Der "Ziegelstadl" und ich - Stefan Fuchs - E-Book

Der "Ziegelstadl" und ich E-Book

Stefan Fuchs

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Beschreibung

Aus seinem reichen Erfahrungsschatz gewährt uns Stefan Fuchs, der von 1983 bis 2006 zuerst als Psychologe und später als Leiter im "Ziegelstadl" tätig war, Einblicke in das Leben hinter den dicken Mauern und Gittern. Sitzen dort auch Schwerverbrecherinnen und -verbrecher? Gab es schon viele Fluchtversuche? Und warum sucht man sich eigentlich einen Job im Gefängnis aus? Diese und viele weitere Fragen beantwortet er in seinem Buch. Mit stets positivem und verständnisvollem Blick, den er sich trotz seiner nicht immer ganz einfachen Arbeit bewahrt hat, erzählt er oftmals irritierende, manchmal traurige, aber auch heitere Geschichten aus der Welt der Häftlinge. Auch auf die Rolle der Justizwache und der Betreuungsdienste geht er dabei ein. Er ermöglicht damit einen authentischen Blick hinter die Kulissen des "Hotels Gitterblick".

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Stefan Fuchs

Der „Ziegelstadl“ und ich

Erinnerungen eines Gefängnisdirektors

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Der Hofratshügel
Kindheitserinnerungen
Studienzeit
Grundwehrdienst
Berufseinstieg im Gefängnis
Erste Erfahrungen im „Ziegelstadl“
Psychologischer Dienst im Gefängnis
Geschichte des „Ziegelstadl“
Die Ziegelei
Die Häftlinge
Die Justizwache
Die Sicherheit des „Ziegelstadl“
Plädoyer für einen zweckmäßigen Strafvollzug
Aufstieg in die Leitung
Goldene Jahre
„Seuchenjahre“
Timeout
Opfererfahrung
Neustart
Der „Ziegelstadl“ aus der Ferne des BMJ
Epilog
DANK
Stefan Fuchs
Der Autor
Impressum

Der Hofratshügel

Der „Mentlberg“ ist ein steiler Hügel an der südlichen Seite des Inntals, am westlichen Stadtrand von Innsbruck gelegen. Gleichzeitig bildet er den südwestlichen Ausläufer des Innsbrucker Stadtteils Wilten. Zu seinen Füßen liegt der „Sieglanger“, wie der Mentlberg selbst eine Siedlung von Einfamilienhäusern und einigen wenigen zweistöckigen Siedlungshäusern. Wenn auch beide Siedlungen zum Stadtgebiet von Innsbruck gehören, so wiesen sie, wenigstens noch zur Zeit meiner Kindheit in den 50er und 60er Jahren, einen dörflichen Charakter auf. Beinahe alle Bewohnerinnen und Bewohner dieser Siedlungen kannten sich persönlich, meist auch beim Namen. Dies änderte sich nach meiner Erinnerung erst in den 70er Jahren, als einige Wohnhäuser errichtet wurden und neue Bewohnerinnen und Bewohner zuzogen. Die wesentlichen Treffpunkte waren damals ein Fleischhauer-Laden und zwei Lebensmittelgeschäfte am Fuße des Mentlberg. Interessanterweise lagen diese fast unmittelbar nebeneinander, nur durch das altehrwürdige Gasthaus „Peterbrünnl“ getrennt, dem sogar ein Volkslied mit dem Titel „Und jetzt gang i ans Peters Brünnele“ gewidmet ist. Ja, und da stand noch etwas zwischen den beiden Lebensmittelgeschäften; die Trafik der Frau K., ein wichtiger Ort zur Kommunikation, von so manchen Bewohnerinnen und Bewohnern des Mentlberg stundenlang genutzt war doch Frau K. eine sehr freundliche, äußerst kommunikative und reizvolle Dame. Dieser Umstand förderte zumindest meine Motivation, allwöchentlich bei ihr mein Mickey-Mouse-Heft zu kaufen. Die Trafik der Frau K. war übrigens so winzig, dass neben der Geschäftsfrau maximal zwei Kundinnen und Kunden zur selben Zeit im Laden Platz fanden.

Der Mentlberg wird durch vier Straßen erschlossen, welche sich nach ursprünglich gemeinsamer Zufahrt neben dem „Peterbrünnl“ wie vier Finger durch die Siedlung erstrecken. Meine Familie gehörte zur absoluten „Oberschicht“ des Mentlberg, wohnten wir doch in der obersten Straße, der Waldstraße. Dieser Name ist mehr als gerechtfertigt, die Straße zieht sich unmittelbar am Waldrand entlang und mündet genau vor dem ehemaligen Haus meiner Großeltern in einen damals schmalen Waldweg, heute schon breiteren Forstweg. Den ersten Stock des Häuschens bewohnten meine Großeltern, in der Parterrewohnung wuchs ich bei meinen Eltern auf. Es war ein nettes kleines Häuschen mit relativ großem Garten, welches uns zwar nicht allzu viel Wohnfläche bot, mir in meiner Kindheit aber eine sehr heimelige Atmosphäre und Geborgenheit vermittelte. Vor unserer Gartentüre befand sich ein kleiner „Umkehrplatz“, welcher fallweise zum Wendepunkt für so manch Autoreisende wurde, die sich auf der Brenner Bundesstraße glaubten. Navigationsgeräte waren zu dieser Zeit ja noch völlig unvorstellbar. Außerdem wendete auf diesem „Umkehrplatz“ einmal wöchentlich der Müllwagen. Für mich als kleiner Bub jede Woche aufs Neue ein spannendes Ereignis. Besonders aufregend erschien mir dabei die Tatsache, dass die „Müllmänner“ während der Fahrt auf eine kleine Plattform am Heck des Wagens aufsteigen durften. Daraus resultierte übrigens mein erster Berufswunsch. Zum Entsetzen meiner Mutter legte ich überzeugend dar, dass ich später einmal „Müllmann“ werden wolle.

Bisher bin ich noch die Erklärung des Begriffes „Hofratshügel“ schuldig geblieben. Am Mentlberg lebten damals einige hohe Beamtinnen und Beamte, vor allem aus der Tiroler Landesregierung, nicht wenige von diesen schmückte der Hofratstitel. Noch wichtiger schien der Titel aber für die Gattinnen der Hofräte zu sein. Jedenfalls wurden diese in Lebensmittelgeschäft und Fleischhauerei in der Regel mit Frau Hofrat, wenigstens aber mit Frau Doktor angesprochen. Umso schockierender muss für meine Mutter in diesem Umfeld der Berufswunsch des „Müllmannes“ gewesen sein. Weder meine Eltern noch ich konnten damals ahnen, dass ich später selbst einmal den Hofratstitel tragen und diesen Umstand ausgerechnet dem Gefängnis verdanken sollte.

Ganz im Westen des Mentlberg, von der Siedlung etwas abgesetzt, befindet sich das Schloss Mentlberg sowie unmittelbar daneben eine kleine Kirche oder auch größere Kapelle, welche übrigens viel später noch eine ganz besondere Bedeutung für mich erlangen sollte. Erstmals erwähnt ist dieses Anwesen im Jahre 1305 als Meierhof des Stiftes Wilten. Später wurde es vom Kloster verkauft, die bekanntesten Besitzer waren die „Mentlberger“, die dem späteren Ansitz den Namen gaben. 1890 wurde das Anwesen vom französischen Prinzen Ferdinand von Bourbon-Orleans erworben, einem begeisterten Jäger, der sich gerne in Tirol aufhielt. Er ließ 1905 den Ansitz im Stil der Loire-Schlösser umbauen. Mit seiner Gattin Sophie, einer Schwester der legendären österreichischen Kaiserin Elisabeth („Sissi“), Gattin von Kaiser Franz Joseph I., weilte der Herzog gerne in Mentlberg.1 Wie mir meine Mutter erzählte, soll Kaiserin „Sissi“ ihre Schwester und ihren Schwager angeblich in Schloss Mentlberg besucht haben.

Die „Schlosskapelle“ auf einer kleinen Erhöhung, unmittelbar neben dem Schloss, stand schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

1770 wurde die Kapelle im Stil des Rokokos neu erbaut.

All diese kunsthistorischen Feinheiten gingen freilich in meiner Kindheit eher spurlos an mir vorüber. Die Bedeutung der Schlosskapelle lag zu dieser Zeit für mich vielmehr darin, dass ich bereits als Volksschüler leidenschaftlicher Ministrant war. Ich begann meinen Dienst im Jahr 1963, kurz nachdem die neue Pfarrkirche zu „Maria am Gestade“ im Sieglanger geweiht worden war. Meinen katholischen Hilfsdienst leistete ich daher überwiegend in dieser neuen „Sprungschanze Gottes“. Tatsächlich erinnert die Architektur dieser Kirche entfernt an eine Sprungschanze. So manch feierliche weihnachtliche Mitternachtsmette in der alten Schlosskapelle ist mir jedoch auch noch bestens in Erinnerung. An diesem beschaulichen Ort sollte sich mein Lebenskreis später noch fortsetzen. Viele Jahre später durfte ich in dieser wunderschönen Kapelle meine Frau Doris feierlich zum Altar führen.

Hinter dem Schloss Mentlberg erstreckt sich bis zum heutigen Tag die „Schlosswiese“, im Winter eine herrliche Ski-Wiese, welche durch einen Wanderweg etwa über dem unteren Drittel geteilt wird. Dieser Weg bildete eine hervorragende Absprungbasis für unsere Sprungschanzen. Wir errichteten sie jedes Jahr aufs Neue exakt an derselben Stelle am Wanderweg. Am westlichen Ende schließt die Schlosswiese mit einem etwas steileren Hügel, wir nannten ihn als Kinder „Vogelebichl“, ab. Da dieser etwas steiler ist als die Schlosswiese, eignete er sich ausgezeichnet als Slalomhang. Abgeschnittene Haselnussäste aus der Umgebung dienten uns als Torstangen. Da Schlosswiese und „Vogelebichl“ keinen Skilift aufwiesen, mussten wir nach der Abfahrt immer wieder zu Fuß hinaufsteigen beziehungsweise mit den Skiern an den Füßen „hinaufbretteln“. Das förderte einerseits unsere körperliche Kondition und wohl auch Gesundheit, andererseits diente es der Pistenpräparierung, sodass unsere Pisten sich meist in recht gutem Zustand befanden. An schönen Wintertagen pilgerten mindestens 30 bis 40 Kinder aus der Umgebung mit Skiern und Rodeln auf die Schlosswiese. Snowboards waren zu dieser Zeit noch unbekannt. Auch so manches von uns selbst organisierte Kinderskirennen fand auf dieser Übungswiese statt. Eine besondere Attraktion war jedoch die bereits angesprochene Sprungschanze auf dem Wanderweg. Die Kühnsten unter uns legten durchaus Sprünge bis an die 20 Meter hin, so mancher endete auch mit einem Kapitalsturz, Gott sei Dank meist ohne schwere Verletzungen.

Westlich an den „Vogelebichl“ angrenzend wurde in den 60er Jahren das Tierheim Mentlberg errichtet und unmittelbar an dieses Tierheim schließen der Landwirtschaftsbetrieb des Innsbrucker Gefängnisses, die Personalhäuser und schließlich das Gefängnis selbst an.

Von der Innsbrucker Bevölkerung wird das Gefängnis seit jeher geradezu liebevoll als „Ziegelstadl“ bezeichnet. Dies kommt daher, dass die Anstalt auf einem Ziegelwerksareal errichtet wurde, und das nicht zufällig. Dazu jedoch an späterer Stelle mehr. Aus der geschilderten Lage und Nähe des Mentlberg zum „Ziegelstadl“ wird nachvollziehbar, dass mir dieses Gefängnis von Kindesbeinen an auf eigentümliche Art vertraut war. In keiner Weise verband ich mit dem „Ziegelstadl“ jene Emotionen, welche die meisten Bürgerinnen und Bürger einem Gefängnis entgegenbringen. Zwar konnte ich damals nicht ahnen, dass diese Anstalt mein Leben in späteren Jahren so nachhaltig prägen sollte. Trotzdem bin ich mir heute sicher, dass meine berufliche Laufbahn untrennbar mit diesen Kindheitserfahrungen verknüpft ist.

Über die beschriebene örtliche Nähe des „Ziegelstadl“ zu meinem Elternhaus am Mentlberg hinaus gibt es eine ganze Reihe von Erinnerungen und Beziehungen, welche dies noch deutlicher machen.

Kindheitserinnerungen

Meine erste, allerdings sehr blasse Erinnerung an das benachbarte Gefängnis muss wohl in sehr frühe Kindheit zurückreichen. Eines Tages bekam ich mit, wie eine Nachbarin meiner Mutter erzählte, dass aus dem „Ziegelstadl“ zwei Häftlinge geflüchtet seien. In einem Garten unserer unmittelbaren Nachbarschaft hätten sie Wäschestücke von einer Wäscheleine gestohlen. Besser gesagt hatten sie ihre Häftlingskluft gegen die gestohlene Kleidung ausgetauscht. Die Anstaltskleidung hatten sie über einen Baum gehängt zurückgelassen. Die Bedeutung dieses Wäschediebstahls war mir damals wohl nicht richtig klar. Sie lag darin, dass die Häftlinge zu dieser Zeit noch ausnahmslos Anstaltskleidung tragen mussten und in dieser als flüchtige Gefangene viel leichter zu erkennen gewesen wären. In meiner kindlichen Wahrnehmung löste dieser Wäschediebstahl jedenfalls keine Angst, sondern eher eine Mischung aus Unverständnis und Bewunderung für diesen Mut aus.

Konkreter wurden meine Beziehungen zu diesem Gefängnis in der Volksschulzeit. Ich besuchte die Volksschule Sieglanger und einige Kinder von Justizwachebeamtinnen und -beamten des „Ziegelstadl“ drückten gemeinsam mit mir die Schulbank. Mit einem Buben, dem Sohn des damaligen Ökonomieleiters der Anstalt, war ich eng befreundet. Wir spielten öfter auf einer Wiese im Landwirtschaftsbereich, unmittelbar neben dem Gefangenentrakt, Fußball.

Die zur Arbeit in der Ökonomie eingeteilten Strafgefangenen konnten sich schon damals auf dem Areal völlig frei bewegen und wurden von mir in keiner Weise als furchteinflößend oder gefährlich erlebt. Vielmehr spielten sie manchmal mit uns Fußball, schnitzten uns „Maipfeiferln“ oder bastelten uns einfaches Spielzeug aus Holz.

Vielleicht hat meine später nicht selten als „zu liberal“ kritisierte Einstellung gegenüber den Gefangenen eine Wurzel auch in diesen kindlichen Erfahrungen.

Durch diesen Freund, sein Name war Hansjörg, wurde also meine Beziehung zum „Ziegelstadl“ schon in frühen Lebensjahren recht eng. Eine besondere Emotionalisierung erfuhr diese Freundschaft durch den Umstand, dass Hansjörg in der Volksschulzeit Opfer eines schweren Verkehrsunfalls wurde. Beim Überqueren der Landesstraße vor dem Gefängnis wurde mein Freund eines Tages von einem Auto überfahren und lebensbedrohlich verletzt. Er erlitt unter anderem ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und lag monatelang im Koma. Auch Hansjörg war begeisterter Ministrant gewesen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden zahlreiche Messen in der Pfarrkirche „Maria am Gestade“, der oben angesprochenen „Sprungschanze Gottes“, gelesen, um gemeinsam für Hansjörgs Rettung und Gesundung zu beten. Tatsächlich hat sich Hansjörg trotz seiner schweren Verletzungen einigermaßen erholt, wenn er auch für den Rest seines Lebens unter den gesundheitlichen Folgen dieses schweren Unfalls zu leiden hat.

Eine weitere Kindheitserinnerung hat ebenfalls mit dem „Ziegelstadl“ zu tun. Unter Anleitung eines Schulkameraden rauchte ich hinter der Schlosskapelle irgendwann in meiner Volksschulzeit die erste Zigarette. Es handelte sich um eine „Austria 3“ – grauenhafte Zigaretten ohne Filter. Im Gegensatz zu meinem damaligen Mitschüler und Mitraucher bin ich zeit meines Lebens Nichtraucher geblieben. Mit meinem Mitraucher meinte es das Leben weniger gut. Er wurde später drogenabhängig und musste in der Folge den „Ziegelstadl“ von innen kennenlernen. Besonders tragisch war dies nicht zuletzt deshalb, weil sein Vater als Justizwachebeamter Dienst in diesem Gefängnis versah.

Bedauerlicherweise wurden wir beim Rauchen der grässlichen Zigaretten auch noch von unserem Pfarrer und Religionslehrer beobachtet, sodass der Umstand unerfreulicherweise auch unseren Eltern zur Kenntnis gebracht wurde. Gott sei Dank reagierten diese eher unaufgeregt auf diesen Vorfall, jedenfalls sind mir keine drastischen Strafen oder sonstigen Erziehungsmaßnahmen in diesem Zusammenhang erinnerlich.

Durch die Gottesdienste und mein eifriges Ministranten-Dasein lernte ich schon im Volksschulalter einen Menschen kennen, der ebenfalls mit dem „Ziegelstadl“ in enger Verbindung stand. DDr. Kilian Gut war Kapuzinerpater. Er half in der Pfarre Maria am Gestade als Kooperator aus und unterstützte den damaligen Pfarrer bei der Bewältigung seiner seelsorgerischen Aufgaben. Pater Kilian war in mehrfacher Hinsicht ein ganz besonderer Mensch.

Er beeindruckte mich schon durch sein Äußeres: Vollglatze und üppig rauschender Vollbart ragten aus der schlichten braunen Kapuzinerkutte mit großer Kapuze. Das Gesicht zierten dünne, randlose und kreisrunde Brillen, welche später dadurch Kultstatus erlangten, dass John Lennon ebensolche trug. Nahezu das ganze Jahr über war Kilian mit dünnen Riemensandalen unterwegs, in denen schneeweiße dürre Füße ohne Socken steckten. Wir Kinder bezeichneten dieses Schuhwerk respektlos als „Herz-Jesu-Bereifung“. Nur an extrem kalten Wintertagen zog Pater Kilian gefütterte Winterstiefel an und warf einen wärmenden Lodenumhang über seine Kutte.

Sein Gesicht vermochte ebenso mild zu lächeln wie auch einen sehr zornigen Ausdruck anzunehmen, sodass wir als Kinder nie so recht wussten, wie wir bei dem Pater wirklich dran waren. Kilians Gottesdienste waren für uns Ministranten vor allem deshalb ein Erlebnis, weil ihm häufig irgendein Missgeschick passierte. Entweder stieß er versehentlich eine Kerze am Altar um, stolperte über die am Boden stehenden Messglocken oder schleuderte das schwere Messbuch mit derartigem Schwung auf den hölzernen Buchständer, dass dieser laut krachend zusammenbrach, wie ich es einmal selbst erlebt habe. Solche kleinen Pannen brachten für uns Messdiener im Volksschulalter das Problem mit sich, dass wir mit allen möglichen Kniffen versuchen mussten, das Lachen zu unterdrücken. Wie sich vorstellen lässt, gelang uns das nicht immer, was wiederum Pater Kilian in Rage brachte. Als Resultat seines gottesfürchtigen Zorns fasste dann so mancher von uns einen mehr oder weniger liebevollen Klaps auf den Hinterkopf aus, in extremen Fällen sogar noch in der Kirche und während des Gottesdienstes.

Meine Karriere als Ministrant begann zu einer Zeit, als Gottesdienste noch teilweise in lateinischer Sprache gelesen wurden. Wir Messdiener mussten daher in unserer Grundausbildung die lateinischen Gebete auswendig lernen, lange bevor wir im Gymnasium mit dem Lateinunterricht gequält wurden. Das wohl längste und mir am schwierigsten erscheinende dieser Gebete war das sogenannte Stufengebet, „Confiteor“. Pater Kilian hatte eine sehr ökonomische Art gefunden, das Confiteor zu beten. Er begann mit kräftiger, lautstarker Stimme: „Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae, semper virgini … mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa …“, um dann immer leiser werdend nur mehr unverständliche Silben zu murmeln und das Gebet schließlich mit einem kräftigen und lautstarken „Deum nostrum“ abzuschließen. Natürlich übernahmen wir Ministranten diese praktische Gewohnheit sofort und keiner trauerte den lateinischen Messen wirklich nach. Sie wurden auch bald ausnahmslos durch deutschsprachige Gottesdienste ersetzt.

Kilian war ein sehr gebildeter Mensch, verfügte über je ein Doktorat in Theologie und Philosophie und wahrscheinlich lag es auch daran, dass wir kleinen Ministranten seinen Worten kaum folgen konnten und diese als stinklangweilig erlebten. Seine Predigten hatten für uns jedoch auf andere Art Unterhaltungswert. Der Pater pflegte seine christliche Botschaft jeweils lautstark auf den von ihm aus gesehen rechten Rand der Pfarrgemeinde zu richten und drehte sich immer leiser werdend langsam über die Mitte des Kirchenschiffes dem linken Flügel der Anwesenden zu. Anschließend wendete er sich wieder ganz nach rechts und der Ablauf begann von neuem. Als Ministrant hatte ich das Privileg, die Predigt vom Altar aus verfolgen und Kilian von hinten betrachten zu können. Wenn mir die Predigt besonders langweilig erschien, zählte ich manchmal gedanklich mit, wie lange er jeweils vom rechten Beginn bis zum linken „Anschlag“ benötigte.

Manchmal spielte Pater Kilian aber auch in den als „Gruppenstunden“ bezeichneten Treffen der Ministranten, damals übrigens noch ausschließlich männlich besetzt, mit uns Fußball. Er raffte seine braune Kutte zu diesem Zweck bis zu den Knien hoch, sodass darunter dünne und schneeweiße Beine in Erscheinung traten. Im profanen Fußballspiel konnte er allerdings weniger überzeugen als mittels seiner intellektuellen Qualitäten.

Pater DDr. Kilian Gut verfügte über Charaktereigenschaften, welche ihn, neben seinem markanten Äußeren, zum seltenen „Original“ erhoben. Er war den meisten Innsbruckerinnen und Innsbruckern bekannt und ich ahnte in meinen Kinderjahren noch nicht, dass ich später als Erwachsener im „Ziegelstadl“ noch engere Kontakte mit ihm haben sollte.

Im Alter von 16 Jahren übersiedelte ich mit meinen Eltern in einen Stadtteil im Osten Innsbrucks und verlor den „Ziegelstadl“ völlig aus den Augen. Es sollte jedoch nur vorübergehend sein.

Studienzeit

Schon während meiner Studienjahre zog mich das Innsbrucker Gefängnis wieder in seinen Bann. Dies hatte wohl auch damit zu tun, dass ich schon immer Interesse für alles zeigte, was mit Kriminalität zu tun hat. Nun interessieren sich zwar die meisten Menschen für Kriminalität. Nicht umsonst spielt diese eine so dominierende Rolle in der Unterhaltungsindustrie. Denken wir nur an Kriminalromane, Kriminalfilme und diverse CSI-Serien. Keine Tageszeitung oder Nachrichtensendung in Fernsehen und Rundfunk könnte es sich leisten, auf die Berichterstattung über interessante und vor allem schockierende Kriminalfälle zu verzichten. Mein persönliches Interesse ging jedoch schon immer weit über dieses allgemeine Interesse am „Thrill“ von Kriminalität hinaus. Mich faszinierten vielmehr der Mensch „hinter der Bestie“ und dessen Beweggründe für die Begehung schwerer Straftaten. Worin dieses Interesse wurzelt, wäre vielleicht ein lohnenswertes Thema für eine Psychoanalyse. Ich hatte jedoch beschlossen, auf diese Ursachenforschung zu verzichten und mein Interesse einfach beruflich und somit einigermaßen sozial verträglich auszuleben.

In der siebten Klasse des Gymnasiums hatte ich mich entschieden, Psychologie zu studieren. Diese Entscheidung reifte aus dem Psychologieunterricht in der Oberstufe. Wir hatten einen recht engagierten Professor in den sogenannten PPP-Fächern (Pädagogik, Psychologie, Philosophie), welcher diese meine Entscheidung sicherlich beeinflusste. Als Folge des Interesses für Kriminalität entschied ich mich für das Nebenfach Kriminologie. Es gab kein eigenes Institut für Kriminologie an der Universität Innsbruck. Die Kriminologie wurde vielmehr am Institut für Strafrecht und sonstige Kriminalwissenschaften gelehrt.

Daraus resultierte ein Problem für mich. Da die Psychologie damals noch an der geisteswissenschaftlichen Fakultät angesiedelt war, das Kriminologie-Studium jedoch bei den Rechtswissenschaftlern, konnte ich diese Fächerkombination nicht „regulär“ studieren. Ich musste beim Wissenschaftsministerium um ein sogenanntes „Studium irregulare“ ansuchen. Beide Institutsvorstände versicherten mir, dies wäre eine reine Formsache, in einem früheren Präzedenzfall war diese Studienkombination bereits bewilligt worden. Zwischenzeitlich könne ich schon mit dieser Studienkombination beginnen. Das tat ich auch.

Meine beiden damals involvierten Institutsvorstände waren in gewisser Weise Originale. Univ.-Prof. Dr. Ivo Kohler, der Vorstand des Instituts für Psychologie, erlangte durch seine Wahrnehmungsexperimente weltweite Bekanntheit in der wissenschaftlich-psychologischen Fachwelt. Er setzte seinen Versuchspersonen Umkehrbrillen auf, welche die Wahrnehmung völlig veränderten und beispielsweise oben und unten oder links und rechts vertauschten. Das Gehirn ist anfangs nicht in der Lage, diese „verkehrten“ Reize adäquat zu verarbeiten. Wenn man zum Beispiel rechts abbiegen will, geht man in Wirklichkeit nach links und umgekehrt. Unvergessen ist mir ein Experiment, als Kohler im Hörsaal zwei Studenten gegeneinander Tischtennis spielen ließ. Die beiden Versuchspersonen wurden dazu mit Brillen ausgestattet, welche links und rechts vertauschten. Man kann sich vorstellen, welches Spektakel dieses Tischtennismatch für die Zuschauer war. Nach einiger Zeit gewöhnt sich übrigens das Gehirn an diese ungewohnte Form von visuellen Reizen und kann sie ganz normal verarbeiten.

Wie diesen Wahrnehmungsexperimenten zu entnehmen ist, war Kohler ein Vertreter der empirisch-experimentellen Psychologie und konnte mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds nicht allzu viel anfangen. Eines Tages fand am Institut der Gastvortrag eines Psychoanalytikers statt. Als Gastgeber wohnte auch Professor Kohler dieser Veranstaltung bei. Geduldig ließ er die psychoanalytischen Theorien über sich ergehen. Unter anderem führte der Vortragende aus, dass es sich bei Kirchtürmen – aus psychoanalytischer Sicht – um Phallussymbole handeln würde.

In der anschließenden Diskussion meldete sich Kohler mit verschmitztem Gesicht zu Wort und kommentierte die „Kirchturmtheorie“ des Redners in folgender Weise:

„Lieber Herr Kollege, neben der unübersehbaren Tatsache, dass es sich bei Kirchtürmen um Phallussymbole handelt, haben diese auch noch den Vorteil, dass man die Glocken weit hören kann. Würden die Kirchtürme in die Erde hinein gebaut werden, so könnte kein Mensch das Geläut der Glocken hören!“

Das Gelächter des gesamten Auditoriums war dieser Bemerkung sicher, lediglich der Vortragende nahm sie mit enden wollender Begeisterung zur Kenntnis.

Kohler war also hochgradig kreativ und wissenschaftlich äußerst erfolgreich, von seinem Äußeren aber recht unscheinbar. Dazu wirkte er auch äußerst schrullig und zerstreut. Für einen Filmregisseur wäre er die ideale Besetzung des kreativ bis genialen, aber schrulligen Wissenschaftlers gewesen.

Vorstand des Instituts für Strafrecht war zu dieser Zeit Universitätsprofessor Dr. Friedrich Nowakowski. Er war ein sehr angesehener Strafrechtler und hatte an der sogenannten großen Strafrechtsreform des Justizministers Dr. Christian Broda in den 60er und 70er Jahren maßgeblich mitgearbeitet.

Er pflegte sich selbst in den Vorlesungen als kriminologischen Dilettanten zu bezeichnen, was aus meiner studentischen Sicht jedoch keineswegs zutraf, ich fand seine Vorlesungen äußerst spannend. Nowakowski entsprach in Aussehen und Habitus, ebenso wie Kohler, dem Klischee des genialen, jedoch etwas schrulligen Wissenschaftlers. Er war klein von Wuchs, dicklich und hatte einen leichten Sprachfehler. In guter Erinnerung sind mir seine auffallenden Hosenträger, welche die altmodischen Hosen weit über seinen Bauch nach oben zogen. Rechtswissenschaftlich brillant, erwies er sich in den Niederungen des akademischen Alltags eher zerstreut. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Studienkollegen, welcher dieselbe Fächerkombination inskribiert hatte, zu einer Prüfung erschien, war Professor Nowakowski völlig verwirrt. Wir mussten ihm stets aufs Neue erklären, dass es sich bei uns um die beiden Psychologiestudenten handelte, welche das Nebenfach Kriminologie belegt hatten.

Nach unserem von Nowakowski erstellten Studienplan für Kriminologie waren vier Semester mit jeweils einer mündlichen Teilprüfung vorgesehen. Drei Teilprüfungen hatten mein Kollege und ich bereits absolviert, als endlich der Bescheid des Wissenschaftsministeriums über unseren Antrag auf „Studium irregulare“ einlangte. Zu unserem blanken Entsetzen war den Anträgen nicht stattgegeben worden. In der Begründung konnte man lesen, die Fächerkombination Psychologie und Kriminologie sei „nicht sinnvoll“!