Der Hexensohn - Elsa Schöner - E-Book

Der Hexensohn E-Book

Elsa Schöner

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Beschreibung

Hexenwahn Odenwald, 1495. Eine Hebamme, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Hexensohn, den niemand will. Ein Mädchen zwischen Himmel und Hölle. Ein fanatischer Mönch auf der Jagd nach der Brut des Satans. Ein gnadenloser Burgherr mit einem entsetzlichen Geheimnis. Eine Geschichte aus dunkler Zeit, in der die Flammen des Hasses hell lodern.

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Elsa Schöner

Der Hexensohn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Hexenwahn

 

Odenwald, 1495.

Eine Hebamme, auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Ein Hexensohn, den niemand will.

Ein Mädchen zwischen Himmel und Hölle.

Ein fanatischer Mönch auf der Jagd nach der Brut des Satans.

Ein gnadenloser Burgherr mit einem entsetzlichen Geheimnis.

 

Über Elsa Schöner

Elsa Schöner, geboren 1961 am Niederrhein, ist Ärztin. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in der Nähe von Darmstadt. «Der Hexensohn» ist ihr erster Roman.

Inhaltsübersicht

Für Hans-Peter überall, ...Prolog: 1495Kapitel 1: 1495Kapitel 2: 1495Kapitel 3: 1495Kapitel 4: 1497Kapitel 5: 1502Kapitel 6: 1502Kapitel 7: 1502Kapitel 8: 1502Kapitel 9: 1502Kapitel 10: 1502Kapitel 11: 1502Kapitel 12: 1502Kapitel 13: 1502/1503Kapitel 14: 1503Kapitel 15: 1503Kapitel 16: 1503Kapitel 17: 1503Kapitel 18: 1503Kapitel 19: 1503Kapitel 20: 1503Kapitel 21: 1503Kapitel 22: 1503Nachwort

Für Hans-Peter überall, immer

Prolog 1495

Noch vor Morgengrauen erwachte er von der ungewöhnlichen Stille in der Hütte: Er war allein, der Schlafplatz des Vaters leer und kalt wie die Asche des verloschenen Feuers im Herd. Dunkel ahnte er, was das zu bedeuten hatte, streifte seine groben Hosen, seinen Kittel über, lief zur Tür. Die Tür ließ sich nicht öffnen; jemand musste von außen etwas Schweres dagegengestemmt haben. Doch er war stark und zäh für sein Alter, ein Junge, der auf dem Feld arbeiten konnte fast wie ein Mann. Er warf sich gegen das Holz, bis die Tür polternd nachgab. Das Dorf lag vor ihm, in trügerischem Schlummer in die neblige Talsenke gekauert. Kein menschlicher Laut wehte zu ihm herüber; wahrscheinlich waren sie alle längst aufgebrochen. Es war die kälteste Stunde jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, und seine bloßen Füße wurden nass und eisig vom Tau auf den Wiesen. Erst zweimal in seinem Leben war er in der Stadt gewesen, zum Markt, und er wusste, dass es weit war.

 

Philipp von Hanstein war schon in aller Frühe hinaus zum Schindanger geritten, der außerhalb der Stadt auf einem unscheinbaren Hügel lag. Der Galgen stand leer; es war mehr als ein Jahr her, seit sie den letzten Dieb aufgehängt hatten. Philipp warf die Zügel seinem Reitknecht zu und musterte flüchtig die Gruppe Schaulustiger, die sich an der Richtstätte eingefunden hatte. Die meisten der Leute kannte er vom Sehen her, denn fast jeder hatte auf der Burg schon eine Arbeit zu verrichten oder eine Abgabe abzuliefern gehabt. Der eine oder andere zog seine Mütze und verbeugte sich, aber niemand sprach den Ritter an. Schließlich ließ er sich auf dem gemauerten Stuhl nieder, der ihm als Gerichtsherrn zustand.

Er war immer anwesend, wenn eine Hinrichtung vollzogen wurde, aber noch nie hatte er dabei eine solche innere Anspannung verspürt wie an diesem Tag, noch nie hatte er in einen Prozess so sehr eingegriffen wie dieses Mal. Er zwang sich, ruhig und mit gefasster Miene sitzen zu bleiben, um vor den umstehenden Bauern keine Schwäche zu zeigen. Langsam füllte sich der Platz; kaum einer, der bei der Verbrennung der Hexe nicht dabei sein wollte. Die Menge wartete schweigend – keiner unterhielt sich, keiner lachte, wie es sonst bei einem solchen Spektakel üblich war. Philipp wünschte sich, die Bauern würden wenigstens anfangen zu streiten, die Kinder würden schreien, die Weiber zanken, aber alles blieb stumm. Der Schweiß brach ihm aus, lief ihm den Rücken, die Schenkel hinunter, während er mit der Hand sein linkes Augenlid verdeckte, das unkontrollierbar zuckte. Sein Herzschlag dröhnte ihm so laut in den Ohren, dass er überzeugt war, auch die anderen müssten ihn hören.

Man hatte die tote Hexe aufrecht an den Pfahl gebunden, und der Scharfrichter und sein Gehilfe waren dabei, noch weitere Buchenscheite und Reisig um sie herum aufzuschichten. An drei Stellen setzte der Scharfrichter den Holzstoß schließlich in Brand, und sogleich loderten die Flammen hoch in den Himmel. Der Henker war ein gewissenhafter Mann; Verbrennungen kamen nur selten vor, und er hatte deshalb die Richtstätte mit besonderer Sorgfalt aufgebaut und zuletzt noch einige mit Pech bestrichene Holzbalken aufgelegt. Zufrieden trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Von dieser Hexe würde nichts übrig bleiben, gar nichts, soweit es seine Angelegenheit war. Trotzdem war er froh, dass sie schon vorher tot gewesen war, denn er hatte sich gefürchtet vor ihren Schreien und vor einer letzten Unheil bringenden teuflischen Verwünschung, die sie noch auf dem Scheiterhaufen gegen ihn hätte herauskreischen können. Der Scheiterhaufen und der Pfahl in seiner Mitte brannten mitsamt dem menschlichen Klumpen, der an ihm hing und noch deutlich zu erkennen war, lichterloh, Qualm erfüllte die Luft – war nicht auch Schwefel zu riechen? Hatte nicht einer plötzlich ein schwarzes Wesen durch die Luft sausen sehen?

Ritter Philipp von Hanstein war es, als fiele ein Fluch von ihm ab, während die ersten Flammen emporzüngelten. Gott hatte ihm verziehen, hatte seine Seele, sein Geschlecht gerettet. Ein Sohn würde ihm geboren werden, und er würde die Namen Jakob und Heinrich tragen – nach Jacobus Sprenger und Heinrich Institoris, den Verfassern des Hexenhammers, die so viel dazu beigetragen hatten, das Schicksal des Hauses Hanstein zum Guten zu wenden. Der Ritter erhob sich und warf einen letzten Blick auf den schwelenden Aschehaufen, bevor er sich umwandte und sein Pferd bringen ließ, ein großer, aufrechter Mann in den besten Jahren, selbstbewusst und zuversichtlich, ein Herr.

 

Er läuft schneller jetzt, keucht den Fahrweg hinunter, der von den zahlreichen Füßen, die vor kurzem darüber gehastet sind, noch aufgewühlt ist, bis ihn die Stiche in seiner Seite zwingen, seine Schritte zu verlangsamen. Nur weiter, immer weiter. Längst ist es hell geworden, ein wolkenverhangener, windstiller Herbsttag. Immer bergab, er rennt wieder ein Stück, stolpert, zerkratzt sich die Beine. Endlich sieht er vor sich den Ort: den gemauerten Kirchturm, eine Hand voll Steinhäuser zwischen all dem Fachwerk, den Marktplatz, dahinter die Burg, die auf ihrem Felsen hockt wie ein träger Raubvogel auf seinem Nest. Und den Hügel auf der anderen Seite, wo der dünne Rauch noch aufsteigt, eine schwarze, böse Wolke, der er mit den Augen folgt, bis sie sich auf halbem Weg zum Himmel auflöst. Die Rauchwolke macht, dass er langsamer wird, stehen bleibt. Ein Pferd hätte er gebraucht, schießt es ihm durch den Kopf, während er zusieht, wie der Rauch weniger wird, nur noch ein hauchfeiner Faden übrig bleibt, der Himmel und Erde verbindet, bis er schließlich zerreißt.

Kapitel 1 1495

Der erste Stein traf Nicklas zwischen den Schulterblättern, und er begann zu laufen. Schneller, schneller, die nackten Füße jagten über die staubige Dorfstraße, aber das Gellen in seinen Ohren, die Pfiffe, das Rufen wurden nicht leiser. Oh Gott, sie kamen näher. Noch ein Stein, kleiner diesmal, am Oberschenkel, aber er spürte keinen Schmerz mehr, nur noch Furcht. Die Häuser flogen vorbei, die Hütten, die schmutzig-braunen Büsche am Bach. Ich kann nicht schneller laufen, ich kann nicht mehr, sie werden mich totschlagen, tot – die erste Hand packte ihn am Hemd, so wie der Bussard zupackt, wenn er die Mäuse schlägt. Er landete im Dreck. Wir haben dich, du Ratte, jetzt pass auf, was wir mit dir machen!

 

Das Mädchen kauerte auf dem Boden unter dem Weidengestrüpp, die Faust vor den Mund gepresst, die Augen weit aufgerissen. Sie durfte nicht hier sein, gewiss nicht, nicht hier, wo sie alles so gut sehen konnte! Sie hörte ihren eigenen Herzschlag wie die Trommel der Landsknechte auf dem Marktplatz von Hanstein und betete, dass keiner sie finden würde, keiner der Burschen, die sie doch alle so gut kannte, die jetzt den kleinen Tagelöhner auf den Boden warfen und sein Hemd herunterrissen, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Wendel war es, der die junge Katze tötete und ihr den Bauch aufschlitzte. Jakob – Jakob, den sie einmal heiraten würde –, Jakob verschmierte Blut und Eingeweide des Tieres auf Brust und Gesicht des Jungen. Dietmar ritzte ihm mit dem Messer etwas in die nackte Haut und trat noch einmal zu. Ihr Bruder Dietmar. Oh heilige Jungfrau, sie würden sie sicher umbringen wie die kleine Katze, mit einer einzigen brutalen Bewegung ihrer Hände, wenn sie sie entdeckten!

Als die Burschen endlich johlend und lachend abgezogen waren, zog sie sich mühsam und verstört wieder auf die Füße. Es war an ihr vorbeigegangen, das Schreckliche. Denn wenn sie auch nicht ganz verstanden hatte, was da eigentlich vorgegangen war, so wusste sie doch ohne jeden Zweifel, dass es etwas Schreckliches gewesen war. Nie mehr würde sie sich hier verbergen, um zu sehen, was sie nicht sehen sollte, nie wieder! Sie wünschte, sie könnte den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Bruders vergessen, bevor sie ihm gleich wieder gegenübertreten musste. Er machte ihr Angst. Da hörte sie ein Rascheln in der Nähe und schrak zusammen, ehe sie erkannte, dass es der Junge war, der Sohn der Tagelöhnerin, die sie verbrannt hatten, der Hexe. Sie fasste ihren Rock über den Schenkeln zusammen und flüchtete nach Hause, bevor sie das blutverschmierte Gesicht sehen musste.

Dietmar, der junge Schmied, war schon da, als sie den Hof erreichte. Er beugte sich über den Trog und versuchte, die Spuren der Prügelei abzuwaschen. Sie hörte seinen schnellen Atem, sah das Blut in seinem kräftigen Hals pulsieren. Gerade wollte sie an ihm vorbeischleichen, da hob er sein gerötetes Gesicht und grinste sie an. «’n Abend, Schwesterchen. Auch schon zu Hause?» Nachlässig wischte er sich die Hände an der Hose ab, an der noch Reste von Katzenblut klebten. Sie starrte ihn an und wagte nicht weiterzugehen. «Was guckst du so? Sprichst wohl nicht mehr mit jedem, was?» Er machte einen Schritt auf sie zu, packte sie an den Schultern und schob sie vor sich her ins Haus.

«Herrad, Dietmar.» Die Mutter schaute tadelnd zu ihnen herüber, während Dietmar sich auf seinen Platz auf der groben Holzbank drückte, die an der Wand der Wohndiele entlanglief. Die Mutter schob ihm missbilligend einen Teller mit Krautsuppe und ein Stück Brot hinüber. «Wo seid ihr gewesen? Ihr seid spät. Wir haben auf euch gewartet. Und du setz dich endlich hin. Wer nicht am Tisch sitzt, kriegt nichts.» Zögernd ließ sich Herrad am Ende der Bank nieder, während Dietmar seinen Löffel aus dem Gürtel zog und sich über den Teller beugte. «War noch draußen mit den Jungs. Wir mussten noch etwas erledigen.» Die Mutter holte tief Luft, aber der Schmied griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie zurück. «Na komm schon, Alte, lass mal den Jungen. Ist doch schon fast ein Mann, den kannst du nicht mehr gängeln wie ein kleines Kind.» Wohlgefällig blieb sein Blick an seinem Zweiten hängen. Ein guter Junge, sein Dietmar! Eigentlich ein Halbwüchsiger noch, aber konnte schon zupacken wie ein Mann, und wenn die Pferde beschlagen werden mussten, war er so schnell wie kaum ein anderer. Zufrieden kratzte sich der Schmied den Bauch und grinste. Freilich, das Saufen und Fluchen hatte er auch schon gelernt, der Junge, und wer weiß, was noch alles! Aber mit dem konnte er zufrieden sein. Der würde einmal einen guten Schmied abgeben, der durfte auch gelegentlich über die Stränge schlagen.

Herrad musste sich zwingen, den Löffel mit der Suppe in den Mund zu schieben. Wieder und wieder hörte sie das Knacken, mit dem der kleinen Katze das Genick gebrochen worden war, und es würgte sie in der Kehle, wie sie ihren Bruder gegenüber genüsslich die fade Suppe schlürfen sah, als sei es eine fürstliche Mahlzeit. Etwas Gewalttätiges ging von ihm aus, eine Aura nur mühsam unterdrückter Brutalität. Sie starrte auf seine großen Hände, die aussahen, als würde er beim Trinken gleich den Becher zerdrücken, und ihre eigene Hand zitterte so, dass sie die Suppe verschüttete. Ohne auf das zu achten, was am Tisch gesprochen wurde, wanderten ihre Gedanken weiter. Sicherlich war Jakob, der zurückhaltende, ruhige Jakob, nur mit dabei gewesen, weil ihn die anderen überredet hatten. Er war keiner, der abseits stehen konnte, wenn die anderen Dorfburschen gemeinsam etwas unternahmen, aber sie hatte ihn auch noch nie zuvor bei einer bewussten Grausamkeit ertappt. Jakob, der ihrer Familie erst am letzten Sonntag einen Korb mit Steinpilzen gebracht hatte, der sie immer so freundlich, wenn auch ein bisschen herablassend behandelte. Sicher tat es ihm Leid.

«… versteh nicht, warum die nicht gleich die ganze Brut ausgemerzt haben.»

Dietmar rülpste herzhaft und warf seinen Löffel vor sich auf den Tisch, während der alte Schmied mit einem kleinen Hölzchen in seinen Zähnen stocherte. «Was meinst du, Junge?»

«Na, das Hexenpack. Trotzdem: Lange bleiben die nicht mehr.»

Der Schmied nickte langsam. «Eigentlich tut der Gerold mir Leid. Muss verdammt schwer für ihn sein, die Sache mit seiner Frau. Was für ein Gefühl das wohl ist: zu wissen, dass man jahrelang mit einer Hexe in einem Bett geschlafen hat. Dass man mit ihr ein Kind gemacht hat! Ja, es wär schon besser, wenn sie gehen würden, der Gerold und der Junge. Woanders hätten sie’s sicher leichter, und ehrlich: Ich selbst könnte auch besser schlafen. Grad bei dem Jungen, da kann man ja nie wissen. Ob da nicht was hängen geblieben ist.»

Dietmar grinste wieder und rieb sich die Hände. «Wenigstens ist jetzt keiner mehr da, um in der Nacht irgendeinen Krötensud zu brauen und Verwünschungen zu murmeln.»

Schweigend griff der alte Schmied nach dem Laib Brot und schnitt sich ein großes Stück herunter, das er in das würzige Bier in seinem Krug tauchte, bevor er es in den Mund steckte. Ja, es war schon eine große Erleichterung, überlegte er weiter. Die Jahre der Angst waren vorbei, ein für alle Mal vorbei. Dankbar blickte er über den Tisch zu seiner jüngsten Tochter hinüber, die schon aufgehört hatte zu essen. So ein zartes, kleines Mädchen war Herrad auch mit ihren zehn Jahren noch, blass und klein – eher wie eine vornehme Dame sah sie aus, nicht wie das Kind eines einfachen Dorfschmieds. Er hatte nie verstehen können, wie seine knochige Frau und er selbst diesen Nachwuchs zustande gebracht hatten, mit den rotblonden Haaren, den grünen Augen, und lange Zeit hatte er den Altknecht verdächtigt. Aber Edith, die Frau, hatte nichts zugegeben, nicht einmal, als er die Fäuste gebraucht hatte, und so hatte er die jüngste Tochter schließlich als sein eigen Fleisch und Blut akzeptiert. Und der Knecht war schon lange weg, den hatte er nicht mehr haben wollen in seiner Schmiede. Seine kleine Herrad, so viel Angst hatten sie um dieses Kind schon ausgestanden! Nur zu gut konnte er sich an den Tag erinnern, als sie zur Welt gekommen war und er lange Zeit geglaubt hatte, diese Geburt würde ihm nicht nur das Kind, sondern auch die Frau nehmen. Wie schwer, wie entsetzlich schwer und bleich hatte Edith gelegen und gestöhnt, und die Schwägerin hatte sich keinen Rat gewusst. Da hatten sie die Josefa geholt, Gott sei ihnen gnädig! Aber keiner konnte ja wissen, was für eine sie war, damals. Sie hatte ihre Sprüche gemurmelt und das Kind herausgebracht, mit dem Steiß zuerst, hatte es in warmem Wasser gebadet, in das sie vorher Kräuter und einen Ring aus gedrehtem Stutenhaar geworfen hatte. Dann hatte sie die Nachgeburt besehen und eine gute Zukunft für das Neugeborene herausgelesen: Es wird ein hübsches Kind werden, hübsch und gesund, die Freude eures Alters!, bevor sie mit ein wenig von dem Blut die Schwelle bestrich und hinausging, um die Nachgeburt unter der Linde zu begraben. Aber da war das Unheil schon geschehen, und sie hatte den bösen Blick auf das Neugeborene geworfen, das fortan so häufig dem Tode näher schien als dem Leben. Wie oft schon hatte der Vikar an ihrem Bettchen gestanden und das heilige Salböl gespendet! Aber jetzt war die Hexe tot, und aus dem Nachbarhaus würden keine bösen Blicke mehr herübergesandt werden, keine Verwünschungen, und das Mädchen würde rosig und gesund durch den Winter kommen. Hatte sie nicht mit jedem Tag schon mehr Farbe?

 

Zunächst war der Schmerz stärker als alle anderen Gefühle. Mit angezogenen Knien lag er auf der Erde und wartete, dass es endlich aufhören würde. Schließlich rollte er sich herum, kroch auf Händen und Knien zu seinen Kleidern, flüchtete in das Gebüsch am Ufer. Wasser. Er musste sich waschen, all das Ekelhafte, Unreine abwaschen. Eine Welle der Übelkeit stieg in ihm auf. Haut ab von hier, du und der Bock, der dein Vater ist. Haut ab. Das ist erst der Anfang. Nach einer kleinen Ewigkeit erreichte er den Bach, bückte sich, tauchte die Hände ins Wasser. Der Bach war viel zu klein, um darin zu ertrinken, aber tief genug, um sich hineinzulegen. Die Innereien der toten Katze klebten warm und widerlich an seiner Haut und in seinen Haaren, und als er daran dachte, wie sein eigenes Blut sich mit dem der Katze vermischt haben musste auf seiner Brust, wurde er erneut von Übelkeit geschüttelt. Kein Zweifel, sie hatten lange darüber nachgedacht, wie sie es anstellen sollten, und mit Bedacht die Katze ausgesucht. Die böse Katze, Gefährtin, Gehilfin der Hexe. Er griff sich eine Hand voll Sand, rieb sich damit durch das Gesicht, durch die Haare. Katzenblut. Seine Haut brannte wie Feuer, Tränen stiegen in seine Augen. Schluchzend kauerte er sich unter die Weidenzweige und wartete, bis es endlich dunkel wurde.

Er hatte im Wald die letzten Eicheln und Kiefernzapfen gesammelt, aber den Sack hatte er im Stich gelassen, sobald er die anderen hinter sich gehört hatte. Die Wunde auf seiner Brust schmerzte immer noch, und ihm war eiskalt nach dem Bad im Bach, als er im Schutz der Dunkelheit noch einmal zur Dorfstraße zurückkehrte, um seinen Sack zu holen. Natürlich, alles war verstreut und in den Dreck getrampelt, es lohnte nicht die Mühe, sich dafür noch einmal zu bücken. Sowieso war es fraglich gewesen, ob ihm überhaupt jemand etwas dafür gegeben hätte, gerade ihm, wo doch auch die anderen Kinder des Dorfes jeden Tag mit ihren Körben loszogen. Aber irgendetwas musste er ja tun. Immer noch vorsichtig und im Schatten der Häuser schlich er nach Hause. Ob es heute wohl etwas zu essen gäbe? Etwas Warmes, das wäre gut jetzt. Aber dafür müsste der Vater heute irgendeine Arbeit gefunden und etwas verdient haben; müsste wenigstens versucht haben, eine Arbeit zu finden und nicht nur irgendwo zu hocken und vor sich hin zu stieren.

Er durchquerte das umzäunte Gärtchen, das langsam zuwucherte, seit niemand sich mehr darum kümmerte. Eine Distel zerkratzte seine nackten Waden, und irgendein kleines Tier huschte vor ihm über den Weg. Früher hätte es hier kein Unkraut gegeben, im Gegenteil, seine Mutter hätte die Herbstbeete leer geräumt und schon vorbereitet für das nächste Frühjahr, und irgendwo in einem Eckchen hätte sich bestimmt ein Kopf Winterkohl gefunden. Er begann zu träumen. Kaum einer hätte gedacht, was für köstliche Mahlzeiten man aus dem Winterkohl zubereiten konnte. Nur seine Mutter konnte das. Aus alter Gewohnheit schaute er noch nach der Tür zum Hühnerhaus, obwohl er wusste, dass es schon seit Wochen leer stand. Vielleicht war es sogar einer der Nachbarn gewesen, der eines Nachts alle Hühner abgestochen und in den Garten geworfen hatte.

Im Haus war es dunkel, aber das musste nichts heißen. Manchmal saß der Vater auch im Dunkeln auf der Bank und starrte in die kalte Glut der Kochstelle, für Stunden, oder auch die ganze Nacht. Nicklas hörte dann nur sein schweres Atmen, wenn er selbst nicht schlafen konnte. An diesem Abend war das Haus leer, als er sich endlich durch die Tür schob. Der Vater hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verriegeln; wer hineinwollte, kam sowieso hinein, das wusste er schon. Nicklas tastete sich vorsichtig durch das Dunkel. Es roch muffig und nach ranzigem Fett, und seine Füße streiften etwas Weiches. Morgen, bei Tageslicht, würde er wieder Ordnung machen, schoss es ihm durch den Kopf. Die Stube fegen und weißen Sand auf den gestampften Lehmboden streuen. Die Asche im Herd war völlig kalt, also konnte der Vater heute überhaupt kein Feuer gemacht haben. Er würde nichts zu essen finden bis auf das kleine Stückchen Brot, das am Morgen noch oben im Brotkasten gelegen und das er nach langem Kampf gegen seinen knurrenden Magen liegen gelassen hatte.

Es dauerte eine Weile, bis er in der Finsternis endlich das Brot in der Hand hielt und sich damit auf seinen Strohsack kauerte. Noch vor wenigen Jahren hatten sie auf einem Strohlager direkt auf dem gestampften Lehmboden geschlafen, bis Gerold ein hölzernes Gestell gezimmert hatte, auf dem sich jetzt ihre Bettstatt befand. Das war im Winter wärmer, und auch die Ratten und Mäuse ließen einen eher in Ruhe. Zwischen seinen Decken hatte er ein Haarband versteckt. Er zog es heraus, drückte es an seine Wange. Der Geruch wurde schon schwächer, irgendwann würde es genauso riechen wie die Decken, nach muffigem Stroh, Schweiß und Mäuseurin. Er biss die Zähne zusammen. Das war alles, was er noch von ihr hatte, dieses kleine, verschossene Band. Alles andere hatte der Vater verbrannt, noch am selben Tag, als es geschehen war, so als hätte er Angst, später würde ihm die Kraft dazu fehlen. Nicklas schloss die Augen und hoffte, er würde die vergangenen Stunden vergessen können. Morgen würde er mit dem Vater sprechen. Er wollte nicht länger hier bleiben, in diesem Haus, in ihrem Haus, wo ihn alles an sie erinnerte. Er wollte nicht wieder und wieder vor den Dorfjungen davonlaufen müssen, immer in Angst leben. Er wollte sich nur noch irgendwo verkriechen, wo niemand etwas von ihnen wusste, verkriechen wie ein verletztes kleines Tier.

Stunden später kam der Vater zurück. Gerold Hübner war ein großer, knochiger Mann, ein zuverlässiger Arbeiter, Holzfäller und Erntehelfer. Er hätte alles gemacht, was im Dorf an Arbeit anfiel, wenn ihn jemand gewollt hätte. Doch stattdessen hatte er auch diesen Tag im Wald verbracht. Wozu sollte er auch in eine Schenke gehen, es wäre ja doch keiner bereit gewesen, sich zu ihm zu setzen, in seiner Gesellschaft ein Bier zu trinken. Er hatte stets allein getrunken in den letzten Tagen, bis er wie besinnungslos da zusammensank, wo er gerade den letzten Schluck genommen hatte. Aber heute war nur noch ein kleiner Rest Branntwein übrig gewesen. Er hatte ihn von einem Hausierer gekauft, von den paar Münzen, die Josefa im Laufe der Jahre mühsam zusammengespart hatte, damit es ihnen einmal besser gehen sollte. Josefa, die kleine Frau mit den geschickten Händen, die immer noch brannte vor seinen Augen wie ein Stück trockenes Buchenholz. Es war zu wenig übrig gewesen heute, um das zu vergessen. Mit einem leisen Fluch öffnete er die Tür.

Er entzündete ein Talglicht und leuchtete sich seinen Weg zu dem Jungen hinüber, der in seiner Ecke lag und schlief. Selbst in diesem spärlichen Licht sah das schlafende Gesicht zerquält und hilflos aus, oder bildete er sich das vielleicht nur ein? Der Junge hatte Striemen und Kratzer auf der Backe, wahrscheinlich hatte er sich schon wieder geprügelt. Er war ein schlechter Vater. Nicht einmal das brachte er zuwege, seinen Sohn davor zu beschützen, von den anderen zusammengeschlagen zu werden. Mit ungewohnter Zärtlichkeit strich er dem schlafenden Jungen über das Haar. Das war früher nie seine Aufgabe gewesen: Trost zu spenden. Er wusste nicht, ob er es noch lernen würde, da er sich doch selbst so trostlos fühlte. Er konnte mit dem Jungen nicht über das sprechen, was in ihm selbst vorging. Nicht einmal für sich selbst fand er die Worte, die ihm einen Weg aus der Hölle seiner Gedanken gewiesen hätten.

Er stellte das Licht auf den Tisch und zog sich die ledernen Schuhe aus, die mit einem Band um die Knöchel gehalten wurden. Hoffentlich war noch etwas zu essen für den Jungen da gewesen, er hatte heute Morgen nicht mehr danach geschaut, als er gegangen war. Morgen würde er ihnen etwas kochen, nahm er sich vor. Vielleicht würden sie gemeinsam einen Fisch fangen. Und dann würden sie reden. Ganz in Gedanken griff er in seine Tasche und zog den zerknüllten Zettel heraus. Drei Fuder Holz, stand darauf, das wusste er, auch wenn er selbst es nicht lesen konnte. Der Zentbüttel hatte es ihm vorgelesen. Drei Fuder Holz. Reisig. Seile. Pech. «Verflucht sollt ihr sein», flüsterte er. «Verflucht.»

 

Mitten in der Nacht schreckte Herrad hoch. Ihr Atem kam keuchend und pfeifend, und sie fühlte sich fiebrig. Sie hängte sich ihre Decke um und lief zum offenen Fenster, durch das die kühle feuchte Nachtluft hereinwehte. Die frische Luft würde ihr Erleichterung bringen, das wusste sie aus vielen vergangenen Nächten, in denen sie nach Atem gerungen hatte. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen, und allmählich wurde ihr die Brust wieder frei. Als ihr Atem sich beruhigt hatte, ließ sie ihren Blick durch die Kammer wandern. Dort, auf demselben Bettgestell wie sie, schlief Anna, die ältere Schwester, mit leicht geöffnetem Mund, und hinter den Vorhängen des großen Bettes schnarchte der Schmied neben seiner Frau. Der Schlafplatz von Contz, dem ältesten Bruder, war noch leer; er kam und ging, wie er es wollte. Und Dietmar schlief in der Kammer neben der Werkstatt. Zum ersten Mal war Herrad froh, dass ihre Träume nicht den Raum mit denen des Bruders teilen mussten. Zitternd kroch sie zurück unter ihre Decken und drückte sich eng an den schlafwarmen Rücken der Schwester, aber sie konnte nicht in den Schlaf zurückfinden.

Die Gedanken tobten durch ihren Kopf wie ein Meute wilder Hunde, die sich um einen Knochen balgten. Warum nur war sie heute zu der Stelle am Bach gelaufen und hatte sich dort versteckt? Warum war sie nicht einfach zu Hause geblieben? Andere Mädchen streunten nicht allein herum. Andere Mädchen waren nicht so neugierig und vorwitzig und liefen den großen Jungen hinterher. Aber sie war nicht wie andere Mädchen; sie hatte immer gewusst, dass sie etwas Besonderes war, denn sie würde einmal die Bäuerin auf dem Schultheißenhof sein.

Es war eine ungewöhnliche Ehrung, die ihr damit zuteil wurde – ihr, der Jüngsten, und nicht der älteren Schwester. Dieses Ungewöhnliche sah sie in den glänzenden Augen des Schmieds, wenn er mit ihr sprach, ihr die Hand auf die Schulter legte, sie hörte es in dem Getuschel der anderen Dorfmädchen beim gemeinsamen Waschen der Wäsche im Frühlingsbach, selbst in den Scheltworten der Mutter, die doch niemals die Hand gegen sie erhoben hatte. Das Ungewöhnliche gehörte zu ihr wie ihr helles Haar oder das kleine braune Mal über ihrer Lippe.

Erst sehr viel später war ihr aufgegangen, dass sie nicht nur Herrin über den reichsten Hof des Dorfes werden würde, sondern auch Ehefrau des ältesten Schultheißensohnes Jakob, der gut fünf Jahre älter war als sie. So hatten die Eltern es ausgemacht, als sie zur Welt gekommen war, und sie nahm es als gegeben hin. Die Schultheißfamilie, Pate und Gode waren ihr schließlich fast ebenso vertraut wie ihre eigenen Eltern und Geschwister; nur manchmal schien es ihr eine merkwürdige Vorstellung, dass der zurückhaltende Jakob, der für sie eher wie ein weiterer Bruder war, einmal ihr Mann sein würde. Und so beobachtete sie ihn mit nie versiegender Neugier, ohne dass er es je bemerkte. Schließlich war er fast ein Mann; wie würde er da, wenn er mit den anderen Burschen zusammen war, auf ein kleines Mädchen achten, das ihm sowieso eines Tages gehören würde.

Er bemerkte sie nicht, wenn sie beobachtete, wie er mit dem Vater den Ochsenpflug führte; wenn ihre Augen ihn aussonderten aus der Gruppe der Männer, die frisch geschlagenes Holz auf Schlitten aus dem Wald zum Dorf zogen; wenn sie sich beim Erntetanz, für den sie noch zu jung war, unter die Sträucher am Rand des Tanzplatzes kauerte und jeder seiner Bewegungen mit den Augen folgte, darauf hoffte, etwas Besonderes, Ungewöhnliches an ihm herauszufinden. Er hatte sie nicht bemerkt, als er mit seinen Freunden durchs Dorf hetzte, um es dem Hexenbalg zu besorgen, und war viel zu erregt gewesen, um zu sehen, wie sie ihnen gefolgt war, sich am Flussufer versteckt und beobachtet hatte. So war es gewesen, und jetzt wünschte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, niemals den Gedanken gehabt zu haben, etwas Besonderes zu sein. Sie verstand nicht, was sie gesehen hatte, aber sie spürte dunkel, dass es nach diesem Tag in ihrer Welt keinen heilen Ort mehr gab, an den sie sich zurückziehen konnte.

 

Unter dem niedrigen Himmel hing der Rauch. Gerold sah die grauen Wolken aus den Rauchabzügen aufsteigen, roch den beißenden Qualm. Überall würden sie zusammensitzen vor dem Feuer, die Frauen würden in ihren Töpfen rühren, die Männer vielleicht noch das eine oder andere Gerät ausbessern, die Kinder auf dem Fußboden spielen, vor dem Feuer. Sein eigener Herd war kalt, wie schon seit Tagen, kalte Asche. Der Junge war noch unterwegs, obwohl es doch schon dunkel wurde. Was machte er nur so lange da draußen, es gab doch nichts mehr für ihn zu tun! Vielleicht wollte er einfach nicht nach Hause. Gerold suchte in seinen Taschen, bis er Flint und Stahl gefunden hatte, warf eine Hand voll Reisig auf die Feuerstelle, entzündete ein Büschel trockenes Heu. Die Flammen leckten über seine Finger, und er zog erschreckt seine Hand zurück, spuckte auf die verbrannte Stelle. So also war dieser Schmerz. Er blieb vor dem emporzüngelnden Feuer sitzen und blickte mit starren Augen in die Flammen, als könnte er durch sie hindurch in eine andere Wirklichkeit schauen.

Nach Einbruch der Dunkelheit lag das Dorf da wie tot. Licht war kostbar; kaum einer, der Öllampen oder Kerzen besessen hätte. Am besten war es, man begab sich zur Ruhe, sobald die Flammen des Kochfeuers heruntergebrannt waren, und stand am Morgen mit dem ersten Tageslicht wieder auf. Nur beim Schultheiß flackerte ein Licht, da hatten sich die Frauen und Mädchen an diesem Abend zum Spinnen getroffen. Man musste viel spinnen, bis all das Außergewöhnliche, das Schreckliche, das geschehen war, besprochen war. Aber schließlich schickte die Schultheißin alle nach Hause. Sollte sie die halbe Nacht aufbleiben und schwätzen? Schließlich würde morgen wieder ein arbeitsreicher Tag anbrechen. Überhaupt, sie hatten so viel gesponnen dieses Jahr, es wurde Zeit, die Webstühle vorzuholen und Tuch zu machen für den Händler, der jedes Jahr zum Ende des Winters kam und Stoffe kaufte für die wohlhabenden Bürger in der Stadt.

Wenig später an diesem Abend läutete die Feuerglocke. Die Männer, Frauen und Kinder, die sich schon zum Schlafen niedergelegt hatten, schreckten von ihren Lagern hoch. Es brannte! Jeder wusste, was er zu tun hatte, jeder riss seinen Ledereimer vom Haken, hastete in die Dunkelheit, die von der brennenden Scheune des Schmieds erhellt wurde. Gott sei Dank, den Schmied hatte es getroffen, nicht das eigene Haus, die eigene Scheune! Der Schmied konnte wohl was verkraften, der hatte mehr als die meisten anderen.

Außer der Kirche gab es kein Gebäude im Dorf, das aus Stein gebaut war, und ein aufkommender Wind, ein fliegender Funken konnten genügen, um die ganze Ansiedlung in Schutt und Asche zu legen, wie es zuletzt vor gut zwanzig Jahren geschehen war. Haushoch loderten die Flammen, die Luft war erfüllt vom Schreien und Rufen der Menschen, denen der Rauch das Atmen zur Qual machte. Der Schultheiß versuchte, eine Eimerkette bis zum Bach hinunter bilden zu lassen. Der Schweiß strömte über sein Gesicht, während er auf die Helfer einbrüllte. «Nein, dort herunter, hier vorne ist das Wasser nicht tief genug! Die Kinder sollen sehen, ob sie noch andere Gefäße in den Häusern finden können! Und du, Veit Schüssler, geh nach vorne und sieh zu, ob du die Kühe noch heraustreiben kannst …» Da krachte mit ungeheurem Getöse das Scheunendach ein, und die Männer, die ganz vorne gearbeitet hatten, sprangen schreiend vor den herumfliegenden brennenden Holzteilen zurück. Der Schmied selbst ging von einer Latte getroffen zu Boden und musste von den anderen weggeschleift werden. Die Scheunenwände brannten jetzt lichterloh, und die Flammen schossen noch einmal hoch in den Nachthimmel wie die ewigen Flammen der Hölle. An der Scheune war nichts mehr zu retten, und was auch immer noch darin gewesen war, ob Mensch, Vieh oder Arbeitsgerät, war verloren. Der eine oder andere bekreuzigte sich oder fluchte, aber der Schultheiß übertönte sie alle. «Weiter, weiter, Leute, damit das Feuer nicht auf die Nachbarhäuser übergreift!» Er griff sich einen nassen Leinensack und begann damit auf das schon schwelende Buschwerk einzuschlagen, während andere den Inhalt ihrer Eimer gegen die hölzernen Wände des nächstgelegenen Gebäudes schütteten. Es war schon nach Mitternacht, als die unmittelbare Gefahr endlich gebannt war. Von der Scheune war nur noch ein schwelender Haufen schwarzes Holz übrig. Die Menschen waren zu erschöpft, um noch in das Dankgebet einzufallen, das der Vikar schließlich anstimmte. «Großer Gott, wir danken dir, dass du unser Dorf vor der Feuersbrunst bewahrt hast! Heilige Maria, Mutter Gottes, du hast schützend deinen Mantel ausgebreitet …»

Der Schmied hörte die Worte nur von ungefähr. Seine Schläfe schmerzte noch von dem Schlag, den der brennende Balken ihm versetzt hatte, und wie betäubt versuchte er für sich zu ermessen, wie groß sein Schaden war. Die Scheune war hin; seine Heu- und Getreidevorräte und mindestens zwei Kühe mussten in den Flammen umgekommen sein. «Verfluchtes Feuer!», stieß er zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. Er war einer der vermögendsten Leute hier im Dorf und lebte nicht allein von den Feldern, die er bewirtschaftete, sondern hauptsächlich von der Schmiede, aber dieser Verlust traf ihn doch schmerzlich. Wenigstens war die Familie unversehrt geblieben.

«Wie konnte das nur passieren?», wandte er sich fassungslos an seinen Nachbarn. «Es gab kein Gewitter, keinen Sturm …»

Der andere zuckte die Schultern. «Wer weiß. Ein letzter Gruß von der Zauberin vielleicht.»

Der Schmied schrak zusammen, und es überlief ihn heiß und kalt. Würden sie denn nie Ruhe haben? «Gott schütze uns und unser Dorf», murmelte er wie für sich, aber der andere hatte ihn doch gehört und nickte ernst.

«Geh nach Hause zurück, Contz Schmied, und versuch noch ein bisschen Schlaf zu finden. Morgen früh geh ich mit dir rüber, und wir sehen uns gemeinsam an, was noch zu retten ist.»

In stummem Einverständnis trafen sich die Männer des Dorfes am nächsten Morgen, um gemeinsam mit dem Schmied die Ruinen seiner Scheune zu begutachten, den Schutt wegzuräumen und nachzusehen, ob doch noch irgendetwas Brauchbares den Flammen entgangen war. Natürlich waren es in erster Linie der Schmied und seine Familie, die das Unglück getroffen hatte, aber irgendwie ging es doch alle an. Man würde ihm von den eigenen Vorräten abgeben und helfen, dass er mit Hof und Gut über den Winter kam, immer in dem sicheren Wissen, dass auch einem selbst, sollte es nötig werden, die Hilfe der Dorfgemeinschaft zuteil werden würde.

Ein paar Männer hatten sich lange Stangen mitgebracht, mit denen sie die zum Teil noch glimmenden Balken auseinander schoben. Plötzlich stieß einer einen lauten Schrei aus, wich ein paar Schritte zurück und bekreuzigte sich. Die anderen drehten sich aufgeschreckt um. «He, was ist mit dir? Siehst du Gespenster?»

Henchin Weiß, der den Schrei ausgestoßen hatte, war leichenblass geworden, und mit seinen zitternden Fingern hielt er sich an der Stange fest. «Da liegt einer, unter den Brettern. Ich hab seinen Fuß rausgucken sehen.»

Der Schultheiß räusperte sich, packte seine Schaufel fester und machte entschlossen ein paar Schritte zu der Stelle hinüber, an der Weiß gearbeitet hatte. «Los, wir holen ihn raus.» Und schweigend begann er, die kreuz und quer übereinander liegenden Holzbretter zur Seite zu räumen. Einer lag darunter. Wer von ihnen war heute Morgen nicht gekommen, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen? Waren denn nicht alle da? Suchend ließ er seine Augen über die verstörten Männer wandern.

Natürlich, der Tagelöhner. Er musste es sein. Er und seine Familie hatten nie richtig dazugehört, und schon gar nicht nach den Dingen, die sich erst vor kurzem ereignet hatten. Und so hatte im Chaos der letzten Nacht niemand sein Fehlen bei den Löscharbeiten bemerkt, und auch heute Morgen waren sie eigentlich froh gewesen, dass er sich nicht an ihrer gemeinsamen Arbeit beteiligt hatte. Ja, sie waren froh gewesen, endlich von ihm gemieden zu werden, wie sie selbst sich angewöhnt hatten, ihn zu meiden. Niemand hatte ihn vermisst. Martin, der Schultheiß, war sich jetzt ganz sicher, noch bevor er den letzten Schutt zur Seite geschafft und die Leiche auf den Rücken gedreht hatte. Ja, er konnte es sein, wenn man auch das entstellte, verkohlte Gesicht nicht sicher erkennen konnte, die Größe stimmte. Schaudernd wandte sich der Schultheiß den übrigen Männern zu. «Es muss Gerold sein, der Tagelöhner», sagte er leise. «Holt eine Decke. Wir wollen ihn zur Kirche hinüberbringen.» Henchin Weiß, der Mann, der die Leiche entdeckt hatte, kniff die Lippen zusammen und machte einen Schritt zurück.

«Ich fass den nicht an, ich nicht! Den hat sich der Teufel geholt, heim zu seiner Hexe, das war auch einer von denen. Seht ihr’s denn nicht? Warum, glaubt ihr, hat denn ausgerechnet dem Contz seine Scheune gebrannt, nicht deine oder meine? Weil seine Hausfrau gegen die Zauberin ausgesagt hat beim Zentgrafen, deshalb! Weil sie alles erzählt hat, von der Herrad und dem toten Fohlen! Und jetzt hat er sich gerächt, der Gerold! Ein Zauberischer ist er gewesen, genauso wie sie!»

Einige der Männer nickten ihre Zustimmung. Ja, so musste es gewesen sein! Am besten, man verscharrte den Leichnam irgendwo im Wald, oder, besser noch, er wurde verbrannt wie die Hexe auch.

Der Schultheiß runzelte die Stirn. «Mir hat er nie was Böses getan, und ich hab auch von keinem was Böses über ihn gehört, solange er gelebt hat. Und jetzt hilft mir einer, den Mann zur Kirche hochzubringen.» Erwartungsvoll schaute er die Männer an, die er schon seit Jahrzehnten kannte, aber die meisten wandten sich murrend ab. Er spuckte wütend auf den Boden. «Los jetzt, Contz Schmied, du hilfst mir!»

Und widerwillig schickte der Schmied einen seiner Söhne los, eine Decke zu holen, während ein anderer nach dem Vikar lief.

Der Schultheiß tat so, als könnte er die drohenden und bösen Worte der zurückbleibenden Bauern nicht hören, während er mit dem Schmied die Leiche in der Decke den Kirchhügel hochschleifte. Na wenn schon, dachte er trotzig. Dann werden sie mich eben im nächsten Jahr nicht mehr wählen, na wenn schon. Mir hat er nichts Böses getan, und ich glaub’s nicht.

Als hätte er seine Gedanken lesen können, sagte Contz: «Kann’s nicht glauben, dass der auch mit dem Teufel im Bunde war, der nicht.» Er legte seine Bürde für einen Augenblick ab und kratzte sich den Kopf. «Aber wenn du meine Meinung wissen willst, Martin, ich kann trotzdem erst wieder ruhig schlafen, wenn keiner von denen mehr im Dorf ist.» Er machte noch ein paar Schritte. «Und wenn du noch etwas wissen willst: Wenn du nicht mein Freund wärst, schon seit wir junge Burschen waren, und meine kleine Herrad über die Taufe gehalten hättest, hätt ich den nicht mit dir hier hochgeschleppt. Das macht böses Blut im Dorf.»

Dem Schultheiß stieg die Wut ins Gesicht. «Verdammt nochmal, Contz, was seid ihr doch alle für Waschweiber! Hier den Tagelöhner, den kennst du auch schon seit Jahren, wie kannst du jetzt Angst vor ihm kriegen, noch dazu, wo das arme Schwein tot ist?»

Der Schmied antwortete nicht, sondern stapfte grimmig weiter. Der hat gut reden. Seine Scheune ist’s ja nicht, die gebrannt hat, sein Kind ist’s nicht, das krank daliegt jedes Jahr und oft schon fast gestorben ist!

«Was ist eigentlich mit dem Jungen, dem Nicklas?», hörte er plötzlich Martins Stimme.

«Welcher Junge?», fragte er verständnislos zurück.

«Na, der vom Gerold, hast du den irgendwo gesehen?»

Der Schmied fluchte leise vor sich hin. «Nein, hab nichts von dem gesehen, und am liebsten wär’s mir, ich müsst auch nie mehr was von dem sehn. Am besten hätte ihn der Alte gleich mitgenommen.» Sie waren mittlerweile an der Kirche angekommen und trugen den Leichnam gleich hinein in den Kirchhof, wo sie ihn im Schatten der Mauer auf die Erde legten. «Mach, was du willst, Schultheiß, ich will mit keinem von dem Pack noch was zu tun haben, hast du verstanden?», knurrte der Schmied noch und schlurfte dann ohne ein weiteres Wort zu den anderen Bauern den Hügel wieder hinunter.

Der Schultheiß blieb achselzuckend zurück. Mit einem leisen Schaudern bückte er sich zu dem verbrannten Gesicht hinunter und betrachtete die entstellten Züge. Sie erfüllten ihn mit einer Mischung aus Grauen und Neugier. War dieser Mann mit dem Bösen verbündet gewesen wie seine Hausfrau? Hatte er den Teufelspakt geschlossen und dem Dorf Übles zugefügt? Denn Übles hatten sie wahrhaftig genug erlebt in diesen letzten Jahren! Hagelstürme, die die reifen Halme von den Ähren schlugen, Überschwemmungen, dann wieder Sommer der Dürre, Viehseuchen und vor fünf Jahren den schwarzen Tod, der – Dank sei dem ewigen Gott! – dieses Mal nur wenige Opfer gefordert hatte. War dieser Mann mit schuld daran? Er konnte kein Zeichen, keinen Hinweis an dem Toten entdecken. Aber der Teufel war schlau, keiner vor ihm sicher. Den Weisen konnte er ebenso verführen wie den Toren, den Stadtherrn wie den Bauern, das Stiftsfräulein wie die Hure, und wem von denen hätte man’s ansehen können, dass sie ihre Seele dem Bösen geweiht hatten? Vielleicht war es wirklich nicht gut, den Tagelöhner auf dem Kirchhof hier oben zu begraben, wo auch er selbst irgendwann einmal auf das Jüngste Gericht warten würde. Seufzend wandte sich der Schultheiß ab und ging zu der Hütte hinüber, in der der Vikar wohnte. Der Vikar würde ihm raten können, auch, was den Jungen anging.

 

Wieder war der Vater nicht zu Hause gewesen in der Nacht, auch nicht, als die Feuerglocke läutete, und er hatte Angst gehabt. Angst vor dem Feuer, das leicht auch ihre eigene Hütte verzehren könnte, Angst davor, allein dazubleiben, Angst davor, den Eimer zu nehmen und mit den anderen draußen beim Löschen zu helfen, Angst davor, die Dorfjungen könnten ihn in dem höllischen Albtraum draußen in die Flammen stoßen. Zusammengekauert unter seiner Decke, drückte er sich in eine Ecke, das Haarband fest mit der Faust umklammert, und wartete darauf, dass draußen der Lärm erstarb und es dann, endlich, Morgen werden würde.

Die Schritte vor der Tür ließen ihn zusammenschrecken. Das war nicht der Vater mit seinen schwieligen Füßen in den einfachen Bundschuhen. Er drückte sich noch weiter an die Wand und starrte in den Lichtschein, der von draußen hereindrang. Zuerst konnte er nichts erkennen, so sehr war er geblendet. «Da sitzt er», hörte er jemanden sagen. «Los, Junge, steh auf und komm her. Du kannst hier nicht bleiben.» Zwei große Gestalten traten zu ihm hin, streckten die Hände nach ihm aus, und er begann zu schreien, zu kratzen, zu treten, bis der eine ihn festhielt.

«Ist doch gut, Junge, wir wollen dir nichts tun. Du kennst uns doch?»

Allmählich drangen die Gesichter in sein Hirn vor. Der Schultheiß. Der Vikar. Zögernd stand er auf. Seine Augen brannten. «Wo ist mein Vater?», fragte er kaum hörbar.

«Komm jetzt.» Der Vikar schubste ihn in Richtung Tür.

Plötzlich blieb der Junge stehen. Seine Stimme zitterte. «Ich – ich brauch noch was –» Er tappte zurück zu der Stelle, wo sie ihn gefunden hatten, und bückte sich nach dem Stofffetzen, der auf den Boden gefallen war. Dann folgte er den Männern aus der Hütte.

 

Ohne dass sie vorher darüber gesprochen hätten, kamen die Männer an diesem Abend an der Tagelöhnerhütte wieder zusammen. Selbst der Schultheiß war dabei, grimmig, schweigsam. Sie nahmen ihre Äxte und Dreschflegel und schlugen die Hütte zusammen, Balken um Balken, Latte um Latte, schichteten das Holz auf und steckten es an. Kaum einer hatte ein Wort gesprochen, kaum einer dem anderen in die Augen geblickt. Jeder wusste, dass auch der andere Angst hatte, und diese Angst trieb sie an. Als die Flammen in den dunklen Nachthimmel loderten, war ihnen, als wiche ein dunkler Schatten von ihrer Seele, als würden auch sie selbst erleuchtet von diesem reinigenden Feuer. «Lasst uns nach Hause gehen», murmelte einer. «Wir haben getan, was getan werden musste.» Stumm schulterten sie ihre Werkzeuge und schlurften durch die Dunkelheit davon, jeder zu seiner eigenen Hütte.

Kapitel 2 1495

Niemand im Dorf konnte so recht verstehen, warum der Vikar von Brettenbach allein lebte. Viele andere Geistliche hatten eine Frau, die ihnen einen Teil der Arbeit abnahm und das Leben erleichterte. Wer hätte schon etwas einzuwenden gehabt gegen eine Pfarrjungfer? Jeder wusste, dass ein Mann nicht allein leben konnte, Kleriker oder nicht! Aber der Vikar hatte natürlich selbst schon kaum genug zu beißen. Die Leute aus dem Dorf sahen nur allzu gut, dass er von dem bisschen, was ihm am Peter- und Paulstag der Abgesandte des Dominikanerklosters in Hanstein als seinen Anteil vom Kirchenzehnten überreichte, nicht leben konnte, und sie teilten seinen Groll darüber. Das Kloster mit seinen Ländereien und Einkünften zählte durchaus zu den reicheren Besitzungen der Gegend, und es hätte für die frommen Brüder doch ein Leichtes sein müssen, der kleinen Hilfspfarrei Brettenbach ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Aber die Brüder hatten andere Dinge zu bedenken als eine heruntergekommene Dorfkirche mit ihrem halbgebildeten Geistlichen.

Der Pfarrzehnte des Dorfes, die eigentliche Pfründe, mit der diese Kirche einmal ausgestattet worden war, ging schon seit Jahren an das Dominikanerkloster in Hanstein, das von den Hansteinern in den letzten hundert Jahren mit zahlreichen Stiftungen bedacht worden war. Denn die edlen Herren versprachen sich für ihr Seelenheil mehr von den Dominikanerbrüdern als von der einfachen Dorfkirche, und so hatten sie den Mönchen das Kirchlein mit allen seinen Einkünften überschrieben. Während die Hansteiner selbst sich noch das Recht vorbehielten, die Altaristenstelle zu besetzen, hatte das Kloster die Pflicht, den jeweiligen Kleriker zu besolden – eine Pflicht, der man mehr schlecht als recht nachkam.

Gleichzeitig hatten die Hansteiner in einem Akt himmelschreiender Ungerechtigkeit dem Dorf seine Pfarrhoheit genommen und der doch viel später gebauten Pfarrkirche in Hanstein übertragen – und der Bischof, Gott verfluche seine käufliche Seele, hatte dem auch noch zugestimmt. Das hatte damals fast zu einem Aufstand der Bauern geführt. Sie, die immer einen eigenen Pfarrer gehabt hatten, sollten nun nur noch eine jämmerliche Messe mitten in der Woche hören? Sollten an jedem Sonntag, zu jeder Taufe, jedem Begräbnis den beschwerlichen Weg nach Hanstein machen? Und wenn einer im Sterben lag – würde bei schlechtem Wetter rechtzeitig ein Geistlicher zu ihnen hochkommen, um der armen Seele die Letzte Ölung zu spenden? Wollte man ihnen die ewige Seligkeit stehlen? Nein, das konnten sie nicht hinnehmen.

So waren sie mit Mistforken und Dreschflegeln hinunter nach Hanstein gezogen, als Kämpfer für den Glauben und ihre gerechte Sache, nicht anders als die Kreuzritter vor Hunderten von Jahren im Heiligen Land. Da hatten sie große Augen gemacht, die eingebildeten Bürger von Hanstein, hatten flugs ihre Tore verbarrikadiert und Mord und Brand geschrien. Aber der damalige Burgherr hatte gewusst, dass er seine Bauern brauchte, bezahlten sie doch mit ihren Abgaben sein sorgloses Leben. Er hatte dafür gesorgt, dass der kleinen Kirche ihre Rechte zurückgegeben wurden – fast alle jedenfalls. Einen Pfarrer bekamen sie nicht mehr, nur einen Kaplan, der aber die Sakramente spenden durfte und ansonsten dem Pfarrer in Hanstein unterstellt war. Zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten musste dieser Kaplan in der Pfarrkirche helfen, und seine Schäfchen mussten mit ihm gemeinsam zum Gottesdienst ins Tal pilgern. Aber damit konnten sie leben, die stolzen Brettenbacher. Hatten sie nicht einen Sieg errungen über Stadt und Burg, gezeigt, dass alle mit ihnen rechnen mussten? Sie waren sehr zufrieden mit sich.

Der jetzige Vikar war allerdings eine wenig eindrucksvolle Erscheinung. Vor Jahren gleich nach der Weihe an diese Filialkirche abkommandiert, war er inzwischen eigentlich längst schon Kaplan, aber er hatte es nie durchsetzen können, dass ihn die Leute auch so ansprachen. Für sie blieb er der Vikar, ein kleiner Hilfsgeistlicher, der sich mit seinen paar Schafen und Ziegen und den zwei Äckern, die ihm zugestanden waren, gerade so über Wasser halten konnte. Lieber heute als morgen hätte er seine Stelle gegen eine gut dotierte Stadtpfarrei eingetauscht. Aber solche Stellen waren selten, sehr selten, und ohne einen guten Namen und noch bessere Beziehungen zu den einflussreichen Männern in Kirche und Reich brauchte keiner aus dem Heer der Hilfsgeistlichen und stellenlosen Kleriker sich darauf Hoffnungen zu machen. So war der Vikar schon seit fünfzehn Jahren hier, und es sah ganz danach aus, als ob er auch hier auf diesem Kirchhof dereinst seine letzte Ruhestätte finden würde.

Im Dorf wurde viel geschwätzt über den Vikar, aber im Grunde waren die Leute doch ganz zufrieden mit ihm. Sie konnten verstehen, dass er für alles, was er tat, für Gebete, Taufen, Begräbnisse, Seelenämter eine kleine Spende haben wollte, und sahen es ihm nach, wenn die Sonntagsmesse manchmal ausfiel, weil in der Nacht die Schafe gelammt hatten oder der Herr Vikar nach einer Taufe noch zu einem Schluck oder mehr eingeladen worden war. Und wenn die Männer dem Vikar seinen Anteil am Holz zumaßen oder das kleine Stück Land, das er mit ihrer Hilfe jedes Jahr bestellte, waren sie nicht kleinlich.

 

Durch die Eichenholzpforte an der Westseite betrat der Vikar das Innere der Dorfkirche. Der einfache, rechteckige Raum wurde nur dürftig von dem Licht erhellt, das durch wenige halbrunde hoch gelegene Fensternischen fiel. Wie immer, und wie es wohl auch die Absicht des frommen Erbauers gewesen war, fiel der Blick des Geistlichen zuerst auf den Altar an der gegenüberliegenden Wand, die leicht nach außen gewölbt war und damit eine Apsis andeutete. Ein namenloser Steinmetz hatte den Altartisch aus einem großen Granitquader der Gegend gefertigt, den er nur an der oberen Seite blank geschliffen und poliert hatte, sodass es jetzt wirkte, als liege ein Felsblock im Altarraum. Die Stifter hatten die kleine Kirche damals dem heiligen Petrus, dem Apostelfürsten, geweiht, und es mochte sein, dass der Künstler jenes Petruswort im Sinn hatte, als er diesen Altar schuf: Tu es Petrus. Direkt oberhalb des Altarraumes erhob sich der Turm, der von einem spitzen Ziegeldach gekrönt wurde. Bei Sturm kamen immer wieder Ziegel ins Rutschen, und es ging das Gerücht, dass einmal ein später Besucher des Kirchhofs im Gewitter von solch einem fallenden Ziegel erschlagen worden sei. Der Kirchenstifter, ein Ritter Ruodlof von Hanstein, war an der Seite seiner Gemahlin unterhalb des Altars bestattet; zwei verwitterte Grabplatten erinnerten daran. Die späteren Herren der Burg Hanstein allerdings hatten sich eine eigene Kapelle und einen eigenen Kirchhof errichtet und das Interesse an der kleinen Bergkirche verloren. So fanden sich darin auch weder wertvolle Einrichtungsgegenstände noch kunstvoller Wandschmuck, sondern lediglich ein paar einfache Heiligenbilder und ein großes hölzernes Kreuz, das ein begabter Schnitzer aus dem Dorf vor mehr als hundert Jahren geschaffen hatte. Ein Christus, für dessen zarten Leib keiner der jungen Bauernburschen des Dorfes Vorbild gewesen sein konnte, erlitt daran einen jämmerlichen Schmerzenstod – ein Bildwerk, das dem Betrachter nur wenig Trost einzuflößen vermochte außerhalb der Gewissheit, dass dem Gottessohn das Leiden der Welt vertraut gewesen sein musste.

Sitzbänke oder Kniehocker gab es keine; die Gemeinde feierte die Messe im Stehen. Nur entlang des seitlichen Mauerwerks standen die Aussteuertruhen der unverheirateten Mädchen, denn die Kirche war das einzige steinerne Gebäude des Dorfes, das auch einen Brand überdauern würde, wie es sich schon mehrfach gezeigt hatte. Hierhin lenkte der Vikar seine Schritte, nachdem er vorsichtig die Kirchenpforte hinter sich geschlossen und sich vergewissert hatte, dass außer ihm und Gott niemand im Raum war. Sein Blick streifte den geschundenen Heiland, und mechanisch schlug er ein Kreuz. Auch ER war arm gewesen. Hatte ER nicht gesagt: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt? Nun, Reichtum würde man im Dorf wohl vergeblich suchen. Was es aber an bescheidenem Wohlstand gab, war in diesen Truhen angesammelt, die hier ihres Schicksals harrten.

Obwohl natürlich immer alle auf einen Sohn hofften, war es im Dorf üblich, vor der Geburt des ersten Kindes eine große Truhe vorzubereiten, so prachtvoll und schön, wie man sie sich nur leisten konnte. An dieser Stelle zu sparen wäre niemandem in den Sinn gekommen. Wurde dann ein Mädchen geboren, so stellte die Familie diese Truhe in das Zimmer der Wöchnerin, und nach altem Brauch legte jeder der vielen Besucher heimlich ein Geschenk für das neugeborene Mädchen hinein als Beitrag zur späteren Aussteuer. Und da standen sie dann, all die Aussteuertruhen, entlang der Wand des Kirchenschiffs, und man brauchte sie nur abzuzählen, um zu wissen, wie viele ehrbare Jungfern es hier gab. Der Vikar kicherte vor sich hin, als er an die Jungfern dachte, die eigentlich genauso verschlossen sein sollten wie die Truhen selbst. Aber wer konnte das schon wissen! Jedenfalls glaubten die Dorfbewohner daran, dass es Unglück brachte, vor der Vermählung aus einer fremden Truhe oder auch aus der eigenen Truhe etwas herauszunehmen; so ein Mädchen würde keinen Bräutigam finden und niemals selbst Kinder haben, davon waren alle überzeugt.

Drei Wege gab es, wie die Truhe die Kirche wieder verlassen konnte: am besten natürlich am Hochzeitstag des Mädchens, unter Jubelrufen der Freunde und geschmückt mit frischen Blüten. Dann würde die Mutter, die aus dieser Braut einmal werden sollte, die Truhe auf die älteste Tochter weitervererben. Oder aber sie verließ die Kirche unter Tränen und bedeckt mit einem schwarzen Tuch, wenn nämlich die Jungfer gestorben war, bevor sie sich vermählen konnte, und das kam nicht selten vor. Ja, einige der Bauern hatten in der Dorfversammlung schon vorgeschlagen, die Truhen erst aufzustellen, wenn die Tochter das zehnte Jahr erreicht hatte. Aber die Mehrheit war dagegen gewesen, schließlich hatte man es immer anders gemacht. Wurde aber ein Mädchen dabei erwischt, wie es schon vor der Ehe Unzucht trieb, so nahmen die anderen Mädchen seine Truhe, trugen sie aus der Kirche hinaus und warfen den Inhalt auf den nächstbesten Misthaufen. Wer einmal so entehrt worden war, konnte kaum noch darauf hoffen, unter den Burschen des Dorfes einen Bräutigam zu finden.

Zielsicher ging der Vikar zum Ende der Reihe und ließ seine Finger zärtlich über das polierte Ahornholz der Truhe von Martha, der ältesten Schultheißentochter, gleiten. Das war wirklich eine gute Aussteuer, die sich hierin verbarg! Wer sollte das besser wissen als der Vikar, der den Inhalt aller dieser Truhen schon des Öfteren gründlich untersucht hatte? Er nahm dann vielleicht ein Stückchen von dem gestärkten weißen Linnen, hielt es an seine Wangen, atmete den Duft der getrockneten Kräuter ein, die zwischen die Wäschestücke gestreut waren, und schloss die Augen. Die tranige, abweisende Martha, die jetzt noch ein Mädchen war, würde dieses Tuch aus ihrer Truhe ziehen, wenn sie einmal Hochzeit machte mit dem Cleßchin Steigleder. Dies Leintuch würde sie auf ihr Hochzeitsbett ziehen, auf die neue, prall gefüllte Strohmatratze, würde sich darüber beugen und alle Falten glatt streichen, um dann ein paar Tropfen Weihwasser darauf zu spritzen und getrocknete Blüten auf das Kopfende zu streuen. Und wenn dann die Nacht käme, und das Brautpaar würde sich zurückziehen in die Hochzeitsstube, und der Bursche würde die Hände ausstrecken nach dem warmen Fleisch, den runden Hüften und festen Brüsten, die endlich ihm gehörten, dann wäre er doch nicht der Erste, der über diesem keuschen Leintuch stöhnte. Der Vikar atmete schwer; nicht nur seine Finger waren feucht geworden.

Natürlich, bei ihnen auf dem Dorf waren die meisten Truhen voll von einfachem, fast schon grobem Weißzeug, manches schon gewendet und geflickt. Aber hier, in der Schultheißentruhe, lag auch das eine oder andere kostbare Seidentüchlein. Nie hätte er sich daran vergriffen, nie! Wenn er etwas brauchte, nahm er nur von den schlechtesten Stücken, und nie mehr als ein Teil aus einer Truhe. Und war das nicht etwa auch sein gutes Recht? War es nicht auch sein Haus, in dem diese Truhen warteten? Und jetzt hatten sie ihm einfach diesen Jungen geschickt, bettelarm und zu kaum etwas nütze, und wer fragte schon danach, was dieser Bursche fressen würde, bis er ausgewachsen war, was er anziehen, unter welchen Decken er schlafen sollte! Nein, es sollte sich keiner beklagen, dass er hier ein paar Sachen an sich nahm, dachte der Vikar bei sich. Es war, was ihm zustand. Ein grobes Leintuch, aus dem sich vielleicht das eine oder andere Kleidungsstück schneidern ließ, eine wollene Decke, das würde genügen. Bald schon hatte er gefunden, was er brauchte, und schloss die Truhe sorgfältig wieder zu.

 

Dumpf war der Junge, dumpf und stumm wie ein Tier, dachte sich der Vikar missmutig einige Tage später. Sprach man ihn an, kam keine Antwort, trat man zu ihm, dann schreckte er zurück, kauerte sich vor einer Wand, in einer Ecke zusammen. Kaum, dass er ihm einmal in das spitze Gesicht unter dem dicken dunklen Haar hatte schauen können. Lag da nicht so etwas wie Arglist in den halb geschlossenen grauen Augen, in den leicht nach unten gezogenen, klammen Mundwinkeln, in der um ein weniges zu langen Nase? Vielleicht war der Junge ja auch nicht recht bei Verstand und konnte gar nicht sprechen? Nein, das konnte es nicht sein, sagte sich der Vikar. Schließlich sprach der Junge im Schlaf, redete und schrie. Den Vikar schüttelte es, als er daran dachte. Keine Nacht hatte er mehr ruhig geschlafen, seit sie ihm diesen Burschen aufgedrängt hatten. Er hatte ja nur diesen einen Raum und dann noch den kleinen Verschlag für die Ziegen, aber da konnte er den Jungen wirklich nicht unterbringen.

Der Schultheiß hatte stumm einen Sack mit Stroh gebracht; das war sicher ein viel besseres Nachtlager als alles, was in der Tagelöhnerhütte zu finden gewesen war. Aber jede Nacht schreckte der Junge hoch, nicht nur einmal, und fing an, wirres Zeug zu murmeln, oder aber er stieß unvermutet schrille Schreie aus, die dem Vikar eiskalte Schauer über den Rücken jagten. Es musste eine Art Besessenheit sein, die den Jungen jede Nacht überfiel. Vielleicht war es ja die Hexe, die zurückkam, um sich den eigenen Sohn zu holen oder ihn zum Bösen zu verführen. Der Vikar zwang sich eine Nacht lang, wach zu bleiben und den Jungen zu beobachten, aber er konnte nichts Verdächtiges bemerken: keinen ungewöhnlichen Windzug in der Hütte, keine Schatten an der Wand, keinen Schwefelgestank, keine unerklärlichen Geräusche. Albträume waren es, dachte der Vikar beruhigt und milder gestimmt, Albträume, kein Wunder eigentlich nach allem, was geschehen war. Er selbst wusste ja nur zu gut, was das war.

Der nächste Morgen war kalt und grau. Dem Vikar kam es vor, als lege sich mit jeder Nacht eine weitere Nebelschicht über das Dorf, ein Nebel, so dicht und beherrschend, dass keine Sonne ihn jemals würde durchdringen können. Die kleine Hand voll Glut in der Feuerstelle konnte nichts ausrichten gegen die klamme Kälte, die die Hütte erfüllte. Das Jahr ging zu Ende; die Ernte war eingebracht, und man konnte nichts weiter tun, um sich gegen den nahenden Winter zu wappnen. Beten, das ja. Beten um zahnlose Kälte und ein eiliges Frühjahr, beten, dass die Vorräte reichen mochten und das geschlagene Holz, dass die Tage nicht so dunkel würden wie im Vorjahr. Dass die Augen, die sich in der Frühmesse ohne allzu große Hoffnungen auf das Kreuz richteten, auch den nächsten Frühling noch erblicken würden. Der Vikar knetete seine eisigen Finger. Sein Atem stand ihm als kleine Wolke vor dem Gesicht. Der Junge in seiner Ecke war wach, aber er rührte sich nicht, starrte mit abwesendem Blick ins Leere. Mit wenigen Schritten war der Vikar bei ihm und zog ihn an den Schultern hoch. «Los jetzt, hoch! Pack dir den Eimer und hol uns Wasser, das kannst du ja wohl, und beeil dich, sonst mach ich dir Beine!» Ohne den Blick zu heben, griff der Junge nach den beiden Ledereimern und lief los.