Der Zahlenprophet - Elsa Schöner - E-Book

Der Zahlenprophet E-Book

Elsa Schöner

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Beschreibung

Eine Liebe in Zeiten des Weltuntergangs 1490: Der Fischerjunge Adrian brennt darauf, mit Hilfe seiner mathematischen Begabung dem Elend zu entkommen. In Nürnberg endlich wird er als Lehrling in der Rechenschule des Meisters Crantz angenommen. Alles wäre gut, hätte nicht Crantz soeben das Buchstabenrechnen entdeckt. Während Adrian sich zum ersten Mal in seinem Leben verliebt, geht aus den Berechnungen des Meisters hervor, dass die Apokalypse nah ist ... sehr nah ...

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Seitenzahl: 565

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Elsa Schöner

Über Elsa Schöner

Elsa Schöner, geboren 1961 am Niederrhein, ist Ärztin. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in der Nähe von Tübingen.

Über dieses Buch

EINE LIEBE IN ZEITEN DES WELTUNTERGANGS

 

Inhaltsübersicht

für Mathias, Sebastian ...1539Kapitel 1 1517–15211. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelKapitel 2 15211. KapitelKapitel 3 15211. Kapitel2. Kapitel3. KapitelKapitel 4 1521/221. Kapitel2. KapitelKapitel 5 1522–15231. Kapitel3. Kapitel4. KapitelKapitel 6 15231. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelKapitel 7 15241. Kapitel2. KapitelKapitel 8 15241. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel

für Mathias, Sebastian und Julian mit euch ist das Leben einfach schöner

1539

Ungeduldiges Klopfen riss den Jungen aus seinem Halbschlaf. Er erhob sich langsam vom Küchentisch, wo er über einer Schale mit kaltem Haferbrei eingenickt war, rieb sich mit der Hand über das Gesicht und huschte in die Diele hinaus. Oben war alles ruhig; auch das laute Poltern an der Tür hatte Veronika nicht aus ihrem fiebrigen Schlaf zurückholen können. Schuldbewusst sah der Junge die Stiege hoch. Wie hatte er nur einschlafen können, anstatt zu seiner Krankenwache zurückzukehren! Gleich, gleich würde er wieder zu ihr hochgehen, sich an ihr Bett setzen und ihre heiße Hand halten, ihr vertrautes Gesicht betrachten, hinter dessen unruhig zuckenden Lidern sie sich weiter und weiter von ihm entfernte … Es klopfte erneut, noch heftiger jetzt.

«He! Niemand zu Hause?» Der Junge wandte sich zum Eingang und öffnete die Klappluke. Ein Mann stand vor der Tür im Regen, das Gesicht von einer Kapuze beschattet, sodass man ihn nicht erkennen konnte.

«Was wollt Ihr? Es ist schon spät, und wir erwarten keinen Besuch.»

«Ich will zu Magister Crantz – ist er zu Hause?» Der Junge nässte die Lippen und schluckte.

«Ihr – habt Ihr es nicht gehört? Der Magister ist gestorben, vor drei Tagen schon. Gestern haben wir ihn beerdigt, auf dem Johanniskirchhof» Der Mann draußen machte eine ruckartige Bewegung.

«Tot, sagst du?»

«Ja. Es war – es war ein Fieber, es hat ihn in wenigen Tagen umgebracht …» Mühsam unterdrückte der Junge ein Schluchzen.

«Dann benachrichtige die Meisterin, dass ich hier bin. Mein Name ist Adrian Piscator, Doktor Adrianus Piscator. Vor eine Woche hat der Magister mir eine Nachricht geschickt und mich hergebeten.» Der Mann hatte sich wieder gefasst und sprach jetzt ruhig und bestimmt.

«Du bist der Lehrjunge hier, nicht wahr?» Der Junge nickte. Er mochte vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre zählen; ein erster flaumiger dunkler Schatten lag schon auf seiner Oberlippe, die doch zitterte wie bei einem Kind.

«Die Meisterin ist nicht da», flüsterte er. «Sie ist nach Frankfurt gereist, zur Frühjahrsmesse … sie will dort das Rechenbuch verkaufen, das der Meister verfasst hat … sie weiß noch nicht … ich habe ihr geschrieben …» Seine Stimme überschlug sich, seine Augen schimmerten feucht.

«Und jetzt bist du ganz allein?» Der Junge schüttelte den Kopf.

«Veronika und ich … sie ist die Tochter. Aber sie ist jetzt auch krank, seit gestern Abend … es ist wie bei dem alten Crantz …» Piscator beugte sich vor.

«Hör zu, Junge … ich kann vielleicht etwas für sie tun. Lass mich herein», sagte er beschwörend. Misstrauisch starrte der Junge in das Dunkel vor der Tür.

«Seid Ihr ein Arzt, Herr?» Der Fremde lachte freudlos auf.

«Haben die Ärzte Crantz denn geholfen? Also. Ich bin ein Mathematicus, ein alter Freund des Magisters … ein ehemaliger Schüler. Crantz hat mich gebeten zu kommen, als er krank wurde. Er wusste, dass ich auf meinen Reisen viel gelernt habe, mehr vielleicht als der Stadtmedicus und alle seine gelehrten Kollegen zusammen. Mach auf» Immer noch zögernd griff der Junge nach dem Riegel und schob ihn mit zitternden Händen zur Seite. Die Tür schwang auf; Piscator trat ein, stellte sorgfältig seine große Ledertasche auf dem Boden ab und schlug seine Kapuze zurück.

Der Junge musste einen unwillkürlichen Ausruf des Schreckens unterdrücken, als er das Gesicht erblickte: ein Gesicht, das er nie wieder vergessen würde. Der Doktor war von abstoßender Hässlichkeit. Zwar fiel ihm das graubraune Haar immer noch voll und lockig bis auf die Schultern, doch seine Züge wurden von dickwulstigen, fleischigen Narben entstellt, zwischen denen sich rot und glänzend die Haut spannte wie dünnes Pergament. Von den Augenbrauen war ihm noch ein Rest geblieben, aber seine braunen Augen blickten wimpernlos wie die eines Reptils zwischen schwarzen Einsprengseln hervor, mit denen sein Gesicht übersät war, als hätte ein besonders widerwärtiges Ungeziefer sich in seiner Haut festgebissen. Es war ein Gesicht, bei dessen Anblick die alten Weiber sich bekreuzigen und die jungen die Hand nach ihren Kindern ausstrecken würden. Der Junge wich zurück, als stünde er dem Gottseibeiuns persönlich gegenüber. Piscator hielt den Blicken stand, ohne die Miene zu verziehen, hängte seinen Mantel auf einen Haken und knetete seine Hände.

«2260 Schritte vom Spittlertor bis hierher waren es immer», bemerkte er. «Heute habe ich an die 2500 gebraucht. Aber mein Schritt ist auch nicht mehr der eines jungen Mannes.» Er kniff die Augen zusammen und sah dem Jungen scharf ins Gesicht.

«Und, wie heißt du?»

«Ich bin Daniel Amberger, Herr. Seit drei Jahren Lehrling bei Magister Crantz.» Die Erinnerung an seine Position flößte dem Jungen wieder etwas Mut ein; er straffte die Schultern.

«Ihr seid nicht zum ersten Mal hier in Nürnberg?»

«Nein, bei Gott nicht. Vor Jahren habe ich hier gelebt.» Dann, ohne weitere Erklärung, griff Piscator nach seiner Tasche und wandte sich zur Stiege.

«Das kranke Mädchen ist dort oben?»

«Ja, aber ich – ich weiß nicht, ob es der Meisterin recht wäre –» Jetzt, wo er den Doktor von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, schien es dem Jungen geradezu ausgeschlossen, dass dieser Mann Veronika gesund machen würde, im Gegenteil – aber bevor er Piscator in den Weg springen, ja ihn auch nur am Zipfel seiner Jacke zurückhalten konnte, kletterte der missgestaltete Fremde bereits die Stiege hinauf zur Schlafkammer. Der Junge beeilte sich, ihm zu folgen.

Augenblicke später standen sie in der dunklen Kammer; die Läden waren zugeklappt, und nur auf einer Truhe brannte ein kleines Öllicht. In dem großen Bett an der Wand wirkte das kranke Mädchen zerbrechlich und verloren. Sie schlief einen unruhigen Schlaf; das kastanienbraune Haar hing wirr und verschwitzt um ihr gerötetes Gesicht, das zerwühlte Federbett war halb auf den Boden gerutscht.

«Veronika», flüsterte der Junge atemlos und versuchte unbeholfen, die Decke wieder festzuziehen.

«Lass.» Erstaunlich behutsam, aber entschieden schob Piscator den Jungen zur Seite. Er legte Veronika erst die Hand auf die Stirn, dann tastete er nach dem Puls an ihrem Handgelenk und zählte leise und konzentriert mit. Schließlich beugte er sich über sie und lauschte an ihrem Brustkorb dem mühsamen Geräusch ihres Atems.

«Es scheint das Fieber zu sein, das auch im Ansbachischen grassiert … ich habe auf dem Weg hierher viele gesehen, die es niedergeworfen hat.» Unmöglich, den Ausdruck dieses Gesichts zu lesen.

«Dann – dann gibt es keine Hoffnung mehr?»

«Das habe ich nicht gesagt. Ich werde tun, was ich kann. Hol mir einen Eimer kaltes Wasser aus der Küche und ein paar Tücher und setz unten den Kessel auf.»

Als der Junge kurze Zeit später mit dem Gewünschten zurückkehrte, hatte Piscator mehrere kleine leinene Säckchen aus seiner Tasche geholt und vor sich aufgebaut.

«Salbei, Lindenblüten und Weidenrinde», erklärte er. «Dazu noch die getrockneten Blätter eines indischen Strauches, dessen Heilkraft bei uns viel zu wenig bekannt ist … Wir werden einen Aufguss daraus zubereiten. Das wird das Fieber senken und sie zur Ruhe kommen lassen.» Seine Stimme klang so selbstsicher, sein ganzes Gebaren war so zuversichtlich und überzeugt, dass der Junge sich ein wenig beruhigte, während Piscator die herbeigeschafften Tücher in kaltes Wasser eintauchte und auswrang. Er schlug die Decke zurück; der glühende Leib vor ihm war nicht mehr Kind und doch noch nicht Frau, mit zart vorgewölbten Brüsten und rundlichen Hüften. Sanft tupfte er mit den Tüchern über die ausgetrocknete Haut, während der junge Lehrling nicht mehr wusste, wohin mit seinen Augen.

«Du willst etwas für sie tun, oder nicht? Dann vergiss, was du gerade gedacht hast, und schau zu, was ich mache.» Der Doktor faltete die Tücher zu kleinen Paketen, die er auf Veronikas Leisten legte und ihr unter die Achseln schob, dann warf er das Federbett auf den Boden und deckte sie nur mit einem dünnen Laken zu. Er warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu.

«Achte darauf, dass die Tücher ausreichend kühl sind. Du musst sie immer wieder in frisches Wasser tauchen. Ich gehe jetzt hinunter und bereite den Aufguss zu.» Er nickte Daniel einmal zu und verschwand durch die Kammertür; der Junge starrte ihm nach wie einer Erscheinung.

Wenig später kehrte Piscator zurück, in den Händen ein Tablett mit zwei dampfenden Krügen, Tassen und Löffeln. Er goss ein wenig aus dem einen Krug in ein Schälchen, tunkte dann einen Lappen hinein und strich damit sanft über Veronikas Lippen.

«Sobald sie wach wird, sollte sie davon trinken. Und du selbst» – hierbei nahm er eine Tasse und goss sie aus dem anderen Krug voll – «trinkst dies hier: Johanniskraut und Baldrian. Es wird dich beruhigen.» Folgsam, fast wie im Bann eines übermächtigen Zaubers, nahm der Junge die Tasse entgegen und leerte sie in einem Zug; wohltuende Wärme kroch durch seine Glieder und machte sie müde und schwer.

«Wie alt, sagst du, ist das Mädchen?»

«Vierzehn. Sie ist vierzehn Jahre alt.» Die Zunge wollte dem Jungen nicht mehr gehorchen.

«Wir werden abwechselnd wachen», erklärte Piscator, zog sich einen Hocker heran und setzte sich ans Krankenbett. «Leg dich jetzt auf das Federbett und versuche zu schlafen.» Ohne ein weiteres Wort streckte der Junge sich auf dem Boden aus, zu Füßen von Veronika, und schloss die Augen.

Eingehend betrachtete der Doktor das kranke Mädchen. Es waren nicht nur die wohl vertrauten Züge der Meisterin, die sich im Gesicht Veronikas spiegelten. Sie erinnerte ihn noch an jemand anderes, eine junge Frau vielleicht, mit der er eine Nacht verbracht, ein Mädchen, dem er die Zukunft aus der Hand gelesen hatte, bevor sie irgendwo in den Verstecken der Vergangenheit verschwunden war. Wer konnte es nur sein? Der Name wollte ihm nicht einfallen.

«Vierzehn», murmelte er vor sich hin, «vierzehn Jahre. Die Zahl der Notheiligen und des wachsenden Mondes …» Vierzehn Jahre, und die Jugend ging zu Ende. Vorbei die Zeit, in der man vertrauensvoll nach der freundlichen Hand griff, die einen lenken wollte. Von nun an wollte man allein gehen, begierig darauf, den eigenen Weg zu finden, und sollte er auch mit jedem Schritt weiter in die Irre führen. Begierig darauf, die Fehler zu machen, die dem Leben seine unabänderliche Richtung geben würden. Wer hätte das besser wissen können als er selbst, Adrianus Piscator, Doktor der mathematischen Fakultät zu Wien?

Kapitel 1 1517–1521

1

Es war die Nacht zum 30. Juni im Jahre des Herrn 1517, und das Fischerdorf lag in tiefem Schlaf. Am Tag zuvor hatte man das Namensfest des Patronatsheiligen Petrus gefeiert. Wie jedes Jahr hatten die unverheirateten Männer sein blumengeschmücktes Bildnis durch den Ort getragen, gefolgt von den Jungfrauen in ihrem besten Feiertagsstaat und mit Kerzen in den Händen. Der Pfarrer hatte die Gemeinde mit dem Weihwasser der Neujahrsnacht gesegnet, und später war ein ganzer Hammel am Spieß gebraten worden, mitten auf dem Dorfplatz. Es war gekegelt und gerauft worden, und beim Tanz am späteren Abend hatte das eine oder andere Paar sich in die Dunkelheit davongeschlichen wie in jedem Jahr. Wer schließlich nicht mehr laufen konnte – und das waren viele –, war einfach liegen geblieben, wo er irgendwann umgesunken war.

Adrian hatte Mühe, sich wach zu halten. Dieser Tag des Wartens hatte ihn all seine Kraft gekostet; eine bleierne Müdigkeit lähmte seine Glieder, und die stickige Luft der Schlafkammer lastete auf seiner Brust wie der schleimige Nöck, der sich nachts in die Hütten der Fischer schleicht und den kleinen Kindern den Atem abpresst. Als die Schlafgeräusche aus der Stube nebenan endlich ruhiger und gleichmäßiger wurden, musste er sich zwingen aufzustehen. Die Hand seines älteren Bruders, der mit ihm die Schlafstelle teilte, lag schwer auf seiner Schulter; vorsichtig schob er sie zur Seite und wälzte sich von seinem Strohsack. Er griff nach seinen Kleidern und Schuhen, tastete sich durch die Kammer in die Wohnstube. Es war stockdunkel hier; vom großen Bett kam das Schnarchen des Vaters, das ruhige Schnaufen der Mutter. Er hielt die Luft an. Mit schweißfeuchten Händen, das Kleiderbündel unter dem Arm, stand er vor dem Wandbord, da, wo die Eltern in dem alten gesprungenen Milchtopf das wenige verwahrten, was sie zur Seite legen konnten. Seine Hand zitterte, als er sie endlich danach ausstreckte. Seine Finger tasteten sich voran. Da war der Rand des Bordes, die kühle Rundung des Tongefäßes. Von draußen warnte ihn der Ruf des Käuzchens: Es war die Stunde des Wassergeistes. Tauch die Hand ins geweihte Wasser und zieh den Schutzkreis, wie es die Fischer tun vor jeder Ausfahrt! Für einen Augenblick zögerte er, aber dann griff er nach dem Henkel und hob den Topf zu sich herunter. Er war kein Fischer mehr.

Drei kleine Münzen ertastete er auf dem Grund des Gefäßes und holte sie heraus – drei Münzen, wo er dreißig gebraucht hätte. Er duckte sich zur Tür, stieß sie behutsam auf und trat ins Freie. Im Schein des Mondes sah seine Haut fahl und krank aus. Fröstelnd machte er seine Hosen fest, schob das Geld in seine Tasche und zog den Reisesack mit Kleidern, Proviant und seiner Flöte aus seinem Versteck hinter dem Brennholzstapel. Er hängte sich den Sack um, machte ein paar Schritte und lauschte. Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille, als befände er sich unermesslich tief unter Wasser. Kein Ast raschelte im Wind, kein Fensterladen klapperte, kein Hahn krähte seinen Verrat heraus. Selbst das Klopfen des Herzens schien unterbrochen zu sein. Nur das Mondlicht funkelte böse, während hinter dem Deich der Rhein gurgelte und die Wassernixen ihre Zaubernetze knüpften. Wen sie einmal eingefangen hatten, der erstarrte zu Stein und sank mit ihnen auf den Grund, um nie mehr ans Tageslicht zurückzukehren, nie wieder … Adrian gab sich einen Ruck und riss sich los. Es gab keine Nixen. Es gab nur die endlose Ödnis des täglichen Einerleis und die lockende unbekannte Ferne.

Aber er brauchte mehr Geld. Nur einen einzigen Ort kannte er in der Gemeinde, wo er wahrscheinlich genug finden würde, und er würde es nehmen. So leise er konnte, hastete er den kleinen Sandweg entlang. Der Wind strich heiser durch das struppige Gras, und die Weiden hoch am Ufer flüsterten missbilligend miteinander. Da waren die dunklen Mauern der Kirche. Mit angehaltenem Atem trat er in ihren Schatten und schlich weiter. Das kleine Pfarrhaus schwieg; dort schlief ahnungslos der Pfarrer in dem Verschlag hinter der Wohnstube. Als Kinder hatten sie ihm einmal einen ganzen Korb voller lebender Aale ins Bett geschüttet, glänzend sich windende schleimige Körper wie die abgetrennten Glieder eines vielarmigen Ungeheuers …

Wenige Schritte nur noch bis zu der eichenen Tür mit dem schmucklosen Schloss, das nie benutzt wurde. Mit klammen Fingern griff Adrian nach der Klinke. Seine Hände zitterten; kaum konnte er den Griff herunterdrücken, und das Quietschen des rostigen Metalls fuhr ihm durch Mark und Bein. Mit leisem Knarren gab die Tür nach. Adrian schob sich in den Kirchenraum hinein. Hier war es so dunkel, als hätte die Nacht selbst ihre Augen geschlossen, aber er wusste ja, irgendwo vorne musste das ewige Licht brennen. In dieser Dunkelheit würde niemand ihn sehen, keiner der ernsten Heiligen, die in ihren hölzernen Rahmen an den Wänden hingen und dort auf die Ewigkeit warteten: nicht der pausbäckige heilige Nepomuk, dem ein wandernder Maler vor Jahren die Züge von Adrians ältestem Bruder gegeben hatte; nicht der heilige Christophorus, ein streng aussehender Fischer, der ein mageres Kind über einen reißenden Strom trug. Als kleiner Junge hatte Adrian immer geglaubt, der Alte würde das Kind von zu Hause wegholen, um es im Fluss zu ertränken. Er schauderte; er hätte laut schreien mögen. Langsam tastete er sich mit den Händen in der Dunkelheit voran, bis er die Seitenwand des Chorraumes fühlte und endlich den Kasten gefunden hatte: Er stand direkt neben der Tür zur Sakristei. Er packte den Opferstock und flüchtete nach draußen.

Der Opferstock war nur eine einfache hölzerne Kiste mit einem kleinen Schloss. Adrian nahm sein Messer und schob es in den Schlitz unter dem Deckel. Nur wenige Versuche, dann hatte er die Kiste aufgehebelt. Seltsam, wie leicht das ging, so furchtbar leicht. Ein paar Geldstücke rollten durch seine Finger und klirrten leise auf den gepflasterten Boden vor der Kirchenpforte. Als er sich danach bückte, schoss eine plötzliche Übelkeit in ihm hoch, und er warf den aufgebrochenen Kasten auf die Erde. In dem Augenblick öffnete sich mit einem lauten Knarren die Tür des Pfarrhauses, und der Pfarrer trat heraus, in einer Hand eine funzlige Laterne, in der anderen eine Mistgabel. Er kniff die Augen zusammen und machte zögernd ein paar Schritte nach vorne.

«He, wer da? Komm her, ich weiß, dass du da bist!»

Adrian stand wie eingefroren, während das Mondlicht sich hinter den Wolken vorschob und dem Pfarrer seinen Schatten direkt vor die Füße warf. Der Alte hob die Laterne. Als ob der Mond nicht hell genug wäre! Im nächsten Augenblick erkannte er den Jungen und verzog ungläubig das Gesicht. Adrian fuhr der Teufel in die Glieder. Er sprang auf den Alten zu und stieß ihn vor die Brust, und der Pfarrer ging stöhnend zu Boden. Er ist ja nicht mehr als ein Männchen, ein kraftloser Greis! Woher kommt ihm nur diese Stimme, die einem im Nacken sitzt und beißt, während man schon läuft, die man nie wieder vergessen wird, mach, dass du wegkommst, du gottvergessener Bube, lass dich nie wieder hier blicken, verflucht sollst du sein …

Erst als die dunkle Silhouette der beiden Türme im Mondlicht nicht mehr zu sehen war, erst als der Wald ihn umschloss wie eine riesenhafte Hand, blieb er stehen. Die Luft pfiff durch seine Kehle, sein Herz raste. Nur seine Beine hatten keine Kraft mehr. Das Entsetzen hielt ihn gepackt. Er hörte den Nöck lachen in seinem Rücken und spürte die eisige Kälte seines Atems. Du hast den Pfarrer niedergeschlagen, du Tor! Hast den Opferstock der Kirche bestohlen. Gott selbst hast du bestohlen! Von nun an gehörst du nicht mehr dazu. Du bist allein. Du bist verloren!

Wie im Traum ging er schließlich weiter. Altes Laub knisterte unter seinen Füßen, Zweige streiften sein Haar, Dornen rissen an seinen Kleidern. Schließlich erreichte er den Waldrand und sah das Städtchen vor sich liegen, wo sie auf ihn warteten. Adrian kauerte sich zwischen den Wurzeln einer Eiche zusammen und zog den Umhang eng um die Schultern. Es lag schon Feuchtigkeit auf dem Gras, und der kühle Tau drang durch seine Hosen. Er legte den Kopf auf die Knie. Hier würde er warten bis Sonnenaufgang.

 

Der Hagere erwartete ihn vor der kleinen Schänke, wo sie sich vorgestern am Markttag kennen gelernt hatten. Er stand gähnend gegen eine Hauswand gelehnt und stocherte mit einem kleinen Hölzchen zwischen seinen Zähnen herum; ein pockennarbiger Bursche, dessen strähniges dunkles Haar ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh. Seine Augenlider schienen so schwer zu sein, dass er sie kaum über die Pupillen hinaus zu heben vermochte. Adrian konnte den Ausdruck darin nicht erkennen, sosehr er sich auch mühte.

«Hast du Geld?»

«Ich – ja. Hier.» Adrian griff in seine Tasche, holte die Münzen heraus und legte sie gehorsam in die vor ihm ausgestreckte Hand mit den ungewöhnlich langen, geschmeidigen Fingern, an denen ein Ring blitzte mit einem roten Stein daran. Er war sicher, den Ring vorgestern noch nicht gesehen zu haben, als er den fahrenden Schüler zum ersten Mal angesprochen hatte. Der Bacchant bemerkte sein erstauntes Zögern. Er lächelte selbstgefällig und hielt den Ring hoch.

«Hübsch, was? Hab ich gestern gewonnen. Wer zu blöd dazu ist, sollte eben nicht spielen. Erst recht nicht mit dem alten Oswald. Wie viel ist es?»

«Acht Schilling, vier Pfennig, ein Heller.»

«Du weißt es immer ganz genau, was? Stimmt so.» Oswald lächelte ölig und ließ die Münzen in seinem Umhang verschwinden.

«Komm mit. Clemens wartet schon auf uns.» Er gab Adrian einen Wink und betrat den Schankraum. An einem Holztisch hinten an der Wand saß ein stämmiger Blonder vor einem Krug Bier und einem Teller Grütze.

«He, Clemens!» Der Blonde sah hoch und spuckte auf den Boden, als er sie sah.

«Na, Alter, was für ’ne Laus hast du dir da in den Pelz gesetzt?» Er lachte albern und wies auf die Bank gegenüber. «Los, setzt euch hin. Bier für alle!» Oswald ließ sich geschmeidig nieder, während Adrian unruhig auf der Kante hin und her rutschte. Der dicke Clemens schaufelte sich die restliche Grütze in den Mund, rülpste und schob den Teller von sich.

«Und? Was willst du mit dem Burschen?» Oswald lehnte sich lässig zurück.

«Will auch ein fahrender Schüler werden, unser Freund hier. Dem hängen die Fische zum Hals raus.» Clemens musterte den Jungen herablassend vom Scheitel bis zur Sohle.

«Der? So ein kleiner Furzknoten? Wie alt bist du überhaupt?»

«Ich bin fast vierzehn.» Adrian straffte sich und bemühte sich, seiner Stimme einen vollen Klang zu geben.

«Sooo … vierzehn schon. Das ist zu alt für einen Schützen.»

«Nein, bitte! Eigentlich erst dreizehn. Ich …»

«Kannst du keinen Spaß verstehen? Musst schon selbst wissen, ob du alt genug bist, mit uns mitzukommen. Aber eins sag ich dir: Das ist kein Honiglecken, immer auf der Straße, nie zu Hause. Erst recht nicht als kleiner Schütze. Ich hab’s dir gesagt.» Lauernd blickte Clemens Adrian in die Augen.

«Ich weiß. Aber ich bin nicht empfindlich, glaub mir. Ich kann arbeiten wie ein Mann, und ich brauch nicht viel zu essen …»

«Wirst du auch nicht kriegen, mach dir da mal keine Sorgen.» Bei jedem Wort ging ein säuerlicher Bierdunst von Clemens aus. «Aber du willst ja sowieso ein Bücherfresser werden. Die Welt braucht Gelehrte wie uns. Kannst du singen?» Adrian nickte schnell.

«Der Pfarrer zu Hause hat gemeint, ich singe wie ein Engel.»

«Hat er das? Wie schön. Und wie steht’s mit richtigen Liedern, mein kleiner Engel? Oder kennst du nur den Pfaffenkram?» Adrian spürte, wie er errötete.

«Ich kann’s sicher lernen, wenn ihr mir was Neues beibringt.»

«Aber sicher doch. Immer schön lernen. Gibt’s denn auch irgendetwas, was du schon kannst?»

«Ich kann gut rechnen.»

«Was du nicht sagst!» Oswald legte den Kopf zurück und musterte Adrian. «Wolln mal sehen … Ich bin 23 Jahre alt, Freund Clemens hier 21. Wie viel sind das zusammen?»

«44», sagte Adrian.

«Und wenn man sie miteinander multipliziert?»

«483.»

«Du lügst!» Clemens schlug mit der Faust auf den Tisch. «Kein Mensch kann so schnell rechnen.»

«Doch. Man muss nur wissen, wie groß das Quadrat von 22 ist, und dann eins davon wegnehmen.» Oswalds Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck angenommen.

«Nicht schlecht. Jetzt multiplizier doch das Ganze noch einmal mit – sagen wir 17. Na?»

«8211.» Das alles war einfach, so lächerlich einfach, wenn man gezählt hatte, so lange, wie die Erinnerung zurückreichte: die Sprossen einer Leiter, die Schar der wilden Gänse, die im Herbst wie ein Pfeil über den Himmel strichen, die duftenden Blütenblätter der Junikamille. Wenn man schon als kleiner Junge begonnen hatte zu zählen, sobald man den Regen gegen die Holzläden trommeln hörte. Er hatte die Wellen gezählt, die mit leisem Schmatzen ans Ufer des großen Flusses schlugen, den Schlag seines Herzens und die wiegenden Schritte der Mutter, die ihn in einem groben Tuch auf dem Rücken trug. Er wusste, dass jede Zahl eine besondere Farbe hatte, einen Klang und einen Duft. Man konnte sie multiplizieren, während man auf den Knien in der Dorfkirche herumrutschte und die unverständliche Predigt über einen hinwegbrauste, man konnte ihre Wurzeln ziehen während der unendlichen Nachtstunden in ihrem Boot auf dem Rhein …

«Wirklich erstaunlich.» Oswald leerte seinen Krug in einem Zug, und Adrian schreckte auf.

«Vielleicht bist du doch nicht so dumm, wie du aussiehst. Vielleicht kann man dich zu irgendetwas brauchen.» Er flüsterte seinem Kumpanen etwas ins Ohr; Clemens lachte verschlagen.

«Du weißt ja, was die Aufgabe des Schützen ist? Hat Meister Oswald dir das schon erklärt?» Oswald schüttelte grinsend den Kopf. Clemens zog den Bierkrug zu sich herüber, nahm einen kräftigen Schluck und hob belehrend den Zeigefinger.

«Dann macht das jetzt der brave Clemens. Der Schütze versorgt die größeren Schüler, die Bacchanten, dass sie genug zum Fressen und zum Saufen haben. Wie er das macht, ist seine Sache. Die meisten singen um Geld, denn die Weiber in den Städten sind ganz närrisch auf so kleine Knirpse wie euch. Dafür passen die Bacchanten gut auf ihren Schützen auf und sorgen dafür, dass er was Ordentliches lernt.» Adrian nickte.

«Ich will Arithmetik und Algebra studieren.»

«Schau einfach zu, was ich mit den Würfeln mache, da lernst du mehr Arithmetik als in hundert Jahren an der Universität.» Oswald fischte nachlässig eine Laus aus seinen Haaren und knackte sie zwischen seinen Fingern. «Hast du Geld?»

«Ich – nein – nur das, was ich dir schon eben gegeben habe.»

«Und wie willst du dann das Bier bezahlen?» Die beiden Schüler brachen in ein röhrendes Gelächter aus. «Wir legen es für dich aus, aber du musst uns ein Pfand geben. Wie wär’s mit deinen Schuhen?» Adrian biss sich auf die Lippen. Er konnte nicht mehr zurück; sie mussten ihn mitnehmen.

«Ich habe euch schon das Geld gegeben, wie es verabredet war», sagte er fest. «Das ist mehr als genug.» Oswald ließ für eine Sekunde seine schweren Lider hochzucken, sodass Adrian die Überraschung auf seinem Gesicht lesen konnte, Überraschung und noch etwas anderes, Gefährlicheres, für das er keinen Namen fand. Der hagere Scholar warf seinem Freund einen unergründlichen Blick zu, lehnte sich plötzlich zurück und entspannte seine Züge.

«Ist schon gut, du kannst mitkommen. Wissen eigentlich deine Leute, dass du hier bei uns bist?» Adrian schüttelte den Kopf und blickte seinem Gegenüber fest ins Gesicht.

«Dann bist du also einfach abgehauen? Sehr klug von dir! In dieser Scheißgegend holt man sich nur nasse Füße und sonst nix. Ist mir ein Rätsel, wie es jemand hier länger aushalten kann. Also, dann wollen wir mal. Sollten ein ordentliches Stück hinter uns bringen heute. Sicher suchen sie dich schon.» Clemens kippte den Rest Bier hinunter und warf ein paar Münzen auf den Tisch. Er lud sich seinen Sack auf die Schulter und winkte Adrian mitzukommen. Oswald war schon hinausgetänzelt.

2

Adrian richtete seine volle Konzentration auf die drei Lederbecher mit dem beinernen Würfel darunter. Linke Hand auf den rechten Becher. Mit rechts darüber greifen, verschieben. Rechts greift darüber zum linken Becher, links bleibt in der Mitte, verschieben, zurück, aufdecken, und schneller, dass die Augen der Zuschauer nicht mehr hinterherkommen. Befriedigt bemerkte Adrian die ungläubigen Gesichter. Er selbst hatte keinen Blick über für das Spiel; blind hätte er seine Becher gefunden. Die Hände mussten schneller sein als die Augen, sonst hatte man schon verloren, noch bevor der erste Spieleinsatz kam. Das war eine der ersten Fertigkeiten gewesen, die er bei den Bacchanten erworben hatte, damals, bevor sie aus dem Kölnischen rheinaufwärts gezogen waren, durch Württemberg und Schwaben und schließlich hierher nach Franken. Wochenlang hatte Oswald mit ihm geübt, Monate, hatte ihm zuletzt sogar die Augen verbunden, bis er endlich zufrieden gewesen war.

«Du bist schnell genug», hatte er gemurmelt. «Endlich. Nicht schnell genug für mich, natürlich, aber schnell genug für die Tölpel auf dem Dorf. In der Stadt müssen wir vorsichtig sein damit, aber auf den Dörfern … Du musst sie verblüffen, musst ihre Aufmerksamkeit fesseln.» Und seitdem spielten sie in den Dörfern, wenn mit Singen nichts zu holen war. Gelegentlich ließ Adrian einen der Mitspieler gewinnen, um die anderen bei der Stange zu halten, aber auf den Spielgewinn kam es sowieso nicht an. Worauf es ankam, waren nur seine geschickten Finger und Oswalds Kaltblütigkeit – Oswald, der noch viel geschicktere Finger hatte als er.

Dieses Dorf hier war wie geschaffen für ihre Art von Geschäft: ein paar strohgedeckte Höfe, die sich in einer Talaue zusammendrängten, ein paar Obst- und Gemüsegärten, Getreidefelder und an den sanften Hängen ein paar Weinstöcke; nicht zu reich – denn die reichen Bauern waren Knauser – und nicht so arm, dass die Leute nichts gehabt hätten, was sie einsetzen konnten, und gerade weit genug entfernt von der nächsten Stadt, sodass jede Art von Kurzweil hochwillkommen und die Leute selbst gutgläubig und vertrauensselig waren. Kaum hatten die Scholaren ihre Decke ausgebreitet, da ließen die Mädchen ihre Bleichwäsche im Stich und die Burschen ihr Zugvieh, kamen neugierig heran, mit offenen Mündern und staunenden Augen. Es war ja so leicht, sie übers Ohr zu hauen, so furchtbar leicht. Einer der Bauern, ein massiger Kerl, hatte eine kleine Summe gesetzt; mit zusammengezogenen Brauen, die Arme vor der Brust verschränkt, stierte er gebannt auf Adrians Becher, während die anderen spöttische Bemerkungen machten.

«Na, Dicker, schon schwindlig?», grinste ein magerer Rothaariger, der beim Sprechen eine große Zahnlücke im Oberkiefer sehen ließ. «Viel Mist hinterm Haus ist eben nicht alles. Man muss auch hier oben was haben, stimmt’s?» Er tippte sich viel sagend an die Stirn, während die anderen lachten. «Außer Mist natürlich, mein ich.» Adrian sah kurz auf und wünschte sofort, sie hätten diese Stichelei gelassen. Das Gesicht des Bauern war hochrot angelaufen, seine Stirn glänzte von Schweiß; Adrian spürte förmlich, wie dem Mann langsam die Galle hochstieg. Es war wichtig, lebenswichtig, die Stimmungslage der Mitspieler richtig einzuschätzen, wenn man nicht plötzlich eine Faust im Gesicht haben wollte oder, schlimmer noch, ein Messer zwischen den Rippen. Adrians Hände wurden feucht. Höchste Zeit, das Spiel zu beenden. Vorsichtig schielte er zu Oswald herüber, aber der hagere Schüler schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Verdammt, wollte er wirklich abwarten, bis sie beide eine Tracht Prügel bezogen? Entschlossen machte Adrian noch ein paar letzte schnelle Bewegungen und zog dann seine Hände plötzlich zurück.

«Nun?» Wenn der Bauer nicht blind war und blöd noch dazu, musste er wissen, wo der Würfel lag. Der Dicke sah nicht so aus, als könnte er jetzt eine Niederlage verkraften. Adrian spannte seinen Körper an, bereit hochzuschnellen und wegzulaufen, falls es nötig wäre, während der Bauer einen langsamen Schritt auf ihn zumachte und mit der Hand schwerfällig auf einen der Becher deutete.

«Da. Der da ist’s. Da liegt der Würfel drunter.» Adrian hob den Becher hoch, und triumphierend sah der Spieler in die Runde.

«Na also, hab ich’s doch gewusst! Bin nicht so blöd wie mancher andere!» Er spuckte seinem jetzt verstummten Quälgeist herzlich vor die Füße. «Und jetzt raus mit meinem Gewinn, aber fix! Und dann gehen wir eins trinken!» Adrian warf dem Mann ein paar Münzen vor die Füße, packte die Becher zusammen in seinen Sack und stand auf. Auf der anderen Seite des staubigen Dorfplatzes war eine kleine Schänke, wohin sich die Gesellschaft jetzt wandte, und er sah ihnen bedauernd nach. Schade um das Geld. Ob die paar Kröten tatsächlich ausreichen würden, um sich zu betrinken? Es hätte jedenfalls gereicht, um Brot und Linsen für drei zu kaufen und dünnes Bier.

«Bist du wahnsinnig geworden? Nur auf mein Zeichen, hatte ich doch gesagt! Ich hatte gerade die Hand an einer verdammt kitzligen Stelle!» Oswald war inzwischen zu ihm herübergekommen und drückte ihm schmerzhaft die knochigen Finger in die Schulter. Die letzten Jahre hatten dem Scholaren zugesetzt; sein Gesicht war faltig und seine Gestalt womöglich noch hagerer geworden, und die Augenlider hingen schwerer als je zuvor herunter. Aber man durfte sich davon nicht täuschen lassen, das wusste Adrian; es gab fast nichts, was Oswalds spitzem Blick entging. Kein Kanten Brot konnte schnell genug heruntergeschlungen, kein Kupferpfennig geschickt genug versteckt werden, dass er ihn nicht gesehen hätte. Mehr als einmal hatten die Bacchanten ihn gezwungen, sich nach einem Bettelzug den Mund auszuspülen, um zu kontrollieren, ob er auch nicht heimlich etwas gegessen hätte.

«Das hätte böse ausgehen können. Und wenn du denen entwischt wärst: Ich hätte dich doch noch gekriegt!» Oswald sah sich unruhig um und schubste Adrian nach vorne. «Los, hauen wir ab, bevor die den Braten riechen!» Der Dorfplatz war jetzt friedlich und leer; keiner der Bauern schien schon bemerkt zu haben, dass Oswald sie um seinen Beutel erleichtert hatte, während er selbst gebannt auf Adrians wirbelnde Finger gestarrt hatte. Aber es konnte nicht mehr lange dauern. Oswald warf noch einen misstrauischen Blick über seine Schulter zurück, dann fiel er in leichten Trab, und Adrian folgte ihm.

Clemens wartete eine Viertelmeile entfernt vom Dorf auf einer kleinen Waldlichtung, wo sie auch gestern schon gemeinsam gerastet hatten. Es war dämmerig, und er hatte unter den hohen Buchen ein Feuer gemacht. Die beiden anderen konnten schon von weitem sehen, dass er nicht allein war. Neben dem Scholaren saß ein Fremder und stocherte mit einem Stock in den Flammen. Er war schon älter, mindestens vierzig Jahre, mit einem dunklen Gesicht, das gegerbt und ledrig aussah, und schwarzen, durchdringenden Augen. Er war sorgfältig rasiert und trug das Haar in schulterlangen Locken, die Adrian erst auf den zweiten Blick als Perücke erkannte. Seiner Kleidung nach musste es sich bei dem Fremden um einen Landsknecht handeln: Hose und Wams waren geschlitzt und ließen durch den blauen Oberstoff rotes und grünes Tuch hervorblitzen, und auf den Knien balancierte er eine kleine Samtkappe mit einer buschigen Feder daran. Landsknechte waren gefährlich; wenn sie nicht gerade für irgendeinen gut zahlenden Kriegsherrn ihre Haut zu Markte trugen, streunten sie oft schwer bewaffnet auf eigene Rechnung durch die Dörfer, stahlen, was nicht niet- und nagelfest war, steckten hier eine Scheune in Brand, legten da die Frauen auf den Rücken und schnitten einem Bauern, der sein Hab und Gut einfach nicht hergeben wollte, kurzerhand die Kehle durch. Adrian hatte nicht den Wunsch, unvorbereitet einem Landsknecht gegenüberzutreten. Mit unruhigen Augen suchte er die Lichtung nach Spieß und Schwert ab, den typischen Waffen der Söldner, aber er konnte nichts entdecken. Zögernd kam er näher. Clemens musste seine Schritte gehört haben und blickte auf.

«He, Oswald, schau mal, wen wir hier haben! Und unser kleiner Piscator … nur keine Scheu, mein Freund, tritt näher! Unser Besucher hier» – er verneigte sich spöttisch in Richtung des Fremden – «hat für heute schon genug Hasenfüße aufgespießt.» Aber Adrian war nicht entgangen, dass der Mann bei seinem Anblick die Augenbrauen hochgezogen hatte und seine Muskeln angespannt waren wie bei einer Katze kurz vor dem Sprung. Clemens gähnte betont gelangweilt und warf noch ein paar Zweige ins Feuer.

«Mach dir nicht ins Hemd», sagte er nachlässig und wandte sich dann wieder an den Fremden. «Das ist unser Schütze, Adrian Piscator.» Der Mann drehte sich zu Adrian um und musterte ihn von Kopf bis Zeh. Seine dunklen Augen glitten über Adrians Gesicht wie Schlittschuhkufen über die zugefrorenen Flussarme irgendwo am winterlichen Niederrhein, und seine Lippen zuckten spöttisch. Adrian versuchte das Unbehagen abzuschütteln, das der Fremde ihm einflößte; offensichtlich war er doch ein alter Bekannter der Bacchanten und hatte nicht vor, einen von ihnen umzubringen, jedenfalls nicht sofort. Er straffte die Schultern und machte ein paar Schritte auf das Feuer zu.

«Was glotzt du mich so an? Sag mir lieber, wie du selbst heißt», sagte er. Es sollte sich verärgert anhören, aber seine Stimme klang belegt und unsicher. Der Mann lachte kurz auf.

«Oh, wie unhöflich von mir! Wie konnte ich das nur vergessen?» Spöttisch hob er kurz die Samtkappe und ließ sie dann wieder auf sein Knie fallen. «Ich bin Rabanus Campolongo, fahrender Händler und Leutebeglücker.»

«Händler? Ohne Maultier, ohne Karren, ohne Kiepe?» Rabanus musterte ihn überlegen. «Es handelt schließlich nicht jeder mit Seife, Liebestränken und Schweineschmalz, mein Sohn. Die wertvollsten Dinge kann man oft in der Jackentasche mit sich tragen, oder hier oben hinter der Stirn.» Er tippte sich viel sagend an den Kopf und wandte sich dann an Clemens, als hätte Adrian nie etwas gesagt.

«Und, kann er etwas Besonderes, euer Herr Schütze?» Clemens zuckte die Schultern.

«Na ja, was sie alle so können. Singen und Flöte spielen. Betteln. Lange Finger machen. Aber sonst?» Er hob bedauernd die leeren Hände und sah fragend zu seinem Kumpan hinüber. Oswald hatte es sich schon am Feuer bequem gemacht und kratzte sich mit merklichem Behagen die grindigen Stellen an seinem Kopf.

«Er hat’s mit den Zahlen, unser kleiner Piscator. Muss immer was zum Rechnen haben. Wo andere nur fressen, saufen und furzen wollen, muss er erst mal multiplizieren, sonst kann er nicht ruhig schlafen. Bloß Geld verdienen kann man nicht damit.» Das war der einzige Maßstab, den die Scholaren kannten. Zahlen interessierten sie ausschließlich im Zusammenhang mit einer dahinter folgenden Münzeinheit.

«Nur weil du selbst nichts im Kopf hast, muss es ja bei mir nicht genauso sein!», fauchte Adrian wütend und spuckte in die Flammen.

«Ein Zahlenjünger also, ein Mathematicus …» Rabanus angelte etwas aus seiner Tasche und warf es Adrian zu. «Eine große, eine geheimnisvolle und gefährliche Wissenschaft! Man sagt, die Pythagoreer hätten denjenigen von den Klippen in den Tod gestürzt, der ihre Geheimnisse nicht für sich behalten konnte, weißt du das?» Er lachte meckernd. «Ich hab mich auch schon damit beschäftigt. Magische Quadrate, zum Beispiel, kabbalistische Zahlen … auch wenn unser Freund Oswald hier es nicht glauben will, so kann man damit doch Geld verdienen, viel Geld sogar.» Adrian betrachtete das Ding in seiner Hand: Es war ein kleiner Abakus mit merkwürdig geformten Perlen.

«Ich hab’s von einem alten Türken», grinste Rabanus, beugte sich vor und kam Adrian so nahe, dass der die Bartstoppeln auf dem Kinn des anderen hätte zählen können. «Schau’s dir genau an! Die kleinen Perlen haben sie aus Fingerknöchelchen gemacht. Von gefangenen Feinden.» Angewidert ließ Adrian den Abakus fallen. Der Händler lachte erneut unvermittelt auf und zog ein Lederbeutelchen aus seiner Hose.

«Verkauft ihn mir. Er gefällt mir.» Adrian starrte ihn ungläubig an, aber er konnte kein Wort herausbringen.

«Ich kann ihn gut brauchen. Und wenn er anstellig ist, lernt er was bei mir, was er sein Lebtag lang nicht mehr vergisst. Was wollt ihr für ihn haben?» Oswald räusperte sich.

«Such dir ’n andern, Rabanus. Der Junge bleibt bei uns.»

«Überlegt’s euch gut, Freunde! Sagen wir – fünf Gulden? Oder sieben?» Adrian sah, wie Oswalds Augen unter den tief hängenden Lidern aufglimmten, als er die Summe hörte. Sieben Gulden waren viel Geld, sehr viel; ein einfacher Taglöhner musste dafür ein halbes Jahr arbeiten.

«Ihr seid ja verrückt!», stieß er hervor. «Niemals gehe ich mit diesem Halsabschneider, nie! Ich bin frei, ich lasse mich doch nicht verschachern wie ein Stück Vieh!» Das Blut war ihm in den Kopf gestiegen, und schwer atmend ballte er die Fäuste. Oswald sandte ihm einen verächtlichen Blick, aber der Fremde lächelte nachsichtig.

«Na, wenn das so ist – warten wir noch ein bisschen. Ich ziehe mein Angebot zurück. Wie’s aussieht, müsst ihr dem Kleinen noch eine Menge beibringen. Vielleicht beim nächsten Mal?» Damit steckte er seinen Beutel wieder ein, und Adrian spürte, wie sich sein Herzschlag beruhigte. Obwohl er sich hundertmal an jedem Tag wünschte, die beiden Scholaren niemals wiedersehen zu müssen, fühlte er sich jetzt, als sei ihm das Leben neu geschenkt worden.

Er musterte den Händler verstohlen, der sich jetzt wieder mit den beiden Scholaren unterhielt. Eine feine Narbe lief vom Außenwinkel seines linken Auges bis hinunter zum Mund, sodass sich sein Gesicht beim Sprechen, besonders aber beim Lachen ein wenig schief zog. Vielleicht war der Mann ja wirklich ein Landsknecht und die Narbe Folge einer Kampfverletzung. Landsknechte suchten oft Trossjungen, die sie im Lager versorgten, sich um Essen und Wäsche kümmerten und ihr Gepäck trugen, wenn sie auf ihren Feldzügen unterwegs waren. Dafür brachten sie den Jungen dann bei, wie man kämpfte, soff und im Lagerleben den Kopf auf den Schultern behielt. Dann schon lieber Schütze bleiben!

Clemens kramte in seinem Beutel, holte einen halben Laib Brot und ein kleines Stück gebratenes Fleisch heraus und warf es zu Adrian hinüber.

«Hier. Ein Geschenk von unserem hochverehrten Gast. Verzieh dich damit, wir haben miteinander zu reden.»

Obwohl es schon abendlich kühl wurde, hatte Adrian nichts dagegen, das Feuer mit dem Händler daran zu verlassen. Er holte sich seinen Ranzen und seine Decke und wühlte sich damit in einen großen Laubhaufen am Fuß einer alten Buche. Es war noch hell genug, die Schätze aus seinem Beutel vor sich auszubreiten: Da waren die paar Seiten, die er von seinem mit viel Mühe selbst kopierten Donat noch übrig hatte, dem Lateinbuch, das die Schulen Europas beherrschte wie kein zweites; einige wenige weitere kostbare Bogen Papier; seine kleine Weidenflöte; eine dunkle, zu einer Schleife zusammengebundene Haarsträhne, das Geschenk eines Mädchens nach einer wunderbaren Nacht; ein paar mit Fell gefütterte Handschuhe, die eine freundliche Hökerin ihm einmal überlassen hatte, ziemlich verschlissen zwar, aber immer noch warm. Seinen wertvollsten Besitz allerdings, ein Medaillon mit dem Bildnis der Jungfrau von Altötting, das er von seiner verstorbenen Großmutter geerbt hatte, die letzte Erinnerung an zu Hause, hatte er schon lange nicht mehr in der Hand gehalten. Es ruhte gut versteckt im doppelten Hohlsaum seiner Jacke, sonst wäre es sicher inzwischen in Oswalds gierigen Klauen verschwunden.

So hatte er sich das damals nicht vorgestellt, als er von zu Hause weggegangen war. Was für ein Trottel war er gewesen, als er sich ohne Not in die Hand zweier Galgenvögel wie Clemens und Oswald begeben hatte! Blutsauger waren sie, gewissenlose Tagediebe, die sich auf seine Kosten durchfraßen und an den freien Künsten nicht mehr Interesse hatten als die Schweine zu Hause. In den Jahren, in denen er jetzt mit den Scholaren unterwegs war, hatte er kaum einmal eine Schule von innen gesehen, so sehr war er immer damit beschäftigt, für sich und die beiden Schmarotzer das Geld zusammenzubringen, denn das, was Oswald ergaunerte, wenn er in Stimmung war, verschwand regelmäßig, ohne dass Adrian auch nur ein winziges Kupferstück davon zu sehen gekriegt hätte. Aber er war jetzt siebzehn Jahre alt und kein kleiner Schütze mehr, den man mit ein paar Ohrfeigen gefügig machen konnte. Sie würden sich noch wundern. Sollten sie doch zur Hölle fahren! Liebend gerne hätte er ihnen die wütenden Bauern auf den Hals gehetzt, die sie erst gestern betrogen und bestohlen hatten. Aber die Bacchanten waren zu zweit. Mit Clemens allein hätte er es aufgenommen; er verfügte zwar über Bärenkräfte, aber er war zu langsam. Oswald dagegen – Oswald war gefährlich. Bei ihm wusste man nie, wann er zuschlagen würde. Oswald, der immer Lächelnde, Undurchschaubare, mit den schlanken Fingern. Adrian sah die Finger vor sich, die so spielerisch leicht mit allem umgehen konnten, mit seinen Spielkarten und den Würfeln genauso wie mit dem Messer, und gegen seinen Willen lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken, und seine Nackenhaare stellten sich auf wie an dem endlosen Abend, als die Bacchanten ihn nach dem Versuch wegzulaufen wieder eingefangen hatten. Er stopfte den Kram zurück in seinen Beutel und schob ihn sich unter den Kopf. Es war nicht gut, über Dinge nachzudenken, die sich nicht ändern ließen, zumindest nicht in nächster Zeit. Und was jenen Abend anging, so hätte er sich am liebsten überhaupt nie wieder daran erinnert.

Das Gemurmel der Männer am Feuer drang bis zu ihm herüber, und widerwillig sah er zu ihnen hin. Plötzlich nahm der fremde Händler etwas aus seinem Beutel und warf eine Hand voll davon ins Feuer. Grünblaue Flammen zischten in die Höhe, weißer Qualm stieg auf und verbreitete einen irritierend süßlich-würzigen Geruch. Adrian hörte Clemens kurz auflachen, hörte, wie die Stimmen lauter wurden, sah, wie die drei Gestalten am Feuer rhythmisch hin- und herschwankten, dann begann sich sein Kopf zu drehen, in einem riesengroßen Kreis, der ihn weit aus dieser Lichtung heraushob bis zum dunklen Nachthimmel. Von irgendwoher kam Gesang, eine Messe von nie zuvor gehörter Reinheit und Schönheit, und dann begannen vor seinen Augen die flammenden Sterne zu tanzen und sich zu drehen in roten und gelben Lichtwirbeln. Er spürte den groben Stoff seiner Decke unter den Händen und wusste doch genau, dass er oben in der Luft schwebte, zusammen mit den strahlenden Sternen.

 

Mit dem Geld, das sie Rabanus für Oswalds Ring abgehandelt hatten, machten sie sich am nächsten Tag auf den Weg nach Miltenberg. Miltenberg war eine freundliche Stadt, die sich an das südliche Ufer eines Mainknies schmiegte. Schon von weitem leuchtete ihnen der rote Sandstein entgegen, aus dem zahlreiche wohlhabende Bürgerhäuser und die Burg oberhalb der Stadt erbaut waren. In der ersten besten Schänke hinter dem Stadttor setzten sie einen Teil ihres Vermögens in eine reichhaltige Mahlzeit um und mieteten sich dann gegen ein paar Schilling eine Kammer bei der Witwe Maria Weygand, die ein baufälliges Fachwerkhäuschen in Ufernähe ihr Eigen nannte.

«Wenn mein lieber Johann nicht vom Fisch, sondern vom Wein gelebt hätte, dann würd ich heute auch in einem Steinhaus wohnen und bräuchte keine Kammern an fahrendes Volk zu vermieten», erklärte die Witwe Weygand Adrian schon am ersten Abend und betrachtete ihn misstrauisch, als sie ihm ein bisschen frisches Stroh für sein Nachtlager brachte. Sie war eine geschwätzige Alte mit Händen, deren Finger so knotig und krumm waren, dass man kaum glauben mochte, sie könnten auch nur so viel wie einen Kochlöffel festhalten.

«Benehmt euch anständig, dann werden wir gut miteinander auskommen. Und die Lateinschule hier ist sicher nicht schlechter als die in Würzburg oder Nürnberg, aber billiger allemal. Für einen Pfennig die Woche nehmen die euch alle drei.» Adrian nickte und war froh, als die Witwe in ihre Stube zurückschlurfte.

In dieser Nacht träumte Adrian von zu Hause. Er saß in einem Boot auf dem Rhein und hörte die Kirchenglocken läuten. Sie läuteten für ihn, das wusste er genau. Es wurde eine Messe gelesen für ihn, ein Seelamt, dabei war er doch noch gar nicht tot. Er sah den Anlegesteg vor sich, vielleicht in zweihundert Fuß Entfernung, und ruderte mit der allergrößten Anstrengung. Diese Messe durfte nicht gelesen werden, sonst wäre er verloren. Er ruderte um sein Leben, aber das Boot kam nicht voran, im Gegenteil. Es lag zu tief im Wasser, war zu schwer beladen. Erst jetzt bemerkte er die schweren Kisten, die hinter der Ruderbank gestapelt waren. Er riss sie auf: Es waren Bücher darin, Dutzende von Büchern. So schnell er konnte, warf er sie über Bord ins Wasser. Da sah er, dass der Boden des Bootes voller Löcher war, die die Kisten abgedichtet hatten. Jetzt schoss das Wasser herein, und er begann zu sinken, schneller, immer schneller … Mit dem Gefühl zu ertrinken wachte er auf, das Gesicht nass von Schweiß und Tränen. Neben ihm drehte Clemens sich schlaftrunken auf die andere Seite und grunzte etwas Unverständliches. Adrian rieb sich über die Schläfen, aber die Erinnerung an den Rhein, an sein Dorf und an seine Familie ließ sich nicht so leicht vertreiben. Sie füllte ihm die Brust und drückte ihm die Kehle zu. Er verwünschte den Tag, an dem er auf die Bacchanten gestoßen war.

Das Leben in Miltenberg war nicht allzu teuer, sodass ihr Geld ausreichte, um ein paar Wochen lang zu bleiben. Zum ersten Mal seit Monaten verbrachte Adrian wieder mehr Zeit in der Lateinschule als auf der Straße, und selbst die Bacchanten ließen sich gelegentlich dort sehen, wo es außer ihnen keine anderen fahrenden Schüler gab. Die Witwe reichte ihnen morgens einen Getreidebrei und bereitete ihnen jeden Abend eine warme Mahlzeit, und ihre Unterkunft war trocken und warm und läusefrei. Es war ein ungewohnt angenehmes Leben, das nach Adrians Meinung für immer so hätte weitergehen können, zumal ihre Wirtin eine besondere Zuneigung zu ihm gefasst hatte und ihm immer einmal wieder etwas zusteckte.

«Mein Christian wäre jetzt so alt wie du», sagte sie oft und strich ihm verschämt mit der Hand über den Kopf. «Wenn er nicht das Fieber bekommen hätte … So ein guter Junge war er, mein ganzer Stolz …» Und dann begannen ihr regelmäßig Augen und Herz überzufließen, und sie erging sich in langen Lobreden auf ihren verlorenen Sohn, die Adrian mit einem ernsten Gesicht anhörte, bis sie schließlich in eine ihrer Kästen und Truhen griff und ein Stück Käse, einen Kanten Brot oder auch einmal eine Wollmütze für ihn herauszog.

«Du bist auch ein guter Junge, und wie ähnlich du ihm siehst …» Um ihre Gutmütigkeit nicht allzu sehr auszunützen, ging Adrian ihr in ihrem Haus ein bisschen zur Hand, machte ihr das Holz klein und stapelte es im Schuppen, flickte den Zaun und hackte die Gemüsebeete durch.

Als der Juni kam, war ihr Geld aufgebraucht.

«Wird Zeit für uns», meinte Clemens gähnend, als sie am Abend in ihrer Kammer zusammensaßen und beratschlagten. «Hier in diesem Nest werden wir kaum genug zusammenbringen, um alle drei durchzukommen, zumal unser junger Freund auch nicht mehr gerade singt wie eine Nachtigall.» Adrian verzog gleichgültig die Lippen; natürlich, so eine klare und helle Stimme wie die kleinen Schützen hatte er schon lange nicht mehr. In der letzten Zeit hatte er sich mehr und mehr auf das Betteln oder, wenn das nicht reichte oder wenn die städtischen Bettelvögte ihn hinauswarfen, auf das Stehlen verlegen müssen. Gelegentlich hatte er auch kleine Rechenkunststücke vorgeführt, hatte in Blitzesschnelle dreistellige Zahlen multipliziert und Wurzeln gezogen, aber die meisten Zuschauer konnten mit solcher Unterhaltung nur wenig anfangen. Wie man’s auch machte, in so einer kleinen Stadt wie Miltenberg stieß man schnell an die Grenzen der Freigebigkeit und des Reichtums.

«… und auch Oswalds spezielle Begabung lässt sich kaum nutzen», bedauerte Clemens und machte eine charakteristische Bewegung mit der Hand.

«Ist mir sowieso zu langweilig hier.» Oswald lehnte sich an die Wand und verdrehte die Augen. «Immer das Gleiche, jeden Tag! Singen, beten, schreiben, deklinieren. Immer die gleichen dummen Gesichter. Und wenn die Alte uns noch einmal Kohlsuppe vorsetzt, dann dreh ich ihr den Hals um und steck sie selbst in den Topf.»

«Also, morgen dann?» Oswald nickte träge.

«Mein Gott, bin ich froh, wenn ich das Gesicht von diesem Magister nicht mehr sehen muss. Wo andere Leute ’ne Nase haben, sitzt bei dem ein Knödel. Ich muss immer aufpassen, dass ich nicht mal zupacke und ihm das Ding abschraube.» Clemens lachte zustimmend.

«Ist schon ein gottverdammtes Kaff hier. Aber vielleicht können wir von unserer Dame hier noch ein kleines Andenken mitnehmen, wenn wir uns morgen verabschieden. Was meinst du, Kleiner? Du scharwenzelst doch den ganzen Tag um sie herum! Wo hat sie denn ihr Silber liegen?»

«Selbst wenn ich’s wüsste, würd ich es dir kaum verraten.» Adrian ballte die Fäuste. «Du kannst doch nicht im Ernst glauben, ich würde ihr das Geld klauen, nachdem sie uns so freundlich aufgenommen hat.»

«Ach, ich vergaß», säuselte Clemens. «Du bist ja ihr Herzblatt, ihr Ein und Alles, die Wiedergeburt ihres geliebten Bastards. Wenn du nur etwas Grütze im Kopf hättest, dann würdest du das für dich ausnutzen, statt hier den Beschützer der Witwen und Waisen zu spielen.»

«Was ich tue, ist meine Sache!», antwortete Adrian hitzig. «Du hast mir da gar nichts zu sagen!»

«So?» Clemens packte seinen Arm wie in einem Schraubstock und zog ihn zu sich herüber, sodass er seinem Blick nicht ausweichen konnte.

«Hast du schon ganz unsere Abmachung vergessen? Deine Aufgabe ist es, uns was zum Fressen ranzuschaffen, solange du mit uns unterwegs bist!»

«Dann zieht doch ohne mich weiter! Ihr haltet euch ja auch einen Dreck an euren Teil der Abmachung! Was hab ich schon gelernt, seit ich mit euch zusammen bin?»

«Ist es unsere Schuld, wenn du so lange dafür brauchst, die paar Groschen zusammenzukriegen, dass du keine Zeit mehr für die Schule hast? Wenn du alle guten Gelegenheiten sausen lässt so wie jetzt? Aber gut, dann bleib doch hier in diesem Drecknest! Bleib doch hier und verbring den Rest deines Lebens mit Schweinehüten und Rübenfressen! Gib uns die sieben Gulden, die du wert bist, dann sind wir einigermaßen quitt.» Adrian riss sich los und wich ungläubig zurück.

«Du bist wohl wahnsinnig geworden!»

«Stimmt, ich fand die sieben Gulden für so einen Hosenscheißer wie dich auch viel zu viel. Zuerst. Aber andererseits schleppen wir dich schon ewig mit uns herum, das muss man schließlich auch berücksichtigen.» Oswald grinste ihn unter den tief hängenden Lidern gehässig an. «Die Mengen, die du gefressen und gesoffen hast!»

«Ich hab mehr verdient als ihr beide zusammen!» Adrian sprang auf und fing an zu schreien. «Ihr lebt auf meine Kosten, vergiss das nicht! Ohne mich wärt ihr schon längst verhungert!»

«Ts, ts!» Oswald lächelte nachsichtig und drückte Adrian auf seinen Stuhl zurück. «Hör sich einer dieses Großmaul an! Man könnte fast vergessen, wie du damals mit dem geklauten Geld bei uns aufgekreuzt bist und uns angeflennt hast, dich mitzunehmen! War doch geklaut, oder? Und seitdem nimmst du unsere freundliche Begleitung in Anspruch, unsere Erfahrung und unseren Schutz. Ja, glaubst du denn, das ist umsonst??!» Clemens’ Gesicht vibrierte vor unterdrücktem Lachen, während Oswald nur seufzend die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte.

«Clemens, ich denke fast, unser Schütze ist zu blöd für dieses Leben … was, schätzt du, ist unsere Eskorte wert?» Clemens wischte sich die Lachtränen aus den Augen.

«Nun, wir wollen nicht unverschämt sein … Sagen wir mal, fünf Schilling die Woche, das ist gerecht. Fünf Schilling für uns beide zusammen.» Oswald strahlte, aber seine Augen waren kalt. «Du bist doch hier der große Rechenkünstler, los, rechne doch aus, was du uns schuldig bist! Zeig, was du kannst! Rechne es aus!» Adrian spürte die Wut in sich aufsteigen wie das gurgelnde Wasser der Frühjahrsflut. Das war eins der Spiele, die Oswald so liebte, wie eine Katze das Spiel mit der Maus.

«Na, wird’s bald? Wie hoch sind deine Schulden?» Oswald schüttelte bedauernd den Kopf. «Das kannst du wohl auch nicht? Schade, schade. Überaus schade. Muss ich es dir erst beibringen?»

«52 Wochen mal dreieinhalb Jahre, macht rund 180 Wochen. Mal 5 Schilling sind 900 Schilling. Oder 22 Gulden zwanzig Schilling.» Eines Tages zahle ich es dir heim, aber mit anderer Münze. Du wirst dich wundern. Du wirst dir wünschen, du hättest mich nie gesehen, du Bastard.

«Rund 25 Gulden, schau an! Anderswo wird man ins Loch gesteckt dafür, weißt du das? Aber mit uns hast du Glück gehabt, verdammtes Glück. Wir sind großzügige Burschen, wir beiden. Wir wollen nur sieben. Ist doch fast geschenkt!» Der schlaksige Schüler klopfte Adrian auf die Schulter. «Vielleicht kriegst du’s ja mal zusammen, wenn du morgen brav mitkommst und dich immer schön anstrengst.» Eines Tages, eines nicht allzu fernen Tages.

In aller Frühe am folgenden Morgen packten sie ihr Bündel. Oswald und Clemens warteten schon auf der Straße und pfiffen ungeduldig, aber die Zimmerwirtin nahm Adrian noch einmal zur Seite.

«Bleib doch bei mir, Junge.» Die Witwe sah ihm tief in die Augen und hob bittend die Hände. «Das sind schlechte Leute, mit denen du da unterwegs bist, die landen noch im Loch oder am Galgen, und dann bist du mit dran. Du läufst in dein Verderben, glaub mir. Bleib doch hier. Ich habe ein bisschen Geld, und wenn du mir hilfst, so wie bisher, kann ich dich sogar weiter zur Schule schicken.» Aber Adrian schüttelte den Kopf.

«Es geht leider nicht. Ich – ich habe ein Gelübde abgelegt, dass ich noch drei Jahre weiterwandern muss.» Die Frau nickte traurig.

«Dann muss es wohl so sein … Gott segne dich.» Und in einem unerwarteten Augenblick drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und steckte ihm eine Hand voll Münzen in die Tasche. Adrian war es hundeelend, als sie die Höhen südlich von Miltenberg erklettert hatten und die Stadt hinter ihnen im Tal verschwand.

3

Adrian erwachte in der Dämmerung und sah sich um. Die Kirche hob sich als dunkler Schatten vom morgenfahlen Himmel ab; über den Gräbern lag noch die Feuchtigkeit der Nacht, und irgendwo hinten im Gebüsch zankten sich die Spatzen. Wenige Schritte entfernt standen ein paar einfache Holzkreuze und zeigten an, dass dort vor nicht allzu langer Zeit ein paar arme Seelen zur ewigen Ruhe gebettet worden waren. Gedankenlos schlug Adrian ein Kreuz und wandte sich ab.

«+ ANNA MARIA SARTORIUS · XXIV IUNII OBIIT ANNIS XXX · ANNO DOMINI MDXII · FIDES UXOR · MATER AMABILIS · REQUIESCAT IN PACE · MEMENTO MORI +» – Anna Maria Schneider, treues Eheweib, liebevolle Mutter, mit dreißig Jahren gestorben, am 24. Tag des sechsten Monats. Befriedigt stellte Adrian für sich fest, wie vertraut die lateinischen Worte ihm im Ohr klangen, wie flüssig er sie übersetzen konnte; wie ungezwungen die Zahlen sich in seinem Kopf zu neuen Mustern, neuen Zusammenhängen zusammenfügten: 30, 24, 6. Alle diese Zahlen quadriert und zusammengezählt nämlich ergaben das Todesjahr der Sartorius: 1512, eine bemerkenswerte Jahreszahl, denn mit der 1, der 8 und der 27 enthielt sie die ersten drei Kubikzahlen als Faktoren …

Er reckte sich und gähnte, stand auf und klopfte sich das Stroh ab, in das er sich zur Nacht eingewühlt hatte. Sie hatten gestern von dem, was vornehme Nürnberger vor ihren Häusern ausgelegt hatten, mitgenommen, so viel sie tragen konnten, und sich daraus hier auf dem kleinen Kirchhof ein warmes Nest gebaut. Dass alle Scholaren gemeinsam eine Kammer mieteten wie in Miltenberg, kam nur selten vor; meistens reichte es nur für die Bacchanten, und die jüngeren Schüler schliefen, wenn sie Glück hatten und der Schulmeister Platz genug, in der Schule auf dem Fußboden oder in einem Stall. Im Sommer war es aber allemal angenehmer, unter freiem Himmel zu übernachten und morgens vom Gesang der ersten Vögel geweckt zu werden und nicht von dem misslaunigen Knuff eines Schuldieners.

Irgendwo begann eine Glocke zu läuten. Die Frühmesse würde bald beginnen und danach sicher auch der Unterricht an den Lateinschulen der Stadt. Mindestens an jeder der beiden großen Kirchen St. Lorenz und St. Sebald gab es eine Lateinschule, das hatte Adrian gestern schon herausgefunden. Nichts würde ihn davon abhalten, hier im hochberühmten Nürnberg Lectiones zu hören. Schließlich war die Stadt bekannt für die Gelehrsamkeit ihrer führenden Köpfe und den Erfindungsreichtum ihrer Handwerker. Und nicht nur das. An seinen zehn Fingern konnte man sich ausrechnen, dass an einem Ort, der so gute Mechaniker und Kartographen und so gerissene Kaufleute hervorgebracht hatte, auch die Mathematik in hohem Ansehen stehen musste. Spätestens morgen, dachte er. Heute würde er erst die Stadt auskundschaften und dann am Nachmittag pro panibus gehen.

Oswald und Clemens hatten sich am gestrigen Abend in einer billigen Schänke so voll laufen lassen – von dem Geld, dass er zusammengebettelt hatte! –, dass sie vermutlich den ganzen Tag mit einem dicken Brummschädel herumlaufen würden. Sie waren in einer Burse abgestiegen, wie es sie in jeder größeren Stadt gab – einer Herberge, wo Schüler und Studenten günstig wohnen und lernen konnten. Adrian kannte sie zur Genüge, diese meist überfüllten Häuser, wo vom Stroh in den Betten bis zur dünnen Suppe im Topf alles knapp war, nur nicht die Läuse und Wanzen und die Rutenstreiche, die von den aufsichtsführenden angehenden Magistern ausgeteilt wurden. Unwahrscheinlich, dass den beiden Bacchanten das auf die Dauer schmecken würde; aber eine Nacht würden sie wohl wenigstens durchgehalten haben.