Der Zirkel. Sie wollen dich. Sie finden dich. - Leon Sachs - E-Book
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Der Zirkel. Sie wollen dich. Sie finden dich. E-Book

Leon Sachs

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Beschreibung

Sie muss gegen ihre eigene Familie ermitteln. Er könnte ihre Karriere zerstören. Doch gegen den Feind haben sie nur gemeinsam eine Chance. – Der Start der packenden neuen Thrillerreihe!

Drei Tote in drei verschiedenen Ländern. Zufall? Nur Johanna Böhm, frisch gebackene Studentin an der Polizeiakademie, weiß, was diese Morde miteinander verbindet. Denn sie kennt die Opfer aus ihrer Vergangenheit, vor der sie einst geflohen ist. Und Johanna ahnt, dass sie dieses Wissen erneut in große Gefahr bringen könnte. Als der Ex-Geheimdienstler Rasmus Falk nachts in ihre Wohnung eindringt und sie beschuldigt, in den Mordkomplott verwickelt zu sein, sieht sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er droht, ihre Karriere bei der Polizei zu beenden, ehe sie begonnen hat, und Johanna bleibt keine andere Wahl, als sich mit Falk zu verbünden. Doch setzt sie damit alles aufs Spiel?

Mitreißend erzählt. Erschreckend realistisch. Ein rasanter Thriller, der gnadenlos weiterdenkt, was wir zu verharmlosen versuchen.

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Seitenzahl: 509

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LEON SACHS (das Pseudonym des Autors und Journalisten Marc Leon Merten) ist gebürtiger Kölner, lebt und arbeitet aber in Bonn. Sachs ist Mitglied im SYNDIKAT, dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Wenn er sich nicht gerade rasante Thriller ausdenkt, steht er im Stadion des 1. FC Köln und feuert als treuer Fan seine Lieblingsmannschaft an.

LEON SACHS

SIE WOLLEN DICH. SIE FINDEN DICH.

THRILLER

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Copyright © 2022 der Originalausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Redaktion: Carlos Westerkamp

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildung: © Miloje / shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27528-0V006

www.penguin-verlag.de

KAPITEL 1

MONTAG, 6. SEPTEMBER

Trisulti, Italien

Was war es bloß, das den Bögen eines Kreuzgangs noch immer diese schattenhafte Kraft verlieh? Friedrich Ammon blickte nachdenklich zu dem Gewölbe auf. Die meisten Menschen folgten heute nur noch ihrem Smartphone. Doch betraten sie die Gemäuer eines jahrhundertealten Klosters, schienen sie zumindest für einen kurzen Moment wieder an eine höhere Macht zu glauben.

Ammon setzte sich in Bewegung. Seine schweren Schritte hallten von den steinernen Wänden wider. Er genoss die kühle Brise, die an diesem frühen Morgen vom Gipfel des Monte Rotonaria herabwehte und die drückende Hitze des Vortags über Nacht zu einem erfrischenden Sommerschleier verflüchtigt hatte. Der heutige Tag würde erneut die unnachgiebige Glut der Sonne bringen, wie sie hier oben in den Apenninen eigentlich unüblich war. Keine Wolken, kein Regen, nur die Sonnenstrahlen, die sich bis zum Mittag wie eine Glasglocke über die Certosa di Trisulti legen würden. Erst am frühen Abend würden die Winde dieses Brennglas durchbrechen und die Kartause wieder mit frischem Sauerstoff versorgen.

Sosehr er die sich stauende Hitze verabscheute, sosehr erschien sie ihm doch wie ein passendes Bildnis dessen, gegen das er tagtäglich ankämpfte. Wind. Wer ihn säte, nein, wer ihn kontrollierte, der kontrollierte die Welt. Denn wenn der Wind zu einem Sturm anwuchs, hatte er die Kraft, die Glasglocke zum Bersten zu bringen, unter der die Gesellschaft dahinsiechte.

Friedrich Ammon ging den Kreuzgang auf der südöstlichen Seite der Kartause entlang, bis er den Korridor zu seinem Arbeitszimmer erreichte. Durch eine hölzerne Pforte betrat er einen Raum, der in dem ehemaligen Zisterzienserkloster als Empfangssalon für Gäste gedient hatte. Ammon hatte ihn sich zu seinem persönlichen Büro umgestalten lassen. Von hier aus leitete er die Accademia della Dignità Umana, die in Trisulti entstand.

Durch das Fenster hinter seinem Schreibtisch blickte er über Eichenwälder. Die 1211 geweihte Kartause lag auf rund achthundert Höhenmetern. Papst Innozenz III. hatte sie einst errichten lassen. Ammon kannte die Geschichte des Mannes, der mit gerade einmal siebenunddreißig Jahren zum Heiligen Vater gewählt worden war. In diesem Alter lungerten heute manche Langzeitstudenten noch an den Universitäten herum und hatten keine Ahnung, wohin sie wollten, weil die Gesellschaft ihnen vorsang, sie hätten alle Zeit der Welt, zu sich und zum Sinn des Lebens zu finden.

Wer künftig hier an der Akademie der Menschenwürde studierte, dachte Ammon, würde nichts von jenem ziellosen Treiben vermittelt bekommen. Dafür würde er sorgen. Hier würde eine neue Elite ausgebildet. Eine Elite, die der orientierungslos gewordenen Gesellschaft eine neue Perspektive verleihen würde.

Innozenz III. hatte ihn schon immer fasziniert. Er war ein Visionär der Kirche gewesen, ein Mann, der durchschaut hatte, dass er die wichtigsten Ämter rund um den Heiligen Stuhl an Personen aus seiner Verwandtschaft vergeben musste. Macht im engsten Zirkel aufzuteilen hieß, Macht zu bewahren. Vor allem aber war Innozenz III. der Vorreiter für die Inquisition gewesen, die ab dem dreizehnten Jahrhundert Europa überrollt hatte. Blasphemie, Magie – das waren für Ammon Worte, die er heute mit Dingen wie Diversität oder Feminismus verband.

Es klopfte. Luca, sein Sekretär, trat ein.

Ein junger Bursche aus Collepardo, dem Ort gleich am Fuß des Monte Rotonaria. Ammon hatte einen Ortskundigen, einen Mann aus der Gegend, einen Wissbegierigen und gleichzeitigen Kenner der lokalen Gewohnheiten als seinen Assistenten anlernen wollen. Luca passte perfekt. Er war fast noch ein Junge, gerade der Schule entsprungen, das schmale Gesicht unter dem schwarzen Haarschopf gehörte zu einem Teenager und nicht zu einem Erwachsenen. Dennoch hatte sich Luca in kürzester Zeit als kostbarer Neuzugang der Akademie erwiesen. Nicht nur, weil er fleißig, zäh und gefügig war. Der Junge hatte Ammon unaufgefordert wichtigen Menschen in den umliegenden Dörfern vorgestellt. Luca kannte sie alle, genauso wie jede Straße, jede Gasse, jedes Restaurant, jedes Café und jeden nicht ganz so seriösen Dienstleister, der sich als Ganove verdingte und in dieser Rolle für die Akademie von nicht unerheblichem Wert war.

Wenn Ammon fragte, woher Luca all dieses Wissen hatte, zuckte dieser nur mit den Schultern und grinste. Aber Ammon hatte Nachforschungen angestellt und selbst herausgefunden, dass Luca einer Familie von Regionalpolitikern entstammte, die seit Generationen in der Provinz nahezu überall ihre Finger im Spiel hatte.

»Buongiorno, professore!« Luca trat an Ammons Schreibtisch und servierte seinem Chef den ersten Espresso des Tages.

»Grazie, Luca.« Ammon versuchte den Dank so italienisch wie möglich klingen zu lassen. Dennoch schlug sein deutscher Akzent selbst bei dem einfachsten aller italienischer Worte durch. Er musterte den Jungen durch seine Brille, die er heute Morgen noch nicht geputzt hatte. Er zog ein Mikrofasertuch aus der Innentasche seines Jacketts, nahm das Metallgestell von der Nase und begann, die Gläser zu reinigen.

Luca stand immer noch neben seinem Schreibtisch.

»Was gibt’s?«

»Gestatten Sie mir den Hinweis, dass ich Ihnen nach wie vor empfehle, zu Giovanni zu gehen? Er würde sich freuen, Sie als Kunde begrüßen zu dürfen.«

Giovanni war ein Schneider in Collepardo und praktischerweise Lucas Onkel. Lucas Familie schien der Meinung zu sein, dass Ammons Garderobe ein Upgrade nach italienischem Vorbild benötigte.

»Dafür ist Zeit, wenn die Akademie läuft.«

»Certamente! Aber Sie würden damit ein Zeichen setzen. Die Menschen in der Region achten darauf, ob jemand in lokale Produkte investiert und sich dem Land anpasst.«

»Wir investieren, Luca! Viele Millionen. Das Kloster verschlingt jetzt schon Unsummen und beauftragt nur lokale Unternehmen. Ganz zu schweigen von den Geldern, die wir den Politikern zahlen, damit wir hier tun und lassen können, was wir wollen, ohne dass uns ständig auf die Finger geschaut wird.« Mit ruhigerer Stimme fuhr er fort: »Auch an deine Familie, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Es geht nicht um die Akademie. Es geht um Sie.«

Ammon wog ab, ob er Lucas Unverfrorenheit ein Ende setzen sollte, fragte aber stattdessen betont ruhig: »Was soll mit mir sein?«

»Sie sind il tedesco.« Der Deutsche.

Damit schien alles gesagt. Die Erklärung für alles.

Ein Deutscher, der jedoch, bitte schön, nicht deutsch aussehen sollte. Anzüge von der Stange, wenn auch gut geschnitten, waren in Trisulti für einen Mann in seinem Alter nicht mehr standesgemäß. Unweigerlich schenkte Ammon seinem Jackett einen kritischen Blick und strich das Revers glatt. Der Verkäufer daheim in Mühlhausen hatte ihm vorgeschwärmt, der mitternachtsblaue Farbton passe perfekt zu seinen blauen Augen.

Luca war offenbar anderer Meinung.

»Sag Giovanni, ich komme bei nächster Gelegenheit vorbei.« Ammon wollte seine Ruhe haben. »Noch was?«

Luca lächelte. »Ihre Pralinen sind eingetroffen, professore!«

»Das sagst du mir erst jetzt?«

Ammons Stimmung hellte sich sofort auf. Luca hatte ihn vor wenigen Wochen in eine Schokoladenfabrik in Frosinone gebracht, die die Akademie künftig mit ihrem süßen Gift versorgen sollte. Ammon hatte sich während eines Nachmittags durch diverse Sorten probiert. Die Bestellung hatte er schließlich seinen Köchen in der Kantine überlassen. Abgesehen von den mit einer Rotweincreme gefüllten Pralinen, die von einer Zartbitterschokolade aus dem vietnamesischen Hochland überzogen waren. Eine Box dieser Delikatesse, so hatte er verfügt, ging seither wöchentlich nur an ihn persönlich.

Luca interpretierte Ammons Gesichtsausdruck richtig und verschwand. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einem kleinen Teller zurück, auf dem ein halbes Dutzend der dunklen Schokokugeln arrangiert war.

Ammon wollte schon nach einer Praline greifen, da ertönte ein Klingelton aus seinem Laptop vor ihm auf dem Schreibtisch. Mit einer Handbewegung gab er Luca zu verstehen, dass er ab sofort nicht mehr gestört werden wollte. Nachdem Ammon einen letzten Blick aus dem Fenster geworfen hatte, wo die Sonne ihre ersten Strahlen über die Baumwipfel schickte, wandte er sich dem Bildschirm zu.

Es war gerade erst sieben Uhr, doch Ammon fühlte sich wach und bereit. Er war schon immer ein Frühaufsteher gewesen. In dem ehemaligen Mönchskloster fiel es ihm daher nicht schwer, dem natürlichen Rhythmus dieses Ortes zu folgen. Er streckte kurz seine Arme aus, schloss die Hände zu Fäusten, lockerte seine Handgelenke und fokussierte schließlich den grünen Hörer, der auf dem Bildschirm aufleuchtete.

Ammon ließ den Anrufer noch einige Sekunden lang warten. Wenn die Accademia erst einmal lief, würden ihre Absolventen schon bald die Welt verändern. Trisulti würde zu einem Ort säkularer Macht werden. Nicht in Rom, nicht im Vatikan – hier, hundert Kilometer östlich von der italienischen Hauptstadt entfernt, würde eines der wahren Machtzentren Europas entstehen. Dafür wollten Ammon und seine Geschäftspartner sorgen.

Il tedesco trank einen Schluck Espresso, nahm sich die erste Praline und wählte sich über eine sichere Leitung in die Videokonferenz ein.

KAPITEL 2

MONTAG, 6. SEPTEMBER

Berlin, Deutschland

Atmen.

Gleichmäßig atmen.

Johanna Böhm versuchte verzweifelt, sich auf ihren Atemrhythmus zu konzentrieren. Dreimal ein, dreimal aus. Irgendetwas, vielleicht eine Nadel, vielleicht ein Igel, vielleicht nur die kalte Luft, die sie allzu hektisch in sich hineinsog, stach winzig kleine Löcher in ihre Lunge, in ihren Brustkorb. Der Sauerstoff sollte ihr helfen. Tat er aber nicht. Er schien sofort wieder zu entweichen. Kam nicht in ihrem Blut an.

Sie stolperte, fing sich, lief weiter. Ihre Füße in den triefnassen Sportschuhen fühlten sich an wie Backsteine. Ihre kurze Hose klebte regendurchtränkt an ihren verschwitzten Oberschenkeln. Ihre Haut brannte, als habe sie sich frisch rasiert und anschließend mit hochprozentigem Alkohol eingerieben. Die Schuhe gaben schmatzende Geräusche von sich, jedes Mal, wenn sie auf den matschigen Waldboden trafen. Und wenn Johanna sich abstoßen wollte, schien es, als verharre der Schuh einen Augenblick länger im tiefen Erdreich, ganz so, als wollte er dort verweilen, als wollte der Schlamm ihn nicht mehr freigeben.

Sie hatte kaum noch Kraft. Ihre Augen konzentrierten sich auf den Boden. Nur kein Schlagloch übersehen, keinen Ast, nicht stürzen. Ein kurzer Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk verriet ihr, dass sie gerade einmal knapp vier Kilometer unterwegs waren. Nur vier, die sich anfühlten wie vierzig. Doch es war kein normaler Lauf, kein gemütliches Geradeaus im eigenen Tempo auf flacher Ebene. Dieser Lauf gehörte zu ihrer Ausbildung. Zu ihrem neuen Leben.

Kurz fiel ihr Blick auf das Namensetikett, das auf Brusthöhe an ihrem dunkelblauen T-Shirt heftete: Böhm.

Vor ihr liefen zwei Männer. Auf ihren Rücken prangte der große Aufdruck POLIZEI, an ihren Ärmeln das Abzeichen mit dem Berliner Bären und der goldenen Krone.

Sie alle gehörten zusammen. Eine Gruppe von dreißig Frauen und Männern, die durch den grauen Berliner Morgen lief, durch ein Waldstück in Spandau, genauer gesagt Ruhleben, wo die Polizeiakademie beheimatet war. Johanna Böhm war ein Teil von ihnen.

Zumindest wollte sie das sein.

Ihre dunkelbraunen, schulterlangen Haare hatte sie unter einer Baseballkappe verborgen. Andernfalls hätten sie ihr tropfend an Stirn und Nacken geklebt. Johanna griff nach der Kappe, nahm sie ab und setzte sie sich mit dem Schirm nach hinten wieder auf, glaubte, ein wenig mehr Luft zum Atmen in ihrem Gesicht zu spüren. Es war ihr egal, was die anderen von ihr dachten. Sie alle liefen durch einen feucht-grünen Dschungel im Berliner Nordwesten und fühlten sich eher wie bei einem Extremhindernislauf als bei ihrer ersten Sporteinheit an der Polizeiakademie. Der innere Schweinehund begleitete sie auf Schritt und Tritt, und Johanna verspürte nicht zum ersten Mal, wie er ihr eine lange Nase machte.

Eigentlich hätten sie in diesem ersten Semester nicht laufen, sondern schwimmen sollen. Doch irgendein Problem mit dem Schwimmbad hatte dazu geführt, dass die Akademie die Sportkurse des ersten und dritten Semesters getauscht hatte. Nun quälten sie sich also durch den Matsch und mussten alle paar Hundert Meter Übungen absolvieren. Eigentlich hatte Johanna vor dem Schwimmen den größeren Respekt gehabt. Laufen würde ihr keine Probleme bereiten, hatte sie sich eingeredet. Jetzt wurde sie eines Besseren belehrt.

»Runter!« Das war die Stimme des Ausbilders. »Fünfzig Liegestütze!«

Stöhnen. Nicht nur aus ihrem Mund.

Erschöpft ging sie in die Knie, setzte ihre Hände vorsichtig auf dem glitschigen Untergrund ab.

»Eins, zwei, drei …«

Johanna ächzte. Ihre Finger gruben sich in die Erde, fanden kaum Halt. Nur die Angst vor der Scham, es nicht zu schaffen, verlieh ihr genügend Kraft, sich immer wieder nach oben zu drücken.

»Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig …«

Ihre Arme begannen zu zittern. Die Kälte des Bodens drang unaufhaltsam in ihre Finger und Handballen, kroch Zentimeter für Zentimeter aufwärts, in die Handgelenke, in die Unterarme. Johanna hatte keinen Zweifel: Sie würde sich nicht mehr bewegen können, wenn dieser Lauf zu Ende war.

»Vierunddreißig, fünfunddreißig …«

Aber sie hatte es so gewollt. Sie hatte Polizistin werden wollen. Auch wenn sie mit ihren neunundzwanzig Jahren dafür fast zu alt gewesen wäre. In den vergangenen Wochen hatte sie gespürt, dass sie in Berlin richtig sein würde. In dieser wilden, unübersichtlichen, machtvollen und zugleich alternativen Stadt, in ihrer kleinen Wohnung in Oberschöneweide, ihre erste eigene Bleibe, ohne Mitbewohner, ohne Menschen, mit denen sie ihr Leben teilen musste. In Berlin war sie der Mensch, der sie immer hatte sein wollen – und der sie so lange nicht hatte sein dürfen.

»Neunundvierzig, fünfz…«

Ein Fuß trat neben ihre rechte Hand. Johanna war zu erschöpft und zu perplex, als dass sie rechtzeitig hätte realisieren können, was geschah. Der Fuß hakte sich an ihrem Unterarm ein und zog. Ein kräftiger Ruck, und Johanna krachte unsanft zu Boden. Schlamm spritzte ihr ins Gesicht. Wütend spuckte sie aus, sah hoch.

Eine schlanke Frau mit blondem, an einer Seite abrasiertem Haar und einer ganzen Reihe silberner Ringe an ihrem freigelegten Ohr sah triumphierend auf sie herab. Teresa Osterkamp grinste, drehte sich um und lief weiter.

»Schlampe!«

Ein anderes Wort fiel Johanna nicht ein. Hatte sie es ihr nachgebrüllt oder nur in den Matsch gekeucht? Sie wusste es schon nicht mehr. Sie raffte sich auf, ersparte sich den Blick an sich hinunter, setzte sich wieder in Bewegung, lief ihrer Gruppe hinterher. Sie war jetzt die Letzte.

Sie durfte nicht schon bei der ersten Sporteinheit zurückfallen. In einem Internetforum hatte Johanna gelesen, die Ausbilder hätten ein unnachgiebig gutes Gedächtnis für Gesichter und die dazugehörigen Namensschilder auf den T-Shirts. Sie beschleunigte, holte auf. Johanna bildete sich etwas darauf ein, disziplinierter zu sein als andere, zu wissen, wann sie zu tun hatte, was nötig war. Wann sie zu funktionieren hatte. Das hatte sie schon immer gekonnt, sie hatte es können müssen. Stur lief sie weiter, den Blick nach vorne gerichtet.

Teresa und Johanna hatten sich von der ersten Sekunde an nicht leiden können. Bereits am Tag der Inauguration, der Aufnahme in die Akademie, waren sie sich in herzlicher Abneigung begegnet. Ohne dass sie sich vorher gekannt hätten, waren sie sich sofort unsympathisch gewesen. Teresa hatte damit ebenso wenig hinter dem Berg gehalten wie Johanna. Manches musste man nicht erklären, manches ergab sich. Johanna glaubte zu wissen, was dieses Gefühl in ihr ausgelöst hatte. Teresa wirkte genauso unangepasst wie sie selbst. Johanna hatte sofort gespürt, dass die hoch aufgeschossene und kühl wirkende Person den gleichen Willen mitbrachte wie sie. Sie hatten einen ähnlichen Körperbau und sogar einen ähnlichen Gang. Johanna achtete auf so etwas. Und sie glaubte zu wissen, dass auch Teresa diese Beobachtung gemacht hatte. Sie waren sich ähnlich. Zu ähnlich.

»Treppen rauf! Los!«

Vor wenigen Augenblicken hatten sie einen asphaltierten Weg erreicht. Johanna schaute auf und sah, wie der Ausbilder wie ein Drill Sergeant an einem Metallgitter stand und einen nach dem anderen eine Treppe hinaufscheuchte.

Schon wieder Treppen, dachte Johanna. Bis sie merkte, dass sie an dieser Stelle schon einmal gewesen waren. Zu Beginn des Laufs. Es waren dieselben Treppen, die der Ausbilder sie nach nur wenigen Minuten dreimal hoch- und runtergejagt hatte. Danach hatten Johannas Beine gebrannt, und ihr Puls hatte den roten Bereich durchbrochen. Die folgenden Kilometer waren so zu einer Qual geworden. Genau wie der Ausbilder es zweifelsohne bezweckt hatte.

Nun mussten sie die Stufen ein weiteres Mal erklimmen. Johanna glaubte, erneut das höhnische Lachen des Schweinehundes zu hören, ehe sie sich mit schnellen, kurzen Stößen nach oben katapultierte. Auf halber Strecke entdeckte sie Teresa. Die Anstrengung nagte nun offenbar auch an ihr und hatte das Grinsen aus ihrem Gesicht gewischt. Am liebsten hätte Johanna ein Bein ausgefahren und zugesehen, wie das blonde Miststück haltlos nach unten segelte. Stattdessen blickte sie stur geradeaus und konzentrierte sich auf die letzten Stufen.

Wieder unten angekommen, war sie nach wie vor am Ende ihrer Gruppe. Es waren nur noch wenige Hundert Meter, dann traten sie aus dem Wald hinaus und auf die Tartanbahn der Akademie. Sie waren zurück. Sie hatten es geschafft. Johanna registrierte, wie die ersten Kadetten bereits in Richtung Umkleide verschwanden, als sie ihren Beinen endlich den Befehl erteilen konnte, langsamer zu laufen und in Schritttempo zu verfallen.

Es regnete noch immer. Oder schon wieder? Johanna konnte es nicht genau sagen. Sie stützte ihre Hände in die Hüften, streckte ihren Rücken durch und hob ihr Gesicht gen Himmel.

»Böhm, wenn Sie die Prüfung im Februar bestehen wollen, sollten Sie besser an sich arbeiten«, hörte sie die Stimme des Ausbilders.

»Das Gefühl habe ich auch.«

Ohne ein weiteres Wort und mit zitternden Knien schlurfte Johanna in Richtung der Umkleidekabinen.

KAPITEL 3

MONTAG, 6. SEPTEMBER

Trisulti, Italien

Friedrich Ammon klappte den Laptop zu. Er mochte die Effizienz, mit der sie ihre Videokonferenzen abhielten. Eine halbe Stunde, jeden Morgen. Nicht länger. Kurz, präzise, ohne Unterbrechungen und mit klaren Zielvorgaben. Sie waren ein eingespieltes Team. Alles lief nach Plan.

Dennoch spürte Ammon einen Anflug von Neid. Dass ausgerechnet er dieser Tage nicht in Deutschland vor Ort war, enervierte ihn. Er gehörte hierher, nach Trisulti, keine Frage. Den Wunsch, seinen Beruf als Staatsanwalt in der Heimat aufzugeben und als Leiter der Akademie nach Italien zu gehen, hatte er selbst geäußert. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er mit dieser Entscheidung nicht weit genug gedacht hatte. Dass er nun zwar nicht außen vor war, ohne jeden Zweifel aber am Rand des Geschehens stand. Er war zum Zuschauen verdammt, da ihr über Jahre hinweg ausgearbeiteter Plan in Deutschland in die entscheidende Phase ging.

Das Gefühl, nicht in alle Prozesse involviert zu sein, schlug ihm auf den Magen. Der Espresso und drei Pralinen hatten ihr Übriges getan. Ammon hatte das Unwohlsein mit jeder Minute der Videokonferenz stärker in sich aufsteigen gefühlt. Dabei hatte er nur Lob für seine Arbeit geerntet. In Trisulti griff ein Rädchen in das nächste. Seit sie vor einem Jahr den Mietvertrag mit dem Kulturministerium in Rom unterschrieben hatten, herrschte in der Kartause reges Treiben. Die alten Gemäuer des Klosters sollten der künftigen Kaderschmiede eine Aura bedeutender Tradition verleihen. Hinter den gewaltigen Steinmauern bedurfte es hingegen der neuesten Technologien. Wochenlang waren Handwerker ein- und ausgegangen, hatten Kabel, Computer, Kameras und Sicherheitsequipment herangeschafft, installiert und dafür so manche Wand zwischenzeitlich aussehen lassen wie einen überreifen Gorgonzola. Mit Erfolg: Die Seminarräume entsprachen in ihrer Ausstattung nun den Anforderungen des MIT, des Massachusetts Institute of Technology in den USA. Die historische Bibliothek, die schon zuvor über dreißigtausend Bände umfasst hatte, führte nun auch das modernste Wissen der Menschheit zu Politik, Wirtschaft, Informatik, Soziologie, Psychologie und Genetik. Das Gemeinschaftshaus befand sich in den letzten Zügen eines aufwendigen Umbaus und sollte künftig den Studierenden als eine von mehreren Unterkünften dienen. Ammon überließ nichts dem Zufall, selbst die Gärten in den Innenhöfen ließ er in jenen Zustand zurückversetzen, der in den alten Büchern des Klosters beschrieben war.

Wie aus dem Stein der Bergkette entwachsen, so empfand es Ammon, wenn er über den Ort seiner Akademie nachdachte. Massiv, unverrückbar, die Wurzeln der Geschichte tief in die Erde getrieben, Lebensadern, die sich, für das menschliche Auge unsichtbar, unterirdisch fortsetzten und im Laufe der Zeit unaufhaltsam die ganze Welt zu umfassen vermochten.

Jetzt aber störte ein leichter Schwindel seine Gedanken. Er stand auf und trat zu einer Anrichte, goss sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug leer. Sein Magen meldete sich geräuschvoll.

Er verließ sein Büro und ging zurück in den Kreuzgang. Noch immer wehte ein kühler Wind um die steinernen Säulen und trieb ihm den Duft von Rosmarin und Lavendel in die Nase. An jedem anderen Tag hätte er sich an diesem würzig-blumigen Aroma erfreut. Nun krampfte sich sein Magen zusammen. Ammon stützte sich an einer der Säulen ab und atmete tief durch.

Was war los mit ihm?

Wo war Luca?

Er sah sich um, konnte seinen Assistenten jedoch nirgends entdecken. Da fiel ihm ein, dass der Junge jeden Morgen während seiner Videokonferenz in die Klosterkirche ging, um dort für einige Momente für sich zu sein. Ammon setzte sich mühsam in Bewegung. Unsicheren Schrittes folgte er dem Gang, durchquerte einen Saal und trat auf der anderen Seite ins Freie. Die Gärten mit ihren penibel zugeschnittenen Hecken und einem plätschernden Brunnen lagen rechter Hand. Doch Ammon hatte dafür keinen Blick. Er fühlte sich sekündlich unwohler. Die Übelkeit hatte ihn jetzt fest im Griff. Einmal übersah er eine Stufe und stolperte. Schließlich erreichte er die große Freitreppe, die ihn hinunter zum Vorplatz der Klosterkirche San Bartolomeo brachte.

Ammon musste an den Besuch des Kardinals Gregory Dulles denken, mit dem er erst vor wenigen Tagen diese Treppe hinabgestiegen war. Dulles galt als einer der einflussreichsten Theologen der Vereinigten Staaten und sollte erster Ehrenpräsident der Akademie werden. Ammon hatte den alten Mann auf dem Weg nach unten zum Vorplatz stützen müssen. Nun wünschte er sich selbst eine helfende Hand, so elend war ihm.

Wenige Schritte vor dem Fuß der Treppe hielt er inne. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Hände zitterten. Ammons Beine drohten, ihren Dienst zu versagen. Gleich würde Luca ihm helfen. Aber wie? Woher kam die plötzliche Übelkeit, der Schwindel? Er spürte, wie sein Herz raste, obwohl er kaum zwei Stufen hintereinander schaffte, ohne dass er stehen bleiben musste.

Auf einmal drehte sich die Welt um Friedrich Ammon. Er sah nach oben in den blauen Himmel. Ein Geräusch in der Ferne drang an sein Ohr. Eine Stimme. Ein Rufen. Sein Name. Doch er reagierte nicht mehr. Ammon bemerkte noch, wie er das Gleichgewicht verlor, wie sein Körper auf dem Stein aufschlug, die Schwerkraft ihn Stufe für Stufe hinabzog, sein Körper sich drehte, sich überschlug, sein Kopf auf dem harten Boden aufprallte. Dann blieb er liegen.

Il tedesco nahm wahr, wie Luca auf ihn zustürzte. Für einen kurzen Moment erblickte er die Statue am Eingang der Kirche. Giacomo del Duca hatte sie angefertigt, ein Schüler des großen Michelangelo. Ammon verzog das Gesicht zu einem verkrampften Lächeln. Michelangelo, dank ihm war das Jüngste Gericht bis heute selbst ungläubigen Menschen ein Begriff.

Ein Gericht über alles Leben auf Erden.

Und über alles Tote auf Erden.

KAPITEL 4

MONTAG, 6. SEPTEMBER

Berlin, Deutschland

Die S9 zuckelte kreischend und quietschend über die Schienen durch Ostberlin. Die Regentropfen prallten gegen die Fensterscheiben und flossen in sich vereinenden Bahnen hinab. Johanna lehnte den Kopf müde ans Glas. Sie fror. Dabei war es erst September. Seit knapp einem Monat lebte sie in Berlin, doch der Sommer schien schon vorbei zu sein. Die Freibäder hatten am vergangenen Wochenende ihre Pforten geschlossen. Das untrügliche Zeichen, dass der Regen der letzten Tage die Hoffnungen auf einen goldenen Herbst hinweggespült hatte.

Johanna gehörte jedoch nicht zu den Menschen, die ihre Stimmung vom Wetter abhängig machten. Auch wenn sie sich gerade nichts sehnlicher wünschte, als von Sonnenstrahlen gewärmt zu werden, konnte sie beinahe jeder Witterung etwas Positives abgewinnen. Würde sie heute nicht auf ihrem Balkon sitzen können, dann eben auf ihrem Bett. Konnte sie keine Shorts und T-Shirt tragen, dann eben Jeans und Sweatshirt. Und da sie zu Hause ohnehin stets barfuß umherlief, spielte die Temperatur außerhalb ihrer Wohnung keine Rolle.

Sie sah den Friedhof Baumschulenweg in der Ferne und löste sich aus der Starre. Mühsam erhob sie sich, warf sich ihren Rucksack über die Schultern. Am Bahnhof Schöneweide stieg sie aus. Auf den Treppen zur Straße merkte sie, wie ihre Beine nach dem harten Lauf rebellierten. Nachdem sie das rote Backsteingebäude hinter sich gelassen hatte, zückte sie deshalb ihr Smartphone, öffnete eine App und steuerte erleichtert auf einen der mietbaren Elektroroller zu, der achtlos zwischen den Reihen an Fahrrädern ins metallene Getümmel geworfen worden war.

Ihre Beine dankten es ihr, als Johanna wenige Sekunden später auf der Brückenstraße in Richtung Spree fuhr, die Edisonstraße entlangrollte und dann, einmal links, einmal rechts, in der Wattstraße zum Stehen kam. Sie stellte den E-Scooter an der Hauswand zur Nummer achtzehn ab, betrat das Gebäude durch eine quietschende Flügeltür und durchquerte den Hof zum Hinterhaus. Nach wie vor empfand sie ein glückliches Kribbeln, wenn sie im zweiten Stock die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Ein Zimmer, eine kleine Küche, eine Diele in der Größe einer Duschkabine, dazu ein Badezimmer mit Wanne und natürlich der Balkon. Ein Traum auf vierunddreißig Quadratmetern, für schlappe zweihundertachtzig Euro kalt. Ihr Zuhause. Ihr Paradies. Klein, am Arsch der Welt, aber geil.

Hier konnte sie auf der mit Kissen bedeckten Holzpalette auf dem Balkon ein Dosenbier zischen. Hier fanden Nudeln mit Tomatensauce häufiger als alles andere den Weg in einen Topf auf dem Herd. Hier lief pausenlos das Radio, wahlweise ein britischer oder ein amerikanischer Sender, Hauptsache, nicht der Mist aus Deutschland – außer für die Nachrichten. Hier lagen ihre Sachen wild herum, wenn ihr danach war, und niemand mokierte sich, niemand wies sie zurecht, niemand klagte über ihre Unordnung. Hier war sie niemandem etwas schuldig. Hier gab sie die Regeln vor. Und die Einzige, die diesen Regeln folgen musste, war sie selbst.

Sie stellte ihre Laufschuhe zum Trocknen auf die Heizung im Badezimmer und warf den leeren Rucksack unters Bett, das den Mittelpunkt des Wohnzimmers darstellte. In der Küche schaltete sie den Wasserkocher ein, setzte eine Pfanne auf den Herd, und nur wenige Minuten später nahm ein Omelett Farbe an, während Johanna an einer Tasse Kamillentee schlürfte. Als die wenig üppige, aber mit Chili, Kreuzkümmel und Koriander gewürzte Mahlzeit auf dem Teller landete, setzte sie sich an einen kleinen Holztisch, der mal als Esstisch, mal als Schreibtisch fungierte. Sämtliches Mobiliar hatte dem Vermieter gehört, der dafür nichts mehr hatte haben wollen. Es gehörte zum Inventar, und hätte Johanna es nicht dankbar übernommen, der Vermieter hätte alles auf den Sperrmüll geworfen.

»Ist nichts mehr wert, das alte Zeug«, hatte er gesagt.

»Für mich reicht’s«, hatte Johanna erwidert.

Sie konnte nichts kaputt machen, was nicht mehr kaputtgehen konnte. Einzig in eine anständige Matratze für das Bett hatte sie investiert. Darüber hinaus war sie glücklich gewesen, kein Geld für Möbel ausgeben zu müssen. Johanna war praktisch pleite gewesen, als sie nach Berlin gezogen war. Für die Ausbildung hatte sie einen Kredit aufgenommen, den sie nur erhalten hatte, weil sie mit Eintritt in die Polizeiakademie den Status einer Beamtin auf Widerruf innehatte und so der Bank eine gewisse Sicherheit bieten konnte.

Weil sie sich nicht gänzlich von der Bank hatte abhängig machen wollen, ging Johanna kellnern, sofern es ihre Zeit zuließ. Sie hatte einen Job im Stadion an der Alten Försterei bekommen, eine Viertelstunde mit dem Fahrrad von ihrer Wohnung entfernt. Alle zwei Wochen, wenn Union ein Heimspiel hatte, arbeitete Johanna dort im Catering. Es gab gutes Geld, und obwohl Fußball sie bis dato nicht interessiert hatte, hatte die aufgeladene Stimmung auf den Rängen sie sofort elektrisiert. Dieses Gefühl war jedoch nichts im Vergleich zu dem Moment gewesen, als sie realisiert hatte, dass sie in einigen Jahren jenen Polizeieinheiten angehören konnte, die beim Fußball für die Sicherheit sorgten. Seitdem beobachtete sie vor und nach jeder Partie, wie sich die Beamten verhielten, und fragte sich immer wieder, was sie an diesem Beruf so faszinierte.

Auch jetzt dachte sie wieder darüber nach und stocherte mit der Gabel in ihrem Omelett herum. Vor etwas mehr als einem Jahr war ihr klar geworden, dass alles, was sie bis dahin gemacht hatte, sie nicht ausfüllte. Sie hatte sich eine Nacht lang hingesetzt und im Internet recherchiert. Schließlich hatte sie eine Polizeischule gefunden, an der sie sich auch mit Ende zwanzig noch bewerben konnte: in Berlin. Danach war alles anders geworden. Sie hatte sich akribisch vorbereitet, hatte für die Aufnahmeprüfung so viel gelernt wie nie zuvor in ihrem Leben. Den langwierigen Bewerbungsprozess hatte sie geduldig über sich ergehen lassen, erst einen Online-Test absolviert, dann eine mehrstündige Prüfung in Berlin, ehe ein Bewerbungsgespräch mit zwei Polizisten folgte, ein ganztägiger Sporttest, die medizinischen Untersuchungen und ein weiteres Interview. Selbst die Überprüfung des Leumunds war glattgegangen, trotz ihrer Vergangenheit.

Und dann endlich war das Ergebnis gekommen.

Johanna hatte geweint. Sie hatte es nicht geschafft.

Trotz der wochenlangen Schinderei war sie nur auf Platz dreihundertzwei gelandet.

Sie hatte gewusst, dass es lediglich zweihundertzwanzig schaffen würden. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass sie in den folgenden Wochen fast täglich auf der Anwärterliste weiter nach oben rücken würde. Viele Kandidaten, auch Johanna, hatten sich für beide Ausbildungszweige parallel beworben – bei der Schutzpolizei und der Kripo. Johanna jedoch hatte geahnt, dass sie für einen Platz bei der Kriminalpolizei schon zu alt war, und deswegen trotz doppelter Bewerbung nur auf die Schutzpolizei spekuliert. Andere Anwärter hingegen ließen sich plötzlich reihenweise von der Liste der Schupo streichen. Wieder andere nahmen Berufsangebote oder Ausbildungsplätze an anderen Polizeistandorten in Deutschland an oder zogen ihre Bewerbung gänzlich zurück. Und so rückte Johanna ganz langsam immer weiter nach oben. Bis sie es doch noch geschafft hatte. Am Ende war sie als hundertachtundneunzigste Kandidatin der Schutzpolizei an der Polizeiakademie Berlin angenommen worden.

Hundertachtundneunzig.

Seit diesem Tag war diese Zahl ihre Glückszahl.

Sie hatte sie sich sogar in einen silbernen Armreif gravieren lassen, den sie extra dafür gekauft hatte und seither immer und überall trug. Heute früh hatte er ihr jedoch wenig Glück gebracht. Gefühlt hatte sie hundertachtundneunzig Stufen erklommen und war dabei genauso viele Tode gestorben.

Der Tee und das Omelett hatten sie zwar von innen gewärmt, ihre Beine verweigerten dennoch weiter den Dienst. Johanna ließ sich aufs Bett fallen und zog ihr Smartphone aus der Tasche.

Boris hatte mehrfach versucht, sie zu erreichen. Boris Malkin, ihr bester Freund in Berlin. Sie hatten sich für den Abend verabredet. Das konnte er jetzt vergessen. Johanna würde ihre Wohnung heute nicht mehr verlassen. Morgen musste sie wieder in aller Frühe nach Ruhleben. Sosehr Johanna ihr Apartment liebte, sosehr ärgerte es sie, dass die Polizeiakademie am anderen Ende der Stadt lag und sie anderthalb Stunden brauchte, um quer durch Berlin zu ihrer Ausbildungsstätte zu gondeln.

Nein, heute würde sie sicher nicht mehr rausgehen.

Trotzdem verspürte sie den Drang, Boris von Teresa Osterkamp zu berichten. Und davon, dass sich zwei Mitarbeiter des Verfassungsschutzes angekündigt hatten und übermorgen einen Gastvortrag halten würden. Allein die Vorstellung, sie könne vom Geheimdienst indoktriniert werden, würde Boris zu einer seiner Tiraden über den deutschen Überwachungsstaat veranlassen. Johanna konnte es kaum erwarten. Er war überzeugter Kommunist, und mit niemandem konnte sich Johanna so leidenschaftlich über Politik streiten wie mit ihm.

Allerdings nicht mehr heute. Nicht mehr nach dieser Tortur im Wald. Johanna fühlte eine tiefe Müdigkeit.

Sie schrieb Boris eine Nachricht und bat, das Treffen auf den nächsten Abend zu verschieben. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Doch Johanna bekam sie nicht mehr mit.

Sie war eingeschlafen.

KAPITEL 5

DIENSTAG, 7. SEPTEMBER

Berlin, Deutschland

»Was ist mit dir? Kein Kaviar?«

Boris Malkin schob sich eine Scheibe Weißbrot in den Mund und ließ einen Teelöffel mit grell orangefarbenen Störeiern folgen.

Johanna verzog das Gesicht. Ihr war der flüssige Grund, weshalb sie sich im Café Voland getroffen hatten, lieber. Sie hob das Wodkaglas und prostete Boris zu. Der schluckte den Kaviar herunter, grinste und griff ebenfalls zu seinem Glas.

»Wodka macht aus allen Menschen Russen. Sa sdorówje!«

»Aus dir muss er keinen mehr machen. Du bist einer«, erwiderte Johanna, nachdem sie getrunken hatte und sich ihre Gesichtszüge wieder entspannt hatten.

»Und Deutscher!« Boris langte erneut in den Brotkorb. »Dank meines fast fehlerlosen Einbürgerungstests.«

Johanna erinnerte sich an den Abend, als sie sich kennengelernt hatten. Es war der Abend nach ihrem letzten Bewerbungsgespräch gewesen. Eine Kneipe in Prenzlauer Berg, ganz in der Nähe des Café Voland. Johanna hatte allein an der Theke gelehnt und ein Pils getrunken, als Boris mit einer Handvoll Freunden in den Laden getaumelt war. Sie waren zu ihr an die Bar gekommen, hatten Wodka bestellt und ihr einen ausgegeben. Johanna hatte bis zum Morgengrauen mit ihnen gefeiert und darauf angestoßen, dass Boris nun auch Deutscher war.

Bis auf seinen Freund Tomasz, mit dem er noch immer zusammen war, hatte sie seitdem keinen der Jungs wiedergesehen. Boris und Tomasz dagegen hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Besonders Boris. Er war ein Rebell, ein kleiner, schmaler, frecher Typ mit krausem Haar, das er meist unter einer schwarzen Beanie verbarg, mit einem rauen Dreitagebart und einer schwarzen Lederjacke, ohne die er nicht aus dem Haus ging. Er faszinierte sie. Nicht weil er die Kunstfertigkeit besaß, als Grafikdesigner viel Geld zu verdienen, ohne dass es ihn groß zu interessieren schien. Es war seine belesene Seite, seine kraftvolle Art, genauso leidenschaftlich über geschichtliche Ereignisse wie den Prozess gegen Robert Oppenheimer zu diskutieren wie über die versteckten Botschaften in den Songs der Beatles oder über die bevorstehende Bundestagswahl in Deutschland, bei der er erstmals seine Stimme einer deutschen Partei geben würde.

»Weißt du eigentlich, warum ich dich heute hierhergeführt habe?«

»Weil deine Zunge scharf auf etwas Glibberiges war und du es mit Wodka runterspülen wolltest?«

Er lachte. »Wegen des Namens. Voland.«

»Bulgakow. Der Meister und Margarita.«

Sichtlich zufrieden betrachtete er sie. So wie er es immer tat, wenn er ein Gesprächsthema angerissen hatte, aus dem die wildesten Blüten rankten, die er aufgriff und so lange weiterverfolgte, bis er ihrer überdrüssig wurde und zum nächsten Thema überging.

»Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb wir hierhergekommen sind, oder?« Johanna betrachtete Boris skeptisch. »Der Name einer Romanfigur, die den Teufel verkörpert und für allerlei Ungemach in Moskau sorgt. Außer, du willst mit mir über euren Zaren im Kreml reden. Dann könnte ich den Hinweis verstehen.«

»Keine schlechte Überleitung. Ich hatte aber eher an schwarze Magie gedacht. Und an deinen Trip nach Namibia.«

»Was hat schwarze Magie mit meiner Reise zu tun?«

»Hast du da nicht an diesem Kräutertrank genippt und bist deswegen in Berlin gelandet? Du hast mir nie wirklich von Namibia erzählt.«

Jetzt war es an Johanna, lauthals zu lachen. »Du meinst muti. Das waren nur ein paar Pflanzen, eingekocht in Milch. Wie eine Art Tee. Ganz ohne halluzinogene Stoffe. Total harmlos.«

»Schade. Ich dachte, dahinter verbirgt sich eine spannende Geschichte.«

»Die Geschichte ist ja auch spannend. Nur hat sie nichts mit einem Drogentrip zu tun. Ich musste letztes Jahr einfach mal raus. Und als ich das Reiseangebot gesehen habe, war mir alles egal, und ich habe sofort gebucht. Drei Wochen in einem Wüstentruck durch Namibia mit einem Dutzend Menschen, die ich nicht kannte, mit einem Guide, der mir die Welt aus einer ganz neuen Perspektive gezeigt hat. Jede Nacht haben wir draußen geschlafen, ohne Zelt, einfach nur auf einer Matte in unseren Schlafsäcken, haben mit der Natur gelebt, mit dem Rhythmus der Sonne und des Mondes, haben am Lagerfeuer gesessen, ohne Musik, ohne Handys, ohne Bücher, nur mit unseren Geschichten, unseren Gedanken, Träumen, Ängsten. Es wurden die drei Wochen meines Lebens. Sie haben mich verändert. Und irgendwann wusste ich, dass ich Polizistin werden möchte. Die Erkenntnis kam aus dem Nichts. Wir saßen am Orange River, der Mond ging gerade hinter einer Bergkette auf. Da war es vorbei. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Und ich habe gewusst, dass ich etwas ändern musste. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mein Leben umkrempeln würde.«

Johanna sah, wie Boris sie anstarrte.

»Erzähl weiter!«

»Na ja, ich wusste einfach, dass es für mich in Köln nicht weitergehen würde. Ich hatte Musik studiert, Saxofon und Klavier, weißt du? Das Problem war: Es gab keine Jobs. Ich habe in ein paar Bands gespielt, über Wasser halten musste ich mich dagegen mit Aufträgen in irgendwelchen Pianobars, auf Familienfeiern und Hochzeiten. Ich war gut, aber nicht gut genug. Für die großen Orchester reichte es einfach nicht. Und unterrichten?« Sie hielt inne. »Dann erzählte mir ein Bekannter von Namibia, und ich dachte: Was kann schon groß passieren? Und jetzt bin ich in Berlin.«

»Dafür, dass wir so gut befreundet sind, weiß ich sehr wenig über deine Vergangenheit«, erwiderte Boris nach einem Moment des Schweigens.

Johanna fühlte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie griff nach ihrem Wodka und leerte das Glas in einem kräftigen Zug.

»Meine Vergangenheit spielt keine Rolle mehr. Berlin ist mein Leben. Mein Hier und Jetzt. Das zählt.«

Boris schien zu spüren, dass er besser nicht weiterfragte.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch. »Entschuldigt bitte, gleich spielt eine Band. Wir müssen ein bisschen umbauen. Ihr könnt aber gerne an unserer Bar Platz nehmen. Heute Abend gibt es ganz fantastischen Jazz aus Sankt Petersburg«, erklärte sie.

»Kein Problem.« Nach einem kurzen Blick zu Johanna bat Boris um die Rechnung.

Draußen war es dunkel geworden, die Luft kühl, der Himmel bewölkt. Die Straßenlaternen warfen diffuses Licht in die anbrechende Nacht. Johanna, die unter einer rotbraunen Softshelljacke nur ein eng geschnittenes Shirt zu einer schwarzen Stoffhose trug, zog den Reißverschluss zu. Wortlos schlenderten sie in Richtung Schönhauser Allee. Bald erreichten sie die Bahntrasse, die auf dunkelgrün lackierten Stahlträgern über ihren Köpfen eine der Nord-Süd-Achsen durch Berlin balancierte. Wie überall in der Stadt waren die Litfaßsäulen, Betonpfeiler, Laternen und Plakatwände mit den Köpfen zahlreicher Politiker tapeziert. Glatt gezogene Gesichter, austauschbare Worthülsen und unglaubwürdige Versprechungen in Schwarz, Rot, Grün, Gelb und Blau. Jede Partei hatte vor der bevorstehenden Bundestagswahl die besten Lösungen für eine bessere Zukunft, selbst jene Partei, die über dreißig der letzten vierzig Jahre in der Bundesregierung gesessen hatte und diese bessere Zukunft schon längst hätte herbeiführen können. Aber so lief dieses Geschäft wohl.

»Mir bereitet dieses Gerechte Deutschland echte Bauchschmerzen«, entfuhr es Boris, als habe er ihre Gedanken gelesen. Er deutete auf ein großes Wahlplakat auf der anderen Straßenseite, auf dem eine dieser stumpfen Heimatparolen zu lesen war, mit denen die noch relativ junge Partei die Straßen des Landes und die sozialen Netzwerke flutete. »Diese Leute gehen mir echt unter die Haut.«

»Dann gib deine Stimme einfach einer anderen Partei. Besser kannst du sie nicht bekämpfen.«

»Es fühlt sich an wie bei einem Kurpfuscher.« Boris blickte nachdenklich in die Ferne. »Sie verabreichen den Menschen eine Medizin, von der sie wissen, dass sie nicht hilft. Im Gegenteil. Trotzdem erhöhen sie immer weiter die Dosis, warten ab, wie die Menschen reagieren, hoffen, dass sie sich an die Nebenwirkungen gewöhnen, und verabreichen einfach die nächststärkere Pille. Sie vergiften uns alle.«

»Nicht uns alle. Nur diejenigen, die sich nicht haben impfen lassen oder ohnehin gegen Anstand und Vernunft immun sind.«

»Nimm zum Beispiel diesen Typen!«

Johanna, die gerade die Auslage einer Buchhandlung betrachtet hatte, schaute auf und folgte Boris’ ausgestrecktem Zeigefinger. An der Hauswand neben dem Schaufenster hing ein Plakat, das eine Veranstaltung in Neukölln ankündigte.

»Carl Bellmann«, las er vor und deutete auf das Porträt eines ernst dreinblickenden Mannes mittleren Alters mit Halbglatze und kurz rasiertem Haarkranz. »Jedes Mal, wenn ich diesen Typen in einer Talkshow sitzen sehe, schalte ich um. Ich kann ihm einfach nicht zuhören. Und ausgerechnet so einer will Kanzler werden.«

Johanna blieb wie erstarrt stehen.

Boris, der bereits weitergelaufen war, drehte sich zu ihr um. »Was ist los?«

Noch immer starrte Johanna auf das Plakat der Partei Gerechtes Deutschland. Sie sah in die graublauen Augen von Carl Bellmann, die hart und entschlossen von der Ankündigung zurückblickten.

Sie zwang sich, wieder Boris anzuschauen, der sie ähnlich fixierte wie Bellmann.

»Alles okay?«

Johanna antwortete nicht.

»Bock auf ’ne Currywurst?« Boris nickte unsicher die Schönhauser Allee hinunter.

An einem normalen Abend hätte Johanna sofort zugestimmt. Doch ihr war der Appetit vergangen.

KAPITEL 6

DIENSTAG, 7. SEPTEMBER

Lyon, Frankreich

Das weiße Tape wand sich wie eine Schlange immer enger um seine Hand. Nicolai Krahl saß breitbeinig auf einem Plastikstuhl in der Umkleide, die Rückenlehne vor der Brust, den linken Arm darüber ausgestreckt, während sein Trainer ihm die Führhand bandagierte. In den Fingern seiner Rechten pulsierte bereits das Blut. Eingeschnürt in Mull und Tape, die Knöchel geschützt, die Gelenke ihrer Beweglichkeit beraubt.

Nicolai Krahl blickte wie hypnotisiert auf die routinierten, ruhigen Bewegungen seines Trainers. Roger, ein knallharter Typ, unnachgiebig im Training, ein Motivator in der Ringecke, penibel in der Vorbereitung. Ein pedantischer Kontroletti, fand Krahl, was ihm aber allemal lieber war als ein schlampiger Verband um seine Hände. Die Fäuste waren seine Währung, seine schlagenden Argumente in den Boxringen Europas.

Er war kein technisch begnadeter Boxer. Doch Nicolai Krahl konnte einstecken und austeilen wie kaum ein Zweiter. Mit seinen exakt zwei Metern überragte er die meisten anderen Schwergewichtler. Mit seinen langen Armen hielt er die Kontrahenten auf Distanz wie die Firewall den einfallenden Virus. Und dann waren da die beiden Schraubstöcke, die sich in Form von muskulösen Oberarmen aus seinen Schultergelenken schälten und mit brutaler Wucht seine Fäuste in die Gesichter, Lebern und Nieren seiner Gegner katapultierten.

An diesem Abend würde er einen verhältnismäßig schmächtigen Franzosen durch den Ring prügeln. Diese Witzfigur war zwölf Kilo leichter als er, elf Zentimeter kleiner. Schon beim Wiegen hatte der Typ sich in die Hose gemacht. Nicolai Krahl würde diese halbe Portion in den ersten Runden auf die Bretter schicken und zermalmen, wenn der Ringrichter nicht rechtzeitig Erbarmen mit dem Typen haben sollte.

Roger begutachtete sein Werk an der linken Hand. Prüfte, ob alle Tapestreifen dicht abschlossen. Ein Anzugträger der European Boxing Union und der Bruder seines Gegners hatten die Prozedur schweigend verfolgt. Sie waren die Kontrolleure. Jetzt nickten sie, da alles seine Richtigkeit hatte und Krahl die Boxhandschuhe übergestülpt bekam. Die roten, zehn Unzen schweren Fäustlinge aus Schaumstoff umschlossen seine bandagierten Hände. An seinen Handgelenken wurden sie mit Tape fixiert. Dann trat der Anzugträger vor, zog einen Filzstift aus seiner Jackentasche und signierte die weißen Streifen. Damit waren die Handschuhe regelkonform versiegelt.

Nicolai Krahl erhob sich. Seine schwarz-weiße Kampfhose aus glänzendem Polyester saß sicher über seinem Tiefschutz. Er griff zu einer Trinkflasche und pumpte sich ungelenk über einen langen Strohhalm das isotonische Getränk in seinen Mund. Lange hatte er mit Roger an einem passenden Verhältnis aus Natriumchlorid, Kalium und Magnesium gearbeitet, bis er die richtige Mischung für die Wettkämpfe gefunden hatte. Nun nahm er mehrere Schlucke, warf die Flasche einem seiner Betreuer zu und trat mit Roger in die Mitte des Raumes. Dieser hatte bereits die Pratzen übergezogen und imitierte mit den Schlagpolstern die Ziele, die Krahl treffen sollte.

Eins, zwei – die ersten Schläge landeten sicher im Ziel.

Als es kurze Zeit später an der Tür klopfte, rannen die ersten Schweißtropfen an seinem nackten Oberkörper hinab. Nicolai Krahl betrachtete eine der glitzernden Perlen, wie sie sich über sein Sixpack wellte wie über eine brettharte Buckelpiste. Als sie in seinem Hosenbund verschwand, blickte er in die Augen seines Trainers.

»Denk an seinen Uppercut. Halt ihn mit deinem Jab auf Distanz. Er ist …«

»… ein flinker Scheißkerl. Ich weiß, Coach!«

Der Mann, der geklopft hatte, gab das Signal. Noch fünf Minuten. Der letzte Kampf des Abends stand unmittelbar bevor. Das Highlight, für das die meisten der weit über tausend Boxfans ins ESPACE 140 im Nordosten Lyons gekommen waren.

Nicolai Krahl ließ sich in seinen blutroten Boxermantel helfen und zog eine weiße Seidenkapuze tief ins Gesicht. Der weiche Stoff bescherte ihm eine Gänsehaut. Eine schwarze Wolfsangel zierte die linke Brust seines Mantels. Eine Rune in Form eines stilisierten Z, das Symbol für Kampfkraft und Wehrhaftigkeit.

Gemeinsam mit seiner Entourage betrat er den Gang zur Salle Jean Ferrat, der großen Halle, die für das Boxspektakel umgebaut worden war. Musik dröhnte ihnen entgegen. Die Musik seines Gegners. Irgendein französischer Hip-Hop-Lärm. Krahl senkte den Kopf, ging langsam weiter. Eine Hand lag auf seiner rechten Schulter. Roger.

Dann erklang harter Rock. Neue Deutsche Härte. Die martialischen Töne seiner Einlaufmusik kitzelten in Krahls Ohren. Sofort spürte er die vertraute Aggressivität in sich aufsteigen, das Zucken seiner Hände zu den Stakkato-Riffs verzerrter E-Gitarren. Als sie durch einen Türrahmen gingen, wurde es schlagartig dunkel. Um ihn herum schrien Menschen seinen Namen. Buh-Rufe mischten sich darunter. Er tauchte ab in den Rhythmus der Musik, in den Beat des Schlagzeugs, in die Vibrationen der Bässe, die sich den Weg in sein Herz suchten. Adrenalin strömte durch seine Adern, während er seine Augen weiter starr auf den Boden richtete. Eine metallene Treppe kam in Sichtweite, drei Stufen. In zwei Schritten war er oben. Ein fremdes Bein drückte ihm die beiden mittleren Ringseile auseinander. Ein geübter Schritt hindurch, mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt hinterher, dann stand Nicolai Krahl im Ring.

Erst jetzt hob er den Kopf. Ein kurzes Tänzeln, seine Beine fühlten sich nicht so locker an wie sonst. Für den Franzosen würde es trotzdem reichen. Zwei knappe Schlagbewegungen in die von Dutzenden Strahlern grell erleuchtete, staubige Luft. Auf dem dunkelblauen Ringboden glitzerten einige Tropfen Schweiß und Blut aus den vorherigen Kämpfen.

Nicolai Krahl ließ sich in seine Ecke fallen, lehnte sich an das Polster des Pfahls. Er spürte ein Frotteetuch auf seinem glatt rasierten Schädel. Eine Hand erschien in seinem Sichtfeld. Automatisch öffnete er den Mund, als man ihm den Mundschutz einsetzte. Der lange Strohhalm wanderte hinterher, die Flüssigkeit floss den Rachen hinab. Hundertfach ausgeführte Handgriffe, ein eingespieltes Team, die Stimme seines Trainers am Ohr, ein mechanisches Nicken, als habe er verstanden. Die Scheinwerfer ließen ihn kurz zwinkern. Dann begann er seine Umgebung in sich aufzusaugen.

Blau-weiß-rote Ringseile, évidemment. Die stolzen Franzosen eben. Am Fuße des Rings saßen die Punktrichter in ihren schwarzen Hosen, weißen Hemden und schwarzen Hosenträgern mit düsteren Mienen an einem Tisch, auf dem eine goldene Glocke stand. Dahinter runde Tische, geschmückt wie bei einer Gala. Les riches schlürften Champagner, während das Blut der Boxer auf ihre weiße Tischdecke spritzte. Die bourgeois saßen dahinter in einfachen Sitzreihen. Kein Champagner, aber auch kein Blut.

Noch einmal öffnete Krahl den Mund für den Strohhalm. Er war durstiger als sonst.

Da ertönte die Stimme des Hallensprechers.

»In der blauen Ecke«, begann der Mann im Smoking mit dem Mikrofon. Er stand in der Mitte des Rings, verlas die Vita seines Konkurrenten. Die Menge tobte, der Lokalmatador hatte die Menschen auf seiner Seite.

»Und in der roten Ecke, in schwarzer Hose mit weißem Bund, 36 Jahre alt, mit einem Gewicht von 108,2 Kilogramm. Seine Bilanz: 46 Siege, davon 41 durch K. o., sieben Niederlagen, der ehemalige Deutsche Meister, der ehemalige Europameister nach EBU – aus Eisenach, Deutschland, bienvenue à Lyon – Nicolai Krahl!«

Der Jubel seiner Fans ging in den Pfiffen der Mehrheit unter.

Sollten sie nur pfeifen, dachte Krahl und hob den rechten Arm zum Gruß an seine Anhänger.

Roger zog ihm den Mantel aus. Ein letztes Mal drehte er sich zu seinem Coach, sah ihm in die Augen. Wieder blendete ihn einer der Scheinwerfer. Er blinzelte erneut.

»Konzentrier dich«, ermahnte ihn sein Trainer. »Dann ist das hier schnell vorbei.«

Nicolai Krahl wandte sich wieder zur Ringmitte. Der Ringrichter in schwarzer Hose, hellblauem Hemd und schwarzer Fliege bat die beiden Boxer mit einer Handbewegung zu sich. Krahl trat vor, und zum ersten Mal an diesem Abend blickte er seinem Gegner in die Augen.

Sie starrten sich an.

Fixierten einander.

Krahl musste all seine Konzentration aufbringen, nicht schon wieder zu blinzeln. Ein Auge zuckte, doch er gab nicht nach. Die Stimme des Ringrichters drang kaum zu ihm heran. Dann war es getan. Ein kurzes Abklatschen mit den Handschuhen, und beide Boxer gingen zwei Schritte zurück.

Aus dem Augenwinkel sah Krahl noch, wie eine junge, schlanke Frau mit langen Beinen auf High Heels ein großes Schild mit der Nummer eins in die Höhe hielt und aus seinem Blickfeld verschwand.

Dann ertönte der Gong zur ersten Runde.

KAPITEL 7

DIENSTAG, 7. SEPTEMBER

Lyon, Frankreich

Jeder Lichtstrahl im ESPACE 140 war auf die beiden Gladiatoren in der Arena gerichtet. Selbst die Betreuer, Punktrichter und Zuschauer, die unmittelbar am Boxring saßen, verloren sich bereits in der Dunkelheit des Raumes. Wer wiederum an den Wänden des Saales stand und in Richtung Ring blickte, konnte die zahllosen Bildschirme der Smartphones sehen, über die so viele Zuschauer den Boxkampf verfolgten. Anstatt den Moment in ihrer eigenen Erinnerung festzuhalten, beschränkten sie ihr Blickfeld auf den Screen in ihrer Hand, um der Nachwelt zeigen zu können, was sie live gesehen hatten. Dabei würden sie sich später an praktisch nichts anderes erinnern als an das, was sie in diesem Augenblick auf dem Bildschirm festhielten. Denn für etwas anderes hatten sie keinen Blick.

Die meisten der Smartphone-Jünger gaben sich nicht einmal die Mühe, ihre Augen anzustrengen, um die Feinheiten im Ring auszumachen. Sie zoomten lieber näher heran. An Nicolai Krahl, den deutschen Boxer in seiner schwarz-weißen Hose, wie er, auf der Hut vor dem gegnerischen Uppercut, mit der größeren Reichweite seine gefürchteten Eins-eins-zwei-Kombinationen einzusetzen versuchte. Sein Gegenüber, Blaise Ikoné, der französische Herausforderer, der Lokalmatador, dem die Herzen der allermeisten Zuschauer zuflogen, war ein flinker Tänzer, leichtfüßig und behände, ohne Furcht vor der hammerharten Rechten seines Gegners, dafür frech mit seinen Körperhaken, die wie aus dem Nichts immer wieder einschlugen.

Ob am Bildschirm oder mit den eigenen Augen, dem Volk gefiel, was es sah. Wie dem Volk so vieles gefiel, das Triviale, das Brutale, solange es in sicherer Entfernung stattfand. Vor allem gefiel den Franzosen, dass Nicolai Krahl nicht ganz so leichtfüßig unterwegs war wie sonst. Sein Trainer, der als Perfektionist verschriene Roger, sah nicht zufrieden aus.

Pas du tout!

Als die Glocke zum Ende der ersten Runde ertönte, schien der Deutsche beinahe erleichtert. Während Ikoné, von Adrenalin aufgepumpt, in seine Ringecke tänzelte und sich vom Publikum feiern ließ, sank Krahl auf einen kleinen Schemel. Die Arme hingen schlaff in den Seilen. Der Cutman seines Teams kam mit einem kleinen Eisen herbei, das er auf eine Schwellung über Krahls linkem Auge presste. Derweil hatte sich Roger vor dem Boxer aufgebaut und redete auf ihn ein. Doch dieser schien ihn kaum zu hören. Mit halb geöffnetem Mund schnappte er nach seiner Flasche, trank und spuckte den blutigen Inhalt seines Mundes in einen Metalleimer. Der Boxer bedeutete, noch einmal etwas trinken zu wollen. Spuckte wieder aus. Trank noch einmal. Schüttelte den Kopf und stand auf. Rückte mit den roten Handschuhen unbeholfen seine Hose über dem Unterleibschutz zurecht. Ein letzter Blick zum Trainer. Dann ertönte der Gong zur zweiten Runde.

Die Zuschauer an den runden Tischen vor dem Ring verfolgten alle Bewegungen ganz genau. An Tisch vierzehn saß der sechzehnjährige Xavier zwischen seinen Eltern. Es war Xaviers Geburtstag. Sein Vater hatte ihm die Karten am Morgen beim Frühstück geschenkt. Mutter war nicht begeistert gewesen, war aber mitgekommen. Vater liebte das Boxen, Xavier auch. Er hatte sich noch nie mit jemandem geprügelt. Allein der Gedanke, dass jemand ihm ins Gesicht schlug, ließ ihn erschaudern. Umso aufgeregter hatte er die Kämpfe heute Abend verfolgt. Die Krönung seines Geburtstags war das Duell Ikoné gegen Krahl. Zu Hause hing ein Poster des französischen Boxers in seinem Zimmer. Jetzt sah er ihn zum ersten Mal aus nächster Nähe.

Die anderen Leute an ihrem Tisch kannte Xavier nicht. Rechts neben seinem Vater fieberte eine vierköpfige Familie mit, die Eltern mit ihren beiden Söhnen, beide deutlich älter als er. Sie hatten ihn den ganzen Abend ignoriert, als wäre er ein kleines Kind, das sich an einen Ort für Erwachsene verirrt hatte. Zwei ältere Herren saßen links neben seiner Mutter. Sie trugen Smoking und eine wie in den Stoff ihrer Anzüge eingenähte Würde, die Xavier ehrfürchtig nur dann zu ihnen hinübersehen ließ, wenn sie ihre Blicke auf den Ring gerichtet hatten. Ein einzelner Mann, der Xavier gegenübersaß und dessen Gesicht hinter dem Schild mit der Tischnummer vierzehn verborgen war, war erst während des vorletzten Kampfes gekommen. Er hatte sich wortlos gesetzt und eine Flasche Rotwein bestellt. Vater hatte Xavier zugeflüstert, der Mann habe einen 2003er Châteauneuf-du-Pape bestellt. Ein Wein, der auf der Karte mit vierhundert Euro angegeben war. Xavier mochte sich nicht vorstellen, warum man für ein Getränk so viel Geld ausgab. Er selbst hätte sich dafür ein vélomoteur gekauft. Sein bester Freund Delon ließ ihn ab und zu auf dessen Moped fahren, aber …

Ein Raunen im Saal riss Xavier aus seinen Gedanken. Er hatte tatsächlich verpasst, wie Ikoné in die Offensive gegangen war. Gebannt starrte der Junge hoch zum Ring, wo Krahl beide Arme an den Oberkörper gepresst hielt, die Fäustlinge vor seinem Gesicht. Ikoné drosch auf ihn ein, und Xavier ging begeistert mit jedem Schlag mit. Rechts, links, rechts. Aufwärtshaken. Kopfhaken. Die Schläge prasselten auf den Deutschen ein. Die Lautstärke um ihn herum schwoll an. Xavier verfolgte jeden Schlag seines Idols, sah, wie das Blut aus dem Cut über Krahls linkem Auge über dessen schweißnasses Gesicht lief. Als die Menschen im Saal reihenweise von den Sitzen aufsprangen, riefen, pfiffen, Jubelschreie oder Flüche von sich gaben, fand sich auch Xavier plötzlich auf seinen Füßen. Vater musste ihn ermahnen, nicht auf den Stuhl zu steigen.

Alle an ihrem Tisch waren nun aufgestanden. Alle bis auf den Mann mit dem teuren Rotwein. Kurz sah Xavier zu ihm hinüber. Es war zu dunkel, als dass er ihn hätte beschreiben können. Einzig seine Körperhaltung fiel Xavier auf. Er wirkte teilnahmslos, seltsam desinteressiert an dem, was im Ring vor sich ging. Statt wie alle anderen zu grölen und mitzufiebern, goss er sich ein weiteres Glas Wein ein und schlug die Beine übereinander. Dabei sah er fast gelangweilt auf die Uhr an seinem Handgelenk. Xavier hätte ihm am liebsten zugerufen, dass Ikoné mehr verdient hatte als solch ein ignorantes Verhalten.

Im nächsten Moment jedoch hörte er ein dumpfes Geräusch, das alle Gedanken an den Mann beiseitewischte. Ekstatischer Jubel brandete um Xavier herum auf. Hastig sah er zurück in den Ring – und konnte es nicht glauben. Nicolai Krahl war auf die Bretter gegangen. Und Xavier hatte es verpasst.

Der Deutsche kniete am Boden, eine Hand in den Seilen, Blut troff aus seiner Nase auf den Ringboden. Der Ringrichter beugte sich zu ihm hinab, zählte, hielt die Nummern vor Krahls Gesicht.

Sechs.

Sieben.

Xavier wollte nicht, dass es schon vorbei war. Dann hätte er den K.-o.-Schlag verpasst. Krahl musste sich unbedingt noch einmal aufrichten. Auch wenn das bedeutete, dass Ikoné den Kampf noch nicht gewonnen hatte.

Da drückte sich der Boxer nach oben, hob seine Handschuhe und sah dem Ringrichter in die Augen. Ein Nicken. Es ging also weiter. Doch ehe der Kampf wieder Fahrt aufnehmen konnte, erklang die Glocke. Die zweite Runde war beendet.

Xaviers Pulsschlag beruhigte sich. Er traute sich nicht, Vater zu fragen, wie es zu dem Niederschlag gekommen war. Er würde sich die besten Szenen noch einmal auf YouTube ansehen, ehe er ins Bett ging. Jetzt aber würde er seine Augen nicht noch einmal vom Ring abwenden. Er wollte nichts mehr von dem Schauspiel verpassen. Und vor allem wollte er Ikoné siegen sehen.

Kaum ertönte der Gong zur dritten Runde, da stürmte der Lokalmatador erneut los. Noch ehe Krahl die Ringmitte erreicht hatte, flogen ihm die Fäuste seines Kontrahenten wieder um die Ohren. Xavier war außer sich vor Erregung. Er wusste, dass Krahl als begnadeter Boxer galt, weshalb er insgeheim mit einer vernichtenden Niederlage seines Helden gerechnet hatte. Aber heute war alles anders. Das spürte er. Das sah er.

Und es geschah wirklich.

Von einer Sekunde auf die andere brach Krahls Deckung zusammen. Seine Arme sackten wie von einem Heißluftballon losgebundene Sandsäcke herab. Für einen winzigen Augenblick schien die Welt im ESPACE 140 stehen zu bleiben. Zuschauer hielten in ihren Rufen inne, selbst Ikoné schien nicht zu verstehen, was da gerade passiert war. Xavier staunte, wie Krahl schwankend im Ring stand, offenbar unfähig, sich noch zu rühren oder gar zu verteidigen. Mit leerem Blick, als wisse er nicht, wo er sich befand.

»Schlag ihn k. o.«, schrie Xavier.

Doch es hätte keiner Aufforderung bedurft. Leichtfüßig schoss Ikoné vor und jagte einen markerschütternden Kopfhaken erbarmungslos an Krahls Schläfe. Dessen Kopf flog in einem unnatürlichen Winkel nach hinten. Sein Mundschutz segelte in hohem Bogen über die Ringseile ins Dunkel des Zuschauerraumes. Während Xavier den Atem anhielt, fiel Krahl mit einer furchterregenden Endgültigkeit zu Boden wie ein gefällter Baum.

Da riss Xavier die Arme in die Höhe, und mit ihm explodierten die Jubelstürme der Meute im Saal. Der Ringrichter drängte den Lokalmatador in dessen Ecke zurück. Ikoné sprang genau vor Xavier in die Ringseile und küsste triumphierend seine Boxhandschuhe. Hinter dem Sieger stürzte der Mann im blauen Hemd mit schwarzer Fliege zu Krahl. Aus der Ecke des Boxers eilten mehrere Betreuer in den Ring. Die Menschen um Xavier herum grölten. Genau wie er. Sie feierten Blaise Ikoné.

Bis es mit einem Male ruhiger wurde. Etwas stimmte nicht. Sanitäter stürmten in den Ring. Krahl lag noch immer reglos auf dem Ringboden. Xavier konnte nicht genau erkennen, was los war. Er sah, wie auch Ikoné nicht mehr jubelte, sondern versuchte, zu seinem Gegner vorgelassen zu werden. Der Ringrichter blockte ab. In seinen Augen sah Xavier, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

Erst Unsicherheit, dann Panik, erst im Ring, dann in der Halle. Eben noch hatten die Franzosen ihrem Helden zugejubelt, der Nicolai Krahl besiegt hatte. Nun verwandelte sich die Euphorie in Entsetzen. Xavier sah zu seinem Vater. Ein Schatten hatte sich über dessen Gesicht gelegt. Ein Schatten, der nichts mit der Beleuchtung im Saal zu tun hatte.

Da fiel Xavier etwas auf. Der Mann ihm gegenüber saß nicht mehr an seinem Platz. Der Stuhl war leer. Nur die Flasche Châteauneuf-du-Pape stand noch dort.

Was für ein Großkotz, dachte Xavier. Der Typ hatte seinen Vierhundert-Euro-Wein nicht einmal ausgetrunken.

KAPITEL 8

MITTWOCH, 8. SEPTEMBER

Berlin, Deutschland

Sie konnte die sieben Buchstaben trotz der Dunkelheit in ihrer Wohnung klar und deutlich erkennen.

POLIZEI

Die Aufschrift auf der Signalweste leuchtete, da der Tag vor ihrem Fenster ungleich müheloser erwachte als Johanna Böhm selbst. Das erste Licht der Morgenstunden ließ die Reflektoren auf der Weste erstrahlen. Sie hing über einem Bügel am Kleiderschrank. Auf einem Stuhl daneben türmten sich dunkelblaue und schwarze Klamotten. Schwere Einsatzstiefel, gepolsterte Handschuhe, eine Mütze, ein Barett mit dem Berliner Polizeistern, dazu T-Shirts und Longsleeves. Der erste Teil ihrer Ausstattung, die sie bei der Einkleidung erhalten hatte. Den Großteil, darunter der Einsatzanzug und die Dienstuniform mit all ihren Hosen, Hemden, Jacken, Socken und Schuhen, würde sie erst in ein paar Tagen in Empfang nehmen. Man hatte sie gewarnt: Nicht wenige Anfänger bei der Polizei mussten sich daheim einen zweiten Schrank zulegen, um für all ihre neuen Kleidungsstücke Platz zu finden.

Johanna betrachtete mit müden Augen den klapprigen Holzkasten, der ihr bislang als Kleiderschrank diente. Mit seinem ausgestellten Giebel, den Zierleisten und getreppten Vierkantfüßen wirkte er wie ein elegantes Möbel aus der Gründerzeit. In Wahrheit war die Kleiderstange im Inneren das Einzige, was die Seitenwände noch an ihrem Platz hielt. Schon jetzt reichte er nur knapp für Johannas Ansammlung mehr oder weniger modischer Arrangements. Sie würde ihn ersetzen müssen, wenn sie erst einmal ihre gesamten Dienstklamotten bekommen hatte.

Ihre innere Uhr verriet ihr, dass der Handywecker in wenigen Minuten klingeln würde. Mit ausgestrecktem Arm angelte sich Johanna das Smartphone vom Nachttisch und startete die Playlist, die sie allmorgendlich aus ihrer Trance holen sollte. Sosehr sie es liebte, Zeit in ihren eigenen vier Wänden zu verbringen, sosehr war ihr Stille daheim ein Graus. In Namibia hatte sie es genossen, nur der Natur zu lauschen, dem Wind, den Bäumen, den Tieren, dem Knacken des Feuers. Nie war ihr Stille so lebendig vorgekommen. Im Trubel der Stadt, des Alltags, umgeben von Millionen von Menschen, war Stille für Johanna jedoch gleichbedeutend mit Bestrafung. Mit Ausgrenzung. Stille in einer Großstadt gab es nur dort, wo man isoliert war, wo niemand einen hören konnte oder sollte, wo man selbst nichts und niemanden hörte außer die eigene Einsamkeit.

Now this is a song to celebrate