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Krieg überzieht das einstmalige calranische Reich. Seit dem mysteriösen Verschwinden des Königs und der ungeklärten Nachfolge gespalten, ist der Untergang des Landes durch den Feind aus dem Osten nur eine Frage der Zeit. Jetzt, nach Jahren der Abwesenheit kehrt ausgerechnet der Mann zurück, der die Zwietracht mitzuverantworten hat: Sanguis, einer jener Elitesöldner, die der Volksmund "Wölfe" nennt. Auf der Suche nach seiner entführten Schwester ahnt Sanguis nicht, dass er bald zwischen alle Fronten des Krieges gerät. Und, dass er sich bald auf einer Reise in die dunkle Vergangenheit seiner Heimat befindet, von deren Ausgang nicht nur das Leben seiner Schwester abhängt.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Prolog
Akt 1:
Akt 2:
Akt 3:
Epilog
Der Wolf der Wölfe
Erster Band
Andre S. Bixenmann
Ungekürzte elektronische Ausgabe
Copyright: © 2015 Andre S. Bixenmann
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3903-6
Umschlagkonzept: Andre S. Bixenmann
Umschlagbild: Frei bearbeitet
Satz: Andre S. Bixenmann
Kartenkonzept: Andre S. Bixenmann
Karten-Brushes: StarRaven (Deviantart)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Gewidmet meinen teuren Unterstützern.
Florian J. Schreiner
Cris Cybik
David Carl
Nico Schreiner
Mir zum Wohl
und euch zur Ehr‘
»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.«
Friedrich Nietzsche, in: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 14
»So begab es sich anno Domini 1214, dass König Godehard, nachdem er auf heiliger Queste als verschollen galt, durch seinen Sohn, den Prinzen Albrich, für tot erklärt wurde. Freilich war es dieses Urteil, welches die Fürstentümer des Reichs selbst nach der Schlacht bei Gotenburg in drei verfeindete Lager spaltete.
Da waren zum einen die Königstreuen, die nicht an den Tod ihres geliebten Monarchen glaubten und sich gegen seinen Erben verschworen.
Zum anderen gab es diejenigen – zumeist junge Adelige – welche sich in ihrem Streben nach Ruhm und Würden dem ambitionierten Prinzen andienten.
Und zuletzt die Separatisten, die sich auf die eigene Lehnspolitik zurückzogen, indem sie sich zu Freien Fürstentümern erklärten.
Diese Zwietracht, welche durch Grenzkonflikte, Zölle und Vandalismus noch gefördert wurde, hatte selbst dann noch Bestand als Ostgard dem geschwächten Calranien den Krieg erklärte. Und so schlitterte das einstmals mächtige Reich, zu Scherben gehauen, in einen Krieg, der in die Geschichtsbücher als die Große Geißel eingegangen ist.«
Bruder Ludfried: Exagium über die Große Geißel und ihre Auswirkung auf das Wesen des gemeinen Menschen.
– fernab der Heimat –
Zuerst waren es nur einzelne Tropfen. Aber schon einen Wimpernschlag später stürzte eine schimmernde Schar trüber Tränen aus dem wolkenverhangenen Himmel. Umtost von einem beißenden Wind, peitschte sie der unbarmherzige Gott in die fahlen Gesichter und gegen die ehernen Kleider seiner Geschöpfe. Manche der glitzernden Perlen zerstieben trostlos, hauchten Haut und Haaren der Menschen einen Kuss oder machten Leder und Eisen knarzen. Manche Zähren hingegen, die kullernd den Boden sprengten, schwellten in Furchen und Mulden bald zu Rinnsalen, bald zu Pfützen an. In ihrem silbernen Glanz kreisten die Schatten eingefangener Krähen, die erst auseinanderjagten, als ein Beben die Spiegel in Wogen zerriss.
Aus den Bäuchen tumber Trommeln geboren, zürnte Donnerschlag mit einem Mal jenen menschlichen Schemen, die im bleichen Sonnenlicht zu Stein ergraut waren. Ihr gespenstischer Blick ähnelte dem Ausdruck verwitterter Statuen und ruhte auf den nicht minder finsteren Gestalten, die ihnen in einiger Entfernung vor den Mauern der brennenden Stadt gegenüberstanden.
Der marternden Ewigkeit überdrüssig mischte sich das Kreischen der Krähen und der geschlagene Grimm zu einem Weckruf, der den Schlaf nicht nur aus ihren Gesichtern bröckeln ließ. Auch aus den starren Gliedern, welche unversehens flackernde Banner in die von Rauch, Urin und Dung schwangere Luft stemmten, schwand der Bann. Dergestalt, dass sich die beiden gewaltigen Wappentiere im Widerschein der blassen Sonne Aug in Aug begegnen konnten: Hier der goldene Adler mit seinen messerscharfen Schwingen. Dort der weiße Hirsch, der sein brachiales Geweih an der Luft fegte. Stach dann erst einmal ein Meer löchriger Fahnen in den wütenden Wind nach, hörte man schon Stimmen inmitten eines röhrenden Hornes gellen. Ketten begannen zu rasseln, Schuhwerk zu schmatzen – und jählings schien ein Wolf zu heulen.
Als der braunhaarige Kerl das tierische Jaulen in seiner Kehle erstickte, schob er den schwelenden Stängel zurück in seinen Mundwinkel. Lodernd vom Atemzug versengte die Glut das darin eingerollte Kraut. Was als kümmerlicher Stummel übrigblieb, schnippte der Mann von den vergilbten Fingerkuppen. Dann, noch während der inhalierte Rauch über sein Grinsen quoll, bewegte er mit einem Nicken zum Aufbruch.
»Platz da«, raunte ein Hüne, der dem Braunhaarigen sogleich vorauszugehen begann.
An seinen schwerfälligen Schritt geheftet, drängten sich die zwei Dutzend Gefolgsleute durch eine aufgelockerte Linie von Bogenschützen in den Rücken des vor ihnen marschierenden Heerhaufens.
»Schafft eure Ärsche beiseite«, brüllte der Riese, dessen Schatten ihn über die hintersten Reihen der Schlachtordnung hinweg ankündigte.
Seiner beängstigenden Erscheinung nicht genug, wuchtete er den bisweilen geschulterten Streithammer aus der Armbeuge. Von seinen wüsten Pranken gebändigt, ließ die spanngroße Schlagfläche der Waffe die Muskeln wie Hügel hervorstechen. Dergestalt sogar, dass fingerdicke Venen unter der blassen Haut sprossen: von der Schläfe des kahlgeschorenen Schädels über den wulstigen Hals zu den in ihrem Umfang an Oberschenkel erinnernden Armen.
»Aus dem Weg, ihr Maden«, knurrte der Koloss, indem er nicht nur eine lückenhafte Reihe schwarzer Zähne offenbarte.
Sondern auch seinen kantigen, aber derart zerklüfteten Kiefer, dass die unzähligen Dellen am Kopf, die Hasenscharte und die von Schnittwunden borkigen Brauen fast schon zur Nichtigkeit verkamen.
Ausgerechnet er, der Großgewachsene mit den stahlblauen Augen, war es nicht, der die Zurückweichenden fröstelnde Ehrfurcht lehrte. Vielmehr war es der braunhaarige Kerl, der hinter ihm in die Menge tauchte. Und die Aufmerksamkeit, die der Riese mit seiner Gestalt beschworen hatte, durch die achtungsvolle Scheu vor seinem eigenen Erscheinungsbild ersetzte.
Genauer gesagt, war es die Wange dieses Mannes, welche den Beiseitegeschobenen schlagartiges Entsetzen bereitete. Wo ihr naives Auge nichts ungewöhnliches vermutete, leuchtete sattes Fleisch durch eine Narbe, die sich von der Backe bis zum Nasenrücken spannte. In ihrer Mitte kreuzte sie ein krude ausgefranster Schmiss, der kurz unterhalb des rechten Auges bis hin zum Adamsapfel in die Haut geritzt war. So einzigartig in ihrer Furcht gebietenden Grässlichkeit bedeutete die kreuzförmige Narbe ein schauerliches Mal; eines, das man selbst hier erkannte. Denn, wie sich zeigte, begann ein zunächst nur gemurmeltes Wort bald tobende Wellen zu schlagen.
»Wolf«, hörte man erst jemanden flüstern.
»Wolf«, belferte schon der Darauffolgende, bis immer mehr Blicke den Spuren der unseligen Klingen folgten.
Als gar ein fassungsloses Gaffen daraus zu werden drohte, drängten jene vernarbten, von der dunklen Vorahnung zuerst beschlichenen Recken die Unbedarften mit Schlägen und Tritten zur Seite, um dem Braunhaarigen inmitten der Streitmacht einen Korridor zu bereiten. Versehen mit einem verwegenen, doch dankbaren Lächeln schritt der Kreuznarbige vorwärts: vorbei an den Beherzten, an den Gleichmütigen, vorbei an den Hoffnungslosen, welche von den Kriegserprobten in die vorderen Reihen gedrängt worden waren, bis letztlich zu den Schon-so-gut-wie-Toten.
Sanguis, wie der Kreuznarbige eigentlich hieß, machte deren Bedrücktheit lachen. Mit einem tiefen Atemzug ergab er sich dem beißenden Odem, der in Gestalt saurer Schweißdämpfe und verrottendem Leder den Wind vergiftete. Statt sich an den hängengelassenen Köpfen zu stören, labte er sich an der Angst, die in schlotternden Zähnen um sich schlug. Denn die gegenwärtige Verzweiflung erst war es, die seine Unerbittlichkeit hervorhob; für Aufsehen sorgte, indem sie die unheilvollen Narben inszenierte und ihm zu seinem Gefallen einen mystischen Schleier anheftete.
Darüber konnte Sanguis nur schmunzeln. Er kratzte sich über die Bartstoppeln am Hals, bis ihn seine Narbe über den Kiefer zu den Haaren führte. Vom Regen zu nassen Strähnen gebunden, ließen sie sich sorgsam zur Seite streichen. Mit den anderswo zum Abstieg gezwungenen Tropfen löste sich der zuweilen dampfende Schleier von Sanguis‘ Blick. Dabei mischte sich für ihn zum ersten Mal ein solch bemerkenswert weißer Klecks in das glasige, aus Licht und Bewegung bestehende Spiel seiner Augen, dass der Kreuznarbige blinzelte und die Lider kniff. Als er darin das unbefleckte und gegen das Herbstlicht gleißende Hirschenbanner erkannte, ging sein Lächeln in einem tückischen Grinsen auf. Wie aus dem Nichts heraus setzte sich der Braunhaarige noch vor den Hünen an die Spitze der Gruppe. Er scherte aus und ließ sich solange von der Menge treiben, bis er dem ausgemachten Panier aus dem ersten Glied der Schlachtordnung gegenüberstand.
Während sich sein Gefolge noch einen Weg zu ihm bahnen musste, begutachtete Sanguis seine linke Schulter, die von buntem Stoff gesäumt war. In ausgefransten Streifen herunterhängend, machte dieser das stählerne Armzeug für eine Handlänge verschwinden. Obwohl die Gespinste träge im Wind züngelten, ließen sich unter Blutkrusten und Dreck filigrane Bordüren und Muster erkennen. Was im ersten Moment nach bloßen Lumpen aussah, entpuppte sich als ein Fetzenbündel, das aus dutzenden Standarten und Fahnen gemacht, will heißen mit brachialer Gewalt angeeignet, worden war. In nahezu allen Farben und bestickt mit den unterschiedlichsten herrschaftlichen Insignien, schmückten sie Sanguis‘ Schulter; allerdings mit Ausnahme eines so reinen Weiß, wie es in den feindlichen Reihen voller Anmaßung, voller Dreistigkeit in Gestalt des Hirsches wogte; wie es seinen Stolz vor- und seine Hand verführte, in den Eisenhandschuh zu schlüpfen und sich zur Faust zu ballen.
Inzwischen waren seine Mitstreiter an seine Seite gerückt.
»Fertigmachen«, befahl er ihnen in herrischem Ton.
Von einem lautlosen Nicken quittiert, stahl sich ein kesses Feixen in die düsteren Gesichter seines Gefolges. Ein flammender Abglanz blitzte unter den wüsten Helmen auf und ächtete die zur Verstohlenheit verdammten Augenpaare. Eingeläutet vom Klappern ihres Rüstzeugs schepperte Sanguis seinen Panzerhandschuh gegen die links an einen Harnisch aus beschlagenem Leder genietete Brustplatte. Der stählerne Donner des Widerhalls besänftigte ihn, weswegen er sogleich auf die gegerbte Hälfte übergriff. Darin war eine nach unten geneigte Dolchscheide eingearbeitet. Das zugehörige Klingenheft wurde durch Riemen am bloßen Herausfallen gehindert. Packte der Braunhaarige zielsicher das Klingenheft, würde sich bei einem übermäßigen Ruck die raffinierte Befestigung an der Parierstange lösen und die Klinge war frei. Viel lieber als sich dessen zu versichern, lockerte Sanguis das dämmerfarbene Tuch, das um seinen Unterarm geschlungen war, und verknotete dieses um seine Stirn. Damit konnte er sich dem Wolfsfell widmen, das seine rechte Schulter samt Nacken und Rücken bedeckte. Er zupfte das geliebte Grau in Form, versicherte sich der Bewegungsfreiheit seines Schlagarmes und zurrte einzelne Schnürungen fest. Beinahe bedächtig strich er noch die schwarzgetupften Härchen glatt, ehe er die Gürtel zurechtrückte, die sich an seiner Hüfte kreuzten: Erst den Einen, den zwei Taschen mit Räucherwerk und Keramik beschwerten. Dann den Anderen, an dem sein Schwert baumelte. Weil selbiges den Boden beinahe streifte, hatte es so manch trotziges Blümchen auf seinem Weg hierher erdrückt. Erst als die Klinge in diesem Moment kreischend aus der Scheide fahren durfte, war das vergessen. Mitunter sprengten auch die Waffen des Gefolges die Ketten ihrer Zähmung und täuschten über jedwedes schlechte Gewissen hinweg. Dafür war und blieb der eine Schrei der Dominanteste inmitten des krächzenden Gesangs. Nicht allein deshalb führte Sanguis die Klinge vor sein Antlitz, sondern auch um sein perlendes Abbild im Spiegel zu betrachten und zufrieden zu grinsen.
Just jetzt, als der aufgeweichte Boden von den ersten Pfeilen beharkt aufspritzte, bedurfte es keiner Worte mehr. Knurrend und indem er seine spitzen Eckzähne bleckte, verschmähte Sanguis die nur wenige Schritte vor ihm niedergehenden Geschosse. Auf sein Handzeichen hin wurde ihm ein hölzerner Rundschild gereicht; und kaum hatten sich die Lederschlaufen um sein Handgelenk gewunden, deutete die Spitze seines Anderthalbhänders den Weg geradewegs über die freie Pläne zu dem weiß flirrenden Wappentier. Mit seinen dunklen Augen auf selbigen Berittenen versteift, der jenes Panier in die Schlacht trug, brach der Braunhaarige jäh aus der Formation aus, hernach ihm seine Gefährten ungehemmt und unter erhobenen Schilden hinterherstürzten; nicht wie man vermuten würde mit Krawall, sondern so lautlos, als würden sie von Geisterhand durch den aufgewühlten Matsch getrieben. Scheint’s von den heiseren Krähen dazu ermutigt, stieben die Kämpfer schon bald sprintend auseinander. Soweit, bis ihr loser Verbund den Geschossen kein einladendes Ziel mehr bot und sie, wie ein im Blutdurst begriffenes Rudel Wölfe, durch den Regen wetzten.
Sanguis indes schaute nicht zurück. Im Vertrauen auf das ihm nachsetzende Hecheln hastete er durch den singenden Beschuss. Dabei ähnelten Schrittfolge und Sprünge, welche er unternahm, einem leichtfüßigen Tanz; einer sich von Pfütze zu Pfütze strickenden Kür, durch welche der Kreuznarbige dem todbringenden Säuseln enteilte. Erst als ein unsägliches Getöse über die Walstatt vor der belagerten Stadt schwappte, ging das Zischen in seinen betäubten Ohren unter.
Dafür traten, völlig unvermittelt, Gesänge und Schlachtrufe ein wutschäumendes Brausen los. Trommelschlag und Hetze erschütterten nicht mehr nur den Grund. Nein, sie drohten die Erde zu zerreißen. Nicht allein deshalb stieß da eine Unzahl von Krähen über Sanguis hinweg, so aufgebracht, als wähnten sie sich dem Tode nahe. Ihnen dräuten die gleißenden Schwingen, die sich im Rücken des Braunhaarigen zum Aufstieg gebärdeten. Denn endlich plusterte der schwarzgesäumte Adler sein goldgesticktes Federkleid. Voller Erhabenheit bohrte er seinen Schnabel in die Luft. Vom Trieb des Wolfes an seine eigene Natur erinnert, beanspruchte er Teilhabe an der Jagd. Unter seine wie zum Schutz ausgebreiteten Flügel – den Schattenwurf des Banners – drängten sich nunmehr auch diejenigen, die noch vor Lidschlägen ihren Untergang geargwöhnt hatten. Sie bemühten sich um Schulterschluss, während sich die Angst vor dem Kreuznarbigen in beispielhafte Bewunderung, ihr zager Schritt in mannhaftes Hasten umkehrte. In der schirmenden Silhouette eins mit ihrem Wappentier zogen die Streiter ihre Waffen und ließen erschallen, was man für den gewaltigen Schrei eines Greifvogels hätte halten können.
Obgleich die gestiftete Euphorie Sanguis beflügeln musste, verfluchte er das Spektakel. Denn es war dieser rasende Lärm, der ihn der taktgebenden Melodie seines Tanzes beraubte. Er kniff die Augen zusammen und schon beim nächsten Atemzug fand er sich dazu genötigt, den Rundschild nach oben zu reißen. Keinen Moment darauf nämlich pochte die erste Pfeilspitze im Holz.
Als sich Sanguis gezwungen sah, den Kopf einzuziehen, mochten es nicht einmal mehr zwei Steinwürfe sein, die den Söldner von der feindlichen Schlachtordnung trennten. Binnen kurzem aber durchtobte die Wucht weiterer Treffer seinen Arm. Erst verliehen drei Pfeile dem Schild gefiederte Borsten, dann löcherte ein Armbrustbolzen die nachgebende Schutzwaffe. Zu seinem Glück verfing sich Letzterer in den Lederschlaufen des Handgriffs und erschöpfte sich wie ein im Netz zappelnder Fisch. Mit jedem weiter unternommenen Schritt jedoch besserte sich die heikle Situation: Aus der zunehmenden Nähe des Braunhaarigen verstärkte sich das Abkommen, durch welches die Geschosse immer höher über seinen Kopf geschleudert wurden. Auch sausten die Pfeile mittlerweile aus einem derart ungünstigen Winkel heran, dass sie nur mehr die schmaleren Seiten des Braunhaarigen zum Ziel hatten. Darum konnte der Kreuznarbige den bespickten Schild unbekümmert in die Höhe strecken. Während das Bloßstellen der erfolglosen Schützen auf der einen Seite mürrische Drohgebärden provozierte, wiegelte es die Gegenseite zu rauschendem Jubel auf. Kaum aber hatten es Sanguis‘ Getreue erblickt, verdichteten sich die nach Durchqueren des geschossbestrichenen Raumes hinfällig gewordene Auflockerung. Obschon der Zusammenstoß mit dem Feind in nur wenigen Schritten drohte, preschten die Söldner an die Seite ihres Anführers. In Windeseile fügten sie sich zu einem Keil, in welchem jene von verhängten Brustpanzern und dicken Schilden geschirmten Kämpfer die erste Reihe schmiedeten. In einer Zweiten sammelte sich die andere Hälfte und stachelte zu einem letzten Spurt an.
Von der Waghalsigkeit der Wölfe geschreckt, bäumte sich der in die Schlacht getragene Hirsch auf seine Hinterläufe. Sein Vorhaben das gewaltige Geweih drohend zu schwenken aber scheiterte an deren ungeahnter Hast. So verkümmerte es zu einem ruckartigen Stochern, weswegen man glaubte das Tier auf dem moosgrünen Grund wanken zu sehen. Von dem Schlingern des Banners und seines Trägers verunsichert, verlangsamte sich das Marschtempo des durch die Raubtiere bedrängten Fähnleins. Während es an den Seiten vom Gros umfasst wurde, erstarrte es zu einer blinkenden Wand nervösen Eisens.
Als aber Sanguis seinerseits zum Schwertstich ausholte, schoben sich aus dem Verborgenen blitzende Dornen auf die Schultern der ersten Reihe. Der Braunhaarige fletschte noch die Zähne. Dann schon sah er aus dem Augenwinkel heraus wie die aufgelegten Speere nach vorne schossen.
Plötzlich zerriss die zur Ewigkeit verwobene Zeit. Aus der Unendlichkeit sprangen Scherben. Bruchstücke nur, die in ein Meer kurzlebiger Momente zerfielen.
Die Klinge traf. Nicht den Bauch. Nicht die Brust. Sondern den Hals des Gegenübers. Das verriet die stäubende Wolke, die Sanguis entgegenschlug. Gehüllt in ihren roten Dunst stemmte sich der Söldner gegen den nachgiebigen Leib. Im Sinken begriffen übertrug dieser die Wucht auf den von einem Speer niedergemachten Hintermann. So begann der Zusammenprall wie ein ins Wasser geworfener Stein Kreise zu ziehen. Wogenförmig rauschten die Söldner gegen die Schlachtreihen, bis sich ihre Kraft an der Vielzahl von Widersachern erschöpfte. Wer von diesen nicht wie die Vorderen fiel, geriet ins Straucheln. Wer nur wankte, sah den Tod Einzug halten.
Und die Wölfe setzten nach; allen voran der Kreuznarbige, der sich Weichteile und Bäuche der Gestürzten zur Trittspur erkor. Während er zuvorderst einen Kopf in den Schlamm stampfte, schlugen sich hinter ihm stählerne Klauen ins bloße Fleisch. Während er vorne Schienbeine und Rippen zertrümmerte, nagten sie hinten bereits das Fleisch von den Knochen. Während er seinen Schild wieder und wieder gegen Schädel hämmerte, so dass Holz und Nasen splitternd auseinanderbrachen, schwappte schon das Blut über die Leichen zu Füßen jener Schlachtreihe, die dem Zusammenprall widerstanden hatte.
Doch auch wenn Sanguis in der rostroten Wut derjenigen badete, die den Tod ihrer Kameraden hatten bezeugen müssen, trottete er weiter; solange bis der Feind sich dazu durchgerungen hatte, seinem makabren Feixen ein Ende zu bereiten. Zum ersten Mal war Sanguis deshalb gezwungen seine Klinge zu kreuzen. Dass der weiße Hirsch hinter etlichen Waffengängen in die Ferne zu rücken drohte, ließ ihn fortan keine Nachsicht mehr üben. Der Söldner schlug nicht mehr nur Zähne ein, entzweite Knie oder knackte Handgelenke, damit sein Gefolge sich diesen gütlich tun konnte. Nein, Sanguis jagte auf eine selten grausame und doch elegante Art durch Unterleiber, Schädeldecken, Lungenflügel und Schulterblätter. Er tauchte und duckte sich, er hieb und schlug, er schlachtete. Solange, wie ihm der Kahlschlag nicht genügend Freiraum verschafft hatte, um endlich einen verräterisch-weißen Stoffzipfel zu erhaschen, der mit blitzendem Stahl konkurrierte.
Kaum war der Gezeichnete wieder im Gedränge verschwunden, hielt ihn die kurzzeitige Pause wie immer zum Narren: Sein Herzschlag begann die Umgebungsgeräusche zu überlagern. Hitze presste sich durch seinen Körper. Die Stirn erbebte unter Schweiß und Blut. Seine kreuzförmigen Narben glühten und der Arm pochte im Takt der umringenden Wogen, wo doch die Heerhaufen geradewegs aufeinandergeprallt sein mochten und der Tod im Begriff schien, Ernte zu halten. Wie dem auch war, Sanguis pustete salziges Rot von seinen Lippen und stürzte dem geschauten Zeichen nach.
Der Weg, den sein Anderthalbhänder bereitete, führte ihn sehr bald in ein noch dichteres Gemenge. Dort schließlich stellten sich ihm Kämpfer entgegen, die, weil sie sich von der Kleidungsvielfalt des gemeinen Fußvolks abhoben, Sanguis‘ Aufregung nährten: Denn über Gambeson und Kettenhemd einte sie ein Waffenrock, der in Farbe und Motiv dem nachgespürten Banner ähnelte. Derweil der Großteil dieser Einheit im Kampf stand, schützte eine um vier Berittene zentrierte Abteilung das von Sanguis begehrte Feldzeichen. Lechzend vor Verlangen triefte dem Wolf eiserner Speichel von den Mundwinkeln. Er musste nicht einmal mehr heulen, um auf sich aufmerksam zu machen. Von der geschlagenen Bresche alarmiert nämlich, scherte sogleich eine ganze Rotte aus, um dem unstillbaren Hunger der Bestie ein Ende zu bereiten.
Sanguis kläffte. Denn als sie sich auf ihn stürzten, wurde er durch die unmittelbare Übermacht seiner Herausforderer prompt der Initiative beraubt. Mehr noch fühlte er sich dazu genötigt, den Angriffen durch Seitschritte und Paraden zu entgehen. Von gleich drei Seiten beharkt, war es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis der Braunhaarige Treffer an Brust und Schulter erleiden würde. Dem Söldner blieb also nichts anderes übrig, als sich frühzeitig mit einer Rolle vom Feind zu lösen, ehe die zunehmende Atemlosigkeit zum Todesstoß reichte. In der kurzfristig erzwungenen Pause leckte er sich die Lippen und ergab sich seinem animalischen Durst. Zähneknirschend straffte er den Handschuh und verkrallte seine Finger am Schwertheft.
Als seine Augen aufflackerten, stieb er wieder los. Ungeachtet der Tatsache, dass die drei Gegenüber bereits wieder nachsetzten. In tollkühner, aber nicht minder brillanter Kampfmanier blockte Sanguis nicht nur den Schlag des Ersten mit seinem Ellbogen, er durchbohrte und missbrauchte dessen Bauch auch noch als Schwerthalter. Seine freigewordene Hand entriss diesem daraufhin den Streitkolben und spickte damit den Schädel des Zweiten, den ein vorausgegangener Nierenhieb in Schockstarre versetzt hatte. Und zu guter Letzt zog Sanguis seine Klinge aus den Eingeweiden seines ersten Opfers, wendete sie in der Luft und streckte den dritten Waffenrockträger rücklings nieder.
Es war nach diesem Spektakel, dass der einfache Haufen, von der Kampfkunst des Wolfes geschreckt, schleunigst auf Abstand ging. Die dadurch entstehende Freifläche aber füllten bald weitere der gerade niedergemachten Recken, auf deren Brust Sanguis den Hirsch erkannte. Dieses Mal aber waren es mehr als nur drei; und darüber hinaus weit enthusiastischere Kämpfer als ihre toten Kameraden.
Vor Nervosität scharrte der Wolf mit seinen Füßen.
Knurrend bemaß er jene Überzahl, die eine wirkliche Herausforderung für ihn darstellte, zumal es von seinen Gefolgsleuten keine Spur gab. Mit Ausnahme eines ganz besonderen Gefährten, der sich auf ein lauter werdendes Geschrei hin ankündigte. Denn machte man die Quelle rechtzeitig aus, sah man noch den Mann durch die Luft fliegen, der sodann als grausiges Omen in die Mitte des Kampfplatzes einschlagen sollte. Auf dessen brechendes Genick, empfahl sich derjenige träge Koloss unter Sanguis‘ Getreuen, der beim Ansturm des Rudels naturgemäß zurückgefallen war.
Nun preschte dieser glatzköpfige Muskelberg durch die Angreifer des Kreuznarbigen, als hätte er noch nie etwas anderes in seinem Leben getan. Wortwörtlich Stück für Stück fegte dessen Hammer von den berstenden Beinen, was sich ihm in den Weg stellte. Drei, vier Schwünge genügten schon, damit eine ganze Reihe zerquetschter Lungen und deformierter Gliedmaßen den rosa Matsch säumte und das Kräftegleichgewicht wieder hergestellt war. Keinen Augenblick verschwendend, stürzte sich Sanguis wieder in den Kampf. Bis die Erde genügend Körperteile für ein Leichenpflaster hatte, das den Zorn des feindlichen Anführers eher früher als später auf die beiden um Schulterschluss bemühten Söldner ziehen musste.
Aufgescheucht von den Verlusten griff dieser Berittene nach Flügelhelm und Waffe. Für einen Ritter wie ihn war diese Angelegenheit eine Frage der Ehre. Kaum also hatte er das Visier heruntergeklappt, zerrte er an den Zügeln seines Pferdes und bedeutete den beiden Junkern an seiner Seite mit der Schwertspitze den Weg.
Zugegeben, hätte der Untergrund nicht aus Leichen bestanden, es wäre schier unmöglich gewesen, den Reitern auf diese Entfernung auszuweichen. Den Toten sei Dank aber, waren die Pferde darauf nur zum Traben imstande. Dass sie damit ihren gefährlichen Schwung verloren, gab den tollkühnen Provokateuren Spielraum. Von der Art, die es in einem wachsamen Moment erlaubte, zuzuschlagen. Genau dann nämlich, als die Reiter auf ihrer Höhe waren. Der Riese für seinen Teil stieß dem seinerseits begegneten Pferd kurzerhand in die Flanke. Der Wolf auf der anderen Seite zerteilte die Fessel des Seinen. Im Ergebnis katapultierte es die betroffenen Junker lauthals in den Dreck oder schlicht in die zerquetschenden Arme des Hünen. Die jungen Adligen waren tot, bevor es den beiden verbleibenden Reitern, dem Fähnrich und dem Befehlshaber, dank formidabler Reitkunst gelingen konnte, die Söldner zu umkreisen.
Dann aber musste sich vor allem der Großgewachsene unverhofft mit Schlägen eindecken lassen. Sanguis dagegen, auf den der Fähnrich in einem Bogen zusteuerte, blieb noch eine Chance der drohenden Rachenahme des Berittenen zuvorzukommen. Für seine waghalsige Idee musste ihm nur eines der gestürzten Pferde ins Auge fallen. Zwischen zwei Lidschlägen darauf zuzustürmen, erledigte sein Drang von selbst. Und schon im nächsten Moment befand sich der Wolf im Sprung dorthin, wo er wohl oder übel scheppernde Bekanntschaft mit der Rüstung des Fähnrichs machte. Die beiden verkeilten sich noch in der Luft so sehr ineinander, dass sie sich augenblicks darauf im Schlamm wälzend wiederfanden. Während hier nur Fäuste flogen und Lippen platzten, hörte man von drüben schon das Fleisch schmatzen. Es verwunderte den Kreuznarbigen daher nicht, dass, gerade als er die Überhand zu gewinnen meinte, das Reittier des Befehlshabenden heranpolterte. Doch nicht nur, dass der Anführer auf ihn zu rauschte, er schmetterte den Kreuznarbigen schon im nächsten Augenblick mit einem Tritt des Steigbügels auf die Seite. Wo Sanguis den Fähnrich gerade noch in die Bewusstlosigkeit geprügelt hatte, lief er jetzt Gefahr zertrampelt zu werden.
Nachvollziehbar hektisch also wühlte er nach irgendeiner Waffe, derweil der Ritter bereits eine Kehrtwende für das Finale vollführte. In der Annahme, den kahlköpfigen Hünen durch seinen Schlaghagel bezwungen zu haben, bemerkte der Berittene indes nicht, dass sich der Großgewachsene außerhalb seines Sichtfelds wieder auf die Beine hievte. Weil Sanguis so tat, als stelle er sich der Begegnung, sprintete der Riese los. Und genau im richtigen Moment zermalmte er krachenden Schaftes das Pferdekreuz. Doch obwohl die Bestie kippte, der Reiter schwang sich noch rechtzeitig aus dem Sattel.
So kam es, dass mit einem Mal Funken ins graue Schlachtendämmern sprühten. Schwerter brandeten gegeneinander, es rasselte und klapperte. Klingentanz und Fechtkunst trafen zu einem exotischen Zweikampf zusammen. Auf engstem Raum beraubten sich Ritter und Söldner abwechselnd der Initiative. Was zunächst nicht enden wollte, verkürzten letztlich die aufgezehrten Kräfte des Gepanzerten. Mit beiden Händen an der Schneide haute Sanguis ihm in einem Moment der Unachtsamkeit die Parierstange um die Ohren. Der Helm trennte sich vom Kopf und der Anführer sank, gegen den Bauch seines Pferdes gelehnt, nieder. Aus einer Platzwunde an der Schläfe troff Blut. Aufgesogen vom fülligen Bart aber hinterließ der Schlag ein ansonsten heiles Gesicht. Was an Narben darin fehlte, war als Ausdruck seiner Kampferfahrung in Helm und Harnisch graviert. Selbst die Hirsche, die Armzeug und Brustplatte zierten, waren nicht davon verschont geblieben. Obgleich das imposante Schmiedewerk seine Lungenflügel quetschte, zeigte der Adlige keinen Schmerz. Stattdessen sah er seinen Bezwinger aus blauen Augen heraus an.
Der Kreuznarbige entgegnete ein Grinsen.
»Missgeburt«, keifte Alessia, als die Belagerer der Stadt auf dem Marktplatz Aufstellung nahmen.
Zähneknirschend setzte sie sich an die Spitze der Verteidiger und begegnete ihrem Widersacher, dem das Wort gegolten hatte: Prinz Hadrian, ihrem älteren Bruder.
»Hure«, schallte es von diesem zurück, der das Gebaren der Schwester in Harnisch und mit Schwert und Krone aufzukreuzen, belächelte. »Vaters Thron gehört mir.«
»Ein Scheißdreck gehört dir, Fettsack«, zischte die blonde Schönheit, »das hat das Volk zu entscheiden, nicht du.«
Ihre Worte aber provozierten Gelächter unter den verwegenen Gestalten, die sich im blauen Rauch der flammenden Vorstadt heranpirschten. Was sie, statt Waffenrock und Wimpel an der Seite des Prinzen einte, waren nur mehr die grauen Ascheflocken auf Rüstung und Haaren.
»Wir beugen uns keinem Tyrannen«, brüllte ein Bauer, worauf sich um ihn bunte Fahnen in die Sonnenstrahlen reckten.
»Aber einem Weibsbild«, spottete ein Geistlicher an Hadrians Seite, indem er das Symbol seines Glaubens in die Luft zeichnete.
Begleitet von zustimmendem Murren und finsteren Blicken unter seinen Männern, nickte der Prinz.
»Aus reiner Neugier, Schwester«, setzte er an, »was hat es dich gekostet, die schweinefickenden Bauern und debilen Adeligen dieses Landes ausnahmsweise einmal zusammen an einen Tisch zu kriegen?«
Ein greiser Ritter neben Alessia stemmte die Hände in die Hüften. Seine brüchige Stimme machte Anstalten sich zu erheben. Doch der Prinz überging sie.
»Deinen süßen Arsch? Oder doch nur deine weichen Lippen um ihre verschrumpelten Schwänze?«
Hadrians Gesichtsausdruck verzog sich zu einem breiten Feixen. Während seine Männer die Kontrahentin mit eindeutigen Gesten verhöhnten, blies der sprachlose Ritter vor Scham die Backen. Dann, als hätte er darauf gewartet von einem Wolkenschatten verdüstert zu werden, setzte der Prinz fort.
»Welcher Mann legt schon freiwillig seine Geschicke in die Hände einer Frau?«
»Derjenige, der keine Unterdrückung und Ungerechtigkeit duldet«, entgegnete einer zaghaft. Hadrian aber schüttelte den Kopf.
»Nein«, widersprach er, die Faust geballt, »derjenige, der diesen Tag nicht überleben wird.«
Während seine Drohung jenseits für Verunsicherung sorgte, schlug sie sich diesseits in euphorischem Kampfgeist nieder. Alessia auf der anderen Seite lächelte. Denn der Zustrom an feindlichen Kämpfern verebbte merklich. Darüber konnten auch die in Erwartung geschwungenen Waffen und lautstarken Schlachtrufe ihrer Gegner nicht hinwegtäuschen. Ob genau dieser Beobachtung blinzelte Alessia mit ihren haselnussbraunen Augen über die Schulter in die entmutigten Gesichter der Verteidiger.
»Warum so still?«, rief sie fragend. »Sollten wir uns nicht freuen, dass uns mein Bruder mit seinem Besuch ehrt?«
Hier und da hoben sich gesenkte Häupter. Vereinzelt tauschte man Blicke aus, wunderte sich über die irritierende Wortwahl.
»Ist es nicht das, was wir wollten? Wollten wir nicht dem Mann in die Augen sehen, der die Zukunft dieses Landes, unser aller Schicksal für die nächsten Jahrzehnte bestimmt?«, fuhr Alessia fort, ehe sie eine etwas dunklere Strähne aus Gesicht und Dekolleté pustete. »Wollten wir etwa hier und heute nicht dem Mann zu Füßen kriechen, der Bauern erschlägt, weil sie sich nicht tief genug bücken? Der Kinder und Frauen raubt, weil man den Kirchenzehnt nicht zahlen kann? Der Adlige hinrichtet, weil sie sich um des Friedens willen dem Krieg verweigern?«
In der vormaligen Stille begann es zu rumoren.
»Nein«, stiftete plötzlich jemand zu einem rollenden Echo an, das nach und nach auf die Gegenseite überschwappte.
»Oder wollten wir diesem Mann begegnen, um seinen Grausamkeiten, seinem zerstörerischen Treiben ein Ende zu bereiten?«
Auf die tosende Bejahung hin spuckten Bauern im Angesicht des Prinzen auf den Boden, gepanzerte Ritter klapperten Beifall. Alessia derweil ließ sich ein eingerolltes Banner reichen.
»Diese Menschen hier haben gewählt, Brüderchen«, wandte sie sich alsdann an den Prinzen, »ob du es willst oder nicht, aber wir haben uns für ein Leben in Freiheit entschieden. Ohne Angst. Ohne Terror. Ohne dich.«
Von Mistgabeln, Schilden und Armbrüsten flankiert, stemmte sie das Panier in die Höhe.
»Ihr seid zu wenige, um uns zu besiegen«, führte sie den Belagerern schließlich vor Augen, »und zu schwach dem Kessel zu entgehen, den unsere Verstärkung jeden Moment hinter euch schließt. Für ein freies Tilea!«
»Für Königin Alessia«, skandierten die Verteidiger, als sich die Stoffbahn mit weißem Hirsch auf grünem Grund von der Abendsonne geküsst entfaltete.
Der Prinz aber, um den sich die letzten Streiter sammelten, begann zu fluchen. Am ganzen Körper zitternd zerrte er an seiner Waffe.
Doch sie löste sich, wie seine zum Sturm gespannten Schlachtreihen, nicht. Dafür stiefelte jener Fremde an ihm vorbei, der seiner Überstürzung zuvorgekommen war. Indem dieser nicht nur die Parierstange in die Scheide zurückdrückte, sondern gleich den ganzen Gürtel von Hadrians Wanst riss und auf den Boden fallen ließ.
»Diese Verstärkung?«, fragte selbiger Braunhaarige, indessen er einen abgeschlagenen Kopf in die Höhe streckte.
Dabei wippte der im Mundwinkel glimmende Krautstängel im Takt des von seinen Lippen und aus der menschlichen Trophäe triefenden Blutes.
»Um Himmels willen«, krächzte jemand mit freiem Blickfeld von Alessias Seite.
»Ist das ... ?«
»Niemals!«
»Roderich.«
»Nein!«
»Doch, das ist er«, bestätigte einer, nicht ohne zu schlucken, »das ist Roderich.«
»War«, entgegnete der Rauchende, um den sich eine Traube Weggefährten zu scharen begann.
In das ungläubige Gemurmel hinein schmetterte die tiefe Stimme eines mit frischen Wunden übersäten Hünen an der Seite des Fremden.
»Verneigt ihr euch nicht vor den Häuptern eurer Helden?«, schnauzte er die Verteidiger an. »Zollt gefälligst euren Respekt Roderich von Helsburg, dem Großmeister des tileanischen Ordens, Retter von Gernsbach, Überlebender des Westlandfeldzugs, Sieger des Mittelreichturniers mit Schwert und Lanze, Schutzpatron der Frauen und Paladin dieser Stadt.«
Wer nicht wie die meisten raunte, blickte sprachlos vor Entsetzen zu Alessia.
»Onkel«, stammelte diese, als sie inmitten der verzerrten Gesichtszüge das bleiche Antlitz ihres Verwandten erkannte. Jenes Angehörigen, der bis zu diesem Punkt ihr Trumpf gewesen war.
Dies- wie jenseits rang man nach Fassung. Selbst dem Prinzen stockte der Atem.
»Wer seid Ihr?«, fauchte die blonde Königstochter an den Neuankömmling gewandt.
Der Fremde indes schleuderte ihr den Kopf des Onkels spritzend vor die Füße und wischte sich über die rechte Wange. Wortlos entblößte er unter einer Schicht verschiedengetönten Rotes ein Kreuz von Narben. Alessia, das Wispern um sie herum ignorierend, nickte. Sie drückte ihrem Knappen das Banner in die Hand und griff nach ihrer Kopfbedeckung.
»Meine Krone, Söldner«, verhieß sie, indem sie das schlichte Schmuckstück anhob, »wenn Ihr hier und jetzt auf unserer Seite kämpft.«
Sanguis lächelte. Verzweiflung und Hilflosigkeit der Prinzessin sprachen Bände. Er jedoch kniff rauchblasend die Augen zusammen und unterband mit einem Seufzen, dass Hadrian in diesem Moment das Wort an sich riss. Kaum hatte er ihm über den Mund gefahren, drückte er dem nervösen Prinzen sein Räucherwerk in die Hand. Dann näherte er sich der Blonden, vollkommen unbehelligt, bis auf wenige Schritte. Aber erst, als sich ihre hell- und seine dunkelbraunen Augen trafen, schüttelte der Kreuznarbige den Kopf.
Er wartete noch, bis sie ihr Schwert gezogen hatte. So viel war er ihr schuldig. Letztlich aber änderte das nichts. Denn indem er blitzartig nach vorn schnellte, peitschte sein unvorhergesehener Hieb mit solcher Wucht gegen sie, dass der Brustpanzer auf der Stelle platzte und mit dem Aufschlagen der Krone auf dem Boden ein Zacken davon abbrach. Nicht eher krachte Alessia unter den schockstarren Blicken ihrer übertölpelten Gefolgsleute blutspuckend nieder. Derweil diese unter allen Umständen versuchten, ihr Leben zu retten, zuckte Sanguis bloß mit den Achseln. Völlig ungeschoren spießte er den goldenen Reif auf sein Schwert, nachdem er den zu seinen Füßen gefallenen Blattzinken aufgehoben hatte. Mit einem nur mehr formalen Zähneblecken verschaffte er sich Raum, um wieder den Belagerern und dem Prinzen ins Auge zu sehen.
Ob dieser oder irgendeiner seiner Gefolgsleute es war, der sich beim Anblick des Söldners in die Hosen pisste, spielte keine Rolle. Weil sich der Harn so warm und dampfig in jenes Unterkleid saugte, dass ein jeder es riechen und nachempfinden musste. Insbesondere Hadrian, dem gegenüber Sanguis zur Entspannung nach dem Schlag die Schulter kreisen ließ. Dass der Prinz, im Gegensatz zu ihm, wie versteinert schien, begrüßte der Kreuznarbige. Zwar fiel es ihm so einfacher, Hadrians Krone mit der Schwertspitze anzuheben, diese an sich zu nehmen und danach durch die Ramponierte der Schwester zu ersetzen. Gleichzeitig aber fehlte dabei jeder Nervenkitzel.
»Als Erinnerung an Eure Schwester, König«, hauchte Sanguis dennoch auf seine verwegenste Art, was auch bedeutete, mit dem Schwert auf den herausgebrochenen Zacken zu tippen. »Und an mich.«
Wie zum Abschied tropfte der Stahl dem frischgekrönten König eine blutige Träne ins Gesicht. Für Sanguis Anlass genug, leise ächzend, Hadrian den in Verwahrung gegebenen Krautstängel zu entreißen und seinen Männern wortlos den Abmarsch zu signalisieren.
»Wo wollt Ihr hin, Wolf?«, stotterte der schockstarre Monarch. »In Eure Heimat? Oder den nächsten Krieg?«
»Macht das einen Unterschied?«, fragte Sanguis im Weggang, indem er ein gleichgültiges Lächeln als Antwort vorwegnahm.
Einzig, um dann zu verschwinden. Mit einer Krone am Gürtel. Einem Zacken in der Hand. Und schwelendem Tabak auf den Lippen.
Sein Name war Sanguis
»Anfangs belächelten wir sie. Wir machten Witze über die Bemalung ihrer Gesichter und die seltsame Weise wie sie miteinander sprachen. Auch die Art sich zu kleiden veranlasste uns zu lautem Gelächter: Bei ihnen gab es keine einheitliche Uniform. So wirkten sie wie ein bunter, ungezügelter Haufen aus Verbrechern.
Nach dem Kampf wagte niemand mehr über sie zu lachen. Sie hatten die Schlacht bei Gotenburg geschlagen. Und sie waren es, die ihr Blut dort vergossen hatten.
Zu Beginn waren ihrer zweihundert. Am Abend atmeten gerade noch vierzehn dieser Teufelskerle. Nicht von ungefähr also nannte man diese Söldner fortan „die Wölfe“.«
Enzo de Balda: Die Söldner, die zu Wölfen wurden, Bericht des königstreuen Feldwebels Bepio.
I
»Einhundert Feuer?«, prustete der Rothaarige.
Gerlach nickte, wohlwissend, dass er sich damit dem Gespött der Anwesenden aussetzen würde. Wagner, wie der flammengeküsste Kerl genannt wurde, blickte stillschweigend in die Runde. Er strich sich durch den bronzefarbenen Bart, während man an seinen noch unbewegten Mundwinkeln hing. Dann griff er nach seinem Krug und teilte die in Zerwürfnis gebissenen Lippen zu einer jauchzenden Schlucht.
»Mir scheint das Bürschchen konnte nicht nur nicht zählen, sondern es war obendrein noch ein Lügner«, ächzte der Rothaarige, wodurch er lautstarkes Gelächter provozierte.
Gerlach aber lachte nicht.
Dafür rammte er die hölzerne Schaufel in den Boden. Er streckte den Rücken und klopfte sich den Staub von seiner hageren Gestalt, bis der ihn umringende Hohn wieder dem Lagerleben erlag. Eine Nachricht wie diese wollte in Gallas‘ Banner, wie die Einheit nach ihrem Kommandierenden hieß, niemand hören. Denn sie bedeutete für die gerade von der milden Sonne verwöhnten Soldaten, sich den eigenen Tod eingestehen zu müssen. So wurde im Schatten der greifentragenden Wimpel des Fürstentums Crest viel lieber geschnarcht, gespielt, gesoffen. Und im Falle von Wagner, der ein Mädchen auf seinen Schoß zerrte, auch den fleischlichen Dingen des Lebens gefrönt.
Während dieser also seinen Kopf zwischen großen Brüsten vergrub, rieb sich Gerlach mit dem Hemdärmel über die Falten und Blattern, die ihn verunstalteten. Anstatt die kitzelnden Schweißperlen jedoch zu verbannen, schmierte er sich Blut und Ruß auf die fleckige Haut.
»Totengräber«, meinte der rothaarige Wagner plötzlich in Richtung von Gerlach. Gerade am Trosswagen vorbeistiefelnd, rollte dieser die Augen. »Hat er sonst noch was geplaudert?«
»Sie marschieren«, diktierte Gerlach die brüchige Stimme des knabenhaften Boten zur Antwort.
Angesichts der geschauten Gleichgültigkeit schien es ihm, als hatte er mit dem zugerichteten Körper auch die Warnung des Knaben im Erdreich begraben. Auf eine merkwürdige Art beschämt, sank der ältere Mann seufzend auf seine morschen Knie und klammerte sich an den Rand eines Bottichs. Von seinem Spiegelbild geschreckt, begann das mückenumtoste Wasser zu vibrieren. Es erinnerte an die knochigen Züge des toten Jungen, über den von der Hure bis zum Soldaten alle lachten.
»Und wenn schon«, schnaubte der Kupferbärtige.
Gerlach indes sah den Boten noch einmal aus dem Sattel stürzen. Als dessen Schädeldecke vor seinem geistigen Auge zerschellte, knallte ein Würfelbecher auf den Tisch.
»Von mir aus könn‘ in Ostgards Heerlager tausend Feuer brenn‘«, lallte ein Spieler, »ich hab‘ gehört, der Wolf kommt zurück nach Crest.«
»Oh ja«, pflichtete Wagner bei, »das ist in aller Munde.«
Damit sorgte er nicht nur für einhellig gemurmelte Zustimmung, sondern auch für Erleichterung. Gerlach hingegen tauchte seine Schwielen ins Wasser und machte die Erinnerung verblassen.
»Der Wolf? Wer soll das sein?«, traute sich ein junger Landsknecht zu fragen, dem die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand.
Die Kampferprobten in der Runde stimmten ein Gelächter an.
»Ein Teufelskerl ist das, mein Junge«, gab sein Nebensitzer zu verstehen, »ein Söldner der übelsten Sorte. Und – wie manche sagen – ein Zauberer.«
»Ein Zauberer?«
»Ein Zauberer«, bestätigte man ihm.
»Was kann er?«
»Nur indem er dich ansieht«, erklärte sein vorgebeugter Sitznachbar, »verwandelt er deine Unterbuchse in ein braunes, stinkendes Bündel.«
Das Lager grölte, zerzauste dem Jungen das Haar und würdigte ihn beschämender Blicke.
»Hab‘ mir mal sagen lassen, der Kerl soll sich seine Narben auf der Wange selbst beigefügt haben. Nur um einem den Mumm aus den Eiern zu quetschen.«
»Erzähl‘ keinen Scheißdreck«, fuhr Wagner dazwischen. Er schaute zu Gerlach, noch bevor er dem Mädchen unter den Rock griff. »Jeder weiß, dass er eine bei Gotenburg kassiert hat. Hab ich nicht recht, Totengräber?«
Der Angesprochene, bei dem sich erneut die Blicke kreuzten, richtete sich langsam auf, hob den Kopf und nickte.
»Die Zweite«, sagte er, indem er sich mit dem Finger quer über die Wange fuhr.
»Der zählt doch kaum dreißig Winter«, erhitzte sich jemand.
»Ein Kind des Krieges eben.«
»Ein mieser Hurensohn, wenn ihr mich fragt«, meinte ein Glatzkopf, indem er auf den Boden spuckte. »Der Wichser kennt keine Gnade.«
»Ja, das habe ich auch gehört«, bestätigte sein Vorredner.
»Bei Mergentheim soll er ein Dutzend Gefangene hingerichtet haben. Vor den Augen des Trosses.«
»Und in Eichwald hat er scheint’s erst gar keine machen lassen. Hat die ganze Besatzung abgeschlachtet.«
»So erzählt man«, kommentierte Wagner das vielzählige Nicken.
Während er mit Daumen und Zeigefinger in eine Brustwarze kniff, begann seine andere Hand zwischen den Schamlippen des Mädchens hin und her zu wippen. In die betretene Stille hinein strömte leises Stöhnen.
»Es heißt aber auch, dass er unserem alten König mal das Leben gerettet haben soll.«
»Mag sein. Aber wer weiß schon, ob das alles stimmt«, resümierte ein Halbstarker. »Um Haudegen wie ihn ranken sich immer viele Gerüchte.«
Die Anwesenden, gespalten in Bewunderer und Skeptiker, bejahten.
»Ist auch scheißegal«, brüllte der Rothaarige, weil das Quieken des Mädchens in der Diskussion unterzugehen drohte. »Hauptsache Prinz Albrichs Speichellecker liegen seit Gotenburg würmerzerfressen unter der Erde.«
Wenigstens darüber herrschte Einigkeit.
»Auf den Wolf«, stimmte ein Spielmann mit dem Greif Crests auf der Brust an.
Der Totengräber Gerlach nahm das Vivat zum Anlass, den zerbeulten Becher von seinem Gürtel zu lösen und sich Bier aus einem Fass beim Trosswagen zu schöpfen. Noch bevor ihm ein weiteres plagendes Bild über die Augen wischen konnte, stürzte er den Alkohol die Kehle hinunter. So hörte er den ausgelachten Reiter nur mehr leise den drohenden Untergang des Landes prophezeien.
Inmitten dieser Gelassenheit vernahm man plötzlich, wie ein Horn gellte. Lang, kräftig und eindringlich genug, um seine Artgenossen in der gesamten Zeltstadt anzustecken. Als bald ein ganzer Kanon von Signalen über die Lagerstätte schwappte, begann ein jeder von dem, was er gerade tat, innezuhalten. Gegenwärtig angestoßene Krüge wurden abgestellt, schmatzende Zähne am Kauen gehindert und klappernde Würfel unter einem Becher begraben.
»Was soll das?«, fragte einer der Soldaten stellvertretend, der den Kopf vom Stiefelputzen hob.
Mucksmäuschenstill legten die eben noch berauschten Männer ihre Ohren an. Ein mancher gar begann aus Vorahnung zu schlucken.
»Alarm«, übersetzte der Spielmann, ungläubige Blicke erntend. Genau dann machte ein kräftiger Windstoß nicht nur die Zelte und Feuer knattern.
Mit ihm und der ringsum ausbrechenden Hektik begann es auch den Soldaten kalt über den Rücken zu laufen. Während es ihnen noch die Sprache verschlug, fügten sich Flüche und Befehle beim Rest der Einheit schon zu einem fürchterlichen Gesang, unter dem die ersten Fahnen zur Aufstellung brausten.
»Sie sind hier«, donnerte ein vorbeirauschender Feldwebel, dem Angst und Unbehagen ins Gesicht geschrieben stand. »Ostgard ist hier.«
Kaum war das Unaussprechliche gesagt, stolperten auch die bis gerade noch Ungerührten wild durcheinander. Alle suchten nun torkelnd nach Rüstung und Waffe. Alle, bis auf Wagner, dem der Mund so weit offenstand, dass ihm Zerkautes aus der Lade fiel. Die starren Augen auf Gerlach gerichtet, rieb er sich zitternd die Stirn.
»Was machst du?«, wollte er von demjenigen wissen, der vielleicht aus Eile statt zur Waffe nach seiner Schaufel griff.
»Was soll ich schon machen?«, antwortete Gerlach voller Resignation. »Eure Gräber.«
II
Als das Kribbeln in seinen Fingern unerträglich wurde, hob Henrich, der Blinde, ruckartig den ergrauten Kopf.
»Dieser Narr«, fluchte er, das Messer ins Holz rammend. »Er behält den Kurs.«
Kaum hatte er sich dabei ertappt, nach der Schnapsbuddel gegriffen zu haben, folgte er schon dem in der Kombüse gespannten Tau aufs Viererdeck des Schiffes. Dort angelangt spürte er, wie das Sonnenlicht auf seine leeren Augäpfel traf und doch nichts als graue Dunkelheit hinterließ. Lediglich die salzige Brise, welche über die Westwind fegte, spendete dem Alten Trost, indem sie wie eine Verliebte über seine vernarbten Arme streichelte.
»Land in Sicht«, hörte der Blinde den Ausguck krähen.
Mit einem Gutteil der Mannschaft stürmte er eilends nach steuerbord an die Reling.
»Eine Sirene mag mir den Arsch küss‘n, wenn die Wolken überm Festland nicht nach ‘nem Unwetter ausschau‘n«, zog ein Seemann vom Leder.
Der Blinde jedoch rümpfte die Nase.
»Das sind keine Wolken, Junge«, widersprach Henrich, »das sind Rauchschwaden.«
Die Crew legte, wie so oft, wenn sie von dem senilen Seebären belehrt wurde, die Stirn in Falten oder zuckte mit den Schultern. Dass jemand aber vor Skepsis zu lachen begann, war neu.
»Woher willst du das wissen, Blindfisch?«, spottete ausgerechnet der Schiffsjunge, der sich durch die Seeleute zu schlängeln versuchte.
Sein Gelächter verkam abrupt zu einem Quieken, als ihm einer der Erwachsenen in die Magengrube boxte.
»Schnauze, Lümmel«, fauchte dieser. »Der Blinde hat recht.«
»Bei den Winden.«
»Der ganze Landstrich scheint zu brennen«, kommentierte ein rauer Geselle, der Feuer zu erkennen glaubte.
Einige Matrosen nickten da schon, andere verdrehten die Augen und wieder anderen klappte die Kinnlade herunter. Noch ehe sich unter der Meute Scheißhausparolen breitmachen konnten, näherten sich klackende Stiefeltritte.
»Weg mit euch, ihr Hunde! Offizier an Deck«, schwang sich Henrich, dem das Geräusch nicht entgangen war, mit seiner tiefen Stimme auf.
Kein Wunder also stieb die Mannschaft Hals über Kopf auseinander. Der Blinde seinerseits dachte nicht daran, wieder unter Deck zu verschwinden. Stattdessen wartete er, bis der Angekündigte vor ihm stand und er sich sicher sein konnte, dass ihn die unerfahrenen, blauen Augen anblickten. Wie sonst auch, wenn der alte Seebär dem jungen Kapitän der Westwind die Meinung zu geigen hatte. Dann schenkten ihm die weichen Züge des Offiziers nämlich einmal mehr jenes vorfreudige Lächeln, das dem Blinden selbst hinter dem Schleier seiner Behinderung nicht verborgen blieb.
»Kap‘tän«, grüßte der Grauhaarige, indem er Haltung annahm.
»Henrich«, würdigte der junge Mann.
Dass er seinen Schiffskoch dabei beim Namen nannte, war ein Privileg, das sich Henrich trotz oder gerade wegen seines losen Mundwerks erstritten hatte. Gegen die Reling gelehnt, ließ der Kapitän seinen prüfenden Blick über den Horizont schweifen, ohne jedoch auf den Tumult der Mannschaft von eben zu sprechen zu kommen. Wohl aber, um den ersten Maat vom Steuer heranzuwinken. Er sollte Meldung machen.
»Wenn der Wind so bleibt, dann sind wir in drei, vielleicht vier Glasen dort«, rapportierte der Seemann zwar zur Zufriedenheit des Kapitäns, nicht aber zu der des Blinden.
Denn dieser schluckte.
»Dort?«, fragte Henrich noch vorsichtig, während er sich schon mehr nervös als nachdenklich durch den Bart strich.
»In Förde«, entgegnete der Maat auf eine für den Blinden unverständlich naive Weise. Denn die explizit genannte Hafenstadt ließ keine Zweifel offen, welchen Kontinent sie anliefen: Calranien.
Hätte der Berichtende gewusst, was dieser mitschwingende Name in Henrich auslöste, er hätte die Nonchalance wahrscheinlich vermieden. Schließlich begannen die Knie des Alten so heftig zu beben, dass der Maat selbst ihn stützen musste. Was Henrich für Außenstehende unsichtbar glaubte, die mit jedem Wimpernschlag vor seinem Auge auftauchenden Bilder, stülpte sich in einem ekelerregenden Pulsieren der Pupillen nach außen. So fürchterlich waren die Bilder, die er längst verdrängt und von denen er gehofft hatte, dass sie ihn nie wieder heimsuchen würden. Doch wider Erwarten traten sie ans fahle Tageslicht, derweil die grässlichen Narben auf seinem Körper zu jucken anfingen. Eine marternde Pein schoss ihm durch die Adern. Sein Atem wurde schwer und winzige Schweißperlen waren dabei über seine Stirn zu kreuchen.
»Kap’tän, mit Verlaub«, stockte Henrich, »wir dürfen dort nicht anlegen.«
Maat und Offizier blickten den Alten ratlos an. Dessen Hände zitterten und in seiner Stimme lag Angst.
»Hört Ihr? Lasst die Westwind nicht an diesem Ort vor Anker gehen«, tönte es wie zur Warnung von seinen blassen Lippen.
Fragend tauschten die beiden Männer Blicke aus. Der Maat zuckte letztlich mit den Schultern.
»Ist dir nicht gut, Schiffskoch?«, sorgte sich der Offizier, während er seine Hand auf Henrichs Schlüsselbein legte.
Die dabei geschauten Augäpfel schienen den jungen Kapitän auf eine gespenstische Weise zu durchdringen.
»Riecht Ihr es denn nicht? Den Rauch? Das Blut? Den Tod?«, fragte der Alte flüsternd, als wollte er nicht riskieren, von der Crew gehört zu werden.
Die Bilder in seinem Kopf waren just so lebendig wie schon seit Jahren nicht mehr.
»In ganz Calranien herrscht Krieg, Kap‘tän. Schon seit über zehn Wintern.«
»Und seit bestimmt über zehn Wintern fährst du auf diesem Schiff zur See«, versuchte der Blauäugige den Blinden zu beruhigen. »Du weißt besser als jeder andere, dass kein Krieg die Westwind jemals daran gehindert hat, irgendwo anzulegen.«
Henrich wirkte nicht nur gequält, sondern plötzlich auch wütend.
»Ihr hört mir nicht zu«, zürnte Henrich so laut, dass die Mannschaft es letzten Endes doch hören musste. »Ich spreche nicht von irgendeinem Krieg. Ich spreche von hundert Kriegen, die diesen Kontinent zerreißen.«
»Und wenn schon, warum sollte uns das betreffen?«, erwiderte der Kapitän.
Henrich geriet daraufhin dermaßen außer sich, dass er sein Gegenüber an der Wange packte. So, als müsste er ihm inständig die Leviten lesen.
»Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe«, verhieß der Blinde, bevor er sein Verhängnis aufzuzählen begann. »Ich habe erlebt, wie Kinder jene Galgenbäume schmückten, unter denen sie tags zuvor noch gespielt haben. Ich habe erlebt, wie junge Mütter ihre Neugeborenen auf die Straße warfen, in der Hoffnung, dass Fuhrwerke und Soldaten deren winzige Schädel zerquetschten. Ich habe erlebt, wie Fremdländer, wie Ihr einer seid, entweder aufgespießt und zu lebendigen Wegweisern erkoren oder aber enthauptet wurden, um die maroden Straßenpflaster zu kitten.«
Es herrschte Stille, bis Henrich es auf den Punkt brachte.
»Calranien ist ein Todesurteil«, sagte er so voller Nachdruck, dass dies abseits ihrer Gesprächsrunde nicht unbemerkt blieb.
Doch auch wenn sich beim Kapitän angesichts der Worte und der darüber tuschelnden Mannschaft Unbehagen ausbreitete, änderte das grundsätzlich nichts an seiner Entscheidung. Denn er hatte es jemandem versprochen.
»Wir setzen nur unseren Passagier ab und verschwinden wieder«, vermittelte der von seinem Pflichtgefühl eingenommene Offizier.
Da reckte der Blinde den Kopf.
»Welchen Passagier?«, horchte er, nicht ohne Aufregung nach. »Welcher verfluchte Hund nennt diesen Flecken Elend seine Heimat?«
Spitz auf Knopf drehte ihn der Maat nach backbord – dorthin, wo jener in seinen blassen Augen gottverlassene Kerl auf Kisten und Tauen saß, der ihr aller Leben aufs Spiel setzte.
Scheiße, dachte Sanguis. Dabei kommentierte er weniger seine brennende Heimat am Horizont als vielmehr den Bannerfetzen, der sich um seine Finger wand. Er hätte weiß sein sollen. Doch entgegen seiner Erinnerung, oder mochten es Erwartungen sein, war er blutrot. Dummes Ding, schimpfte er insgeheim auf Prinzessin Alessia. Ihretwegen blieb das dicke Lumpenbündel an der Schulterpartie des Braunhaarigen ein düsteres Zeugnis von Grausamkeit. Und ein Omen, das ihn bald schon einholen würde.
»Lebensmüde oder bescheuert?«, warf ihm plötzlich jemand an den Kopf.
Sanguis, der sich zuerst umsehen musste, blickte auf einen Mann, dessen narbenträchtiger Arm zum Festland zeigte.
»Und«, entgegnete der Braunhaarige.
»Was?«
»Lebensmüde und bescheuert.«
Die Brauen des Alten zuckten, während das Sonnenlicht seine Augen und Tätowierungen erblassen ließ. Zumindest solange, bis ihn das schlackernde Segel in Schatten hüllte.
»Was glaubt so ein Witzbold wie Ihr in Calranien zu finden?«, zischte er.
Dabei würgte der Grauhaarige den Hals seiner Schnapsbuddel so krampfartig, dass Sanguis die dahintersteckende Nervosität nicht entging. Doch er machte keine Anstalten zu antworten. Nicht, weil er keine Antwort wusste. Sondern, weil er sie nicht wahrhaben wollte. Nicht wahrhaben konnte. Obwohl sie ihn schon so weit in Richtung Heimat gezerrt hatte.
»Ist es Gold?«, unterstellte der Alte, indem er einen Schritt näher kam.
Sanguis hingegen schwieg bloß. Er schüttelte nicht einmal den Kopf. Denn selbst wenn der Blinde es nicht hätte sehen können, so hätte sich der Söldner damit eigens jener Ausflüchte beraubt, die ihn vor einem herben Eingeständnis bewahrten.
»Träumt Ihr von Abenteuern?«, stocherte der Blinde im Näherkommen.
Angesichts der wahrgenommenen Aggressivität rückte Sanguis seine Schulterplatte zurecht. Während der Alte seine Ohren nach dem stählernen Klappern spitzte, tastete der Söldner nach seinem Dolch.
»Geht es Euch um Ruhm?«, stichelte der tätowierte Seemann kaum mehr einen Fuß entfernt. »Egal, was Ihr sucht: Kehrt um«, riet er mit gesenkter Stimme, ehe er den Korken seiner Schnapsflasche mit den faulen Zähnen zog und aufs Deck spuckte. »Erspart uns, erspart Euch diesen Flecken Erde.«
»Nein«, widersprach Sanguis entgegen seiner vorherigen Stille so heftig, dass ihm der Blinde überraschend an die Gurgel ging.
»Ihr findet dort nichts von alldem: Kein Gold, keine Abenteuer, kein Ruhm – ihr findet dort nichts außer den Tod«, zürnte er.
Weil der fremde Passagier keine Anstalten machte, seinen Mahnungen nachzugeben, begann der Blinde seinen Griff so fest zu spannen, als wollte er den Braunhaarigen erdrosseln.
»So einen Krieg wollt Ihr nicht erleben, Junge«, schnaubte er.
Sanguis hingegen drückte die Hand des Angreifers zur Seite. An genau die Stelle, wo Henrichs raue Fingerkuppen den Ausläufer seiner Narbe berühren mussten. Und auf beiden Seiten auflodern ließen, was seit Ewigkeiten in jeweiliger Dunkelheit verborgen war.
»Ich habe ihn erlebt«, keuchte Sanguis, indem er der eigenen Vergangenheit ins Auge sah.
»Wir haben keine Wahl, Weib«, hörte der Braunhaarige seinen Vater in dieser Erinnerung brüllen.
Seine Mutter hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Sie begann zu schluchzen. Dann kullerten glänzende Perlen über ihre Unterarme auf den Tisch.
»Reiß‘ dich endlich zusammen«, schrie ihr Ehemann, indem er sie gewaltsam an den Haaren zog. »Wir haben kaum was zu fressen und diese Blagen machen nun mal kein Geld, sondern Ärger. Der Winter kommt und ich kann sie mir nicht leisten«, schimpfte er lauthals.
Sein Gesicht verzog sich zu einer noch grässlicheren Fratze. Er schlug ihr mit der flachen Hand gegen die Wange. Sie ertrug es, doch Sanguis‘ Schwester nicht.
»Hör‘ endlich auf«, kreischte diese und stürmte wütend in die Stube.
Doch der Vater ballte lachend die Faust. Unbarmherzig zertrümmerte er ihr die Nase, bevor sie ein Tritt in den Unterleib krachend gegen die Wand schleuderte. Warmes Blut vermischte sich mit kalten Tränen.
»Du alte Vettel! Sieh‘ dir deine Ausgeburten nur an. Morgen bring‘ ich ihn in die Stadt. Und für sie finde ich auch noch eine Lösung«, brüllte der Vater, während er die Mutter an den Haaren in die Schlafstube zerrte.
»Name und Beruf?«, fragte ihn die heisere Stimme. Der braunhaarige Junge zitterte.
Er hielt sich an dem Tisch fest und schwieg. Ein Schlag prasselte gegen seine blau unterlaufene Wange.
»Nicht mal das kannst du. Er heißt Sanguis Cor, Taugenichts von Beruf«, antwortete der Vater forsch.
Sein kalter Atem stank nach Alkohol. Jemand drückte Sanguis in beide Backen und begutachtete die lückenhaften Zahnreihen. Dunkle Augen musterten seine dürren Arme und kantigen Rippenbögen.
»Ziemlich mageres Kerlchen – weiß nicht, ob der’s lange machen wird«, stellte der Soldat fest.
Fragend blickte er in die Augen des Schreibers.
»Freiwilliger ist Freiwilliger«, zischte der Vater.
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