Der Witwer - Klebt ihr Blut an deinen Händen? - Robert Gregory Browne - E-Book
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Der Witwer - Klebt ihr Blut an deinen Händen? E-Book

Robert Gregory Browne

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Beschreibung

Ein Filmriss mit tödlichen Folgen: Der Thriller »Der Witwer – Klebt ihr Blut an deinen Händen?« von Robert Gregory Browne als eBook bei dotbooks. Eine traumatisierte Frau wird auf der Straße aufgegriffen. Als der Psychologe Dr. Matt Tolan sie untersuchen will, versetzt ihr Aussehen ihm einen Schock: Die Unbekannte sieht seiner Frau zum Verwechseln ähnlich – aber Abby wurde vor einem Jahr ermordet. Ist es ein makabrer Zufall, oder beginnt der trauernde Witwer, den Verstand zu verlieren? Bis heute fehlt ihm jede Erinnerung daran, was in jener Nacht geschah, als Abby starb … oder wo er zum Zeitpunkt ihres Todes war. Kurz darauf bekommt Tolan einen merkwürdigen Anruf: Ein Mann beschuldigt ihn, Abby selbst getötet zu haben. Ist er der wahre Mörder, der den Mann seines Opfers in ein bizarres Spiel zwingen will – oder ist damals etwas geschehen, was Tolans Unterbewusstsein mit aller Macht verdrängen will? »Ein spannender Psychothriller!« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »Der Witwer – Klebt ihr Blut an deinen Händen?« von Robert Gregory Browne wird Fans der Bestseller von Michael Robotham und Tess Gerritsen das Fürchten lehren! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 381

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über dieses Buch:

Eine traumatisierte Frau wird auf der Straße aufgegriffen. Als der Psychologe Dr. Matt Tolan sie untersuchen will, versetzt ihr Aussehen ihm einen Schock: Die Unbekannte sieht seiner Frau zum Verwechseln ähnlich – aber Abby wurde vor einem Jahr ermordet. Ist es ein makabrer Zufall, oder beginnt der trauernde Witwer, den Verstand zu verlieren? Bis heute fehlt ihm jede Erinnerung daran, was in jener Nacht geschah, als Abby starb … oder wo er zum Zeitpunkt ihres Todes war. Kurz darauf bekommt Tolan einen merkwürdigen Anruf: Ein Mann beschuldigt ihn, Abby selbst getötet zu haben. Ist er der wahre Mörder, der den Mann seines Opfers in ein bizarres Spiel zwingen will – oder ist damals etwas geschehen, was Tolans Unterbewusstsein mit aller Macht verdrängen will?

Über den Autor:

Robert Gregory Browne, wurde 1955 in Baltimore geboren und lebt heute mit seiner Familie in Kalifornien. Nach erfolgreichen Jahren in der Film- und Fernsehbranche entschied er, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Heute ist er ist Autor zahlreicher Thriller, die in den Vereinigten Staaten und weltweit veröffentlicht wurden, darunter »Totenkult – Finde die Wahrheit«, der für den ITW-Thriller-Preis nominiert wurde.

Robert Gregory Browne veröffentlichte bei dotbooks bereits »Der Seelenjäger – Er wird sie töten«, »Devil's Kiss – Dir bleiben 48 Stunden« und »Der Witwer – Klebt ihr Blut an deinen Händen?«.

Die Website des Autors: robertgregorybrowne.com/

Der Autor bei Facebook: facebook.com/RobertGregoryBrowneBestsellingAuthor/

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2009 unter dem Originaltitel »Whisper in the Dark« bei St. Martins Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Paranoia – Hör auf ihre Stimme« bei Knaur.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2009 by Robert Gregory Browne

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2010 bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Bildmotivs von © shutterstock / Gutzemberg

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-835-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Robert Gregory Browne

Der Witwer – Klebt ihr Blut an deinen Händen?

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Heike Holtsch

dotbooks.

Für Leila

TEIL 1

Die Frau, die nicht ganz Myra war

Kapitel 1

Die Nacht verlief ziemlich ereignislos, bis die nackte Frau versuchte, ihn umzubringen.

Dubosky hatte eine Zwanzig-Stunden-Taxischicht hinter sich und gerade ein paar Latino-Kids abgesetzt, die auf dem Rücksitz herumgealbert hatten. Er beschloss, auf die übliche letzte Runde durch die Nachbarschaft zu verzichten und direkt zum Taxistand zu fahren.

Freddy, der Funker und außerdem die größte Platzverschwendung, die man sich überhaupt denken konnte, meldete sich.

»Hey, Saftsack, hab noch ’ne Fahrt für dich.«

Dubosky beachtete ihn nicht. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er sie schon gehört hatte, diese verschleimte Stimme, die ihm sagte, er solle seinen Arsch in Bewegung setzen, er sei nur so kurz davon entfernt, arbeitslos zu werden, und wenn er auch nur eine Beule in die Karre fahre, könne er das aus eigener Tasche bezahlen. Wer war denn hier der Saftsack?

Zur Hölle mit ihm. Und zur Hölle mit diesem Scheißjob.

Dubosky wusste nicht, ob es am Alter lag oder einfach nur an der Erschöpfung. Doch nach achtzehn Jahren, die ihm vorkamen wie ein endloses Rundendrehen durch die Stadt, hatte er große Lust, diese dämliche Karre zu Schrott zu fahren, ein Gewehr zu nehmen und um sich zu ballern. Freddy war der Erste auf seiner Liste.

Den größten Teil seines Lebens war Dubosky Zwölf-, Sechzehn-, Zwanzig-Stunden-Schichten gefahren. Seine Kinder würde er in keinem Highschool-Jahrbuch erkennen, und es wäre ein Wunder, wenn sich seine bedauernswerte Frau noch keinen Lover gesucht hätte, denn er hatte nicht mal genug Kraft zum Essen, geschweige denn zum Vögeln. Selbst nach einer Handvoll extra starker Viagra-Pillen würde sich der Alte Willy nicht rühren.

Du kommst im Leben an einen Punkt, sagte er sich, an dem du den gesunden Menschenverstand vergessen kannst. Da darfst du dich nicht mehr fragen, ob du das Richtige tust, sondern nur noch an einen einzigen Menschen denken: an dich.

Genau das hatte er sich vorgenommen, als er zum Taxistand zurückfuhr. Freddy sagen, er solle sich diesen Job in seinen stinkenden, mickrigen Hintern schieben, und dann raus in die Welt und verdammt noch mal ein wenig frische Luft schnappen. Tief einatmen, immer wieder tief einatmen und einfach nicht mehr zurücksehen.

Als er in die Avenue einbog, träumte er von einer Woche Kreuzfahrt um die griechischen Inseln. Er hielt Judy im Arm und schlürfte eine Piña Colada, und sie waren gerade auf dem Weg in ihre Kabine, um den Alten Willy auf die Probe zu stellen.

Dubosky war vollkommen in den Traum vertieft, als ein Schatten in der Nähe einer Straßenlaterne vorbeihuschte. Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, warf sich eine Gestalt vor seine Windschutzscheibe. Dubosky bremste scharf, das Heck geriet ins Schleudern, die Reifen quietschten schrill. Er kniff die Augen zusammen und wartete auf den unvermeidlichen dumpfen Aufprall.

Aber er kam nicht. Stattdessen rutschte der Wagen weiter, bis er mitten auf der Straße zum Stehen kam. Dubosky sah sich um, konnte aber nichts erkennen, nichts außer Straßenlaternen, parkenden Autos und der tiefschwarzen Asphaltdecke, auf der erst kürzlich die Markierungen nachgezogen worden waren.

Was zum Teufel ...

Unwillkürlich blickte er nach links. Zusammengekauert zwischen zwei parkenden Autos, zitternd in der nächtlichen Kälte, hockte eine jämmerliche Gestalt – im Augenblick mehr jämmerlich als Gestalt und dem Aussehen nach etwa dreißig und nackt wie eine Zweijährige, die in die Badewanne soll. Bis auf das Blut an den Händen und im Gesicht.

Großer Gott. Hatte er sie angefahren?

Dubosky zog die Handbremse, stieß die Tür auf und ging zögernd auf die Frau zu. »Alles okay, Lady?«

Was für eine alberne Frage. Schließlich hockte sie so da, wie Gott sie geschaffen hatte, seit mindestens einem Jahr ungewaschen und voll frischem Blut, ein mageres kleines Ding, das man gelinde gesagt als desorientiert bezeichnen konnte. Als er sich ihr näherte, merkte er, dass es ziemlich egal war, was er sagte. Sie tickte auf einer ganz anderen Frequenz.

Er war noch etwa einen Meter von ihr entfernt und versuchte, nicht auf ihre Titten zu starren – die zugegebenermaßen trotz der Umstände ziemlich beeindruckend waren. Plötzlich warf sie ihm einen wilden Blick zu. Und dann ging sie auf ihn los.

Erst da erkannte Dubosky, dass sie eine Schere in der Hand hielt. Mitten in ihrer Ausholbewegung schlug Dubosky ihr instinktiv mit der Faust ins Gesicht. Die Frau sackte wimmernd in sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Die Schere fiel klappernd auf den Asphalt.

Verfluchte Irre.

Dubosky hockte sich neben sie – und zuckte im selben Augenblick zurück. Sie stank wie ein überfahrenes Tier. Aber sie atmete noch. Und abgesehen von all dem Blut konnte er keine ernsthafte Verletzung entdecken. War es überhaupt ihr Blut? Er sah auf die Schere, die ebenfalls reichlich mit Blut beschmiert war, und fragte sich, ob das gerade die erste Attacke dieser Frau gewesen war.

Hinter ihm krächzte das Funkgerät. »Wo steckst du, verdammt noch mal, dämlicher Polacke?«

Dubosky holte eine Decke aus dem Kofferraum, nahm das Funkgerät und sagte zu Arschloch-Freddy, er solle die Klappe halten und die Bullen rufen.

Solomon St. Fort tauchte hinter dem Müllcontainer des Burger Basket auf. Gerade wollte er nachsehen, ob er noch einen Mitternachtsimbiss ergattern konnte, als er jemanden weinen hörte. Es kam aus dem schmalen Durchgang, das herzzerreißende Schluchzen einer verzweifelten Seele.

Solomon zögerte, lauschte auf das Geräusch, hin- und hergerissen zwischen Hunger und Neugier. Er richtete den Blick auf den Container. Bei Burger Basket landete alles, was vor Ladenschluss nicht verkauft war, im Müllcontainer. Solomon konnte die Chili-Hotdogs schon auf eine Entfernung von zehn Metern riechen. Aber der Container würde ihm nicht davonlaufen, und das Schluchzen zog ihn magisch an. Er betrat den Durchgang, näherte sich dem Geräusch – und blieb wie angewurzelt stehen, als er einen Mann in einem schäbigen Mantel entdeckte. Er hockte in einer Lücke zwischen zwei überquellenden Mülltonnen, die Knie an die Brust gezogen, den Kopf in den Händen vergraben, und er heulte wie ein kleines Kind. Solomon erkannte ihn sofort.

»Clarence?«

Erschreckt blickte der Mann auf. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter und hinterließen eine Spur auf seinem schmutzigen Gesicht. Das Schluchzen wurde lauter, als er Solomon sah. »Sie ist tot, Scheiße, Mann! Sie ist tot!«

Solomon stutzte. »Wer ist tot? Von wem redest du?«

»Wer wohl? Myra, die ist tot.«

Myra war ein Volljunkie und seit ungefähr sechs Monaten mit Clarence zusammen. Gutaussehende weiße Frau, war früher Model für Badeanzüge gewesen. Aber jetzt hatte sie nicht mehr viel auf den Rippen. Solomon hatte sie am Nachmittag noch gesehen, drüben in der Suppenküche der Brotherhood of Christ. Er hatte noch gedacht, irgendwie sieht die nicht ganz in Ordnung aus.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie krank ist. Hat den ganzen Scheiß rausgehustet. Dann steht sie auf und jagt sich die Nadel in den Arm, und rastet sofort aus, genau vor mir verdreht sie die Augen. Und dann seh ich sie auf dem Boden liegen, und sie bewegt sich nicht mehr.«

Solomon spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er kannte Myra noch nicht besonders lange, aber er mochte sie. Empfand so etwas wie väterliche Zuneigung für sie. »Wie lange ist das her?«

»Weiß nicht. Ein paar Stunden.«

»Und du hast sie einfach da gelassen?«

»Mann, sie ist tot! Was soll ich jetzt machen?«

»Weißt du denn nicht, wie das mit Junkies so ist?«, fragte Solomon. »Wenn sie sich nicht mehr bewegen, heißt das noch lange nicht, dass sie tot sind. Du hättest Hilfe holen sollen.«

»Wo denn?«, fragte Clarence. »Bei den Bullen? Was interessiert die ’ne zugedröhnte Straßennutte?«

»Ach, Scheiße. Du hattest Angst, deshalb bist du abgehauen.«

Solomon erinnerte sich daran, wie Myra ihm einmal ein Foto aus einer Illustrierten gezeigt hatte. Es hatte zusammengefaltet in der hinteren Tasche ihrer speckigen Jeans gesteckt. Eine Werbung für Herrenparfüm, eine jüngere Myra, die in die Kamera starrt, mit Schmollmund und diesem Fick-mich-Blick. Er seufzte tief und sagte: »Wenn sie noch nicht tot war, ist sie es wahrscheinlich jetzt. Wo hast du sie liegen lassen?«

Clarence wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Drüben, da bei uns, in der Hütte.«

»Also komm«, sagte Solomon und zog Clarence hoch.

»Wo geh’n wir denn hin?«

»Was glaubst du wohl?«

»Nee, Mann. Ich will sie so nicht sehen.«

»Ich scheiß auf das, was du willst. Wir machen das richtig mit Myra. Sie war ’ne gute Frau.«

Clarence fing wieder an zu weinen. Solomon legte ihm den Arm um die Schulter, und die beiden Männer gingen die drei Blocks zurück bis zur Unterführung am Freeway, wo sich Clarence und Myra eine Hütte aus Pappkartons gebaut hatten, zwischen dem ganzen Müll all der anderen Obdachlosen dort unten am Fluss.

Als sie ankamen, war die Hütte zu ihrer Überraschung jedoch leer, abgesehen von Myras Fixerbesteck, einem Haufen alter Plastiktüten, die sie als Decken benutzte, und ihrer Kleidung, die ringsum im Dreck lag. Von Myra keine Spur. Ob tot oder lebendig.

»Bist du sicher, dass es hier war?«

»Bin vielleicht besoffen, aber nicht verrückt«, sagte Clarence. »Sie war genau hier.«

»Aber jetzt ist sie weg.« Solomon hob Myras Jeans auf, griff in die hintere Hosentasche und zog die Werbeanzeige heraus. Er faltete sie auseinander, starrte auf das Foto. Wie hübsch sie aussah – und wie schade, dass sie jetzt an der Nadel hing. Clarence heulte schon wieder.

Plötzlich sagte eine Stimme in der Dunkelheit: »Sucht ihr das weiße Mädchen?«

Solomon drehte sich um und erblickte Billy Eagleheart, einen kräftigen Mitskanaka-Indianer, der sich unter seinem Verschlag aus Pappe zusammengerollt hatte.

»Ja«, sagte Solomon. »Ist jemand hier gewesen und hat sie abgeholt?«

»Abgeholt? Hab sie gesehen, stand noch auf ihren eigenen zwei Beinen – na ja, mehr oder weniger.«

Solomon und Clarence sahen sich an, und Clarence hörte augenblicklich auf zu weinen. »Sie lebt noch?«

»Stand genau da, wo ihr steht«, sagte Billy. Dann wies er mit dem Kinn auf die Jeans, die Solomon in der Hand hielt. »Ich weiß nicht, wovon sie drauf war, aber sie hat sich die Klamotten vom Leib gerissen, als wenn sie ihr die Haut verbrennen würden. Hab mir gewünscht, ich hätt ein paar Dollarscheine gehabt.« Er grinste.

»Verarsch uns bloß nicht, Billy.«

»Ich verarsch niemanden. Hab gesehen, wie sie den Hügel da raufgestolpert ist, nackt wie so’n blödes Präriehuhn. Sah aus, als hätte sie was zu erledigen.« Er kicherte vor sich hin. »Brauchte vielleicht ein paar neue Schuhe, die zu dem Aufzug passen.«

Solomon drehte sich um und sah Clarence an. »Hast du gehört? Das ganze Geheule für nix.«

»Kann gar nicht sein«, sagte Clarence. »Sie war tot. Ich merk doch, wenn was tot ist.«

»Na klar, und ich merk, wenn was doof ist.«

Solomon bedankte sich mit einem Kopfnicken bei Billy und steckte die Anzeige zurück in Myras Hosentasche. Dann suchte er den Rest ihrer Kleidung zusammen und machte eine auffordernde Handbewegung. »Sammeln wir sie ein, bevor die Bullen es tun.«

Als sie die Uferböschung in Richtung der Hauptstraße hinaufgingen, rief Billy hinter ihnen her: »Wenn ihr sie findet, sagt mir Bescheid, was sie als Zugabe gibt.«

Betty Burkus fand die Leiche.

Sie war eine alte Frau und konnte schon lange nicht mehr gut einschlafen. Übergewicht, ständiges Sodbrennen und eine Schlafapnoe machten ihr das Leben doppelt schwer. Kurz nach ein Uhr in der Nacht hatte sie sich aus dem Bett gequält, in der Hoffnung, ein Glas Eiswasser würde das Feuer in ihrem Magen löschen.

Sie stand vor dem Kühlschrank in ihrer kleinen Wohnung, die zum Hof hinaus führte, starrte aus dem Küchenfenster und sah plötzlich, dass die Tür der Janovic-Wohnung gegenüber weit offen stand.

Betty Burkus seufzte. Carl Janovic war ihr seit dem Tag, an dem er eingezogen war, ein Dorn im Auge. Wie er und seine Freunde in diese Wohnung rein- und wieder rausspazierten, hätten sie gleich eine Drehtür einbauen lassen können. Es waren Momente wie dieser, in denen sich Betty von ganzem Herzen wünschte, sie hätte niemals eingewilligt, die Hausmeisterpflichten zu übernehmen. Zweihundert Dollar weniger Miete waren das ganze Theater und Generve nicht wert.

Sie ging zum Telefon, wählte die Drei – sie hatte Janovic als Kurzwahl gespeichert, so viel Ärger machte er – und lauschte, wie es am anderen Ende mehrmals klingelte. Nicht allzu überrascht darüber, dass sich niemand meldete, seufzte sie erneut und legte auf. Dann zog sie ihren Bademantel an und ging hinaus in den Hof.

Auf halbem Weg zu Janovics Wohnung zögerte sie. Schließlich lagen die meisten normalen Menschen um diese Uhrzeit längst im Bett, und nachts um kurz vor halb zwei wirkte eine offene Hautür nicht gerade einladend. Außerdem war es stockfinster. Keine Außenbeleuchtung, kein Licht im Eingang, alles war dunkel und still wie ein verlassenes Bergwerk.

Auch wenn es ihr noch so schwer fiel – Betty war stets der Meinung gewesen, wenn man einen Job annahm, musste man ihn auch machen. Also marschierte sie weiter, stapfte auf die offene Tür zu und spähte in die Wohnung. »Mr. Janovic?«

Sie wartete, doch nichts geschah. Auch das war keine Überraschung. Wahrscheinlich war Janovic mal wieder mit einem seiner schwulen Freunde auf die Rolle gegangen und so sehr damit beschäftigt gewesen, an ihm herumzufummeln, dass er vergessen hatte, die Tür zu schließen. Nicht dass Betty etwas gegen Leute wie ihn gehabt hätte. Wenn sie unter sich waren, konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Aber mussten sie immer alles so offen zur Schau tragen?

Sie beugte sich ein Stück vor. »Mr. Janovic?« Immer noch keine Antwort. Ach, zur Hölle mit ihm. Sie wollte schon die Tür zuziehen, als sie einen eigenartigen Gestank wahrnahm. Betty stutzte und rümpfte die Nase. Das roch ja, als ob ... also, gerade so, als hätte sich jemand in die Hosen gemacht. War der Abfluss kaputt? War Janovic einfach weggegangen und hatte das verstopfte ...? O nein, das war zu ekelhaft, das wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Aber der Geruch war unverkennbar. Und wenn das Rohr tatsächlich verstopft war, musste sie sich darum kümmern. Betty seufzte. Warum nur hatte sie diesen dämlichen Job angenommen? Sie betrat den Flur und tastete nach dem Lichtschalter. Es würde sicher nichts nutzen, trotzdem rief sie ein drittes Mal: »Mr. Janovic? Sind Sie zu Hause?«

Sie schaltete das Licht ein, in der Erwartung, mitten auf dem polierten Holzboden einen Haufen Exkremente vorzufinden. Doch sie fand etwas ganz anderes. Carl Janovic lag auf dem Rücken in einer Blutlache, mit Büstenhalter und Slip bekleidet und mit einer hellblonden Perücke auf dem Kopf, die leblosen Augen weit aufgerissen, Brust und Bauch voller klaffender Stichwunden. Das war zu viel. Betty Burkus stürzte aus der Wohnung und erbrach ihre nächtliche Dosis Säurehemmer, Pfefferminztäfelchen und die Reste einer Hamburger-Gewürzmischung in den Ficus vor Janovics Eingang.

Kapitel 2

»Hey, Frankie-Boy! Wo steckt deine Partnerin?«

»Ich gehe wieder allein essen.«

»Aha? Da drinnen wartet eine nette kleine Nachspeise auf dich.«

Frank Blackburn war gerade am Tatort angekommen – Fontana Arms, ein schicker Apartmentkomplex direkt an der Avenue, mit Innenhof. Die Truppe von der Spurensicherung war bereits vor Ort. Am Eingang erwartete ihn Kat Pendergast, eine hübsche, lebhafte Streifenpolizistin.

»Wart ihr als Erste hier?«, fragte Blackburn.

»Ja, Hogan und ich.«

Kat öffnete das Tor und ließ ihn hinein. Sie gingen in den Innenhof, wo eine Gruppe von Kriminaltechnikern umherschwirrte. Von einem der Fenster aus verfolgte eine dicke Frau in zerschlissenem Bademantel das Geschehen und fasste sich voller Entsetzen an den Hals.

Blackburn wandte sich an Pendergast. »Wie viele Wohnungen?«

»Etwa zehn.«

»Schon irgendwelche Zeugen?«

»Noch nicht«, antwortete Kat. »Hogan und die Jungs von der Verstärkung scheuchen sie gerade aus den Betten.«

Sie gingen hinauf in die Wohnung und Blackburn betrachtete den Mittzwanziger, der mit glasigem Blick auf dem Fußboden lag. Was für eine Schweinerei. Büstenhalter, Slip und Perücke waren nette Details – und der Grund, warum man ihn dazugeholt hatte. Beim geringsten Hinweis auf eine Sexualstraftat war es ein Fall für seine Abteilung, die Special Victims Unit.

»Sehr hübsch«, sagte er. »Wer ist das?«

»Carl Joseph Janovic. Vierundzwanzig Jahre alt. Vor etwa drei Monaten eingezogen. War ’ne Schwuchtel, immer auf der Suche nach Abenteuern – die Hausmeisterin meinte, das könnte wichtig für uns sein.«

»Da war wohl jemand etwas weniger abenteuerlustig.« Blackburn betrachtete konzentriert die Einstiche und die Blutspritzer im Umkreis von einem Meter. Er seufzte. »Warum bleiben die ätzenden Fälle eigentlich immer an mir hängen?«

»Weil dich keiner leiden kann.«

Blackburn warf Kat einen Blick zu, und diese hob beschwichtigend die Hände. »Du brauchst nicht gleich den Überbringer der Botschaft zu töten. Frag lieber Carmody.«

»Carmody kann mich mal«, sagte Blackburn und grinste, um zu signalisieren, dass es sich nur um einen Scherz handelte. Was nicht der Fall war. Tatsächlich war Blackburn in seiner Abteilung noch nie besonders beliebt gewesen, was er auf seine Dickfelligkeit und einen eindeutigen Mangel an sozialer Kompetenz zurückführte. Seine frühere Partnerin, Susan Carmody, eine verklemmte Republikanerin mit goldblonden Locken, die statt Ermittlerin besser Ansagerin bei Fox News geworden wäre, hatte sich mehrmals über seine Bemerkungen über ihr Hinterteil aufgeregt – das ziemlich knackig war.

Blackburn war mit vier älteren Brüdern aufgewachsen, in einer Familie, in der derartige Verstöße gegen die guten Sitten nicht nur begrüßt wurden, sondern als Beweis für Männlichkeit galten. Konnte Carmody ihm also einen Vorwurf machen? Offensichtlich ja. Nachdem sie sechs Monate lang zusammengearbeitet hatten, wollte Carmody eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen, ließ sich aber umstimmen und schließlich zum Morddezernat versetzen. Gerüchten zufolge hatte sie sich von einem Schlipsträger flachlegen lassen und stand kurz vor der Beförderung. Offenbar hatte sie kein Problem damit, den Hintern einzusetzen, über den sich Blackburn jegliche Bemerkung verkneifen sollte. Aber das tat nichts mehr zur Sache.

Letzten Endes fehlte der Abteilung nun ein Mitarbeiter, und Frank war allein auf weiter Flur. Doch wenn das alles war, sollte es ihm recht sein. So musste er sich wenigstens nicht alle zehn Sekunden fragen, ob er sich auf dem Schlachtfeld politischer Korrektheit angemessen bewegte. Außerdem war er nicht hier, um einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen. Ihm ging es einzig und allein darum, den Fall zu lösen und den Täter zu erwischen. Frank warf noch einen Blick auf den Toten. »Ich glaube, mit dem kriegen wir noch eine Menge Spaß. Hast du mal eine Zigarette?«

»Ich dachte, du hättest aufgehört.«

»Nur eine kurzfristige Lösung für ein langfristiges Problem.«

»Ah ja«, gab Kat zurück. »Du weißt doch, was es damit auf sich hat, oder?«

»Was denn?«

»Ist nichts weiter als eine orale Fixierung.«

Blackburn grinste. »Sprichst du aus Erfahrung?«

Sie verdrehte die Augen. »Knabbere doch an einer Möhre oder so.«

»Hast du mal eine Möhre?«

Pendergast schüttelte den Kopf und musste ein Lächeln unterdrücken. »Du bist wirklich unmöglich, Detective.« Sie ging zurück in Richtung Innenhof und sagte: »Mal sehen, ob ich Hogan unter die Arme greifen kann.«

Blackburn sah ihr nach, den Blick auf ihren ebenfalls knackigen Hintern geheftet. Pass bloß auf, Junge, sonst verbrennst du dir noch die Finger.

Es war eine Wissenschaft für sich, den exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen, und sie interessierte Blackburn nicht sonderlich. Selbstverständlich war ihm das Grundsätzliche bekannt: Körpertemperatur, Trübung der Hornhaut, Sinken des Kaliumspiegels, Parasitenbefall. Doch alles, was darüber hinausging, kam ihm vor wie eine Fremdsprache, und in Fachchinesisch war er nie besonders gut gewesen. Ihm ging es nur um das Resultat. Auf eine exakte Beschreibung, wie der Pathologe zu diesem Ergebnis gekommen war, konnte er verzichten. Manche mochten ihn deswegen für einen schlechten Ermittler halten. Und vielleicht hatten sie sogar recht. Doch Blackburn hatte schon mehr als einmal bewiesen, dass er sich keine großen Gedanken darüber machte, was andere von ihm hielten. Er hatte genug Fälle aufgeklärt, um die meisten Kritiker zum Verstummen zu bringen.

Der zuständige Pathologe Mats Hansen, ein Schwede mit kantigen Gesichtszügen, war ein ziemliches Ass, wenn es darum ging, den Todeszeitpunkt festzustellen. Meistens äußerte er bereits am Tatort eine Vermutung, und diese erwies sich fast immer als korrekt.

»Na, Mats, was meinst du? Wie lautet die magische Zahl?«

Hansen hatte sich über die Leiche gebeugt und betrachtete eingehend Janovics blutverschmierte Brust. »Das ist noch ziemlich frisch. Mehr oder weniger zwei Stunden, würde ich sagen.«

Blackburn sah auf die Uhr. »Das heißt ... so gegen Mitternacht?«

»Freut mich, dass du subtrahieren kannst.«

Die Welt war voller Klugscheißer.

»Ich will hier niemanden dazu verleiten, voreilige Schlüsse zu ziehen, aber könnte man mit einem gewissen Maß an Sicherheit davon ausgehen, dass der Tote erstochen wurde?«

»Es handelt sich wohl eher um einen Herz-Lungen-Stillstand«, antwortete Hansen lächelnd. »Verursacht durch Stichverletzungen.«

Und voller Witzbolde.

»Danke für die Belehrung. Nach welcher Art von Waffe suchen wir?«

Hansen beugte sich tiefer hinunter und sah sich eine der Stichwunden genauer an. »Eine einfache Klinge, etwas mehr als einen Zentimeter breit, vermutlich ein Steakmesser. Sechs recht kräftige Stiche in Brust und Unterleib. Mindestens zwei davon drangen durch den Brustkorb und durchbohrten wahrscheinlich das Herz.«

»Na wunderbar«, sagte Blackburn. »Er hat es nicht zufällig noch geschafft, mit seinem Blut den Namen des Mörders zu schreiben?«

Hansen lachte leise und entgegnete: »Tut mir leid, Miss Marple, aber so viel Glück haben wir nicht. Ich schätze, dass er schon am ersten Stich gestorben ist. Die restlichen waren nur noch eine Zugabe. Da steckte viel Wut hinter. Und sieh dir mal seine Hände und Unterarme an.«

Blackburn betrachtete sie genauer. »Keine Anzeichen für Gegenwehr.«

Hansen nickte. »Es ging zu schnell, er hatte keine Zeit, sich zu verteidigen. Außerdem keinerlei Hinweise auf gewaltsames Eindringen oder einen Kampf. Der Typ hat den Angreifer gekannt.« Er zeigte auf eine dunkelrote Schmierspur auf dem Fußboden. »Und hier haben wir wohl den Teil eines Fußabdrucks.«

»Oh.« Blackburn ging in die Hocke und sah sich die Blutspur an. Er konnte sich allerdings keinen Reim darauf machen. Waren das nun Absätze oder Zehen?

»Wenn ich sage Fuß, dann meine ich barfuß«, fuhr Hansen fort. »Wer auch immer den Abdruck hinterlassen hat, trug keine Schuhe, und höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Frau.«

Blackburn betrachtete die Spur noch einmal genauer. Er fragte sich, ob Hansen ebenfalls aufgehört hatte, zu rauchen, denn um all das erkennen zu können, musste man wohl eine ganze Wagenladung Möhren intus haben. Doch wenn Hansen recht hatte, konnte er, Frank, seine gerade erst aufgestellte Theorie von der Tat eines verschmähten schwulen Liebhabers im Klo runterspülen.

Wie immer begann Hansen seine Auskünfte zu relativieren und sagte, er werde im Labor eine genauere Analyse vornehmen, doch Blackburn hörte nicht mehr zu. Wenn der Mord gegen Mitternacht geschehen war, bestand die Möglichkeit, dass einer der anderen Mieter noch wach gewesen war und etwas gesehen hatte. Zum Beispiel Cinderella, die ohne Schuhe vom Tatort flüchtet. Vielleicht hatte er ja dieses Mal Glück. Er war nicht gerade mit dem Glück per du, aber man konnte nie wissen.

In diesem Augenblick klingelte sein Mobiltelefon. Es war Kat Pendergast. »Ich werde dir jetzt zwei Worte sagen, die du sicher gern hörst.«

»Spann mich nicht auf die Folter.«

»Nackte Frau«, sagte Kate.

Blackburn zögerte. »Dazu fällt mir so einiges ein. Was genau soll das heißen?«

»Gerade kam ein Anruf von der Zentrale. Ein Taxifahrer hat zwei Blocks von hier auf der Avenue beinahe eine nackte Frau überfahren. Sie ist voller Blut.«

Blackburn spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Ohne Scheiß?«

»Ohne Scheiß«, gab Kat zurück. »Und rate mal, was passierte, als der Taxifahrer ihr helfen wollte. Sie hat versucht, ihn zu erstechen.«

Kapitel 3

Solomons und Clarences Suche nach Myra war nicht sonderlich erfolgreich verlaufen. Sie hatten die üblichen Örtlichkeiten abgeklappert: Das Einkaufszentrum am Strip mit dem Rite Aid Drugstore, dem Von’s Supermarkt, einem China-Schnellimbiss und einem Taco Bell. Anschließend waren sie zu einem dahinter gelegenen 24-Stunden-Waschsalon gegangen, wo sich in kalten Nächten wie dieser eine Menge Leute aufwärmten. Keine Spur von Myra.

Sie schlurften die Avenue entlang und spähten in die dunklen Eingänge von Discount-Zahnarztpraxen und Pfandhäusern. Nichts. Wo zum Teufel war sie nur? Sie wollten schon aufgeben, da sah Solomon einen Polizeiwagen und einen Krankenwagen mit Blaulicht in der Nähe des DeAnza Drive, dort, wo die Avenue vom Arbeiterviertel ins weiße Yuppie-Paradies führte. Die Rettungssanitäter schoben eine Frau auf einer Bahre in den Krankenwagen. Knochige nackte Beine hingen unter der Decke hervor.

»Scheiße«, sagte Solomon. »Wir kommen zu spät.«

»Was?« Clarence starrte in die Dunkelheit. Vor einigen Wochen war seine Brille zerbrochen. Solomon wusste, dass er ohne sie so gut wie nichts sehen konnte. »Ist das Myra?«

»Wie viele weiße Frauen kennst du denn, die nachts um zwei splitternackt rumlaufen?« Solomon zog Clarence mit sich. »Lass uns nachsehen.«

Clarence blieb stehen. »Ich geh nicht zu den Bullen rüber.«

»Die haben alle Hände voll zu tun. Die kümmern sich jetzt nicht um jemanden wie dich.«

»Stimmt, weil ich nicht so blöd bin, nah genug ranzugehen«, sagte Clarence und wich zurück.

»Jetzt komm schon, Mann. Warum musst du immer abhauen?«

»Das hält mich am Leben. Wegen einer Junkie-Schlampe lass ich mich doch nicht hopsnehmen. Erst recht nicht, wenn sie tot ist.«

»Wenn sie tot wäre, würden sie sie in einen Leichenwagen schieben. Wir können wenigstens rausfinden, wo sie sie hinbringen.«

»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Clarence. »Aber ohne mich.« Er lief über die Straße und verschwand.

Solomon schüttelte den Kopf und fragte sich, warum Clarence überhaupt geheult hatte. Ging es ihm nun um Myra oder nicht? Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Vielleicht hatte sich Myra den Schuss gar nicht selbst gesetzt. Hatte Clarence ihr etwa die Nadel verpasst? Sie fällt um, und was ihn zum Heulen bringt, ist nicht Trauer, sondern Panik. Solomon hatte schon immer gedacht, dass Myra viel zu gut für diesen Schwachkopf war.

Er ging langsam auf das Polizeifahrzeug und den Krankenwagen zu. Ein paar Meter entfernt stand ein Seaside-Taxi. Der Fahrer lehnte am linken Kotflügel und rauchte ganz in Ruhe eine Zigarette. Als Solomon näher kam, hielt eine alte Limousine neben dem Polizeiwagen. Ein hochgewachsener Typ in Anzug und Krawatte stieg aus. Ein Detective in Zivil.

Was wollte der denn hier?

Einer der Uniformierten nannte ihn Blackburn und tauschte Höflichkeiten mit ihm aus, die, soweit Solomon es verstehen konnte, gar nicht so höflich waren.

Ein paar Schaulustige hatten sich versammelt, viele davon im Schlafanzug. Solomon versuchte, sich unauffällig unter das Volk zu mischen. Er trug immer noch Myras schmutzige Kleidung unter dem Arm. Einige Hausfrauen sahen ihn verächtlich an, rümpften die Nase und ließen ihn vorbei. So weit lief alles nach Plan.

Der Bulle namens Blackburn warf einen Blick in den Krankenwagen, wandte sich dann an einen der Uniformierten und zeigte auf den Taxifahrer. »Ich habe gehört, sie wollte ihn erstechen.« Solomon spitzte die Ohren. Myra?

»Behauptet er zumindest«, erklärte der Uniformierte. »Sie ist mit einer Schere auf ihn losgegangen.«

»Mit einer Schere?« Blackburn schien überrascht.

»Ja, genau.« Der Polizist holte eine Plastiktüte mit dem blutverschmierten Teil aus dem Polizeiwagen. Blackburn betrachtete die Schere eingehend und gab sie zurück. »Hat er gesagt, aus welcher Richtung die Frau kam?«

Der Uniformierte wies auf die andere Straßenseite, die von Apartmentblocks gesäumt war. »Von da drüben. Wahrscheinlich direkt aus Richtung Hopi Lane.«

Blackburn wandte sich an einen der Sanitäter. »Wie schwer ist sie verletzt?«

»Hat eine ziemlich dicke Beule im Gesicht, da hat der Taxifahrer zugeschlagen, aber das Blut ist nicht ihr eigenes, wenn Sie darauf hinauswollen. Ein paar Schnitte und Prellungen, aber nichts, was so stark bluten würde.«

Solomon war erleichtert. Wenn das wirklich Myra war, ging es ihr wenigstens einigermaßen gut. Aber was sollte dieser ganze Mist darüber, dass sie jemanden erstechen wollte? Doch nicht die Myra, die er kannte! Er wünschte, er hätte Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen.

»Bis der Polizeiarzt kommt, behalten wir sie hier«, sagte Blackburn. »Von dem Blut da brauche ich eine Probe.«

»Wir müssten aber schon längst auf dem Weg zur Notaufnahme sein.«

»Und ich müsste schon längst mit einer hübschen Blondine im Bett liegen, aber das können wir wohl erst einmal vergessen.«

Bevor der Sanitäter etwas erwidern konnte, ging Blackburn hinüber zu dem Taxifahrer und ließ seine Dienstmarke aufblitzen. Sie wechselten ein paar Worte. Für Solomon sah es so aus, als wolle Blackburn eine Zigarette schnorren. Solomon blickte zu der Frau auf der Trage und fand, dass nun kein schlechter Zeitpunkt war, sie sich genauer anzusehen. Er ging auf den Krankenwagen zu, doch einer der Uniformierten hielt ihn auf.

»Hey, was wollen Sie hier?«

»Ich glaube, das ist eine Freundin von mir.«

Der Uniformierte musterte ihn mit unverhohlener Verachtung. »Hast wohl getrunken, Kumpel? Meinst wohl, du könntest mal ’nen Blick auf ’ne nackte Lady werfen, was?«

Solomon ignorierte diesen Kommentar. »Sie heißt Myra.«

»Was du nicht sagst.« Der Uniformierte wandte sich an seinen Partner. »Hast du gehört, Jerry? Sie hat einen Namen – heißt doch nicht Titten-Tina.«

Der andere lachte leise. Ihr mangelnder Respekt gegenüber Myra gefiel Solomon nicht. Er verspürte das Verlangen, beiden eine reinzuhauen, doch er beherrschte sich.

Der Bulle namens Blackburn kam herüber – ohne Zigarette – und wirkte nicht gerade erfreut. »Toomey, tu uns allen einen Gefallen und halt deine dämliche Klappe.«

Der Uniformierte mit Namen Jerry senkte sofort den Blick, aber Toomey sah Blackburn herausfordernd an. Die beiden hatten wohl nicht gerade viel füreinander übrig. Einen Moment lang dachte Solomon, sie würden aufeinander losgehen, doch dann wich Toomey zurück und gesellte sich zu Jerry.

Blackburn wandte sich an Solomon. »Sie kennen die Frau?«

Solomon nickte. »Ich glaube, ja. Ich müsste sie mir mal genauer ansehen.«

Blackburn ging mit ihm zum Krankenwagen. »Bitte.«

Solomon sah sich um und spürte, dass alle ihn anstarrten. Er kletterte in den Wagen. Die Frau war voller Blut, auch die Decke war stellenweise blutgetränkt. Ihre linke Schulter war entblößt, und sofort erkannte Solomon das verblasste Hello-Kitty-Tattoo. Myra hatte ihm erzählt, dass sie in ihrer Zeit als Model Kitty genannt worden war. Wenn sie ein Fotostudio betrat, riefen alle »Hello, Kitty« und brachen in Gelächter aus.

Er richtete seinen Blick auf ihr Gesicht und riss überrascht die Augen auf. Doch es war nicht das Blut, was ihn erschreckte. Unwillkürlich wich er einige Schritte zurück und stolperte beinahe aus dem Krankenwagen.

Der Bulle namens Blackburn fing ihn auf. »Was ist los?«

»Nix«, antwortete Solomon. »Sie ... sie sieht anders aus, das ist alles.«

»Anders? Ist das jetzt Ihre Freundin oder nicht?«

Solomon hatte es die Sprache verschlagen. Wie war das möglich? Als er seine Stimme wiedergefunden hatte, sagte er: »Ich dachte erst, sie ist es, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Wie meinen Sie das?«

Solomon schluckte. »Das ist ihr Körper. Aber da stimmt was nicht mit ihrem Gesicht.«

Blackburn sah ihn stirnrunzelnd an. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber plötzlich riss die Frau die Augen auf, weit und angsterfüllt wie ein Tier, das in der Falle saß. Ihre Lippen bewegten sich, und die Worte sprudelten so schnell hervor, dass man sie kaum verstehen konnte.

»... eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien ...«

Was sollte denn das?

»... eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien ...«

Sie starrte Solomon an.

»Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine ...«

Plötzlich sprang sie mit einem Wutschrei von der Trage und stürzte sich auf Solomon.

Blackburn hatte so etwas noch nie gesehen. Gerade noch hatte sie wirres Zeug gebrabbelt, und im nächsten Moment schnellte sie wie ein Geschoss auf den alten Obdachlosen zu. Blackburn wollte sie festhalten, doch da drehte sie sich blitzschnell zu ihm um und traf ihn völlig unvorbereitet mit der blutigen Faust am Kopf. Er taumelte zurück. Bevor er reagieren konnte, stürmte sie aus dem Krankenwagen und rannte davon. Toomey, sein Partner und die Sanitäter beobachteten verblüfft, wie sich Blackburn aufrappelte und die Verfolgung aufnahm.

Die Frau bahnte sich einen Weg durch die schreiende Menschenmenge, überquerte die Straße und lief auf eine enge Seitenstraße zu, die von parkenden Autos und heruntergekommenen Häusern gesäumt war. Blackburn hörte, wie hinter ihm ein Motor ansprang – endlich waren die Streifenpolizisten aus dem Koma erwacht –, aber die Psycho-Tante verschwand zwischen zwei Häusern. Blackburn zog seine Glock und rannte hinter ihr her. Erst vor dem Durchgang verlangsamte er seine Schritte. Er lauschte, hörte jedoch nichts außer dem Tumult hinter ihm, entferntem Hundegebell und ... Was war das?

Wieder das Gebrabbel der Psycho-Tante. Ein kaum wahrnehmbares Flüstern: »Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien, eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien, eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf ...«

Blackburn schaltete seine Mini-Mag an und leuchtete in den Durchgang. Die Frau hockte neben einem verrosteten Fahrrad an einer Hausmauer. Ihr blutverschmiertes Gesicht glänzte in der Dunkelheit, sie wirkte verwirrt und verängstigt. »Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge ...«

Langsam ging Blackburn auf sie zu. »Ganz ruhig.«

Sie wühlte im Dreck und umklammerte schließlich einen mittelgroßen Stein. Die Innenseite ihres Arms war von Blutergüssen übersät. Einstichstellen.

»Fallen lassen!«, sagte Blackburn. »Legen Sie das hin.«

»Zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine Lüge, zwei mal vier ist eine ...«

»Na los, niemand will Ihnen etwas tun. Legen Sie den Stein hin und kommen Sie von der Wand weg.«

Er ahnte, dass es sinnlos war, mit ihr zu sprechen. Sie war vollkommen abwesend. Dennoch versuchte er es weiter und fragte sich, wo zur Hölle die Verstärkung blieb.

»Legen Sie das hin«, wiederholte er. »Legen Sie das hin, wir holen jemanden, der ...«

Hinter ihm gellte ein Schrei, ein Auto hielt mit quietschenden Reifen, und – plötzlich schleuderte sie den Stein. Blackburn ging in Deckung. Geschmeidig wie ein Tier sprang die Psycho-Schlampe ihn an, umklammerte seinen Hals und presste ihn gegen die nächste Mauer. Die Mini-Mag fiel ihm aus der Hand, die Schreie wurden lauter. Endlich erschienen Toomey und sein Partner, rissen die Frau von ihm weg und warfen sie zu Boden. Blackburn rappelte sich auf und rang nach Luft.

Wütend starrte er die Polizisten an. »Nicht zu fassen, dass ihr beiden Schwachköpfe diesem Miststück keine Handschellen angelegt habt.«

Immer noch benommen stahl sich Solomon von dem Krankenwagen fort und beobachtete, wie die Horde Schaulustiger die Straße überquerte und sich auf den Polizeiwagen zu bewegte. Die Sanitäter hatten sich bereits zu Fuß auf den Weg gemacht. Nun führten die Uniformierten sie ab – die Frau, die nicht ganz Myra war. Sie ging zwischen ihnen, in Handschellen, ihr geschundener und blutender Körper den Blicken der Menge ausgesetzt. Solomon dachte an ihr Gesicht, daran, wie anders es ausgesehen hatte. Dieser wilde, gehetzte Blick.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke – eine Erinnerung an seine Kindheit in St. Thomas und an seinen Großvater, der gern Geschichten erzählte. Geschichten von Finsternis, Tod und Auferstehung.

Er dachte daran, was diese Geschichten ihm bedeutet hatten, und plötzlich drängte sich ein Satz in seine Gedanken, ein Satz, der ihm jahrelang Alpträume beschert hatte:

Enfants du tambour.

Kinder der Trommel.

TEIL 2

Der Mann, der nicht loslassen konnte

Kapitel 4

Ein Anruf um drei Uhr morgens bedeutet nichts Gutes.

Das hatte Tolan schmerzhaft erfahren müssen, als der Anruf wegen Abby kam. Vor genau einem Jahr, an einem Morgen wie diesem, kühl, doch noch nicht kalt. Nur, dass er sich damals in einem überheizten Hotelzimmer befunden hatte und nicht wie jetzt in seinem eigenen Bett.

Er dachte oft an jenen Morgen. Vor allem dann, wenn er nicht schlafen konnte. Die häufigen Phasen der Schlaflosigkeit waren eine Nachwirkung der Tragödie. Die Trauer, die ihn dann überfiel, war so greifbar und unerbittlich wie ein Gewitter.

Im Moment wurde diese Trauer allerdings von einem erneuten Anflug von Schuldgefühlen überschattet. Nicht die üblichen Schuldgefühle – die gab es immer. Es war etwas Neues. Etwas anderes. Denn die Frau, die für ihn da gewesen war, die ihn in den ersten unerträglichen Tagen getröstet hatte, schlief nun friedlich neben ihm, ein ruhiger Pol in diesem Chaos.

Tolan lag da, starrte in die Dunkelheit und lauschte auf Lisas kaum wahrnehmbare Atemzüge. Er fühlte die Wärme ihres Rückens an seinem und versuchte, nicht an Abby zu denken, auch nicht daran, dass einst sie diesen Platz eingenommen hatte.

Auf dem Nachttisch vibrierte sein Mobiltelefon. Er sah auf die Uhr. 3:05. Er überprüfte das Display. Die Nummer war unterdrückt. Zunächst wollte er das Telefon einfach summen lassen, doch er befürchtete, Lisa könnte aufwachen. Er stand auf, ging ins Badezimmer und nahm den Anruf gerade noch rechtzeitig entgegen, bevor die Mailbox ansprang.

»Hallo?«

»Dr. Tolan?« Die Stimme eines Mannes, kaum mehr als ein Flüstern.

»Ja?«

»Dr. Michael Tolan?«

»Richtig«, antwortete er mit unverhohlener Ungeduld. »Was ist denn?«

»Heute ist der Tag, Doktor. Der Tag, auf den ich gewartet habe.«

»Wie bitte? Wer sind Sie?«

»Das werden Sie noch früh genug erfahren«, sagte der Anrufer. »Ich wollte Ihnen nur einen schönen Jahrestag wünschen, bevor ich Ihnen die Kehle durchschneide.«

Es klickte in der Leitung.

Als das Telefon erneut vibrierte, hatte sich Tolan bereits eingeredet, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab. Der Anrufer war zweifellos ein ehemaliger Patient, der Psychospielchen veranstalten wollte. Damals hatte Tolan es in seiner Privatpraxis mit einer Reihe von schwierigen Fällen zu tun gehabt, und nicht zum ersten Mal wollte sich jemand auf seine Kosten einen Scherz erlauben. Sein Beruf brachte derlei Drohungen ganz einfach mit sich.

Dennoch – der Anruf hatte etwas äußerst Beunruhigendes gehabt. Dieser flüsternde Tonfall und die bedrohlich klingende Stimme ... Tolan versuchte, sich zu beruhigen, doch beim Anblick des vibrierenden Telefons auf der Badezimmerablage verspürte er wachsendes Unbehagen. Er fragte sich, ob es einer seiner gegenwärtigen Patienten sein könne, jemand aus dem Krankenhaus. Es war allerdings unwahrscheinlich, dass jemand dort ein Telefon zur Verfügung hatte. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Er nahm ab.

»Dr. Tolan?« Kein Flüstern, sondern eine kräftige, selbstbewusst klingende Stimme.

»Hören Sie«, antwortete er. »Sie möchten Ihren Spaß haben, aber mir ist jetzt nicht danach. Wenn ich Ihnen einen neuen Therapeuten empfehlen soll ...«

»Entschuldigung, Doktor, ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem. Hier spricht Frank Blackburn.«

Tolan stutzte. »Wer?«

»Frank Blackburn vom Ocean City Police Department.«

Es dauerte einen Moment lang, bis sich Tolan entsann. »Ach ja, richtig, Sue Carmodys Partner.«

Carmody war Ermittlerin in der Special Victims Unit und hatte Tolan schon in einigen Fällen als Berater hinzugezogen. Ihre Zusammenarbeit war zwar erfolgreich verlaufen, doch er war nie richtig mit ihr warm geworden. Sie war ein typischer Fall von Analfixierung und Kontrollverhalten, hart an seiner Toleranzgrenze.

»Carmody wurde in eine andere Abteilung versetzt«, sagte Blackburn. »Aber das tut nichts zur Sache. Jetzt brauche ich Ihre Hilfe.«

»Geht es um einen meiner Patienten?«

»Ich glaube kaum.« Blackburn klang überrascht. »Wie kommen Sie darauf?«

Tolan überlegte, ob er Blackburn von dem Anruf erzählen sollte, doch er entschied sich dagegen. »Nur so. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie sind doch noch an der EDU drüben in Baycliff, oder?«

»Ja, ich leite die Station.« Die Emergency Detention Unit der Baycliff-Klinik für Psychiatrie war eine Einrichtung mit sechzig Betten, in der psychische Notfälle behandelt wurden. Für gewöhnlich sprang man ein, wenn das County General Hospital überfüllt war.

»Hier ist eine Frau ausgerastet. Die sollten Sie sich einmal ansehen. Ist völlig durchgeknallt.«

Tolan verzog den Mund. Für den entmenschlichten Slang, in dem Cops über psychisch Kranke sprachen, hatte er noch nie etwas übrig gehabt. Er war zwar auch kein Heiliger, doch bei seinen Patienten handelte es sich um menschliche Wesen in Not, die Respekt verdienten und nicht Verachtung.

»Die Station ist rund um die Uhr besetzt, Detective.«

»Ich bin sicher, Sie haben da großartige Leute, Doc, aber bei der hier muss ich schwere Geschütze auffahren. Wie Sie das mit dieser Kleinen gemacht haben, die wir vor ein paar Monaten eingeliefert haben, also das grenzte schon an Zauberei.«

»Geht es hier auch um Vergewaltigung?«

»Ich bin mir nicht sicher, worum es eigentlich geht. Genau deshalb brauche ich Sie ja.«

Tolan seufzte. Den Gedanken an Schlaf hatte er bereits aufgegeben, und im Bett zu liegen und sich seiner Trauer hinzugeben, tat ihm auch nicht gut. Trotzdem benötigte er ein bisschen Zeit, um sich zu sammeln. »Na gut, aber der Nachtdienst soll sie sich schon einmal ansehen. Ich sage Bescheid, dass Sie kommen. Wir treffen uns in zwei Stunden vor der Klinik.«

»Danke, Doc. Sie sind toll. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.«

Tolan hatte das Gefühl, dass Blackburn eigentlich nichts wirklich leidtat. Ein Geisteszustand, um den er ihn beneidete.

Nachdem er geduscht hatte, wartete Lisa mit einem Handtuch. Sie wirkte besorgt.

»Wie fühlst du dich?«

»Es ging mir schon mal besser«, antwortete er und nahm ihr das Handtuch ab.

»Als ich nach Hause kam, hast du geschlafen.«

Tolan schüttelte den Kopf. »Hab nur so getan, damit du dir keine Sorgen machst. Du warst ziemlich spät. Ich dachte schon, du würdest im Strandhaus übernachten.«

»Wir sind nach dem Kino noch zu Isabel gegangen. Du weißt ja, wie das ist, wenn vier Frauen in einem Raum sind und über Männer reden. Wir wetzen dann alle unsere Messer.«

Er versuchte zu lachen, konnte sich aber nur ein müdes Lächeln abringen. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, umarmte Lisa ihn. »Du siehst schrecklich aus. Vielleicht solltest du noch einmal mit Ned sprechen.« Ned Soren war Tolans ehemaliger Partner. Und sein Therapeut.

»Der würde mir wahrscheinlich bloß wieder Fluoxetin verschreiben«, sagte Tolan. Im Gegensatz zu Soren hielt er Psychopharmaka nur für den letzten Ausweg. »Tabletten oder nicht, nach einem Jahr müsste ich eigentlich schon größere Fortschritte gemacht haben.«

»Es gibt kein Zeitlimit für Trauer, Michael. Das weißt du doch.«

»Klinisch gesehen schon. Aber emotional ... Ich möchte darüber hinwegkommen. Es ist dir gegenüber einfach nicht fair.«

»Du bist mir nichts schuldig.«

»Unsinn!«

»Ich will nur, dass du gesund wirst«, sagte sie. »Ganz gleich, wie lange es dauert.« Sie nahm ihn fester in die Arme und gab ihm einen Kuss. »Dieser Tag wird dir dein Leben lang in Erinnerung bleiben, Michael. Aber es wird leichter werden, das verspreche ich dir. Du wirst wieder zu dir finden.«

»Hast du das den Mädels gestern Abend auch erzählt?«

»Das erzähle ich ihnen jedes Mal. Und ich würde so etwas nicht sagen, wenn ich nicht daran glaubte.«

»Du bist einfach zu gut zu mir.«

Lisa lächelte. »Vergiss das bloß nie!«

Er überlegte, ob er Lisa von dem Anruf erzählen sollte, doch was würde er damit erreichen? Mittlerweile war er überzeugt, dass es sich um nichts weiter als den grausamen Scherz eines kranken Hirns handelte. Wenn er ihr davon erzählte, wäre das ebenso grausam. Trotz ihrer Bodenständigkeit geriet Lisa recht leicht in Besorgnis. Und Tolan bereitete ihr die meisten Sorgen. Warum also Öl ins Feuer gießen?