Sonnenblumenblues - Barbara Imgrund - E-Book

Sonnenblumenblues E-Book

Barbara Imgrund

4,8

Beschreibung

Wie ist es, den Tod derer vorauszusehen, die man am meisten liebt? Man hat keine Worte dafür, ein ganzes Leben lang. Man ahnt nur, dass man darüber das Lächeln der Sonnenblumen vergessen kann. Luna ist alt, und sie stirbt. Doch sie kann nicht gehen, ehe nicht ihre Geschichte erzählt ist – von Anfang bis Ende und ohne die blinden Flecken, die sie all die Jahre so verzweifelt zu übersehen suchte. Ihre Enkelin Lucy, die bei ihr wacht in dieser letzten Nacht, erreicht sie nicht mehr, dort, wo Luna schon ist. Aber Lucy weiß, dass dies der Ort und die Zeit sind, sich zu erinnern. Und so beginnt auch sie im Gedächtnis ihrer Familie zu kramen, in dem viel Aberglauben und Angst nisten, aber auch viel Liebe. Und schließlich sogar eine Antwort auf die Frage, wer sie selbst ist.

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Dunkel sind die Wege, die das Schicksal geht.

Euripides

Man überlebt. Immer wieder.

„Was? Was hat sie gesagt?“

„Nichts. Seit gestern ist sie nicht mehr bei sich.“

„Aber ich habe doch etwas gehört!“

„Das ist ihr Atem. Die Lunge, die Luftröhre – es ist alles verschleimt. Ich muss sie ständig absaugen.“

„Das kommt vom Liegen, oder?“

„Ja. Das kommt vom Liegen.“

Ich kann mich nicht beklagen. Es war ein gutes Leben. Es war so schön und so schwer wie bei jedem anderen auch. Manchmal erschien es mir nur schwerer, da ich vorbereitet war. Ich sah die Dinge, bevor sie geschahen. Jetzt hadere ich nicht mehr. Jetzt fliege ich.

Da sitzen sie und sorgen sich um mich und wissen nicht, dass es mir gut geht. Aber sie sehen ja auch nicht, was ich sehe. Sonst wären sie nicht mehr traurig. Sie würden sich freuen für mich.

Alles ist wieder so leicht wie damals, als ich ein kleines Mädchen war. Federleicht wie eine Pusteblume. Der Frühling brachte so viele Pusteblumen ins Land, die Wiesen waren bedeckt wie von lichter Watte. Es ist lange her.

Es leuchtet. Alles leuchtet.

„Tun Sie doch etwas! Bitte!“

„Seien Sie unbesorgt. Sie hat keine Schmerzen. Wir geben ihr die Höchstdosis. Sie spürt nichts. Das, was Sie da hören, ist die Schnappatmung. Das kommt ab und zu vor in diesem Zustand. Es geht gleich wieder vorüber.“

„Aber wenn sie erstickt?“

„Sie wird nicht ersticken. Ich passe auf, dafür bin ich ja da. Irgendwann wird sie wegdämmern, und dann ist es vorbei.“

„Wann?“

„Ich weiß es nicht. Heute Nacht … morgen … Ihre Großmutter ist zäh.“

„Ja, das ist sie. Das war sie immer.“

„Hören Sie …“

„Ja?“

„Es tut mir leid.“

„Es muss ihnen nicht leid tun. Sie hatte ihr Leben.“

„Jedenfalls ist es gut, dass Sie endlich da sind. Sie hat von Ihnen gesprochen. Es war das letzte Mal, dass ich ihre Stimme gehört habe. Vorgestern. Dann hat sie sich zurückgezogen. Seitdem ist sie so wie jetzt.“

„Sie hat sich zurückgezogen … Das klingt schön. Wie ein Trost. Als müsste ich mir keine Sorgen machen. Als hätte sie selbst es so beschlossen. Ja, das würde zu ihr passen: Sie hat immer ihre eigenen Entscheidungen getroffen … Wissen Sie noch, was sie über mich gesagt hat?“

„Natürlich. Obwohl es nicht viel war. Das Sprechen fiel ihr schon sehr schwer, mit all der Flüssigkeit in der Lunge. Sie nannte Sie … Warten Sie. Lassen Sie mich nachdenken, ich komme gleich darauf … Es war ein ungewöhnliches Wort. Ich habe mich noch gewundert und gedacht: Was für ein hübscher Kosename. Er leuchtet so. Das muss eine besondere Enkelin sein … Ich habe etwas übrig für Wörter, müssen Sie wissen. Besonders, wenn sie leuchten … Himmel, wie war denn nur dieses Wort? Ach, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie hat gefragt: ‚Wann kommt mein Sonnenblumenmädchen?‘ Ja, das war es: Sonnenblumenmädchen.“

„Das hat sie gesagt? Das hat sie wirklich gesagt?“

„Ja. Nur das.“

„Sonnenblumenmädchen.“

„Ja.“

„Das bin ich. Ja, das bin ich … Ach, Großmama … Liebe, liebe Großmama … Ich … Entschuldigen Sie. Es ist nur – ich habe diesen Namen lange nicht gehört.“

„Das ist schon in Ordnung. Hier an diesem Bett muss sich niemand schämen. Weinen Sie ruhig. So viel Sie wollen.“

„Es geht schon wieder … Wenn Sie vielleicht … ein Taschentuch …? Danke … Wirklich, es geht schon wieder … Es ist nur … Sie sieht so fremd aus. So durchsichtig. Als würde sie sich jeden Moment auflösen. So kenne ich sie gar nicht … Großmama. Hörst du mich? Dein Sonnenblumenmädchen ist da.“

„Ich lasse Sie jetzt allein mit ihr. Ich muss sowieso –“

„Nein. Bleiben Sie. Bitte.“

„Aber Sie sollten mit ihr sprechen. Sie kann Sie hören, ganz bestimmt. Ich glaube an so etwas. Und außerdem … Sie sollten anfangen, Abschied zu nehmen.“

„Abschied … Ja. Aber jetzt noch nicht … Lassen Sie mir ein bisschen Zeit. Ich bin gerade erst angekommen. Es ist schlimm, sie so zu sehen. Daran muss ich mich gewöhnen.“

„Gut. Dann bleibe ich. Das warme Wasser kann ich auch später noch holen. Vielleicht wollen Sie mir dann helfen, Ihre Großmutter zu versorgen? Damit sie sich nicht auch noch wund liegt … Ihre Haut ist so schön. Ich habe schon viele Sterbende gesehen, aber so etwas … Entschuldigung.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sehen Sie: Sie wissen es. Ich weiß es. Sie weiß es … Was meinen Sie mit ‚so etwas‘?“

„Sie ist so weich und glatt, gar nicht rau oder trocken oder offen. Das habe ich noch nicht erlebt. Und …“

„Und?“

„Wie soll ich sagen … sie leuchtet.“

„Ja, stimmt. Sieht ein bisschen so aus, als ob ihre Haut leuchtet.“

„Nein. Nicht ihre Haut. Sie. Sie ist es, die leuchtet. Ihre Großmutter. Wie von innen. Ich weiß, dass das komisch klingt. Wenn man wie ich so viel Zeit zubringt mit Menschen, die schon fast drüben sind, wird man wohl etwas sonderbar.“

„Nein. Es liegt nicht an Ihnen. Sie sind nicht sonderbar … Mir fällt es nur nicht mehr auf. Wissen Sie, sie hat schon immer auf diese Art geleuchtet.“

Sie ist gekommen. Lucy. Mein kleiner Feuerkopf. Mein Sonnenblumenmädchen. Ihre Mutter ist daran gestorben, sie auf diese Welt zu bringen. Stella wollte, dass sie Lucia heißt. Lichtträgerin. Das ist sie wirklich: eine Lichtträgerin. Sie hat mir das Licht zurückgebracht, das mich verlassen hatte. Vielleicht habe ich es ihr nur nie gesagt.

Sie soll wissen, dass es mir gut geht. Sie hat sich immer so viele Gedanken um mich gemacht. Aber es ist ja bald vorüber. Die Schwere ist schon fort. Ich schwebe. Da kann es nicht mehr allzu lange dauern.

Die widerspenstige Strähne fällt ihr wieder ins Gesicht. Wie oft habe ich sie ihr schon zurückgestrichen, seitdem sie ein ganz kleines Mädchen war. Manchmal habe ich den Verdacht, dass sie deshalb nie ihre Frisur geändert hat. Sie tat immer so, als wäre es ihr lästig, aber in Wahrheit mochte sie es. Wenn ich sie ihr jetzt zurückstreichen könnte, nur dieses eine Mal noch, dann wüsste sie, dass alles in Ordnung ist.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Fenster schließe?“

„Das Fenster ist schon zu.“

„So? Aber eben … der Luftzug … Haben Sie das nicht auch gespürt?“

„Nein. Was gespürt? Es zieht doch gar nicht.“

„Aber ich irre mich nicht. Es sei denn … es war etwas anderes … Oder jemand anders.“

„Jemand anders? Wer denn? Hier sind nur wir drei.“

„Ja. Genau. Wir drei.“

„Warum lachen Sie? Was ist denn so lustig daran?“

„Ach – das würden Sie mir sowieso nicht glauben.“

„Ich glaube so allerhand. In zehn Jahren Sitzwache erlebt man einiges. Außerdem kann dieses Zimmer ein bisschen Lachen vertragen.“

„Es wird aber nicht – vernünftig sein.“

„Sie machen mich wirklich neugierig.“

„Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll, ohne dass Sie mich für übergeschnappt halten.“

„Versuchen Sie es einfach.“

„Na gut … Wissen Sie – ich bin übrigens ziemlich froh, dass Sie da sind. Danke.“

„Aber das ist doch nichts Besonderes. Es ist mein Job, mich um Ihre Großmutter zu kümmern. Dafür brauchen Sie sich nicht zu bedanken.“

„Nein, das meine ich auch nicht. Großmama schafft es schon allein. Danke, dass Sie sich um mich kümmern. Ich schaffe es nämlich nicht allein.“

Der Mond zieht einen Graben durchs Zimmer. Auf der einen Seite ich und drüben die anderen. Uns trennt ein silberner Fluss. Darauf habe ich all die Tage in diesem Zimmer gewartet: auf den Vollmond. Schließlich hat er schon über die Stunde meiner Geburt gewacht, da ist es nur recht und billig, wenn er sich auch jetzt blicken lässt … Ja, es wird Zeit. Ich kann es kaum erwarten. Das Wiedersehen und alles andere.

Lucy, du musst besser auf dich aufpassen. Aschfahl sieht das Mädchen aus. Die roten Locken wie Flammen um das blasse Gesicht. Und so dünn ist sie geworden, seitdem sie von zu Hause fortgegangen ist. Es ist lange her, dass ich sie behüten durfte. Sie hat es mir verboten. Sie war so ernst und zornig, als sie ging. Damals. Aber eben habe ich sie doch zum Lachen gebracht. Der Lufthauch – das war ich, und sie weiß es. Man muss sich ja irgendwie bemerkbar machen, wenn einem der Körper nicht mehr gehorcht.

Und jetzt will sie also der Schwester unsere Geschichte erzählen. Ich sehe es ihr an. Sie will es loswerden. Meinetwegen mag sie es tun. Es kann ja jeder wissen. Es kann nur nicht jeder glauben.

„Darf ich Sie etwas fragen?“

„Natürlich. Dies ist zwar meine erste Schicht bei Ihrer Großmutter, aber vielleicht kann ich Ihre Frage ja beantworten.“

„Nein, nein, es geht nicht um Großmama. Es ist mehr eine allgemeine Frage.“

„Ja, dann … nur zu.“

„Sagen Sie, wie halten Sie das aus – das hier?“

„Sie meinen: das Sterben?“

„Ja. Wie ertragen Sie das? Immer wieder dieser Geruch und die Quälerei und der Tod. Ich stelle mir das furchtbar vor.“

„Von außen sieht es so aus, ja. Aber es ist nicht furchtbar. Wenn man sich nämlich nicht mehr damit aufhalten muss, das Sterben unnatürlich zu finden … wenn man keine Zeit mehr damit verschwenden muss, das Leben festzuhalten mit Maschinen und Medikamenten, während es doch schon auf dem Sprung ist … wenn man das alles zulässt, weil es eben geschehen muss und weil es an der Zeit ist, dann verliert es am Ende seinen Schrecken. Wissen Sie, ich habe in so viele friedliche Gesichter gesehen, aus denen sich das Leben davongestohlen hatte, dass ich den Tod nicht mehr wirklich fürchten kann. Das Sterben vielleicht schon, von Fall zu Fall, aber nicht den Tod.“

„Trotzdem … ich könnte das nicht, was Sie hier tun.“

„Ach, das sagen sie alle. Und dann können sie es doch. Sie wissen es vielleicht nur noch nicht: Aber wenn eine zitternde Hand ruhig wird, weil Sie sie halten, dann können Sie es auch. Dann können Sie es immer wieder.“

„Nicht alle sterben einen sanften Tod, oder? Sie hadern und leiden und haben Angst zu gehen …“

„Sicher, das kommt vor. Gegen das Leiden kann ich schon etwas tun: Medikamente geben und da sein. Manchmal singe ich den Sterbenden Kinderlieder vor. Die meisten werden ruhig dabei. In solchen Momenten bin ich die Mutter, die ihr krankes Kind tröstet. Ja … ihr krankes Kind …“

„Was ist denn los?“

„Wie bitte?“

„Sie sehen auf einmal so – traurig aus.“

„Wundert Sie das? Ich … ich lache nicht besonders oft hier, bei meinen Sterbenden … Ich tröste sie und lenke sie davon ab, dass die Nacht kommt, so gut ich kann. Aber den Rest kann ich ihnen nicht abnehmen: den Gang in die Nacht. Diesen allerletzten Schritt müssen sie allein tun.“

„Wie ist er – der allerletzte Schritt?“

„Sie meinen den Augenblick, in dem der Tod kommt?“

„Ja.“

„Das könnten Ihnen nur die sagen, die es schon hinter sich haben.“

„Ja. Mag sein. Aber von außen – wie sieht es von außen aus? Woran merken Sie es, dass dieser Mensch vor Ihnen genau jetzt stirbt, in diesem Augenblick?“

„Das hat mich noch niemand gefragt. Aber wenn Sie es wissen wollen: Es sind die Augen. Das Erstaunen darin. Der Tod kommt meistens überraschend. Wie ein Panther auf leisen Sohlen. Auch wenn er eben noch laut gefaucht hat: Es ist immer zu plötzlich.“

„Wird es auch bei meiner Großmutter so sein?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was für sie vorgesehen ist.“

„Ich glaube, sie schon.“

„Woher sollte sie das wissen?“

„Das gehört zu der Geschichte, die ich Ihnen erzählen wollte. Vorhin, als dieser Luftzug … Das war übrigens Großmama.“

„Bitte?“

„Sie haben schon richtig gehört.“

„Soso … Na, langweilig wird es mit Ihnen wohl nicht werden, wie mir scheint. Aber lassen Sie uns erst für Ihre Großmutter sorgen. Ich sauge sie ab, wir waschen sie und lagern sie um. In Ordnung?“

„Ja. In Ordnung.“

„Ich hole erst mal warmes Wasser.“

„Großmama! Großmama … Ich bin es. Lucy. Ich bin da. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Warum meldest du dich auch nicht früher! Du weißt doch, dass ich einen weiten Weg habe.

Ach, Großmama, du hast mir so gefehlt. Ich habe es nur nie gemerkt. Verstehst du überhaupt, was ich sage? Du kannst mich doch hören, oder? Die Schwester glaubt es jedenfalls, und ich glaube es auch. Wer weiß, vielleicht siehst du mich ja sogar? Wie ich dich kenne, hast du längst herausgefunden, wie du das anstellen musst.

Trotzdem wäre es schön, wenn du mir ein Zeichen geben könntest. Nur eine winzige Bewegung. Oder einen ganz kleinen Laut. Oder so etwas wie eben. Such es dir aus. Aber tu irgendetwas, damit ich spüre, dass du bei mir bist. Weißt du, es ist das letzte Mal. Aber was rede ich. Natürlich weißt du das …

Du willst noch nicht – na gut. Nein, nicht gut. Schade. Aber du kannst es ja jederzeit nachholen.

Findest du, dass ich mich verändert habe? Schau her, ich trage die Haare nicht mehr so kurz wie damals. Ich lasse sie jetzt wachsen. Es steht mir besser, oder was meinst du? Ja, ein paar Kilo sind auch herunter. Ich mache jetzt viel Sport und ernähre mich gesund. Nicht, dass du schlecht gekocht hättest. Ich erzähle immer noch allen von deinen Gemüseaufläufen. Ich habe so lange nach einem guten Rezept gesucht, aber mit deinem kann es kein anderes aufnehmen. Natürlich hätte ich auch einmal anrufen und dich danach fragen können … Aber es war doch so schwer … Ich habe einfach keinen Anfang gefunden.

Es tut mir so leid, dass ich nicht mehr rechtzeitig gekommen bin. Dass wir nicht mehr miteinander reden können. Wir hätten so viel zu besprechen. Du könntest mir zum Beispiel verzeihen. Und ich könnte dir sagen, dass ich schon lange nicht mehr böse auf dich bin.

Es macht mir ehrlich gesagt eine Heidenangst, dich so zu sehen. So dünn, so durchsichtig. Ich will dich stark in Erinnerung behalten, so wie du es immer warst. Als kleines Mädchen dachte ich, du könntest nie krank werden. Umso schlimmer für mich, als es dann so weit war. Weißt du noch – die Lungenentzündung? Ich war sieben oder acht. Du warst noch einmal weggegangen, obwohl ein Gewitter aufzog. Was musstest du nur so dringend erledigen …? Ach, jetzt fällt es mir ein: Ich lag mit Fieber im Bett, und du hattest keine Zwiebeln für die Halswickel. Im ganzen Dorf waren keine aufzutreiben. Man hätte das Unwetter auch abwarten können, aber du musstest ja unbedingt gleich gehen. Den ganzen Weg zum Laden und wieder zurück. Natürlich hast du dich im Regen erkältet. Und anstatt die nassen Kleider zu wechseln und ein heißes Bad zu nehmen, hattest du nach deiner Rückkehr nichts Besseres zu tun, als mir meinen dummen Halswickel zu machen und Tee zu kochen, von dem du nicht einen Schluck selbst getrunken hast.

Und dann, mitten in der Nacht, wachte ich auf, weil das Husten aus deinem Zimmer nebenan gar nicht mehr aufhören wollte. Ich bekam große Angst und fing an zu weinen. Ich hatte schlimm geträumt, mein Hals tat sehr weh, und es war so dunkel im Zimmer. So dunkel. Du kamst sofort herüber und nahmst mich fest in den Arm. Deine glasigen Augen erschreckten mich fast noch mehr als der Fiebertraum und dein Husten … Ich hatte dich noch nie so gesehen. Du hast es gemerkt und mich an deinem breiten Busen hin und her gewiegt, damit ich mich beruhige.

Und als ich nicht aufhören wollte zu heulen, hast du mir eine Geschichte erzählt. Du hast erbärmlich gehustet dabei. Weißt du noch? Die Geschichte von der kleinen Sonnenblume, die ihr Feld und die anderen Sonnenblumen verlässt und sich auf den Weg macht zu der großen Sonnenblume am Himmel. Sie will endlich zu etwas nutze sein und die anderen Sonnenblumen wärmen. Sie sollen auch ihr zulächeln, nur ein einziges Mal. Wahrscheinlich hast du dir die Geschichte in dieser Nacht ausgedacht. Mir jedenfalls gefiel sie so gut, dass ich endlich zu weinen vergaß. Du hast mir die nassen Haare aus dem Gesicht gestrichen und gesagt: ‚Du bist auch so eine kleine Sonnenblume. Du bist mein kleines Sonnenblumenmädchen.’ Ich muss gleich darauf eingeschlafen sein, aber das habe ich mir gemerkt.

Am nächsten Morgen warst du dann selbst sehr krank. Wahrscheinlich hat es dich noch mehr überrascht als mich. Und während es mir von Stunde zu Stunde besser ging, bekamst du immer höheres Fieber, und der Arzt musste kommen. Er wollte dich in die Stadt ins Krankenhaus bringen, aber du hast nur den Kopf geschüttelt. ‚Was soll dann mit der Kleinen werden?’, hast du gesagt. Also kam eine Nachbarin und hat uns beide versorgt. Und ich stand verängstigt vor deiner Tür – hi-nein durfte ich nicht – und habe den lieben Gott gebeten, dich nicht mitzunehmen. Denn es musste doch schlimm um dich stehen, wenn du so krank warst, dass du mich nicht mehr sehen wolltest … Dass ich nicht zu dir durfte, weil ich mich hätte anstecken können, wusste ich nicht. Damals geriet meine kleine Welt zum ersten Mal aus den Fugen, und es dauerte eine ganze Weile, bis das halbwegs wieder repariert war.

Und jetzt sehe ich dich wieder so. So schwach und schon ganz weit weg. Wieder entziehst du dich mir, und wieder kann ich dich nicht erreichen. Nur ist es heute viel schlimmer. Es ist endgültig. Wir wissen es beide. Mich wundert es selbst, dass ich so ruhig hier sitze und darauf warte, dass mir das Herz bricht. Es ist, als würde ich durch Watte hindurch fühlen. Ich spüre mich gar nicht richtig. Vielleicht ist das auch die lange Reise. Wer weiß …

Wir haben nicht mehr viel Zeit miteinander, oder? Allmählich sollten wir wohl anfangen, uns zu verabschieden. Aber du musst mir helfen, Großmama. Denn ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll: dir Lebewohl sagen.

Ich hoffe so sehr, dass du nicht leidest. Die Schwester ist nett. Ich glaube, bei ihr bist du in guten Händen. Sie sagt, dass du keine Schmerzen hast. Ich vertraue ihr … Aber vielleicht willst du es dir ja noch einmal überlegen und mir trotzdem ein Zeichen geben, dass alles in Ordnung ist bei dir? Vorhin, als du mir ins Gesicht gepustet hast, hat es doch schon ganz gut geklappt. Versuch es nochmal. Bitte. Tu’s einfach für mich. Du kannst es doch …

Nicht? Gut, wie du willst. Meine liebe alte Großmama. Du kannst so stur und dickköpfig sein, dass man manchmal vor Wut platzen möchte! Man sollte meinen, dass sich das mit den Jahren legt. Die Gelassenheit des Alters, du weißt schon. Was man eben so sagt. Aber bei dir hat das Alter wohl nie gewirkt. Jetzt nicht und vor zwei Jahren schon gar nicht. Immer hast du nur das getan, was du für richtig gehalten hast. Auch wenn es ganz furchtbar falsch war. Deshalb bin ich ja damals gegangen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass du mir mein ganzes Leben aus der Hand nimmst. Das geht doch nicht. Leben muss doch ich es. Und selbst entscheiden, was zu entscheiden ist.

Weißt du, dass du für mich so etwas wie Sonne und Mond warst in meiner Kindheit? So strahlend wie alle Himmelslichter zusammen. Alle Leute kamen zu dir und wollten Rat. Sie bewunderten dich. Ich glaube, sie fürchteten sich auch ein bisschen vor dir. Trotzdem wollte ich immer so werden wie du. Doch ich war nur ein Glühwürmchen, das sich aufmacht, gegen den Mond anzuleuchten. Jedenfalls kam ich mir so vor. Wie ein ganz kleines Licht, nicht mehr als ein Fünkchen. Das ist kein schönes Gefühl, das kann ich dir sagen.

Du hast es nie verstanden, nicht wahr? Aber weißt du: Es wurde so eng neben dir. Du warst immer so groß, und ich blieb so klein. Es änderte sich nie, wie lange ich auch wartete. Die Jahre vergingen, und ich wurde erwachsen, aber neben dir sah ich immer noch wie ein kleines Mädchen aus. Stets hast du alle anderen überstrahlt. In deiner Nähe stand man im Schatten, ob man wollte oder nicht. Und ich wollte irgendwann nicht mehr. Als ich merkte, das wird nichts, bin ich eben gegangen. Weg von dir, weg aus dem Licht, das deine Gabe wirft. Ich musste herausfinden, ob ich selbst auch ein bisschen leuchte. Das funktioniert nur im Dunkeln, wenn keine Sonne und kein Mond und kein Stern am Himmel scheint … Und nun war ich zwei Jahre fort, und ich weiß eigentlich noch immer nicht richtig, ob ich schon eine Antwort auf meine Frage habe.

Es war schwerer, als ich dachte, mein Leben zu finden. So weit weg von dir. Plötzlich war ich mir gar nicht mehr sicher, dass ich das Richtige tat. Und dass du im Unrecht warst. Ich habe oft daran gedacht, in den nächsten Zug zu steigen und nach Hause zu fahren. Ich fühlte mich so fremd in der Stadt und in diesem neuen Leben, das noch gar nicht richtig meines war. Aber ich bin deine Enkelin, und von dir habe ich die Sturheit geerbt. Und so sagte ich zu mir: Wenn ich schon nicht aus Überzeugung bleibe, dann wenigstens aus Stolz. Schließlich habe ich laut genug getönt, dass ich es schaffen werde, also muss ich jetzt eben die Zähne zusammenbeißen. Darum bin ich nicht zurückgekommen. Um es dir zu beweisen. Auch wenn ich am Ende vielleicht herausfinden muss, dass mein Licht nicht so hell ist wie deines.

Es ist deine Gabe, die dich so leuchten lässt. Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich dich darum beneidet habe! Du hast fast nie über meine Mutter gesprochen, sie hätte dir sonst noch mehr gefehlt. Aber ich weiß, dass auch sie das zweite Gesicht hatte. Ich allein von uns dreien habe es nicht geerbt. Dafür kannst du nichts, ebenso wenig wie ich. Niemand kann etwas dafür. Es ist, wie es ist … Wir müssen alle mit dem auskommen, was wir sind, und das Beste daraus machen. Keiner kann einem anderen etwas aufzwingen. Und es hat auch keinen Sinn, sich das zu wünschen, was der andere hat oder kann …

Wir hatten beide so unsere Schwierigkeiten damit, stimmt’s? Ich jedenfalls habe es lange nicht begriffen. Vielleicht verstehe ich es ja auch erst jetzt richtig. Leider kann ich nun nicht mehr für dich tun, als hier zu sitzen und deine Hand zu halten.

Das ist sehr schade. Für uns beide so schade. Ich habe in den letzten beiden Jahren viel nachgedacht. Ich glaube, ich bin ein bisschen erwachsener geworden. Sei ehrlich: Du hörst das gern, habe ich nicht Recht? Und bin ich dir nicht ziemlich auf die Nerven gegangen? Du kannst es ruhig zugeben, ich bin nicht beleidigt. Heute sehe ich sowieso vieles anders als damals … Meinst du nicht auch, dass wir es noch einmal miteinander versuchen sollten? Kannst du nicht einfach beschließen, noch eine Weile zu bleiben? Du müsstest es nur wollen und dir ein bisschen Mühe geben. Großmama, du hast doch schon so vieles fertiggebracht!

Ja, ich weiß, du bist eine alte Frau, die es satt hat, und irgendwann wird es mal Zeit. Du hast in deinem Leben so viel gesehen, was du nicht sehen wolltest. Du hast diese Gabe, die du nicht haben wolltest – schließlich hat sie dir mehr Kummer als Glück gebracht. Du hast deine Familie, deinen Mann und deine einzige Tochter überlebt und deine Enkelin großgezogen. Das ist mehr, als so mancher tragen kann … Noch dazu, wenn man den Tod immer wieder voraussehen muss – den Tod all derer, die man liebt, jedes einzelne Mal …

Er muss ein alter Bekannter für dich sein: der, über den man nicht spricht. Der, der dieses Mal dich meint. Sieht er immer gleich aus, so wie bei den anderen? Oder jedes Mal anders? Die meisten haben Angst vor ihm. Ich auch. Nur du nicht, du hast ihm zu oft ins Auge geblickt, du kennst ihn zu gut. Außerdem hast du immer gesagt, dass du dich auf das Wiedersehen freust. Mit meiner Mutter. Mit deinem Mann. Mit allen anderen, die dir vorausgegangen sind. Wenn es noch immer so ist, dann bin ich erleichtert. Dann kann ich aufhören, mir Sorgen zu machen.

Ich passe trotzdem auf, hörst du? Ich bleibe bei dir, bis du drüben bist. Jetzt sitze eben ich mal an deinem Bett, es war schließlich oft genug anders herum. Immer warst du stark für mich, nie hast du aufgegeben. Auf dich war Verlass. Weißt du was? Du warst die beste Großmama der Welt. Ich habe es dir nur nie gesagt.“

„So, da bin ich wieder … Oder störe ich? Soll ich noch mal wiederkommen?“

„Nein, nein. Bleiben Sie. Ich bin gerade fertig. Es gab einiges zu erzählen.“

„Das kann ich mir denken … Helfen Sie mir mal? Wir müssen sie auf die Seite drehen, damit ich das Laken wechseln kann. Ja, genau so … Jetzt halten Sie sie an Schulter und Hüfte. Ja, so ist es richtig. Sehr gut. Und achten Sie auf ihren Kopf … Sagen Sie – wie heißen Sie eigentlich?“

„Lucy. Eigentlich Lucia. Aber so nennt mich niemand.“

„Lucy also. Ich bin Anna. Wissen Sie, wir haben womöglich eine lange Nacht vor uns, da finde ich, man sollte sich wenigstens vorstellen.“

„Klar. Ist mir auch lieber so.“

„So, gleich ist es vorüber, Großmama. Gleich haben Sie es geschafft. Noch einen Augenblick, dann lassen wir Sie wieder in Ruhe … Wenn Sie wollen, Lucy, dann plaudern wir ein wenig, sobald wir hier fertig sind. Ich bin schon ganz gespannt auf Ihre Geschichten. Wenn es Ihnen recht ist.“

„Es ist mir recht. Außerdem bin ich Ihnen ja noch eine Antwort schuldig.“

„Ach so, ja – was es mit diesem Luftzug auf sich hatte.“

„Genau.“

„Fürs Erste war es das, Großmama … Kommen Sie, Lucy, setzen wir uns. Möchten Sie einen Kaffee? Zum Wachbleiben?“

„Gern.“

„Milch und Zucker stehen dort drüben, bedienen Sie sich … Wie kommt es, dass Sie Ihre Großmutter so lange nicht gesehen haben? Ich meine – Sie scheinen sich doch sehr nahe zu stehen.“

„Ja, das stimmt schon. Aber dann kam dieser schlimme Streit vor zwei Jahren. Keine von uns wollte nachgeben. Und da bin ich eben gegangen. Ich habe meine Koffer gepackt und bin in die Stadt gezogen. Seither habe ich meine Großmutter nicht wiedergesehen.“

„Verstehe … Na ja – nicht ganz. Was war denn der Grund für Ihren Streit? Ich meine: Was hat Sie und Ihre Großmutter nur so gegeneinander aufgebracht, dass Sie fort von ihr mussten? Nach so langer Zeit?“

„Das ist ja der Punkt, mit dem ich mich schwer tue. Wir sind eine – sagen wir – besondere Familie. Es ist wirklich nicht leicht, das jemandem zu erklären, der sich in diesen Dingen nicht auskennt. Ich würde es ja selbst nicht glauben, wenn ich nicht zufällig damit groß geworden wäre.“

„Versuchen Sie’s einfach. Was ist denn so schwer zu erklären?“

„Das kann ich Ihnen sagen. Es wird nur etwas länger dauern.“

„Macht nichts. Ich habe heute nichts mehr vor. Ich werde hier sitzen, zuhören – das kann ich zufällig besonders gut – und keinen Mucks mehr von mir geben.“

„Na gut. Selbst schuld.“

„Gern. Wenn Sie nur endlich anfangen, bevor mein Kaffee kalt wird.“

„Sie haben Recht. Wozu soll ich lange um den heißen Brei herumreden. Entweder Sie glauben es oder eben nicht … Sie müssen nämlich wissen: Großmama hat das zweite Gesicht.“

Die Gabe. Diese unselige Gabe. Wie sehr habe ich sie manchmal verflucht und darum gebeten, dass es aufhören möge. Dass die Bilder, die mich heimsuchen, endlich verblassen und nicht mehr brennen in mir. Ich habe mir nie gewünscht, all das zu sehen in die Zukunft zu sehen. Es ist keine Gnade. Es ist eine Last.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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