Der Wurm - Barbara Imgrund - E-Book

Der Wurm E-Book

Barbara Imgrund

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Beschreibung

Die stumme Martha kehrt als alte Frau auf den verfallenden Berghof ihrer Familie zurück. Es ist eine Flucht vor der Welt: Denn schon wieder kriecht jener braune »Wurm« ins Tal, der in ihrer Kindheit so viel Leid auf den Berg gebracht hat. Sie will nicht noch einmal erleben, wie sich dieser Parasit in den Köpfen der Menschen einnistet und sie zu unvorstellbaren Taten treibt. Und so hört sie mit dem Essen auf, wie sie im Krieg mit dem Sprechen aufgehört hat. Doch die Welt, der sie entfliehen will, stöbert Martha in ihrem Mauseloch auf. Und nie verheilte Wunden müssen wieder aufreißen, damit schmerzhafte Geheimnisse endlich ans Licht kommen können … »Eine kleine Geschichte über die Menschlichkeit in Zeiten der Entmenschung, die unaufhaltsam ihre Wucht entfaltet.«

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Seitenzahl: 238

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Barbara Imgrund

DER WURM

Eine kleine Geschichte

Roman

HELMER

 

Der Roman wurde gefördert mit einem Arbeitsstipendium des Förderkreises der Schriftsteller:innen in Baden-Württemberg

 

ISBN (E-Book) 978-3-89741-900-1

ISBN (Print) 978-3-8974-494-5

© 2025 E-Book nach der Originalausgabe

Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach a. Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung unter Verwendung einer Grafik von © Twins Design Studio / AdobeStock

 

Ulrike Helmer Verlag

Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach a. Taunus

E-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

Für die, die nicht vergessen können.

Für die, die nicht vergessen wollen.

Und für die anderen.

 

 

Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht,

und vieles ist in euch noch Wurm.

Friedrich Nietzsche

 

Man darf nicht warten,

bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist.

Man muss den rollenden Schneeball zertreten.

Die Lawine hält keiner mehr auf.

Erich Kästner

 

Prolog

EinenBergbezwingtmannicht. Ermusseseinemerlauben, wennmanihnbesteigenwill.

Siehdoch, wiekleindubist, sagtderBerg. Ichbrauchedichnicht.

Der Aufstieg ist beschwerlich und mühsam, einsam und gefährlich.

DerBergsagt: Verdienemich.

HindernisselegtereinemindenWeg, erschicktSteinschlagundUnwetter.

Der Berg fragt: Erkennstdumichjetzt? Erkennstdudichjetzt?

Und wenn man oben steht, ist es ein Sieg – nicht über den Berg, sondern über den, der man im Tal noch war.

 

1

DerkleineHofducktsichandenSteilhangwieeinneugeborenesLamm, dasdenAdlerübersichamHimmelspürt. AusgebleichteSchindelnaufdemDachundamGiebel, unterdemFirsteinverwitterterGekreuzigter. BröckelnderPutzundFensterläden, dieeinmalgrünwaren. DerumlaufendeBalkonwurmstichig, vonAlterundFeuerngeschwärzt, währendnebenanBackofenundSchoberzerfallen.

DenHofumschließenWiesen, abschüssigbiszurFelskante, daruntereinschwarzerSchlund, derinsBodenloselockt. ÜberdenWiesennurnochWald, FelsundEinsamkeit. DasDorfistaußerSichtweite, fernwiejedeanderemenschlicheBehausungoderderMond. NochimmerführthierhernureinschmalerPfad, denGenerationenindenBauchdesBergsgetretenhaben.

ZuHause.

SiekenntjedenStein, jedenBalken. SieweißbisinihreTräumehinein, wiedieStubentürklagt, wennmansieöffnet; sieriechtdenStall, indemschonlangekeineTieremehrstehen. Ihrfälltein, dassdasfrischgebackeneBrotnachGlückschmeckteundwiegutdieMuttertröstenkonnte. Siehatniewiederdarangedacht.

IhrBlickfliegtzumHaushinüber; ihreFüßefolgenlangsam. NundreiausgetreteneSteinstufenhinauf, undsiestehtvorderHaustür: Gleichwirdsieauffliegen, undBeppiwirdbellendanihrhochspringen, unddieGeschwisterkommengelaufen, undeswirdwieimmersein.

Aberwieimmeristvergangenundschonsolangeher.

DerHaussegeninKreideschriftüberdemTürsturzistkaumnochzulesen. EsgibtauchjetztkeinSchloss, hierwarnieetwaszuholen. SiegreiftnachderschmiedeeisernenKlinke. VieleHändehabensieblank poliert, vieleHände, mitdenensienunverbundenist, überdieZeitenhinweg. DashatdieMutterstetsgesagt, inderStimmedieDuldsamkeitderBergbauern, diesichindasschicken, wasihnenderHerrüberdenLaufderDingehierobenzuteilt: GottoderderBergoderwieerauchheißenmag. EsmusseinErsein, solcheDingekommennichtvoneinerSie.

Marthamurmeltetwas, dasnichteinmalbisanihreeigenenOhrendringt. Siespürt, wieestiefinihrerKehlevibriert, wieesaufhalbemWegimHalssteckenbleibt. Sielässtesdort. HieramHofwurdenWortenurumdasNötigstegemacht.

»EinWetterkommt.«

»DasKalbliegtnochnichtrichtig.«

»WassollendieBubenindiesemKrieg.«

SiedrücktdieKlinkeherunter, unddieTürschwingtaufineinenhalbdunklenGang; dasLichtdesTagesfließthineinwiezäherTeig. EsriechtnachalldenSeelen, diehiergelebthaben, denzweibeinigenunddenanderenauch. MarthaistjetztwiedervieroderfünfJahrealt. EinKätzchen, geliebtundlangeverwest, schlecktdieMilchauf, diejemandvergossenhat. DiekleineSchwester, derenBeinchenvonderRachitiskrummsind, lässtsichmiteinerGänseblümchenkettezurPrinzessinkrönen. DieMutterliegtsamstagsaufdenKnien, umdiedunklenBohlenmitSandzuscheuern, damitdasHauszumKirchgangblitzt.

VoreinemganzenLebenistMarthainsTalgegangen. Mancheswurdeunteneinfacher: StromundfließendWasser, bequemeWege, genugzuessen, FortschrittundirgendwanneinbisschenWohlstand. DochdasSchwerebliebauchuntenschwer. Wasdrückt, drücktüberall, esistnichtderOrt, deresleichtermacht.

Nun kann sie dort unten nicht mehr bleiben, denn wieder kriecht etwas ins Tal, das sie schon kennt: ein Parasit, ein Schmarotzer, braun, feist, giftig, der sich in die Köpfe der Leute frisst und ihnen Herrentum einpflanzt. Zuerst hat sie gehofft, dass noch genug von jenen da sind, die sich erinnern und wissen. Dann hat sie gehofft, dass schon genug von jenen da sind, denen die Erinnerung der anderen reicht, um zu wissen. Dann hat sie aufgehört zu hoffen.

Marthaweiß, wieesweitergehenwird, dochsiewirdesnichterleben. DerKreis, deraufdemBergbegann, schließtsichaufdemBerg. DerWurmwirdsienurdiesmalnichtfinden. SiefürchtetdieGeisternicht, dieaufdemHofumgehen. Eltern, Großmutter, Geschwistersindsonah, alswärenureinWimpernschlagvergangen. HeimwehnachihnenwieausdemNichts, sogarnachdemVater. Geduld, nurGeduld, esdauertnichtmehrlange.

DerFluristeinlanger, dämmrigerSchlauch. ErteiltdenHofmittenentzwei. Marthasiehtnichtmehrsogut, aberinihremGedächtnisistnochallesgestochenscharf. EinKompass, nachdemsiesichbewegt. LinksgehtesindieStubeundvondortausindieKüche, dieindenblankenFelsdesHangsgeschlagenist. DieersteTürrechtsführtindenStall. DarüberdieSchlafzimmer, diedasViehmitseinenAusdünstungenwärmte; eineStiegeführthinauf. AufdieserSeitedesGangseineweitereTürzueinemBad, dasMarthaneuist. FrüherlagderAbortimHof, anSamstagenwurdeeinZubermitheißemWassergefüllt, sonstgabesnurKatzenwäscheanderSchüssel.

SietrittindieStube. HieratmetallesModer, Mühsal, vergangenesLeben. DeralteBauernofenstehtnoch, desgleichendieschlichteAnrichte, derTischmitdreiStühlenundderEckbank. DarüberderHerrgottswinkel, dasKreuzeingewobeninSpinnennetze. EingeweihtesSträußchenstecktdahinter; seinGrünistlängstgrau. NurdieGespinstescheinenesnochanOrtundStellezuhalten. MarthawirdauskehrenundStaubwischenmüssen. DenKruzifixuswirdsienichtanrühren. Erhatnichtgeholfen, alssieihnbrauchten, undsosollersehen, woerbleibt.

DurchdasoffeneFensterzwitschertderFrühlingherein. MarthalauschteinpaarAugenblickezumAbschied. DraußeneinschmutziggrauerHimmel, keinlindesBlau, keinSonnenschein. SiegehtzumHerd, Feuermachen. DerAbendistnichtweit; erwirdKältebringen, vielleichtauchSchnee. DemBergistesgleich, dassMaiimKalendersteht. DemBergistallesgleich.

 

2

Was man viele tausend Male getan hat, verlernt man nicht. Nur die Hände sind nicht mehr so geschickt. Es dauert jetzt länger, den Holzkohleherd anzufeuern. Sie murrt, sie will doch nur Tee trinken. Nur Tee.

MarthahatsotiefgeschlafenwieseitvielenJahrennichtmehr. SiehatihrLageraufderOfenbankaufgeschlagen; aufdieOfenbrückekommtsienichtmehrhinauf, undimObergeschosswillsienichtsein. SiekanndortnochdieGeschwisterspüren, mitdenensiesichdasKastenbettteilte: ihrekaltenFüße, ihreschmächtigenLeiber, ihrFlüsterninihremHaar. AndenmeistenAbendenwurdeesschnellruhigimZimmer. EswareinefederleichteStille, diegutträumenließ. Späterwurdedasanders, später, alssienichtmehrvollzähligwaren.

DieStanduhrinderStubeistanirgendeinemTagumzehnUhrsiebzehnstehengeblieben. Waresmorgensoderabends? UndanwelchemTag, inwelchemJahr? Werweißdasschon, derHofstehtleer, seitdemdiejüngsteSchwesterinsDorfgezogenist. MarthakönntedieStanduhraufziehen. Abersiemussnichtwissen, wiespätesist; esistjalängstzuspät. Allesindtot, nursiehatderBergvergessen. Ausgerechnetsie …

Deshalbistsiehier: ihnansieerinnern.

Das Wasser in dem verbeulten Kessel kocht, sie brüht Tee aus der Dose ihrer Mutter auf. Wiesenkräuter, jahrzehntealt. Eine ferne Erinnerung an den ursprünglichen Geruch ist noch da. Schal wird es schmecken, aber was macht das schon. Man ge­wöhnt sich an alles, sogar daran, dass man keine Worte mehr findet und die Zeit nichts heilt.

MarthasetztsichmitderdampfendenTasseandenEsstisch. AufeinmalstehtwiederdiegroßeschmiedeeisernePfannemitdemMusda; einesderKindersprichtdasTischgebet, jedenTageinanderes, diePflichtgehtreihum. DanntauchenneunLöffeleinindieSpeise, undneunMünderredenundschweigenundessen. EinervonElisabethslangengeflochtenenZöpfenfälltinsMus, siewischtihnschnellanderKittelschürzeab. DieGroßmutterschautstreng; dieElternsindschonmittagszumüdezumLächeln. AberdieGeschwisterkichern. Esstecktan, nochüberachtzigJahrespäter.

UmsolärmenderistjetztdieStille. KeinLautausdemStall, ausdenWohnräumen. DerHofistunbehaust, nurnochEchosvonfrüherhallennach. SovielLebenwarhier, trotzigabgepresstderHöhe, derkargenScholle, demMutterleib – kannesspurlosvergangensein? OderüberdauertdochetwasvonalldenSeelen, MenschenwieTieren, imSturm, derwütendnachtsamHausrüttelt, inderFarbeeinerBlume, dieimverwildertenGartenderMuttergedeiht, inderflinkenFluchteinerEidechseaufderTrockenmauer, dienochimmerdenHanghält? Nichtsstirbtaufewig, alleswirdwiedergeboren, irgendwannzuseinerZeit. EsistkeineGewissheit, nurHoffnungunddamitschoneinehalbeLüge.

MarthatrinktdenletztenSchluckTee. DanngehtsiehinüberundziehtdieStanduhrauf, diesoforterwacht. Sieticktweiter, ausgeschlafenundschaurig. Esistsiebzehnnachzehn.

 

3

Sie sind wieder da.

DieEltern. DieGeschwister. DieGroßmutter. Siesprechenmiteinander, siegehenihremTagwerknach: Feuerschüren, Garnspinnen, dieKuhmelken, Schafehüten, dieSensedengeln, Heurechen, Holzhacken, vordemHerrgottswinkeleinKreuzschlagen, streiten, lachen … DannentdeckensieMartha. Siehalteninne, sehensiean, stumm, dieAugenweitaufgerissen. Undsielassenallesstehenundliegenundlaufenlos, soschnellsiekönnen, nurweg, wegvonihr, alswäresiederGottseibeiuns.

MarthaerwachtaufderOfenbank, ihreigenesWimmernimOhr. SchwerdrücktesaufihrerBrust, siebekommtkaumLuft. IhrBlicksuchtdasFenster; heutequilltSonneherein. UntenimTalliegtdasDorfundgegenüberderGebirgsstock, andemderVaterdasWetterablas. TrutziggrüßtderFelsherüber. Sieweißnochimmer, wiedieSchartenundSchuttkegelimAbendrotglühen, wiedieTürmeundZinnensichnachdemHimmelstrecken. WennsieindenWolkenverschwanden, dann, dachtesiefrüher, kraultensieGottdenBart. DerVaterhattealsjungerBurschedrübenaufdemhöchstenGipfelgestanden; beimErzählenfunkeltenseineAugen, füreinmalnichtvollerSorge. NichtvollerWut.

IhreneigenenBergbestiegensiealleunzähligeMale, aufdenTrampelpfadendesViehs, aufdenWechselndesWilds. DasHütenderSchafewareineSchinderei, dieimMorgengrauenbegannundnachSonnenuntergangendete, dochbeijedemSchrittschlugendieKindertieferihreWurzelnindieseErde, indiesesErbe. SiesahenAuerhähneinderMorgendämmerungbalzenundGämsenüberdieFelsenjagen, sielerntendiePfiffederMurmeltiereunterscheidenunddieWolkenamHimmellesen. DazwischenwarZeitfüreinbisschenKindheit: FangenspielenundKettenausWildblumenknüpfenoderSteinemitglänzendemKatzengoldsammeln.

SiemussandiegroßeMuredenken, dieunweitdesHofsniederging; dieWundeisttief, diesiedemBerggeschlagenhat. MarthawareinkleinesMädchen, undnochjetztspürtsiedieseWuchtimKörper, spürtdasHausnachtserbebenvonderGewalteinerRiesenfaust, vondenMassenGeröll, diezuTalwollten. WederderHofnocheinelebendeSeelenahmSchaden, nurderWeginsDorfverschwandimAbgrund, zusammenmiteinigenAckerLand. DochwasvomBergzuihnenherunterdonnerte, warnichtsimVergleichzudem, waseinpaarJahrespäterausdemTalzuihnenheraufkroch.

EinKlopfenanderHaustür. EsreißtsieausdemGestern. Oderträumtsieschonwieder? Siewillwachsein, solangedieKraftreicht. DasDämmernbeginntfrühgenug.

Daklopftesnocheinmal, lauterjetzt, undeinetiefeStimmeruft: »Hallo?«

IhreAugensindoffen. SieliegtinderStubeihresElternhauses, sieistsiebenundachtzigJahrealt, undsieschläftnicht. MarthawendetdenKopfzumBauernofen. Weg. Gehweg.SiewillkeinenBesuch, keinSchwätzchenhalten. Wiedennauch.

Sieatmetein, sieatmetaus. Augenzu, nichtrühren, Totstellreflex. VieleRaubtierefressenkeinAas. Undeswirkt, nichtsgeschieht. Sieentspanntsich, unddieUnruheperltabvonihrwieSchmelzwasservoneinemEiszapfen. EswirdeinRinnsal, dassicheinemBachzugesellt, umzufließen, nurzufließen, weiterundweiterundimmerweiter …

DieHaustürgehtjammernd, daraufSchritte, ganznah. Mar­thareißtdieAugenauf.

VordemFensterinderStube, imGegenlicht, stehtjemand, derdanichthingehört. SchwarzerUmriss. KeinGesicht. AbereinAtem, derangehaltenwird.

SieblinzeltgegendieHelligkeitan. IhrHerzbeginntzurasen, siebleibtdennochganzstill. Nurnichtzeigen, dasssielebt. Daskannsiegut, siehatlangegeübt.

»Martha?«, fragtdieserMensch. Esklingtentgeistert.

IhrNameausseinemMund … Siewundertsichnicht. Sierührtsichnicht. Siewünschtihnnurfort.

Es hilft nicht. Er ist noch da. Und Zeit tropft in den Raum. Tick­tack, ticktack.

Am Ende der Ewigkeit sagt er: »Du musst Martha sein… Ein grünes und ein braunes Auge, das kommt doch nicht so oft vor …« Er sucht nach Worten, und dann findet er sie. »Aber du … du bist tot …«

ErmachteinenSchrittaufsiezu, einenwinzigkleinennur. Esgenügt.

Sieistnichtmehrgeblendet, siemussdieAugennichtmehrzusammenkneifen. Undsomachtsiesieweit auf undblicktihminsGesicht.

Undsieschreit, undsieschreit, undsieschreit.

 

4

Der Berg ist das Leben, und das Leben ist der Berg. Dieses Glaubensbekenntnis ist älter als das andere, das sie sich für den Sonntag aufheben, unten in der Dorfkirche. Die Leute auf dem Hof beten seit vielen Jahrhunderten, was der Fels sie lehrt und der Himmel und das Schicksal. Hier oben herrschen andere Gesetze, und die Macht, die sie hütet, hat nichts mit den Gerichten unten im Tal zu tun und nichts mit den Kanzelreden des Herrn Pfarrer.

DieGebäudekrallensichinsGelände, alshättensieAngst, indenAbgrundzufallen. DieKinder, diehierhergeborenwerden, sindschwindelfreiundtrittsicher, hatdieGroßmuttergesagt. TrotzdemkommentödlicheStürzevor, beiMenschundTier. DieArbeitinderAusgesetztheitfordertihrenTribut. GebenundNehmen. Sowaresimmer, undfertig.

DerHofistderhöchstgelegeneweitundbreit, undsoisterauchderschlechtesteweitundbreit: HeuringensiedenWiesennurzweimalimJahrab, imTalsindesvierMahden. DieScholleistmager, derWind, derüberdieFelskantefegt, trägtdasbisschenfruchtbareErdeab, undandenHängenfindetsichkaumeinebenesFleckchen. Umsoaufrechterstehensiehier, drückendenRückendurchundsindihreigenerHerr. Sieackernundrackernfrüh, mittags, abends, umsichundihreTieredurchzubringen, aberesistimmerhinihreEntscheidung. Niemandzwingtsie.

HinterdemHausistdieWeltzuEnde, nurschmaleSteigeführennochweiterhinauf, dorthin, woderBergGeheimnisseraunt. Dortobenzähltnur, wermanist, nicht, wasmanhat. JederSchrittimGeländeeineUnterweisunginAchtsamkeitundKleinsein. Werhierfällt, fällttief.

EinTagundeineNachtkommenMarthaindenSinn. BeimHütenhattesienichtgutachtgegeben – sieweißnichtmehrgenau, wiealtsiewar, sie ging schon zur Schule. MüdevonSonneundHungerwarsieeingeschlafen. ErstdasBlökenderSchafeschrecktesieauf. Alssiesiezählte, fehlteeinLamm. SieentdeckteesabseitsderHerde, aufeinemabschüssigen, glattenFelsband, aufdemdieKlauenkeinenHaltmehrfanden. DasLammhattesichverstiegen, eskonntewedervornochzurück. SostandeswohlschoneineWeileda, stocksteif, LeereimBlick, undwarteteduldsamaufeinWunder. AufdenTod. Schafefügensich.

MarthaklettertehinaufzudemweißenBündel. SchlossesindieArme, redeteihmgutzuundbrachteeszurückzuseinerängstlichenMutter, indenSchutzderHerde. Docheswarspätgeworden. Schonbeganneszudunkeln, undestürmtensichbleierneWolkenamHimmelauf. Nichtlange, undderBergbegannzutoben: einRiese, dessenZornsieerregthatte, dennsiehattenichtgutfürihreSchutzbefohlenengesorgt. ErschleuderteBlitzeundGeröllaufsiehinab. WolkenbrücheundHagelwarenihreStrafe, ohrenbetäubendesGebrüll, Zerstörungswut. DieLuftwarerfülltvonDonnerschlägenundeinemGroll, derandenWurzelnderWeltriss.

Marthabetete, dieSchafemöchtenverschontbleiben. Wassolltewerden, wenneinesfehlte? EsgabGewalten, dienochschlimmerwaren, dennsiewohnteninderGeborgenheitzuHause, unterdemschützendenObdachdesHofs, inderKammergleichnebenan. Nimmliebermich, nimmbittemich, flehtesiezudemRiesen, esistnurmeineSchuld, meineSchafekönnennichtsdafür …

DawarennurnochGrauundNässeumsieher, Kälte, Verlassenheit. EsbliebkeineZeitfürAngstoderSchwachsein. Weiter, nurweiter, damitsiealleheilblieben. EinFelsüberhangschältesichausdemSturm; erbotderkleinenScharnotdürftigeZuflucht. Dortharrtensieaus, undnochjetzt, wennMarthadarandenkt, hatsiedenstechendenGeruchnasserWolleinderNaseunddasleiseKlingelnderSchellenimOhr. SienahmdaszitterndeLammaufdenSchoßundbatihrHäufleinSeelenumVerzeihung, undsiedrängtensichumsieundschenktenihrWärme. EinsonderbarerTrostlaginderErgebenheitihrergelbenBlicke, dermehrKrafthattealsjedesVaterunserundAve-Maria. SiewarengestrandetaufeinerInselineinemfinsterenMeer. MarthabangtemehrumdieseWesenalsumsichselbst; wieeinKrautdurchwucherte sie dieFurchtumsie, dieEhrfurchtvordiesemGroßen, dasBlutdurchihreLeiberpumpteundihrenLungenzuatmenbefahl. LebenwarLeben,unddawarkeinesmehroderwenigerwert, niemanduntertanoderüberlegen. Wehe, wennauchnureinesvondiesenhierSchadennähme. DieWeltwäreniemehrdieselbe.

WennsicheinmalkurzderVorhangdesRegenslichtete, locktenverwaschen, hingetupftinsNichtsdieLichterdesHofsweitunterihnen. OderwarendiesgefalleneSterne, vomHimmelverstoßen, nun, dadasOberstezuunterstgekehrtwurdeundkeineOrdnungmehrwarundwerweiß, vielleichtdasEndederZeitanbrach? MarthaspürteihreZähneklappern. SiealleintrugdieSchuldandiesemGewitter, siehattesichversündigtgegenjene, dieihranvertrautwaren, undnunsaßderRieseübersiezuGericht. WarerGott? Siewussteesnicht. Siewusstenur, dasssieihnniewiedererzürnendurfte, wennersiediesmalgehenließ. Nochimmer, sovieletausendTageundNächtespäter, erinnertsiesichandieSchreckenjenerStunde. ErinnertsiesichanihrentrotzigenPaktmitdemGroßendaoben: wennsiemitheilerHautdavonkämeundihreSchäfleinvollzähliginsTrockenebrächte, niewiederdieIhrenimStichzulassen. Niemalswieder.

Irgendwannwaresvorüber, dasGewittererlosch. Dunkelblieb, nurDunkel, undMarthamachtesichmitihrenSchafenandenAbstiegüberGeröllhaldenundGrashänge. AllesschlüpfrigundtrügerischundjederSchritteinWagnis. EndlichkrochderHalbmondausseinemVersteck. SeinfahlesLichtstreutesoweit, dasssienunsahen, wohinsieFüßeundKlauensetzten. IneinerReihefolgtendieSchafeMartha; siehattesichdaserschöpfteLammüberdenNackengelegtundfassterechtsundlinksseineLäufe. Undobwohlsieselbstsokleinwar, bemerktesiediesesGewichtkaumunterjeneranderenLast, dieihraufbürdete, dieseSeelenheimzubringen.

MarthadachtenurbiszumHof, immernurbiszumHof, nichtweiter; wasdanachseinwürde, wolltesienichtwissen. DorthinwiesenihrdiekleinenLichterdenWeg. KeinFehlgehenmehrundeinewundersameSicherheitunterdemSchirmdesunendlichenRaumsüberihrenKöpfen, derTiefe, dieemporstiegundnamenloswar. DaahnteMartha, wasdasbedeutete: »All«, unddassesLebenumLeben, EwigkeitumEwigkeitumfing, jenseitssämtlicherWorte. NichtigundwichtigwieSandkörner, schienensieundihreSchützlingedaringeborgen. AuchderBergunddieNachthieltendenAtemanvorsolcherGröße, undnurdasGeräuschderSchritteunddasRieselnvonKiesundkleinenSteinendurchbrachdiegewaltigeStilleumsieher. UndweißwölkteesvorMundundMäulern.

IndiesenStundenamBergsahMarthadiegelbenPunkteuntersichganzlangsamgrößerwerden, alstriebenGlühwürmchenaufsiezu, ausderSchwärzeihrzurHoffnunggeboren. Eineswarunterihnen, dasnichtanseinemPlatzbleibenwollteundausderReihetanzte, hierhinunddorthinirrlichternd, währendesnäherkam. DieSchafeschnaubtenleise. OderwittertensieschondenStall?

DannerreichtedieErscheinungdenFußdesSchuttkegels, dendieKarawaneebenquerte, gleichoberhalbderBaumgrenze. DasGlühwürmchenverwandeltesich, wurdeflackerndzurFlamme, diegegeneinGehäuseausGlasleckte, undhinterderbrennendenLaternewuchseinArmausdemDunkel, derUmrisseinesKörpers. MarthahättediesenGang, dieseArt, denKopfzuhaltenundindieWeltzublicken, unterTausendenerkannt. SiesiehtdieGestaltimmernoch, indenNächten, wennsieschlaflosliegt, undimmernochbeleuchtetderflackerndeScheinderLampeeinenjungenHeldenausjenenSagen, dieihnendieLehrerininderDorfschulevorlas: dasGesichtscharfgeschnitten, ernstundeindringlichderBlick, dieLockendunklesBernstein, einmagererLeibvollerKraft. SosahenErlöseraus.

IhrgroßerBruderkam, Marthazuretten, erflogfastdenHanghinauf, traumwandlerischsicherwarseineHast. LuismachtenievieleWorte, undauchjetztspracherkaum, alserheranwar. ErsagtenurihrenNamen, zwei-, dreimal, unddrücktesieansich, erstungestüm, dannsanft, umdemLammaufihrenSchulternnichtwehzutun. UndsieschmiegtesichinseineUmarmungundatmeteseinenvertrautenGeruch, ein, aus, ein, aus, immerwieder, bisdereineBergvonihrabfiel, währendderandereüberihrungerührtbliebwieseitUrzeiten.

DasLammstießeinenSeufzeraus. LuisstelltedieLaterneabundhobdasTiervonMarthasNacken. AufseinemArmriebereseinwenigwarm, bevoreresinseinehalboffeneJackesteckte, sodassnurnochderKopfhervorlugte. ErsetztesichandieSpitzederkleinenProzession, undsogingesbiszurBaumgrenzehinabunddasletzteStückweiterzumHof.

Beppiliefihnenlautbellendentgegen, dieWiedersehensfreudederanderenfielleiseraus. SchlaftrunkenstandendieGeschwisteraufderStiege, einzigdiekleineTheresklatschteauf ­JocklsArmmitbeidenHändchenundgluckstevorsichhin. DieMutter, schonwiedermitschwellendemLeib, schlossMarthainihreArme; siezeichneteeinKreuzaufihreStirnundflüsterteeinenSegen. DieGroßmuttermurmelteetwasbeisichundtatdannwieimmer, wasgetanwerdenmusste. SienahmLuisdieLaterneabundgingihmvoranindenStall, umdieSchafezuversorgen.

DerVaterwarnichtmitdenanderenhinausgetreten. ErsaßinderStubeamTisch, denabgewetztenGürtelmitdergroßenSchnalleinganzerLängevorsichausgebreitet. Marthawusste, dasssiezuihmmusste, dieserGangwurdeihrnichtgestundet. NochinderErinnerungwirktseinSchweigenwiedieLuftvoreinemGewitter. KeinLaut, nurSpannung, bereit, sichzuentladen. SeineZügewarenhartwieStein, zerklüftet, mehrAbgründealslichteHöhenunddieAugenpechschwarzeSeen.

MarthahieltsichkaumnochaufdenBeinen, dochsiehattezustehenundzuwarten, biserdenBlickaufsieheftete. DieseszweiteStrafgerichtwarsounausweichlichwiedasersteobenamBerg. SiewarkeineguteHirtingewesen, siehattedieSchafe, dieihrerallerLebenwaren, inGefahrgebracht, undsohatteMarthasiealleinGefahrgebracht.

NochimmerkeinWortvonihm. Ermusstenichtssagen. Siewussteja, waszutunwar. MitgesenktemKopfgingsiezumBauernofen, nunselbsteinSchaf. Siewehrtesichnicht, sieliefnichtwegvordemSchlachter. SiekehrteihmnurdenRücken, packtemiteinerHanddieKantederOfenbank, ummitderanderendieKittelschürzehochzuraffenundsichvornüberzubeugen. SiehörteSeufzenunddannSchritte, diesichausderStubeentfernten, hörte, wiejemandbehutsamdieTürhintersichschloss. DieMutterhatteselbstgenugzudulden, auchsiewusste, wannmansichergebenmusste, damitesbaldvorüberging. NunwarensienurnochzweiinderStube.

MarthabetrachtetediegetünchteKuppeldesBauernofens; sieerinnertesieandenLeibderMutter, ausdemalleJahreeinKindkam, meistens, umbaldzusterben. DerPutzwareinmalweißgewesen, abervieleHändehattenihreAbdrückedaraufhinterlassen, dasfielihrnunzumerstenMalauf. MarthasuchtesicheinenFleckdirektvorihrenAugenundstarrteunverwandtda­rauf. Severinhattegesagt, dassessowenigerwehtat.

DerVaterließdenRiemenanderSchnallezurÜbungeinmalschnalzen; dannrisserMartharohdieUnterwäscheherunter. Undesbegann. DasLederwarglattundhart, einezornigeSchlange, diesichinMarthasFleischverbiss; siewollteverletzenundzerfetzenundWürdewegfressen, undobwohlMarthadiesesWortnochnichtkannte, gabsiesienichther. Undsieahnteundeutlich, dassnichtsieschlechtwar, sondernderdahinterihr,