitterte. »Mir tut's nicht leid«, stieß er hervor. »Überhaupt nicht. Von mir aus soll sie verrecken an ihren Eierstöcken, die Scheiß-Fotze. Die denkt sowieso nur an sich, hat sie immer getan. Keinen Pfennig hab ich von der für mein Mofa gekriegt, obwohl's ein gebrauchtes war. Die säuft und fickt mit jedem Itaker rum, die Lümmeltüten schwimmen in unserem Klo. Aber was wird aus meinem Hund? Wer kümmert sich um den, wenn die da in ihrem Bett liegt und sich gemütlich operieren lässt? Der Peppi kann nicht gut allein sein; das kann der überhaupt nicht, Simon! Der ist eigentlich ein Rudeltier. Der kratzt die Tapeten von den Wänden und pisst alles voll!«
Er wischte sich die Tränen mit den braunen Fingern weg, was die Lider plötzlich wie geschminkt aussehen ließ, und ich schob ihm den Spender mit den Papierservietten hin. Rost brennt, und nachdem er ihn aus den Augen getupft hatte, versuchte er, seine Kakaotüte anzustechen. Doch die Spitze des Trinkröhrchens war stumpf, es knickte immer wieder um, und schließlich schob er das ganze Tablett weg, steckte sich eine Zigarette an und starrte wieder hinaus. Wie jeden Mittag hielt der Eisverkäufer mit seinem Dreirad vor dem Heim.
Ich wusste nach wie vor keinen Rat. Meine Eltern würden kaum einen Hund in Pflege nehmen, schon die Schildkröte und das Meerschweinchen in meiner Kindheit hatten meiner Mutter zu viel Dreck gemacht, und auf der Schulbaustelle waren Tiere nicht erlaubt. Nur der Hausmeister besaß einen rosa Kakadu, der sogar sprechen konnte. Regelmäßig um Mitternacht ließ er ihn »Schlaft schön!« in das Mikrophon krächzen, und dann wurde es dunkel auf den Fluren. Ich schlug Socke auf die Schulter, brachte mein Tablett weg und ging nach draußen, um mir ein Eis zu kaufen.
Später suchte ich im Bücherregal unsers Ausbilders nach einem Duden oder Fremdwörterlexikon, um das Wort »eminent« nachzuschlagen, und als ich mich wieder an den Zeichentisch setzte, begann Thersek gerade mit einem neuen Werkstück direkt vor meinem Fenster; dennoch öffnete ich die Flügel weit, es war sehr warm. Er hatte sich das Unterhemd ausgezogen und wie einen Turban um die Stirn gewickelt, und das schweißglänzende Fett, mit dem sein Körper bepackt war, zitterte bei jeder Bewegung. Auch er hatte eine selbstgestochene Tätowierung auf dem Oberarm, einen großen Anker, um den sich eine Schlange wand, die wie ein Stück Enddarm aussah.
Nur ein schmaler, von Begonien gesäumter Weg befand sich zwischen der Barackenwand und seinem Arbeitsplatz; trotzdem fragte er so laut, dass die Lehrlinge ringsum die Köpfe hoben: »Wieso hat denn der Socke heute in deinem Bett gepennt? Bist du jetzt auch einer von diesen verdammten Hinterladern? Oder hat er es dir von vorn besorgt?«
Ich schnaubte kurz einmal, hatte schon die richtige Antwort auf den Lippen, aber in dem Moment traten die Ausbilder aus ihrem Pausenraum, einem Bungalow neben dem Kloster, in dem sogar ein Billardtisch stand. Sie hatten offenbar über einen Witz gelacht und bemühten sich nun um seriöse Mienen. Alle trugen weiße, stets wie neu glänzende Helme und makellos saubere Arbeitsanzüge, und Herr van Eicken ließ sogar ein Bürohemd samt Krawatte unter dem Drillich sehen. Nachdem er seine Runde bei den Maurern gemacht und hier eine Wasserwaage oder einen Zollstock angelegt, da einen Eckstein zurechtgerückt hatte, verschwand er in der Theorie-Baracke, wo er die Neuzugänge unterrichtete, und ich legte die Füße auf den Schreibtisch, verschränkte die Hände im Nacken und sagte: »Ich ein warmer Bruder? Na, freu dich, du eminenter Arsch! Dann sind wir schon zu zweit!«
Er wog eine Kelle voll Speiß in der Faust, und einen Moment lang dachte ich, er würde den Brei über die Brüstung schleudern, auf die Zeichnungen oder in mein Gesicht. Doch das wagte er wohl nicht; die Klassenräume hatten große Fenster, und auch wenn die Ausbilder unterrichteten, behielten sie den Bauplatz im Auge. Aber er nickte mehrmals, was drohend aussah, ein wortloses »Warte, Bursche, gleich …«.
Um siebzehn Uhr dreißig war Feierabend, und nach dem Essen um sechs konnte man machen, was man wollte. Meistens fuhren wir in kleinen Gruppen zu irgendeinem Baggerloch zum Baden oder spielten Fußball auf dem Ascheplatz des Regionalvereins. Um dreiundzwanzig Uhr hatte man wieder im Heim zu sein, und wer sich nicht daran hielt, kriegte beim ersten Mal einen Vermerk im Appellbuch des Hausmeisters und wurde bei einer Wiederholung vor den Leiter zitiert. Herr van Eicken war der Meinung, dass zu einem guten und gewissenhaften Handwerker ein tadelloser Lebenswandel gehört, und zusammen mit den anderen Ausbildern machte er manchmal Stippvisiten in den Zimmern und kontrollierte, ob man nüchtern war, die Schränke aufgeräumt hatte und mit sauberen Füßen im Bett lag. Denen, die sich nicht an den Zapfenstreich hielten, drohte er mit einer Meldung bei der jeweiligen Firma, die der Industrie- und Handelskammer viel Geld für den Aufenthalt bezahlte und das Recht hatte, den Lehrling bei Bedarf in die raue Wirklichkeit der Baustellen zurückzufordern. Und das wollte schließlich keiner.
Aber donnerstags blieben die meisten ohnehin im Wohnheim, denn an dem Abend wurde immer ein neuer Film im Autokino gezeigt. Um Punkt neun Uhr saßen alle eng gedrängt auf den Fensterbänken der Wasch- und Aufenthaltsräume der drei Etagen, ließen die Beine baumeln und starrten rauchend auf die riesige, auf Stelzen stehende Betonplatte jenseits des Schulgeländes. Deren weiße Farbe wurde hier und da schon rissig oder warf Blasen, was so mancher makellosen Diva oder ihrem Dekolleté bei Großaufnahmen den Anschein gab, sie hätte die Blattern. Darauf achtete man allerdings kaum, schon gar nicht, wenn einer der sogenannten Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle lief, die damals viele Schlagzeilen machten.
»Deine Frau, das unbekannte Wesen« oder »Dein Mann, das unbekannte Wesen« oder »Zum Beispiel: Ehebruch« hießen sie. Doch an dem Donnerstag, an dem Lynn mir abgesagt hatte, lief ein Krimi voller Verfolgungsjagden durch ein schwarz-weißes Paris, in dem die Polizisten meistens Trenchcoats trugen und die elegante, etwas magere Frau mit dem breiten Haarband einen Renault Dauphine fuhr. Es wurde viel geredet, mehr, als wir uns denken konnten, lautlos explodierte ein Koffer in der Gare du Nord, und die halbnackten Mädchen in der fast dunklen Bar tanzten zu einer wilden Stille: Denn ein Ton war auf unseren Fensterbänken ja nicht zu hören; die Zuschauer dort unten kriegten Boxen in ihre Wagen gehängt. Der eine oder andere Lehrling kommentierte das Geschehen zwar – »Wahrscheinlich vergiftet sie ihn gleich. Ob er sie am Ende pimpert?« –, aber natürlich fehlte etwas, besonders wenn Socke einmal nicht da war, wie an diesem Abend. Gleich nach Arbeitsschluss hatte er sich auf sein Mofa gesetzt, der Mutter wegen oder doch, um die Versorgung von Pep zu regeln, seinem Hund.
Normalerweise ging er hinter uns auf und ab und imitierte die Geräusche, die er vermutete, mit allem, was ihm zur Verfügung stand: Schusslaute, mit dem Mund erzeugt, waren da das Simpelste. Wenn es dramatisch wurde, schrammelte er auf seiner Ukulele wie auf einem Gemüsehobel herum, bei Regen oder hohem Seegang zog er an der Klospülung, drehte ein paar Duschen auf und schrie wie ein Pirat gegen den Orkan an, das Klacken von Pferdehufen stellte er mit zwei Zahnputzbechern auf den Kacheln her, und auch das Stöhnen der Mädchen in den Aufklärungsfilmen kriegte er hin, als würde er es täglich hören, wobei er den Höhepunkt des Mannes oft mit einem Grunzen unterlegte, das an einen Keiler denken ließ.
Dafür erntete er Applaus und Gelächter, wie auch für seine erfundenen Dialoge, die meistens schweinisch waren, etwa wenn ein Paar nach der Liebe noch eine Zigarette rauchte und er seine Stimme ins Piepsige hob und sagte: »Aber das nächste Mal nimmst du die Hintertür, versprochen? Ich möchte nichts lieber, als von dir in den Arsch gepoppt zu werden. Und mach dir keine Sorgen, Schatz, bei deinem kleinen Schniepel tut mir das bestimmt nicht weh.« Und dann im Männerbass: »Nein, nein, meine Schnecke, das schmink dir ab. Anal nur mit Karl.« – Ich erinnere mich an das Grölen an dieser Stelle und an sein vor Freude gerötetes Gesicht, und dass man ihn nicht im Zimmer oder als Tischnachbar haben wollte und ihn tagelang krumme Nägel gerade klopfen ließ, schien in solchen Augenblicken vergessen zu sein. »Ihr Brüder …«, hatte sogar Thersek einmal gesagt und anerkennend den Daumen gereckt. »Ihr seid immer noch die besten Faxenmacher.«
Auch er war an dem Abend nicht im Heim gewesen. Er betrat den Waschraum in dem Moment, in dem der Kommissar der tückischen Blondine das Messer aus der Hand schlug und beide in einem wilden Kuss aufs Sofa sanken. Eine Bluse zerriss, Knöpfe hüpften über den Glastisch, aber Therseks Versuch, die Szene mit einem Seufzer weiblicher Hingabe zu synchronisieren, klang nur besoffen. Keiner beachtete ihn, alle starrten gebannt in die zwar grauen, der Sehnsucht nach aber unbedingt blauen Augen der schönen Frau, die groß und größer wurden unter dem Sternenhimmel, ehe sie sich langsam schlossen. Da verschwand der Dicke in einem Verschlag, sank auf den Klotopf und sagte: »Achtung, ihr Wichser, Zwiebeln im Tiefflug.«