Der Winzerhof – Tage des perlenden Glücks - Linda Winterberg - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Winzerhof – Tage des perlenden Glücks E-Book

Linda Winterberg

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Leuchten über den Weinbergen 

Wiesbaden, 1951: Zusammen mit ihren Schwestern Bille und Lisbeth konnte Henni die Sektkellerei der Familie durch die schweren Jahre nach dem Krieg bringen, die Marke Herzberg ist in aller Munde. Henni ist glücklich mit Georg verheiratet, der die Sektkellerei leitet, und erwartet ihr erstes Kind. Ihre Erfindung des Piccolo bringt dem Unternehmen weiteren Aufschwung. Lisbeth hat sich neu verliebt, und Bille sucht nach einem schweren Schicksalsschlag ihren Platz im Leben. Eines Tages kehrt Hennis verschollen geglaubter Ehemann zurück. Erneut steht die Zukunft der Schwestern und der Sektkellerei auf dem Spiel. 

Die große Winzerhof-Saga – historisch fundiert, berührend erzählt und voller besonderer Figuren

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 425

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Rheingau, 1951: Henni und ihre Schwestern Lisbeth und Bille sind einander endlich wieder nähergekommen, die alten Streitigkeiten liegen hinter ihnen. Während Henni zusammen mit Georg, der die Sektkellerei Herzberg leitet, ihr erstes Kind erwartet, findet Lisbeth eine neue Liebe, die jedoch auf dem Spiel steht, als ihre Vergangenheit sie einholt. Das Nesthäkchen Bille ist noch immer das Sorgenkind der Familie. Was sie als Krankenschwester im Krieg erlebt hat, lässt sie nicht los – sie findet Trost bei einem Mann, der sie jedoch schon bald ins Unglück zu stürzen droht. Und dann kommt auch noch Conrad zurück, Hennis als vermisst geltender Ehemann – und plötzlich steht die Zukunft und das Glück der Schwestern erneut auf dem Spiel.

Über Linda Winterberg

Hinter Linda Winterberg verbirgt sich Nicole Steyer, eine erfolgreiche Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus. Im Aufbau Taschenbuch und bei Rütten & Loening liegen von ihr die Romane »Das Haus der verlorenen Kinder«, »Solange die Hoffnung uns gehört«, »Unsere Tage am Ende des Sees«, »Die verlorene Schwester«, »Für immer Weihnachten«, »Die Kinder des Nordlichts« sowie die große Hebammen-Saga »Aufbruch in ein neues Leben«, »Jahre der Veränderung«, »Schicksalhafte Zeiten« sowie »Ein neuer Anfang« und der erste Band der Winzerhof-Saga »Das Prickeln einer neuen Zeit« vor.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Linda Winterberg

Der Winzerhof – Tage des perlenden Glücks

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Kapitel — Assmannshausen, 30. Mai 1951

2. Kapitel — Wiesbaden, 20. Juni 1951

3. Kapitel — Frankfurt, 21. Juni 1951

4. Kapitel — Wiesbaden, 24. Juni 1951

5. Kapitel — Wiesbaden, 15. Juli 1951

6. Kapitel — Mainz, 20. Juli 1951

7. Kapitel — Wiesbaden, 4. August 1951

8. Kapitel — Wiesbaden, 20. August 1951

9. Kapitel — Wiesbaden, 1. September 1951

10. Kapitel — Wiesbaden, 20. September 1951

11. Kapitel — Wiesbaden, 2. Oktober 1951

12. Kapitel — Assmannshausen, 20. Oktober 1951

13. Kapitel — Wiesbaden, 5. November 1951

14. Kapitel — Assmannshausen, 9. November 1951

15. Kapitel — Wiesbaden, 2. Dezember 1951

16. Kapitel — Wiesbaden, 15. Dezember 1951

17. Kapitel — Wiesbaden, 24. Dezember 1951

18. Kapitel — Wiesbaden, 15. Januar 1952

19. Kapitel — Wiesbaden, 3. Februar 1952

20. Kapitel — Wiesbaden, 7. Februar 1952

21. Kapitel — Assmannshausen, 15. Februar 1952

22. Kapitel — Wiesbaden, 24. Februar 1952

23. Kapitel — Wiesbaden, 5. März 1952

24. Kapitel — Wiesbaden, 20. März 1952

25. Kapitel — Wiesbaden, 25. März 1952

26. Kapitel — Wiesbaden, 4. April 1952

27. Kapitel — Wiesbaden, 10. April 1952

28. Kapitel — Wiesbaden, 15. April 1952

29. Kapitel — Assmannshausen, 25. April 1952

30. Kapitel — Wiesbaden, 2. Mai 1952

31. Kapitel — Wiesbaden, 10. Mai 1952

32. Kapitel — Martinsthal, 15. Mai 1952

33. Kapitel — Wiesbaden, 20. Mai 1952

34. Kapitel — Wiesbaden, 25. Mai 1952

35. Kapitel — Assmannshausen, 14. Juni 1952

Nachwort

Impressum

Wer von dieser großen Saga begeistert ist, liest auch ...

1. Kapitel

Assmannshausen, 30. Mai 1951

Henni Winkler stellte das kleine Eimerchen, das sie aufgrund ihrer Schwangerschaftsübelkeit seit einigen Wochen ständig mit sich herumtrug, neben dem Rosenbeet auf dem Rasen ab und machte sich daran, Unkraut zu jäten. Dieses Frühjahr hatte es viel Regen gegeben, und zwischen den Rosenstöcken wucherten Löwenzahn und andere Pflanzen, die dort nichts verloren hatten. Normalerweise bemühte sich ihr Gärtner Ludwig um die Beete, doch leider hatte sich der arme Mann vor zwei Wochen das Bein gebrochen, und es würde noch eine Weile dauern, bis er sich wieder um ihren weitläufigen Garten kümmern konnte. Henni ging ihm gern zur Hand, denn sie mochte die Gartenarbeit. Auch half sie hin und wieder bei der Arbeit in dem Weinberg, der an das Grundstück grenzte und den sie und ihr Mann Georg an Erich Meinhardt, einen ortsansässigen Winzer, verpachtet hatten. Er hatte Henni eine ausgezeichnete Fachkenntnis im Umgang mit den Reben bescheinigt. So sollte es auch sein als Erbin einer der größten Sektkellereien Deutschlands.

Und nun war sie schwanger und freute sich unglaublich auf das Kind. Seit ihrer Heirat hatten Georg und sie darauf gehofft, Nachwuchs zu bekommen, doch es hatte jahrelang nicht funktionieren wollen. Sie hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, dann war plötzlich ihre Regel ausgeblieben. Nun waren die ersten, kritischen Wochen bereits vorüber, und langsam steigerte sich in Henni die Vorfreude auf das kleine Wesen in ihr, auch wenn es sie bedauerlicherweise noch immer mit dieser abscheulichen Übelkeit traktierte, die sich doch angeblich nach den ersten drei Monaten legen sollte. Auch hatte Henni in den letzten Wochen ab- statt zugenommen. Der Arzt hatte sie jedoch beruhigt und erklärt, dass das in diesem Stadium der Schwangerschaft manchmal vorkomme und sie sich deshalb keine Gedanken machen müsse.

Während Henni einen Löwenzahn ausrupfte, breitete sich in ihr erneut das unangenehme Gefühl von Unwohlsein aus. Rasch setzte sie sich auf, konzentrierte sich auf eine gleichmäßige Atmung und schloss die Augen. Das half manchmal, um ihren Körper auszutricksen und die gemeine Übelkeit zu vertreiben. Dieses Mal gelang es leider nicht, und sie beugte sich über ihr Eimerchen und begann zu würgen. Dabei hatte sie ihr Frühstück, etwas Haferbrei mit Honig und ein Glas Wasser, bereits vor einer Stunde von sich gegeben. Als sich ihr Magen wieder beruhigt und sie sich mit einem Papiertaschentuch den Mund abgewischt hatte, trat ihre jüngste Schwester Bille, die gerade aus dem Haus gekommen war, mit besorgter Miene näher.

»Henni, Liebes. Was machst du denn da? Du solltest dich in deinem Zustand ausruhen und nicht auch noch Gartenarbeit verrichten.«

»›In deinem Zustand‹«, äffte Henni sie nach und zog eine Grimasse. »Du hörst dich an, als wäre ich nicht schwanger, sondern krank. Was sollen denn Mütter sagen, die sich allein um den gesamten Haushalt kümmern und vielleicht sogar noch arbeiten gehen müssen, weil sie Kriegerwitwen sind oder auf die Heimkehr ihrer Männer warten? Die können auch nicht einfach alles stehen und liegen lassen, nur weil ihnen mal ein wenig übel ist.«

»Das weiß ich doch«, antwortete Bille. »Ich habe es nur lieb gemeint. Ich muss als Krankenschwester und angehende Medizinstudentin doch auf dein Wohl und das meiner Nichte oder meines Neffen achten.« Sie zwinkerte Henni zu. »Was freue ich mich auf das Kleine! Ich werde die beste Tante, die die Welt jemals gesehen hat.«

Ihre Worte brachten Henni zum Schmunzeln. Sie freute sich über Billes Fröhlichkeit, wusste jedoch, dass deren Stimmung rasch wieder kippen konnte, denn Bille, das Nesthäkchen der Familie, schien noch immer nicht so recht in ihrem neuen Lebensumfeld angekommen zu sein. Sie hatte während des Krieges als Krankenschwester im Osten in Lazaretten gearbeitet, war von den Russen verschleppt worden und hatte auf ihrer Flucht in den Westen schreckliche Dinge erlebt. Als angehende Medizinstudentin bezeichnete sich Bille bereits seit mehr als drei Jahren. Wann und ob sie überhaupt mit dem Studium der Medizin beginnen würde, stand in den Sternen. Henni kannte den Grund für ihr Zögern, für ihr Schwanken und das Hadern mit sich: Bille wartete auf die Rückkehr des Mannes, der ihr damals in all der Finsternis, die sie nach ihrer Verschleppung in Russland umgeben hatte, Mut gemacht hatte. Auf Fritz Wegener, einen Arzt aus Hannover, der in Kriegsgefangenschaft geraten war und sich noch immer irgendwo in einem Kriegsgefangenenlager in Russland befand. Die beiden schrieben einander, doch oftmals gingen Briefe verloren, oder es dauerte Wochen, bis sie ankamen. Henni wusste, dass sich Bille nichts mehr wünschte als seine Rückkehr. Sie klammerte sich an das Wiedersehen mit Fritz wie eine Ertrinkende. Es galt zu hoffen, dass die Realität nicht ihre Träume zerstören würde. Viele Heimkehrer waren traumatisiert, wenn sie denn überhaupt zurückkamen und nicht in den Gefangenenlagern starben. Doch daran wollte Henni nicht denken. Gewiss würde es für Bille gut ausgehen. So gut, wie es für sie und Georg ausgegangen war. Ihren geliebten Ehemann, den besten Kellermeister, den die Sektkellerei Herzberg jemals gesehen hatte. Seit ihrer Heirat hatte er auch die Geschäftsleitung der Kellerei inne und kümmerte sich voller Tatendrang um ihr Familienerbe, das durch den Krieg und den Tod von Hennis Vater und Großvater ins Schwanken geraten war.

Seit bald drei Jahren nannten sie nun dieses herrliche Fleckchen Erde in Assmannshausen ihr Zuhause. Sie hatten das alte Gutshaus komplett saniert, die Räume hell und freundlich streichen und möblieren lassen. In den Wirtschaftsgebäuden neben dem Haus hatte Henni eine kleine Weinhandlung eingerichtet, in der sie sogar Gäste bewirteten, wenn auch nur im kleinen Rahmen.

Um die Weinhandlung kümmerte sich Käthe Michels. Die rundliche Frau mit dem ansteckenden lauten Lachen war in Assmannshausen geboren und aufgewachsen und hatte bei dem abscheulichen Bombenangriff von 1944 ihren Mann und ihre kleine Gästepension in Rüdesheim verloren. Es kam einem Wunder gleich, dass sie noch so viel Lebensfreude verströmte.

»Willst du nicht das Rosenbeet für heute sein lassen und dich zu mir auf die Terrasse gesellen?«, fragte Bille. »Ich habe bei Inge ein Frühstück bestellt. Vielleicht tut es deinem Magen gut, wenn du eine Kleinigkeit isst. Wie pflegte Oma Maria stets zu sagen? ›Iss was, Kind. Dann hat der Magen was zu tun.‹«

»Meinetwegen«, gab Henni nach. »Vielleicht bleibt ja etwas Brot drin. Ich kann es in den Kaffee tunken. Und bleib mir bloß mit Kamillentee fort, davon wird mir nur noch mehr übel.«

Sie nahm ihr Eimerchen auf, erhob sich, und die beiden gingen durch den weitläufigen Garten zum Haus, das in der hellen Vormittagssonne herrlich einladend erschien. Oma Maria hätte das alte Gutshaus bestimmt gefallen, obwohl ihr die Lage in Assmannshausen vermutlich zu provinziell gewesen wäre. Leider hatte die alte Dame nicht mehr die Gelegenheit gehabt, das Anwesen im fertigen Zustand zu bewundern. Sie war an einem Herzinfarkt gestorben, wenige Wochen nachdem ihre Enkeltöchter sie aufgrund ihrer fortschreitenden Demenz in einem am Rheinufer gelegenen Sanatorium in Eltville untergebracht hatten. Immerhin hatte sie dort noch neue Freundinnen gefunden und eine schöne Zeit mit ihnen verbracht.

Hennis Blick wanderte auf das Dach ihres Anwesens, wo just in diesem Moment mal wieder der vertraute Graureiher landete, der sie jeden Tag besuchte. Henni mochte ihn, ihr Gärtner Ludwig weniger, denn seiner Meinung nach hatte es der Reiher auf die Goldfische abgesehen. Henni hatte das Tier jedoch noch nicht einmal in der Nähe des Teiches gesehen.

Das Anwesen mit den vielen Fenstern mit Butzenscheiben hatte im oberen Stock hübsche Balkone mit geschwungenen Metallgeländern. Es erstrahlte in einem zartgelben Ton, und an den Hauswänden rankten sich Kletterrosen die Spaliere empor, blühten in den Sommermonaten verschwenderisch und verströmten einen herrlichen Duft. Auf der Terrasse standen große Töpfe mit Oleander und Palmen neben Pflanzkübeln, in denen Petunien und Geranien blühten. Ein großer Terrassentisch und Korbstühle luden zum Verweilen ein, für Schatten sorgte ein gelber Sonnenschirm. Henni konnte sich noch gut an den Moment erinnern, als sie das Haus zum ersten Mal gesehen hatte. Damals, als Georg sie hierher entführt hatte. Das Anwesen war in keinem guten Zustand gewesen, verfallen und verlassen, es hatte regelrecht traurig ausgesehen. Henni und Georg hatten inzwischen die alte Familienvilla in Wiesbaden verkauft und ihren privaten Wohnsitz in den Rheingau verlegt. Der Umzug hatte sich für sie alle wie ein Neubeginn angefühlt, den sie bitter nötig hatten, wie Henni erst einige Monate später klar geworden war. In dem kleinen Winzerort hatte sie bei langen Spaziergängen durch die Weinberge das Erlebte hinter sich lassen und wieder freier atmen können. Ihre erste große Liebe Conrad, den sie an manchen Tagen noch immer schmerzlich vermisste, hatte recht gehabt mit dem, was er einmal in den Weinbergen zu ihr gesagt hatte: Der Rheingau streichelt mit seiner Lieblichkeit die Seele.

Henni und Bille nahmen an dem liebevoll gedeckten Frühstückstisch Platz. Ihre Köchin Inge hatte sich mal wieder selbst übertroffen. Neben frischen Brötchen, Rosinenkuchen, hausgemachten Marmeladen, frischer Butter, hart gekochten Eiern, Käse und Weintrauben befand sich ein hübscher Wildblumenstrauß auf dem Tisch.

Ihr Hausmädchen Lotte brachte eine Thermoskanne mit Kaffee und füllte die mit roten Rosen verzierten Tassen aus Meißen.

Kaffee vertrug Hennis Magen erstaunlicherweise recht gut, allerdings nur, wenn sie ihn mit einem Schluck Milch und Zucker trank. Sie ließ ihren Blick über die vielen Köstlichkeiten auf dem Tisch schweifen und verspürte das Gefühl von wohliger Zufriedenheit und Dankbarkeit. Noch immer war es für sie nach den entbehrungsreichen Jahren nicht selbstverständlich, an einem solch reich gedeckten Tisch zu sitzen. Obwohl sie es als Mitglied der besseren Gesellschaft zumeist besser gehabt hatte als andere Bewohner Wiesbadens. Henni und Georg hatten sich bemüht, die Not in der Stadt, besonders während der Hungerwinter, zu lindern. Die Kellerei hatte Suppenküchen unterstützt und sich an Wiederaufbau- und Neubauprojekten beteiligt. Georg hatte dafür gesorgt, dass jeder Mitarbeiter der Kellerei zu Weihnachten einen gut gefüllten Lebensmittelkorb bekam.

Nach der nun bereits drei Jahre zurückliegenden Währungsreform war es im Land spürbar aufwärtsgegangen, und die harten Jahre schienen endgültig hinter ihnen zu liegen. Die Trümmer waren beseitigt und die meisten Gebäude wiederaufgebaut worden. In den Geschäften gab es alles zu kaufen, was das Herz begehrte, und niemand musste mehr heimlich Waren tauschen oder in düsteren Ecken auf dem Schwarzmarkt mit Zigaretten handeln. Für viele Bürger Wiesbadens war neuer Wohnraum geschaffen worden, und auch der Kellerei ging es ausgezeichnet. Henni und Georg hatten im letzten Jahr das Nachbargelände in Biebrich erworben und eine weitere Abfüllhalle errichtet. Besonders die Wiederaufnahme des Piccolo-Geschäfts hatte ihnen einen Umsatzaufschwung beschert. Die kleinen Flaschen waren bei der Kundschaft beliebt und fanden in den Bars, Cafés und Restaurants in ganz Deutschland reißenden Absatz.

Einen Wermutstropfen gab es jedoch. Hennis langjährige Hausdame Trude, die wie ein Familienmitglied gewesen war, hatte sie vor drei Jahren verlassen. Ihre Schwester Beatrice hatte einen Unfall gehabt und saß seitdem im Rollstuhl. Da sie sonst niemanden hatte, war Trude zu ihr nach Köln gezogen, um sie zu pflegen.

Plötzlich drang eine bekannte Stimme an Hennis Ohr, und sie wandte sich um. Verdutzt sah sie die beiden Personen an, die auf sie zukamen. Es waren ihre Schwester Lisbeth und ein Mann in einem hellen Anzug, der, wie Henni vermutete, Wolfgang Zimmer sein musste, ein Unternehmersohn aus Mainz. Die Firma seiner Familie war im Exportgeschäft tätig und hatte deshalb einen Standort in San Francisco, wo sich Lisbeth in den letzten Jahren aufgehalten hatte.

Henni und Bille erhoben sich gleichzeitig.

»Da staunt ihr, meine Süßen«, begrüßte Lisbeth die beiden überschwänglich und umarmte sie. Sogleich hüllte Henni der vertraute Geruch von Lisbeths Parfüm ein, das sie noch nie hatte leiden können.

»So wie ihr guckt, ist mir die Überraschung gelungen. Darf ich euch Wolfgang vorstellen?« Lisbeth legte vertraulich die Hand auf den Arm ihres Begleiters, der mit seinem zurückfrisierten dunkelbraunen Haar, seinem markanten Kinn und leuchtend blauen Augen durchaus attraktiv war. »Meinen Verlobten«, fügte Lisbeth hinzu.

Henni und Bille sahen sich überrascht an. Lisbeth hielt freudig ihre linke Hand hoch, an ihrem Ringfinger befand sich ein Verlobungsring mit einem sehenswerten Brillanten. Das Exportgeschäft schien eine lohnende Angelegenheit zu sein.

»Verlobt«, brachte Bille heraus. »Also dann, ich meine …«

Henni fühlte sich überrumpelt, und unschöne Erinnerungen an alte Zeiten kehrten zurück. Damals hatte Lisbeth den SS-Offizier Johannes heimlich in Berlin geheiratet und ihn wenige Wochen später erst der Familie vorgestellt, was wegen Johannes’ Gesinnung zu einem großen Zerwürfnis mit ihrem Vater geführt hatte.

»Wenn ich dazu etwas beitragen dürfte«, sagte nun Wolfgang, »ich hatte Lisbeth erst am Abend vor unserer Abreise nach Deutschland um ihre Hand gebeten. Sie konnte Ihnen die freudige Kunde also erst jetzt mitteilen. Da Sie, Frau Winkler, sozusagen das Familienoberhaupt der Familie Herzberg sind, wie mir Lisbeth berichtete, möchte ich nun in aller Form bei Ihnen um die Hand Ihrer Schwester anhalten. Ich kann mir ein Leben ohne sie an meiner Seite nicht mehr vorstellen.«

Verwundert sah Henni ihn an. Nun fühlte sie sich noch mehr überfordert. Als Familienoberhaupt der Herzbergs hatte sie noch niemand bezeichnet. Ihr Blick wanderte zu Lisbeth. Sie nestelte an dem Ärmel ihrer Strickjacke, was auf ihre Nervosität hinwies. In diesem Moment wirkte sie auf Henni wie ein schüchterner Backfisch, und der war sie weiß Gott nie gewesen. Dieser Mann schien tatsächlich etwas in ihr verändert zu haben. Es war erstaunlich. Henni dachte darüber nach, was sie antworten sollte, und es entstand ein peinlicher Moment der Stille. Dann kehrte auch noch die Übelkeit zurück, und ehe sie es verhindern konnte, wandte sie sich ab und erbrach den Milchkaffee in einen der Blumenkübel. Guter Gott. Was sollte der Mann bloß von ihr denken? Henni verfluchte sich dafür, Lisbeth noch nichts von der Schwangerschaft erzählt zu haben.

Bille versuchte, die Situation zu retten, indem sie sagte: »Entschuldigt bitte. Sie ist schwanger.«

Lisbeth starrte ihre Schwester mit großen Augen an.

2. Kapitel

Wiesbaden, 20. Juni 1951

Henni schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und nippte an ihrem Orangensaft. Es mutete schon etwas seltsam an, dass die Inhaberin einer Sektkellerei beim jährlichen Mitarbeiterfest keinen Sekt trank. Sie hatten das Fest, das bereits vor dem Krieg gefeiert worden war, vor zwei Jahren wieder aufleben lassen, und es war bei den Mitarbeitern äußerst beliebt. Im Innenhof standen Stehtische und Bierbänke, Sonnenschirme spendeten Schatten, der Geruch von Bratwürsten hing in der Luft, und natürlich gab es kostenlose Getränke im Überfluss. Eine Kapelle spielte fröhliche Musik, auch in diesem Jahr hatten sie Glück mit dem Wetter, und die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel.

Henni hatte sich nach längerer Überlegung für ein hellblaues Kleid mit weißen Streublümchen und einen weit schwingenden, knielangen Rock entschieden. Dazu trug sie ihre weißen Lieblingspumps und eine dünne Strickjacke mit Lochstickerei. Die Schwangerschaft war ihr noch immer nicht anzusehen, ihre Taille war schmal, obwohl sie seit zwei Wochen einen ordentlichen Appetit an den Tag legte. Auch jetzt plagte sie schon wieder der Hunger, und sie hatte bereits das gesamte Schüsselchen an Erdnüssen geleert, das sie von einem der Stehtische gemopst hatte. Neben ihr standen die Gattinnen von zwei Angestellten aus der Buchhaltung, deren Gesprächen Henni lauschte. Die eine Frau war Ingeborg Jansen, die andere hatte ihren Namen nicht genannt, lachte jedoch wie eine Ziege über ihre eigenen platten Witze. Henni überlegte, zu welchem Mitarbeiter sie gehören könnte, doch es wollte ihr nicht einfallen. Früher hatte sie selbst noch das Personal mit eingestellt, doch darum kümmerte sich inzwischen ihr Personalchef, Joachim Kaltenbach, den Georg sehr schätzte.

»Wir überlegen in diesem Jahr tatsächlich, in den Urlaub zu fahren«, sagte Ingeborg Jansen gerade. »Karls Schwager wohnt am Bodensee, dort soll es äußerst beschaulich sein. Es wäre eine Freude, besonders für die Kinder. Im Bodensee zu schwimmen, soll herrlich sein.«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete die andere, die sich eben eine Zigarette angezündet hatte. »Bodensee klingt doch recht provinziell. Italien würde mich reizen. Venedig muss traumhaft schön sein. Mein Udo hat gemeint, dass es nächstes Jahr klappen könnte, denn bis dahin haben wir genug Geld für unser erstes eigenes Auto zusammengespart.«

»Also wir fahren dieses Jahr nach Boppard auf einen direkt am Rhein gelegenen Campingplatz«, mischte sich eine rothaarige Frau mit Sommersprossen im Gesicht in das Gespräch ein.

»Also bevor ich das machen würde, bliebe ich lieber gleich daheim«, antwortete die Frau mit der Zigarette trocken. »Fahren Sie in den Urlaub?«, fragte sie plötzlich Henni und sah ihr direkt in die Augen.

Henni fühlte sich überrumpelt. An Urlaub dachten weder sie noch Georg. In der Kellerei gab es gut zu tun, und sie bewohnten schließlich in Assmannshausen ein kleines Paradies.

Es war Georg, der sie einer Antwort enthob. Er trat zu ihnen, grüßte die Frauen kurz, die ihn offensichtlich attraktiv fanden. »Ich muss meine Gattin entführen, meine Damen. Ich hoffe, Sie haben weiterhin viel Freude an dem Fest.«

Er legte den Arm um Hennis Taille und zog sie mit sich. Als sie außer Hörweite waren, sagte er grinsend: »Du hast ausgesehen, als wolltest du gerettet werden.« Er gab ihr einen kurzen Kuss.

In Henni breitete sich das herrliche Wohlgefühl aus, das sie verspürte, wenn er in ihrer Nähe war. Obwohl sie nun schon einige Jahre verheiratet waren, fühlte Henni noch immer dieses Prickeln von Verliebtheit in seiner Gegenwart. Georg löste Gefühle und eine Leidenschaft in ihr aus, die sie zuvor mit Conrad nicht gekannt hatte. Bei ihm war es eher eine Art vertraute Gewohnheit gewesen, ein liebevolles und respektvolles Miteinander. Hatten sie deshalb damals geheiratet? Weil alle es erwartet hatten? Weil Conrad und Henni in aller Augen füreinander bestimmt gewesen waren? Oder hatte Liebe nicht viele Gesichter und Facetten? Henni schob den Gedanken zur Seite. Conrad war Vergangenheit, Georg ihre Zukunft, daran galt es festzuhalten.

Georg, der im Vorbeigehen einen älteren Herrn grüßte, hatte sich für das Mitarbeiterfest in Schale geworfen und trug einen hellen Sommeranzug, sein dunkles Haar hatte er nach hinten frisiert, die Schläfen waren inzwischen ergraut, was ihn nur noch attraktiver aussehen ließ.

»Ich möchte dir unseren neuen für Hamburg zuständigen Vertriebsmann vorstellen«, sagte er und deutete auf einen rundlichen Mann mit Halbglatze und geröteten Wangen, der ein Stück von ihnen entfernt stand und sich von einem der Kellner sein Sektglas auffüllen ließ. »Sein Name ist Paul Hansen. Ich hatte dir gestern Abend von ihm erzählt. Er verfügt über ausgezeichnete Kontakte. Wir können froh sein, einen solchen Mitarbeiter für uns gewonnen zu haben.«

Henni erinnerte sich dunkel an das Gespräch. Sie war bereits müde gewesen, als Georg aus der Kellerei nach Hause gekommen war. Er hatte viel geredet und unzählige Namen von Personen erwähnt, die sie unbedingt kennenlernen sollte.

Sie traten zu Paul Hansen, und Georg stellte Henni vor. Der Mann schüttelte ihr kräftig die Hand und versicherte ihr mit einem breiten Grinsen, dass er sich alle Mühe geben werde, die Sektmarke Herzberg in Hamburg und Umgebung unters Volk zu bringen.

»Aber in unserem St. Pauli und auf der Reeperbahn sehe ich da kaum Probleme«, sagte er und zeigte einen Goldzahn. »In den dort ansässigen Etablissements ist Sekt ja quasi ein Grundnahrungsmittel. In den Bordellen wird der gleich flaschenweise verscherbelt.« Er lachte über seinen eigenen Witz, und Henni bemühte sich um ein Lächeln und eine höfliche Antwort.

Guter Gott, dachte sie. Wie hatte Georg nur diesen derb auftretenden Mann einstellen können?

Georg schien ihre Gedanken zu erraten. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, erklärte er: »Er wirkt vielleicht etwas plump, aber St. Pauli ist ja auch nicht Bad Homburg.« Sein Blick fiel auf einen unweit von ihnen stehenden hoch gewachsenen Mann mit blondem Haar in einem maßgeschneiderten Anzug. Jürgen von Schwindnitz-Grassburg war die Eleganz in Person und damit ausgezeichnet als Vertriebsmann für wohlhabende Orte wie Bad Homburg, Königstein oder Kronberg geeignet, die durch ihre Villenviertel bestachen. An diese Klientel ließ sich ausgezeichnet der edlere Champagner vertreiben. Von Schwindnitz-Grassburg veranstalte regelmäßig Sekt- und Champagnerverkostungen für enge Freunde und Bekannte. So hatte eben jeder Vertriebsweg seine eigenen Geschäftsregeln. Bei den Auslieferungen an Getränkegroßhandlungen und kleine Ladengeschäfte ging es knallhart nur um die Zahlen. Dafür waren die verschiedenen Regionalvertriebsleiter zuständig, jedem von ihnen waren fünf weitere Vertriebsmänner unterstellt. Besonders der Piccolo war in diesem Umfeld beliebt.

Henni ließ ihren Blick über die fröhliche Festgesellschaft schweifen, und plötzlich musste sie an ihren Großvater denken. Er wäre bestimmt stolz darauf, wie gut sich die Kellerei entwickelte. Inzwischen spielten Georg und sie sogar mit dem Gedanken, erste Lieferungen ins Ausland zu tätigen. Erst einmal hatten sie nur die Nachbarländer im Blick, vorrangig Österreich, die Schweiz und Dänemark. Frankreich würde schwierig werden. Es gab Überlegungen, dort einen bereits bestehenden Kellereibetrieb zu übernehmen. Georg hatte ihr von ersten Sondierungen in diese Richtung erzählt. Hennis Vater würde seine Umtriebigkeit gefallen, denn er hatte stets davon geträumt, aus der Kellerei ein international tätiges Unternehmen zu machen.

Hennis Blick blieb an Gustav Stellmann hängen, der stolz den Arm um eine rundliche dunkelhaarige Frau in seinem Alter gelegt hatte, die ein geblümtes Kleid trug und etwas unsicher wirkte.

»Wen hat denn Gustav dabei?«, fragte Henni und nickte zu den beiden hinüber, während sie sich im Vorbeigehen eine weitere Handvoll Erdnüsse aus einer Schüssel nahm. »Das ist doch schon wieder eine neue Begleiterin. Die letzte war blond gelockt, oder irre ich mich?« Sie schob sich eine der Nüsse in den Mund.

»Hildegard«, antwortete Georg. »Oder war es doch Regina?«

»Nein, Regina war die rothaarige Inhaberin des Tabakwarenladens in Biebrich«, antwortete Henni. »An sie kann ich mich am besten erinnern, denn ihr Gebiss ähnelte dem eines Pferdes.«

Georg schüttelte grinsend den Kopf. »Unser Gustav. Ich hätte ihm nach dem Tod seiner Margot so viele Damenbekanntschaften niemals zugetraut.«

»Das hätte wohl niemand«, erwiderte Henni.

Gustav Stellmann, der im letzten Jahr seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hatte, wohnte noch immer in dem Fachwerkhaus am Ende des Kellereigeländes und saß weiterhin pünktlich jeden Morgen um sechs Uhr an seinem Platz im Pförtnerhaus. Von einem wohlverdienten Ruhestand hielt er nichts. Schließlich sei er noch gut in Schuss, hatte er neulich zu Henni gesagt und seinen rundlichen Bauch nach vorn gestreckt. Henni gönnte ihm seine späten Allüren von ganzem Herzen, denn Gustav hatte es im Leben nicht leicht gehabt. Er hatte im Ersten Weltkrieg als junger Mann im Schützengraben gelegen, im Zweiten Weltkrieg beide Söhne verloren, und seine geliebte Margot hatte ihm der Krebs genommen. Nach ihrem Tod hatte er monatelang einsam gewirkt. Es war schön, ihn wieder fröhlich zu sehen.

Plötzlich entdeckte Henni in der Menge Lisbeth. Sie stand gemeinsam mit Wolfgang in der Schlange vor dem Grill. Lisbeth würde sich doch nicht etwa eine Bratwurst kaufen? Henni konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Schwester solch profanen Essensfreuden jemals zugetan gewesen wäre, geschweige denn solchen Veranstaltungen wie Mitarbeiterfesten.

Georg und sie gingen zu ihnen hinüber, und Lisbeth begrüßte ihre Schwester überschwänglich mit einer Umarmung.

»Henni, Schwesterchen«, rief sie. »Da staunst du, was? Mit uns hast du hier bestimmt nicht gerechnet.« Sie kicherte albern und nippte an einem Glas Sekt. Henni überlegte, das wievielte es sein mochte, denn ihre Schwester kam ihr beschwipst vor. »Ich dachte, als Anteilseignerin der Kellerei müsste ich mich bei einer solchen Veranstaltung auch mal unter das einfache Volk mischen und mal gucken, was ihr zwei Hübschen in den letzten Jahren so auf die Beine gestellt habt. Ich muss schon sagen: Das ist alles äußerst gut gelungen. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Lisbeth knuffte Henni kurz die Schulter.

Hennis Miene wurde säuerlich. Sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, dass hinter ihrer fröhlichen Scharade etwas ganz anderes stecken konnte.

»Trotzdem überlege ich schon seit einem ganzen Weilchen, ob ihr Unterstützung gebrauchen könntet. Wie du weißt, ist Wolfgang im Export tätig und kennt sich mit Vertrieb und dem ganzen Gedöns hervorragend aus. Ich dachte, ihr könntet ihm einen hübschen Posten in der Kellerei verschaffen. Natürlich in leitender Position, versteht sich. Immerhin wird er bald eine Herzberg ehelichen.« Sie gab Wolfgang einen kurzen Kuss auf den Mund. An seinem resignierten Blick war zu erkennen, dass ihm Lisbeths Worte nicht gefielen. Er hob beschwichtigend die Hände und sagte: »Es ist nicht meine Absicht, mich in den Vordergrund zu drängen. Ich hatte dir doch gesagt, Lisbeth, dass eine Intervention in dieser Richtung nicht notwendig ist. Wie du weißt, habe ich genug mit unserem Familienunternehmen in Mainz zu tun.« Er warf Lisbeth einen mahnenden Blick zu. Sogleich war Wolfgang ihr etwas sympathischer.

»Jetzt hör schon auf«, entgegnete Lisbeth und zog eine Schnute, die Henni gut kannte, allerdings länger nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Wollte Lisbeth sie mit ihrem gespielt naiven Verhalten täuschen? Am Ende heckte sie wieder etwas Neues aus. Bei ihr galt es stets auf der Hut zu bleiben.

»In Mainz geht doch alles den Bach runter, seitdem dein Vater diesen Schlaganfall hatte. Das hast du selbst erst neulich zu mir gesagt. Da hab ich eben gedacht …«

»Du hast falsch gedacht«, fiel Wolfgang ihr ins Wort. »Ich hatte gesagt, dass ich mich in Mainz kümmern muss, damit alles auch weiterhin seinen gewohnten Gang geht. Trotzdem würde ich mich gern die Tage zu einem geschäftlichen Gespräch mit Ihnen treffen«, wandte er sich an Georg. »Wie mir zu Ohren gekommen ist, plant die Kellerei Herzberg, international zu expandieren. Eine Exportfirma könnte ein guter Partner an Ihrer Seite sein.«

»Das klingt interessant«, antwortete Georg, »wenn Sie gute Kontakte haben. Ich bin mir noch nicht sicher, wie wir unser Vertriebsnetz erweitern wollen. Ich hatte überlegt, kleinere Kellereibetriebe komplett zu übernehmen. Als eine Art Tochterunternehmen. Was meinen Sie? Oder ist es sinnvoller, den Standort Wiesbaden noch weiter auszubauen? Obwohl wir hier räumlich begrenzt sind. Ich überlege, ein brach liegendes Gelände in Biebrich zu erwerben, um dort eine weitere Abfüllanlage für unseren Piccolo zu errichten. Das ist aktuell unser Verkaufsschlager. Mein Schwiegervater hat dieses kleine Sektformat bereits in den dreißiger Jahren erfunden. Er sah für die kleineren Flaschen während der Weltwirtschaftskrise bessere Verkaufsmöglichkeiten. Nun sind wir damit noch größer ins Geschäft eingestiegen.«

Die beiden Männer entfernten sich von den Schwestern.

»So schnell ist man abgemeldet«, sagte Henni und schüttelte den Kopf. »Die beiden scheinen einander zu mögen.« Sie schob sich die restlichen drei Erdnüsse in den Mund.

»Du klingst verwundert«, entgegnete Lisbeth schnippisch.

»Na ja, wenn man bedenkt, wen du zuletzt als Ehemann angeschleppt hast … Ich hoffe, es gibt bei deinem Wolfgang nicht noch unschöne Details aus der Vergangenheit. Sollte ich da etwas wissen?« Sie sah Lisbeth fragend an.

Lisbeth wollte Antwort geben, kam jedoch nicht mehr dazu, denn plötzlich rief eine kreischende Stimme: »Hilfe, so helfe uns doch jemand!«

Alarmiert blickte Henni in die Richtung, aus der die Schreie kamen, und sah Gustav am Boden liegen.

3. Kapitel

Frankfurt, 21. Juni 1951

Bille gefiel es, sich im Strom der vielen Studenten treiben zu lassen, die auf dem Campus der Goethe Universität in Frankfurt unterwegs waren. Der bunte Trubel um sie herum hatte in ihren Augen etwas Magisches. Er versprach Aufbruch und Wohlstand. Eine ganze Generation junger Menschen strebte nach Bildung in den unterschiedlichsten Bereichen. Unter ihnen befanden sich auch einige junge Frauen, die Ärztinnen, Anwältinnen oder Architektinnen werden wollten. Sie liefen ganz selbstverständlich über den Campus, ihre Bücher im Arm, Taschen hingen über ihren Schultern. Sie lachten und flirteten mit den jungen Studenten. Gewiss fanden zu später Stunde viele Partys statt. Bille konnte nicht sagen, wie oft sie bereits hierhergekommen und wieder gegangen war. Jedes Mal hatte sie sich vorgenommen, in die Verwaltung zu gehen, um sich dort für das Medizinstudium einzuschreiben – vergeblich. Sie saß in der Wandelhalle des Jügelhauses und betrachtete ihre Umgebung. Sie könnte dazugehören und neue Freunde, Gleichgesinnte, finden. Sie könnte den erhofften Neustart wagen und ihren Weg endlich in die geplante Richtung lenken. Doch es fehlte der letzte Funke Mut. War das Studium wirklich ein Neustart? Oder war es nicht doch eher eine Flucht in die Vergangenheit? Sie sah wieder die Augen der sterbenden Soldaten vor sich, roch den Geruch des Todes, der sich selbst durch vielfaches Waschen nicht entfernen ließ und an manchen Tagen noch immer an ihr zu kleben schien. Sie hatte es überwunden, es war vorbei. Der Krieg war zu Ende, die Häuser wurden wieder aufgebaut. Niemand wollte mehr über die Kriegszeiten reden, schließlich ging es bergauf. Doch das Erlebte ließ sich nicht betäuben. Es war tief in Bille, schlich sich immer wieder an und streckte seine eisige Hand nach ihr und ihren Träumen aus.

Sie tastete in ihrer Rocktasche nach der letzten Postkarte von Fritz. Sie war vor zwei Monaten gekommen. Er schrieb von seiner Hoffnung, bald nach Hause zu dürfen, freute sich auf ein Wiedersehen, auf eine gemeinsame Zukunft. Er beteuerte, wie sehr er sie liebte. Für ihn war der Alptraum noch nicht vorüber. Er steckte, wie Zehntausende andere, noch immer mittendrin in den Nachwehen der Kriegshölle. Adenauer sprach davon, dass die Männer nicht vergessen waren, dass alles dafür getan werde, um sie heimzuholen. Doch wie lange würde das noch dauern? Fritz schrieb, dass er in dem Lager gut behandelt werde, er arbeite als Arzt. Doch stimmte das auch? Bille hatte andere Geschichten gehört. Von schlechtem Essen und harter Arbeit war die Rede gewesen, von unzureichender medizinischer Versorgung. Sie wollte den Gedanken nicht zulassen, dass Fritz es nicht schaffen könnte. Er musste zu ihr zurückkommen, und sie würden ein gemeinsames Leben haben. Das Leben, das sie sich damals erträumt hatten. Als sie einander gegenseitig wärmten, Trost spendeten und sich liebten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, wurde Bille plötzlich von einem der Studenten angesprochen, und sie blickte erschrocken auf. Vor ihr stand ein blonder junger Mann in einem hellblauen Hemd. Er hatte auffallend blaue Augen.

»Wieso glauben Sie, dass ich Hilfe benötige?«, antwortete Bille, die sich überrumpelt fühlte, eine Spur zu schroff. Er ließ sich davon nicht verunsichern.

»Weil Sie ein wenig verloren aussehen«, antwortete er und lächelte. »Zum ersten Mal hier?«

Bille gefiel seine kesse Art, und sie fühlte sich herausgefordert.

»Natürlich nicht. Ich warte nur auf eine Freundin. Sie ist in der Verwaltung und will sich für Medizin einschreiben.« Bille bemühte sich um einen festen Tonfall und schob ihr Kinn nach vorne.

»Eine Freundin«, wiederholte er. »Na, dann ist es ja gut.« Er grinste. Es kam ihr vor, als habe er ihre Lüge durchschaut. Oder bildete sie sich das nur ein?

Er ging weiter, sah sich aber noch einige Male nach ihr um. Bille schob sich nervös eine Haarsträhne aus der Stirn und atmete tief durch. Wieso hatte sie ihn angelogen, wieso war sie überhaupt so nervös gewesen? Was wollte sie eigentlich hier? Wieso kam sie ständig wieder, wenn sie dann doch nicht tat, was sie sich so lange schon vorgenommen hatte? Sie spürte die vertraute Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Dieses seltsame Gefühl, das sie immer wieder davon abhielt, den entscheidenden Schritt zu tun. Es war stets derselbe Ablauf, hatte schon etwas Bezwingendes an sich. Bille kleidete sich adrett – knielanger Rock, hochgeschlossene Bluse, flache Schuhe –, ihr kinnlanges Haar war zurückgekämmt. Sie stieg in Wiesbaden in die Bahn, und Häuser, Bäume, Wiesen und Felder zogen an ihr vorüber. Am Hauptbahnhof stieg sie aus, die Straßenbahn brachte sie nach Frankfurt Bockenheim und spuckte sie vor dem Universitätsgelände aus. Manchmal blieb sie einfach an der Straßenbahnstation stehen und betrachtete die Universität aus der Ferne. Dann fuhr sie zurück, ohne den Campus betreten zu haben. An anderen Tagen war sie mutiger und betrat das Gelände, besah sich die Gebäude von außen, studierte den Lageplan. Einmal hatte ein Gewitter sie in die Wandelhalle gezwungen.

Und nun saß sie wieder hier. Ihr Blick wanderte in die Richtung, in die der junge Mann verschwunden war. Was er wohl studierte? Vermutlich würde sie es nie erfahren. Vielleicht hätte sie seine Hilfe annehmen sollen. Mit ihm an ihrer Seite hätte sie es bestimmt geschafft, hoch in den ersten Stock zur Verwaltung zu gehen.

Das kannst du auch allein, sagte sie in Gedanken zu sich selbst.

Sie straffte die Schultern, stand auf und ging zur Treppe.

4. Kapitel

Wiesbaden, 24. Juni 1951

Henni faltete die Tageszeitung zusammen, legte sie auf den Nachttisch und betrachtete sorgenvoll Gustavs blasses Gesicht. Er lag bewusstlos in einem Krankenbett, dem letzten einer langen Reihe in einem unpersönlich wirkenden Krankensaal, in dem leise Gespräche, Stöhnen und Tuscheln zu hören waren. Krankenschwestern und Ärzte liefen an ihnen vorüber und Patienten, in Bademäntel gehüllt. Eine ältere Dame hatte eine Weile dem Herrn gegenüber Thomas Mann vorgelesen. Henni hatte ihrer ruhigen Stimme gelauscht. Irgendwann hatte die Frau das Buch zugeklappt, es auf den Nachttisch gelegt, die Schulter des im Bett liegenden Mannes zärtlich berührt und ihm versichert, dass sie am nächsten Tag wiederkommen und weiterlesen werde.

Auch Henni würde wiederkommen. Mit einer neuen Zeitung, aus der sie wieder nur den Sportteil vorlesen würde, denn für Politik oder den Ferz mit der Kultur und all dem Krempel interessierte sich Gustav nicht, wie er zu sagen pflegte.

Es war ein Herzinfarkt gewesen, der ihn auf dem Fest vor aller Augen hatte zusammenbrechen lassen. Es kam einem Wunder gleich, dass er noch am Leben war. Ob und wann er aufwachen würde, konnten die Ärzte Henni nicht sagen. Nachdem der Krankenwagen Gustav in die Städtische Krankenanstalt an der Platter Straße gebracht hatte, waren Henni und Georg ihm mit ihrem privaten Wagen gefolgt. Hennis Herz hatte während der Fahrt wie verrückt geschlagen, sie war den Tränen nahe gewesen. Anfangs hatten sie ihnen im Krankenhaus keine Auskünfte zu seinem Gesundheitszustand geben und sie nicht zu ihm lassen wollen. »Nur Angehörige«, hatte eine streng dreinblickende Oberschwester erklärt. Doch dann hatte Henni um ein Gespräch mit dem zuständigen Arzt gebeten und ihm erklärt, dass Gustav keine Angehörigen mehr hatte und sie ihn bereits seit Kindertagen kannte. Henni und die Kellerei waren seine Familie, waren alles, was ihm geblieben war. Dafür hatte er gelebt, lebte er noch immer. Und er würde es hoffentlich noch viele Jahre tun. Der Arzt hatte daraufhin eingelenkt, allerdings nur Henni zu ihm gelassen.

Gustav wirkte so verloren und verletzlich. Nun merkte man ihm seine siebzig Lebensjahre an. Tiefe Falten lagen auf seiner Stirn, umgaben seine Mundwinkel und Augen. Seine Haut war gebräunt, richtig blass wurde er selbst im Winter nicht. Eine der Schwestern musste ihn heute rasiert haben, denn auf seinen Wangen zeigten sich keine Bartstoppeln. Seine Hände lagen seitlich auf der Bettdecke. Er trug eines dieser Krankenhaushemden, obwohl Henni ihm längst persönliche Sachen mitgebracht hatte. Seinen Pyjama, Rasierzeug, frische Wäsche und seine Schlappen. Es hatte sich seltsam angefühlt, in seine Privatsphäre in dem Haus am Ende des Kellereigrundstücks einzudringen. Sein Schlafzimmer war winzig, gerade so passten das Ehebett und ein Kleiderschrank hinein. Auf seinem Nachttisch stand eine Fotografie von Margot. Sie zeigte Gustavs Frau in jungen Jahren, wie sie in einem Wirtsgarten saß und schüchtern in die Kamera lächelte. Sie war eine hübsche junge Frau gewesen. Ein richtiger Straßenfeger, so hatte es Gustav einmal gesagt und dabei spitzbübisch gegrinst. Sie fehlte. Im Haus hatte Henni weitere Fotografien bemerkt. Ein steifes Hochzeitsbild der beiden, Bilder der gefallenen Söhne in ihren Militäruniformen. Voller Stolz waren sie damals in den Krieg gezogen, um Deutschland Ehre zu machen. »Jung und dumm sind sie gewesen, waren wir alle.« So hatte es Gustav einmal ausgedrückt und eine wegwerfende Handbewegung gemacht, die so vieles aussagte. Er war der Übriggebliebene der Familie, und vielleicht war die Angst vor der Einsamkeit und der Stille in dem alten Fachwerkhaus der Grund dafür, weshalb er Ablenkung bei irgendwelchen Damen suchte. Weshalb er nach wie vor jeden Morgen in seinem Pförtnerhaus saß und jeden Mitarbeiter mit einem freundlichen Wort und einem Lächeln begrüßte.

»Was lese ich dir überhaupt tagtäglich diese unsinnigen Sportergebnisse vor?«, sagte Henni leise zu ihm. »Vermutlich hörst du mich nicht einmal. Ich hab heute noch mal mit dem Arzt gesprochen. Du würdest ihn nicht mögen und ihn für einen arroganten Schnösel halten. Aber wenn er dich gesund macht, ist es mir egal, wie arrogant er ist. Hauptsache, du wachst wieder auf. Dein Herz ist müde geworden.« Es hat so viel verloren, fügte Henni in Gedanken hinzu. Plötzlich fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten, und sie tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch ab. »Wir brauchen dich doch in der Kellerei. Du bist schließlich Gustav, der beste Pförtner, den man sich wünschen kann.« Henni verstummte für einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Und du weißt, dass du für mich so viel mehr bist.« Sie nahm Gustavs Hand, die sich eiskalt anfühlte. »Du musst wieder aufwachen und das kleine Wesen in mir kennenlernen. Es könnte einen Großvater brauchen. Ich dachte, diese Position könntest du einnehmen. Ich weiß, du würdest deine Sache großartig machen.«

Eine der Krankenschwestern trat näher und erinnerte Henni daran, dass die Besuchszeit ende und sie nun gehen müsse. Henni versprach, am nächsten Tag wiederzukommen.

Als Henni wenige Minuten später das Krankenhaus durch den Haupteingang verließ, bemerkte sie Bille. Ihre Schwester saß unweit des Haupteingangs auf einer Bank in der Sonne und wartete anscheinend auf sie. Henni wunderte sich. Was wollte sie hier?

»Hallo Schwesterchen«, rief Bille fröhlich und umarmte sie. »Wie geht es denn unserem Patienten heute?«

Henni irritierte Billes gute Laune. Irgendetwas musste vorgefallen sein.

»Unverändert«, antwortete sie. »Ich konnte mit dem Arzt sprechen. Er meinte, dass es ein gutes Zeichen sei, dass er nach diesem schweren Infarkt noch am Leben ist. Ganz über den Berg sei er noch nicht, aber es gebe Grund für Optimismus.«

»So sehe ich das auch«, antwortete Bille. »Unser Gustav ist ein Kämpfer, der lässt sich so schnell nicht unterkriegen.«

»Ja, das ist er«, antwortete Henni. »Wieso bist du hier?«, fragte sie und wechselte das Thema.

»Weil ich gute Nachrichten habe und mir in der Kellerei gesagt worden ist, dass du hier bist.« Bille griff in ihre Rocktasche und zauberte eine Postkarte hervor. »Fritz hat geschrieben. Wenn alles gut läuft, dann kommt er bald nach Hause. Das Lager, in dem er untergebracht ist, soll aufgelöst, und sämtliche Insassen sollen zurück in die Heimat geschickt werden. Wäre das nicht großartig?«

»Das wäre es«, antwortete Henni und freute sich aufrichtig für Bille.

»Ich finde, diese tollen Neuigkeiten sollten wir feiern. Wir waren lange nicht mehr im Café Blum. Was hältst du von Kaffee und Kuchen?«

Henni stimmte zu, und die beiden beschlossen, den stickigen Stadtbus zu meiden und einen Spaziergang in die Innenstadt zu machen.

Wenig später saßen sie an einem Zweiertisch auf der gut gefüllten Terrasse des Café Blum, gegenüber dem Kurpark an der Wilhelmstraße. Die Bedienung hatte jeder von ihnen ein ansehnliches Stück von der Himbeersahnetorte und eine Portion Kaffee gebracht.

Henni ließ die Himbeersahne auf ihrer Zunge zergehen und lächelte selig. »Es schmeckt köstlich. Jetzt weiß ich wieder, weshalb Oma Maria so gern hier gewesen ist.«

»Unsere Oma Maria«, antwortete Bille, und in ihrer Stimme schwang Wehmut mit. »Sie ist schon so lange Zeit nicht mehr bei uns. Ob es ihr in dem neuen Anwesen in Assmannshausen gefallen hätte?«

»Vermutlich nicht«, antwortete Henni. »Der Rheingau war ihr immer zu provinziell. Sie fand ihn nur hübsch anzusehen. Oma Maria war eine Stadtpflanze durch und durch. Sie hätte dem Verkauf der Villa niemals zugestimmt. Immerhin hat Großvater sie errichtet, und sie war jahrzehntelang ihr Zuhause.«

»Das war sie auch für uns«, antwortete Bille. »Obwohl ich sie nicht vermisse. Für mich fühlt sich das Anwesen in Assmannshausen viel mehr nach einem richtigen Zuhause an.«

»Mir geht es ähnlich«, antwortete Henni und lächelte. »Trotzdem werde ich es bald verlassen«, fuhr Bille fort, »denn ich habe nun endgültig vor, mein Studium der Medizin voranzutreiben, oder besser gesagt: endlich damit zu beginnen.«

Henni ahnte, dass dieser Entschluss etwas mit der Post von Fritz zu tun hatte.

»Ich habe mich auch bereits an der Goethe Universität in Frankfurt für das kommende Wintersemester eingeschrieben. Wenn alles klappt, kann ich bereits im November beginnen. Dann bräuchte ich allerdings eine dauerhafte Bleibe in Frankfurt. Eine hübsche Wohnung wäre nett, vielleicht für zwei. Es könnte ja sein, dass Fritz bis dahin wieder in Deutschland ist. Er könnte in Frankfurt als Arzt tätig sein und eine eigene Praxis eröffnen.« Ihre Augen strahlten.

Henni kannte Billes Gefühlsschwankungen und reagierte eher zurückhaltend.

»Das wäre wunderbar«, antwortete sie und schalt sich selbst für ihren gleichgültigen Tonfall. Es war nicht das erste Mal, dass Bille nach dem Erhalt einer Postkarte davon geredet hatte, sich um einen Studienplatz zu bemühen, auch von einer Wohnung in Frankfurt hatte sie bereits mehrfach gesprochen. Doch jedes Mal war ihre Euphorie nur wenige Tage später wieder verpufft, sie hatte wieder in den Tag hineingelebt und oftmals trübsinnig gewirkt. Bille war Hennis Sorgenkind. Sie taumelte durch die Welt, voller Hoffnungen und Zweifel. Henni wünschte sich so sehr, sie könnte ihrer Schwester den Halt geben, den sie benötigte. Doch sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte.

»Du denkst, ich schaffe es wieder nicht«, reagierte Bille enttäuscht auf Hennis Zurückhaltung.

»Das hab ich nicht gesagt«, verteidigte sich Henni. »Es ist nur so, dass du nicht zum ersten Mal davon sprichst, mit dem Studium zu beginnen. Letzten Herbst hatten wir sogar eine Wohnung gefunden, und dann hast du erneut alles abgeblasen.«

»Das war doch nur, weil ich keine Nachrichten mehr von Fritz bekommen habe und dachte, er sei tot«, entgegnete Bille. »Aber jetzt sieht es hervorragend aus. Wenn sie das Lager erst geräumt haben, dann ist er wenige Wochen später bei uns. Dann werden wir endlich heiraten.«

Henni wusste, dass das, was sie jetzt sagen würde, nicht gut war. Aber irgendwann musste jemand auf diese Weise mit Bille reden. Sie hatte sich stets davor gedrückt, die Thematik anzusprechen, doch nun schien der perfekte Zeitpunkt gekommen.

»Es ist schön, dass du von Fritz solch positive Neuigkeiten erhalten hast«, sagte Henni. »Allerdings solltest du dein Leben erst einmal nur für dich allein planen. Es ist doch alles mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Du solltest dich nicht so sehr von Fritz und seiner Rückkehr abhängig machen, sondern deinen eigenen Weg gehen, so wie du es früher doch auch getan hast. Ich erinnere mich daran, wie du deinen Sturschädel durchgesetzt und gegen Vaters Willen als Lazarettschwester gearbeitet hast. Und vielleicht ist dein Fritz nach seiner Rückkehr nicht mehr der Mann, den du damals verlassen hast. Diese Lager verändern Menschen. Wir sehen es tagtäglich auch in der Kellerei. Viele der heimkehrenden Mitarbeiter haben Probleme.«

»Wie redest du denn?«, entgegnete Bille brüsk und stand auf. »Du denkst, er würde mich nicht mehr lieben. Solch ein Unsinn! Es steht doch hier drin.« Sie holte die Postkarte aus ihrer Rocktasche. »Er wird schon bald wieder bei mir sein, und dann werden wir einander niemals wieder loslassen. Er hat mir die Ehe versprochen. Er ist der ehrlichste, gütigste und beste Mensch, der mir jemals im Leben begegnet ist. Oder gönnst du mir etwa mein Glück nicht? Gönnst mir nicht, dass Fritz wiederkommt und dein Conrad nicht?« In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen. »Georg ist doch nur deine zweite Wahl. Praktischerweise ein Kellermeister. Das Einzige, was du wirklich liebst, ist diese gottverdammte Kellerei.« Sie drehte sich um und lief davon.

Henni folgte ihr nicht. Wie ein geschlagener Hund blieb sie auf ihrem Stuhl sitzen, neugierig beäugt von zwei älteren Damen des Nachbartischs. Vor ihr standen die halb vollen Kaffeetassen, Bille hatte ihr Tortenstück nicht aufgegessen. »Ich hätte den Mund halten sollen«, schalt sie sich leise. Sie wusste, dass es Unsinn war, was Bille gesagt hatte. Ja, Henni liebte die Sektkellerei. Aber was war falsch daran, sich für sein Familienerbe einzusetzen und ein Unternehmen im Sinne seiner Vorfahren erfolgreich in eine neue Zeit zu führen? Was war falsch daran, einen starken Partner zu wählen, der einen nicht nur innig liebte, sondern auch in unternehmerischen Angelegenheiten unterstützen konnte? Henni liebte Georg. Hätte er es gewollt, sie hätte die Kellerei verkauft und mit ihm gemeinsam in Assmannshausen den Weinberg bestellt. Oder machte sie sich nur etwas vor? Henni kannte die Antwort. Der Name Herzberg wog schwer und brachte Verantwortung mit sich. Verantwortung, die sie gern mit jemandem teilte, dessen Herz für dieselbe Sache schlug. Bille dachte doch nicht viel anders. Ihr Fritz war Arzt, sie wollte Medizin studieren. Sie träumte von einer eigenen Gemeinschaftspraxis. War es Neid, der sie so hart auf Hennis Worte hatte reagieren lassen? Vielleicht ein wenig. Das Schicksal hatte Henni eine zweite große Liebe geschenkt, sie bekam ihr erstes Kind und durfte im Rheingau ihr Glück leben. Billes Welt war von Zukunftsängsten geprägt. Henni sollte ihr nicht grollen, doch es war nicht immer leicht, ihre Launen zu ertragen. Es galt zu hoffen, dass die Worte in der Postkarte stimmten und dieser Fritz bald in Deutschland eintreffen würde. Henni winkte die Bedienung näher und bezahlte.

Als sie eine Weile darauf in der Kellerei eintraf, wurde sie von einer freudigen Wilhelmine begrüßt, die wie ein aufgescheuchter Vogel aus ihrem Büro gelaufen kam.

»Das ist aber gut, dass Sie doch noch einmal in die Kellerei gekommen sind, Fräulein Henni«, grüßte die Sekretärin, die bereits seit über zwanzig Jahren in der Kellerei tätig war und zum festen Inventar gehörte. Sie kam gar nicht auf die Idee, Henni mit einem anderen Namen anzusprechen oder ihr zuzugestehen, dass sie längst kein Fräulein mehr war. »Es gibt freudige Nachrichten. Das Krankenhaus hat vorhin angerufen. Unser Gustav ist aufgewacht.«

5. Kapitel

Wiesbaden, 15. Juli 1951

Henni liebte es, in den frühen Morgenstunden gemeinsam mit Georg einen Morgenspaziergang durch die Weinberge zu machen. Meist liefen sie nicht besonders weit, denn die Verpflichtungen des Tages riefen bereits nach ihnen. Doch der kurze Ausflug in ihre ganz eigene Zweisamkeit fühlte sich stets besonders an. Hennis Blick wanderte über die Weinberge hinweg zum unter ihr liegenden Rhein, der im ersten Licht der Morgensonne verheißungsvoll funkelte. Zu dieser frühen Stunde war die Luft noch kühl und angenehm, doch schon bald würde die seit einigen Tagen anhaltende Hitze wie eine Glocke über allem liegen. Die Winzer freuten sich über das warme und trockene Wetter. Nichts verabscheuten sie mehr als verregnete und kühle Sommer, denn diese waren Gift für die Trauben.

Auf dem Rhein war gerade ein Frachtschiff flussaufwärts unterwegs. Es kämpfte gegen die Strömung und kam nur langsam voran. Wie viel leichter hatten es da doch die mit dem Strom schwimmenden Boote. Aber manchmal schadete es nicht, den schweren Weg zu gehen. Henni dachte daran, was sie bisher geschafft hatte. War sie nicht auch mit dem Strom geschwommen? Sie hatte an dem Familienunternehmen festgehalten, hatte niemals einen Gedanken an ein anderes Leben verschwendet. Was wäre gewesen, wenn sie nach dem Tod des Vaters alles aufgegeben und verkauft hätte? Wenn sie nicht gekämpft hätte? Sie dachte an Billes Worte. Das Einzige, was du wirklich liebst, ist diese gottverdammte Kellerei. Das stimmte wohl. Sie war ein Teil von Henni, die, umgeben von der prickelnden Welt des Sekts, hier aufgewachsen war. Sie dachte an ihren Großvater. »Ihr habt denselben Sturschädel«, hatte Oma Maria einmal mit Tränen in den Augen kurz nach seinem tragischen Tod zu ihr gesagt und ihr eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen, als wäre sie ein kleines Mädchen.

»Henni? Hörst du überhaupt zu?«, riss Georg sie aus ihren Gedanken.

Sie sah ihn irritiert an. »Oh, entschuldige«, sagte sie. »Ich war in Gedanken. Was hast du gesagt?«

»Du bist und bleibst mein Träumerchen«, erwiderte er lachend, legte den Arm um sie und fragte: »Woran hast du gedacht?«

»Daran, was Bille neulich gesagt hat«, antwortete Henni ehrlich.

»Wieder Bille«, sagte er und seufzte. »Unser Sorgenkind.«