Die Villa - Leon Sachs - E-Book
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Die Villa E-Book

Leon Sachs

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Beschreibung

Ein verschlepptes Mädchen, eine atemlose Suche nach den Drahtziehern und Abgründe, die dunkler sind als geahnt.

Polizeischülerin Johanna Böhm will die Schatten ihrer Vergangenheit hinter sich lassen, doch ihr untergetauchter Vater lässt ihr keine Ruhe. Sie möchte ihren bevorstehenden Urlaub nutzen, um nach ihm zu suchen. Da erreicht sie ein Hilferuf: Johannas beste Freundin Alice befürchtet, dass ihre Cousine Faith aus der nigerianischen Heimat nach Hamburg verschleppt worden ist. Sofort reist Johanna in die Hansestadt und macht sich gemeinsam mit Alice auf die Suche. Ist Faith in die Fänge skrupelloser Menschenhändler geraten? Johanna wendet sich an Rasmus Falk, ihren Weggefährten aus vergangenen Tagen. Während sich vor ihnen die Abgründe aus Gier und Unterdrückung auftun, geraten Johanna und Alice selbst in größte Gefahr …

Eine Polizeischülerin mit dunkler Vergangenheit und ein Ex-Geheimdienstler mit zweifelhaften Mitteln – ein Ermittlerteam unter Hochspannung

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Seitenzahl: 385

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LEON SACHS (das Pseudonym des Autors und Journalisten Marc Leon Merten) ist gebürtiger Kölner, lebt in Bonn und arbeitet in seiner Heimatstadt. Sachs ist Mitglied im SYNDIKAT, dem Verein für deutschsprachige Kriminalliteratur. Wenn er sich nicht gerade rasante Thriller ausdenkt, steht er im Stadion des 1. FC Köln und feuert als treuer Fan seine Lieblingsmannschaft an. Nach dem Erfolg seines Debüts Der Zirkel ist Die Villa der zweite Thriller über die Polizeischülerin Johanna Böhm.

Leon Sachs mit Der Zirkel in der Presse:

»Ein glänzend erzählter Thriller. Spannend, mitreißend – und in seiner Aktualität schlichtweg furchteinflößend.« Melanie Raabe

»Ein Muss für alle Freunde exquisiter Thriller.« Kölner Stadt-Anzeiger

»Ein spannenderes Thema für einen Thriller kann es momentan nicht geben.« Münchner Merkur Online

Außerdem von Leon Sachs lieferbar:

Der Zirkel – Sie wollen dich. Sie finden dich.

LEON SACHS

THRILLER

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack

Redaktion: Carlos Westerkamp

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildung: tkzgraphic / Shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29315-4V002

www.penguin-verlag.de

You and Me

KAPITEL 1

EIN ABEND IM FEBRUAR

Hamburg

Hinter dieser Tür konnte sich alles verbergen. Ein Schlafzimmer oder ein Bad, ein Lager oder ein Tresorraum, eine Ankleide oder eine Folterkammer. Man sah Türen nicht immer an, welche Geheimnisse hinter ihnen darauf warteten, entdeckt zu werden. Oder welcher Horror sich auftun konnte, falls jemand so leichtsinnig war, sie zu öffnen.

Die Madame saß vor der Tür auf einem dieser Stühle, denen die Geschichte der Menschheit einen Platz in Wartezimmern und Vorräumen zugedacht hatte. Im ersten Moment waren sie bequem, wenn man sich setzte. Doch schon bald wurden sie so unangenehm wie ein Wollpulli, der zu kratzen begann, wie Schuhe, die eine halbe Nummer zu klein waren, was man aber erst feststellte, wenn sich die erste Blase ankündigte.

Sie schlug die Beine übereinander, löste einen ihrer Christian Louboutins und ließ die Pumps an den Zehen baumeln. Dabei strich sie sich mit einer Hand über ihre eleganten kaschmirseidenen Strumpfhosen. Ihr Mantelkleid von Dolce & Gabbana, seitlich geknöpft, lange Ärmel und steigendes Revers, floss an ihr herab. Ihre Fingernägel waren makellos manikürt, der Nagellack Les Mains Hermès in Vert Égyptien leuchtete smaragdgrün wie die Palmen in der Sonne am Nilufer.

Ihre dunklen Augen blickten zur Tür. Die Madame wusste, was sie verbarg. Wusste, dass sie hier im Vorraum nichts von dem hören konnte, was sich hinter der weißen, unscheinbaren, schallisolierten Tür abspielte. Doch sie musste nichts hören, nichts sehen. Sie kannte die Abläufe genau, sah vor ihrem inneren Auge die flackernden Kerzen, den roten Sand auf dem Boden, die Masken bizarr verzerrter Gesichter an den Wänden. Sie konnte die entscheidenden Worte, die in diesem Raum fielen, mitsprechen. In Edo, der Sprache der Vorfahren. Mit der Unwiderruflichkeit des Seins.

Verlasset die Dunkelheit und tretet ins Licht! Gehorchet und ehret eure Schwester! Tilget eure Schuld, und ihr werdet erlöst als reine Seelen! Erhebet euch, und ihr werdet frei sein!

Die Madame lächelte. Freiheit? Welcher Mensch war schon frei? Waren sie nicht alle den Naturgesetzen unterworfen? Folgten sie nicht alle den unkontrollierbaren Impulsen und Reflexen, mit denen sie geboren waren und die eine echte Freiheit des Willens unmöglich machten? Nein, dachte sie, Freiheit war eine Illusion, eine Fata Morgana der westlichen Zivilisation.

Das würden die beiden Mädchen auch noch verstehen. Faith und Vera, ihre zwei neuen Täubchen. Jung und naiv, unwissend und verängstigt, weich und formbar – im Geiste wie in ihren Körpern. Die Madame würde ihnen alles beibringen, was sie wissen mussten, was ihr selbst einmal beigebracht worden war.

Langsam und geräuschlos glitt die Tür auf. Dunkelrotes Licht waberte über die Schwelle auf das Parkett in den Vorraum. Die Madame blieb sitzen, wartete, sah, wie die beiden Mädchen auf unsicheren Beinen hinaustraten, nackt, zitternd, ihre dunkle Haut nass glänzend vor Schweiß, ihre Blicke unsicher blinzelnd, Hand in Hand, Angst in Angst.

Faith fielen ihre Cornrows einseitig über eine Schulter. Veras weiche Afro-Locken umragten ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Frisuren, die die Madame mit ihnen ausgewählt hatte. Beide wichen ihrem Blick aus, wandten sich zu den Stühlen, auf denen ihre Kleidung lag, begannen sich wieder anzuziehen. Die Madame konnte die Tattoos in ihren Nacken sehen. Eine liegende Acht, das Zeichen der Unendlichkeit, als Mahnmal für die unendliche Rache, die über sie kommen würde, sollten sie ihre Schuld nicht begleichen.

Die Schuld, die Faith und Vera bei ihr, ihrer Schwester, ihrer Madame, zu begleichen hatten.

Langsam und bedächtig erhob sie sich und trat zu ihnen.

»Ich werde euch beschützen«, sprach sie in ruhigem Ton. »Bei mir seid ihr in Sicherheit. Wenn ihr tut, was ich euch sage, wird euch nichts geschehen. Glaubt ihr mir das?«

Faith und Vera nickten.

Die Madame küsste sie nacheinander auf die Stirn.

»Lasst uns gehen!«

Sie blickten nicht zurück. Die Madame hatte im Vorfeld für alles gesorgt. Nun galt ihre ganze Aufmerksamkeit den Mädchen. Sie führte die beiden durch das anonyme Treppenhaus hinaus auf die Straße.

Als sie in die Hamburger Nacht traten, huschte ein Lächeln über die Lippen der Madame. Faith und Vera gehörten jetzt ihr. Und sie würden tun, was immer sie ihnen befahl.

KAPITEL 2

SONNTAG, 13. MÄRZ

Berlin

Die schwere Wohnungstür fiel nahezu lautlos ins Schloss. Sofort verstummte das Klackern der Stöckelschuhe, in denen die Nachbarin aus dem dritten Stock durch das geflieste Treppenhaus nach unten trippelte. Johanna Böhm hatte ihr nur ein müdes »Morgen« zugeraunt, als sie mit gesenktem Kopf die Stufen zu ihrer Bude in der zweiten Etage emporgestiegen war.

Mehr als die schwarzen Stilettos, zwei seidenbestrumpfte Beine und den beigefarbenen Rockansatz eines Businesslooks hatte sie aus dem Augenwinkel nicht wahrgenommen. Doch Johanna wusste, dass Nachbarin Nadja häufig auch sonntags ins Büro musste. Das war offenbar das Los, wenn man irgendwas Junior-Consultant-Mäßiges in Unternehmensberatungen machte und sich erst mühsam hocharbeiten musste, ehe man die Wochenenden freibekam.

Was für eine Welt!

Johanna hockte auf dem Boden ihrer Diele, die gerade groß genug war, um sich um die eigene Achse zu drehen. Mit kalten Fingern schnürte sie unbeholfen ihre schweren Polizeiboots auf.

Da holten sich erfahrene Firmenbosse irgendwelche geschniegelten Vorstadt-Hipster in den Mittzwanzigern als Berater ins Haus, um sich erklären zu lassen, wie sie ihren Laden zu führen hatten. Wie groß musste das Ego dieser jungen Leute sein, wenn sie glaubten, frisch von der Uni kommend anderen Menschen die Welt erklären zu können. Okay, wenn Johanna ehrlich war, war auch sie mit ihren dreißig Jahren nicht gerade die Inkarnation an Autorität und Weisheit, und trotzdem würde man sie in etwas mehr als einem Jahr als fertig ausgebildete Polizistin auf die Gesellschaft loslassen.

Natürlich nur für den Fall, dass sie jemals wieder von dem Bett aufstehen würde, auf das sie sich in diesem Moment erschöpft fallen ließ.

Wie gesagt: Was für eine Welt!

Johanna wälzte sich stöhnend auf den Rücken. Ihr Blick ging starr zur Decke und verfing sich an der Beleuchtung Marke Osram Eigenbau. Das weißgelbe Licht der nackten Glühbirne schmerzte in ihren müden Augen. Schnell kniff Johanna die Lieder zusammen. Irgendwann würde sie einen Lampenschirm kaufen. Vielleicht. Aber hey, sie war erst vor anderthalb Jahren hier eingezogen. Alles brauchte seine Zeit. Ihre vierunddreißig Quadratmeter wollten mit Bedacht eingerichtet werden.

Boris lachte sie zwar jedes Mal aus, wenn er sie besuchte. Einerseits, weil er Oberschöneweide nicht gerade als den Stadtteil Berlins empfand, in dem seine beste Freundin wohnen sollte. Andererseits bekam er immer häufiger Schraubenzieher oder Hammer in die Hand gedrückt, um die sperrmüllreifen Möbel in Johannas Ein-Zimmer-Küche-Diele-Bad-Balkon-Wohnung für ein paar weitere Monate Lebensdauer zusammenzuflicken.

Wofür hatte man schließlich Freunde?

Und vor allem: Abgesehen von der Kohle, die Johanna nicht hatte – wo sollte sie die Zeit hernehmen, um ihrer Wohnung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken? In den letzten Wochen hatte sie ihr Apartment praktisch nur gesehen, um zu schlafen.

Mach ein Praktikum bei der Einsatzhundertschaft!, hatten sie gesagt.

Das wird ’ne geile Erfahrung!, hatten sie gesagt.

Die Nachtschichten sind das Salz in der Suppe!, hatten sie gesagt.

Nur dass Johanna danach auf allen vieren nach Hause kriechen würde, hatten sie ihr nicht gesagt.

Sie jammerte nicht. Zumindest nicht, wenn jemand dabei war. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt als zu wenig Schlaf, zu viel Kaffee und zu schlechten Kaffee. Vor allem aber hatte sie es sich selbst ausgesucht. Nicht nur das Praktikum bei der Hundertschaft, sondern ihr Leben in Berlin. Mit Ende zwanzig hatte sie alle Zelte abgebrochen, ihrem ersten Beruf den Rücken gekehrt, um an der Polizeiakademie in Ruhleben als Auszubildende anzufangen. Zweiter Bildungsweg und so – mit allem, was dazugehörte. Also durfte sie sich nicht beklagen.

Ihr Saxofon hatte sie schon länger nicht mehr unter dem Bett hervorgeholt. Die Tasten eines Klaviers waren ihr mittlerweile fremder als der Abzug ihrer Dienstwaffe. Zur professionellen Musikerin hatte sie es trotz des Studiums in Köln nicht geschafft. Zur Polizistin hingegen schien sie geboren. Musik war ihr Hobby gewesen, ihr Zufluchtsort. Doch hier in Berlin musste sie vor nichts mehr flüchten. Hier gehörte sie hin. Die Hundertschaft hatte ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben, das sie früher nur im Orchester verspürt hatte. Doch für eine Zukunft in einem Ensemble war sie nicht gut genug gewesen. In Berlin war das anders. Hier hatte sie eine Zukunft, und für diese war sie, glaubte sie den Worten ihres Ausbildungsleiters Erhard Spahn, wie geschaffen.

An der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Friedrichsfelde, wo der theoretische Teil ihrer Ausbildung stattfand, schrieb sie anständige Noten. In der Praxis, die in der Akademie in Ruhleben gelehrt wurde, gehörte sie zu den Klassenbesten.

Streberin Böhm!

Dabei fiel es ihr einfach nur leicht. Ähnlich wie ihrer Konkurrentin Teresa Osterkamp, einer Klassenkameradin mit zu vielen Piercings und, für Johannas Geschmack, zu wenig Makeln. In ihrer Gruppe lieferten sie sich erbitterte Kämpfe. Johanna war die bessere Schützin, die Osterkamp die bessere Autofahrerin. Johanna hatte nie ein eigenes Auto besessen, die fehlende Erfahrung hinterm Steuer rächte sich im Fahrsicherheitstraining. Im Sport lieferten sie sich heiße Duelle, Johanna als bessere Läuferin, Teresa als bessere Schwimmerin. Im Nahkampf war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, genauso im taktischen Verhalten bei Hausdurchsuchungen, Razzien und Festnahmen. Und wenn es darum ging, Befragungen oder Einsätze wie bei Ruhestörungen zu simulieren, wurde eines immer wieder offensichtlich: Johanna und Teresa waren sich ähnlicher, als ihnen lieb war. Das machte ihre Rivalität nur noch schlimmer.

Boris fand es amüsant. Er war Teresa schon mehrfach begegnet, weil Johanna ihn regelmäßig als Begleitung zu Einladungen auf dem Campus oder in die Akademie mitschleppte. Mit ihm an ihrer Seite wurde sie seltener von irgendwelchen Typen angequatscht. Vor allem aber wurde jede Polizeiparty zum Hit, wenn der überzeugte Kommunist Boris in Anwesenheit anderer Auszubildender subtile Verwünschungen über die Polizei als Erfüllungsgehilfin des Kapitalismus vor sich hin murmelte. Er wusste, dass Johanna es ihm nicht übel nahm. Im Gegenteil. Sie liebte ihn dafür. Intellektuell steckte er sie alle in die Tasche. Und insgeheim war er stolz wie Bolle, mit einer echten Polizeianwärterin befreundet zu sein.

Wenn sie Uniform trug, fand er sie sogar irgendwie sexy, obwohl Frauen eigentlich nicht sein Typ waren. Auch Johanna mochte sich in ihrer blauen Standarduniform. Nicht dass sie ihr Macht verlieh. Johanna hatte in ihrer Vergangenheit so viel Macht aushalten müssen, dass sie genug davon hatte für zwei Leben. Vielmehr fühlte es sich gut an, nicht ständig die Einzelgängerin zu sein, die sie eigentlich war und laut Boris insgeheim immer bleiben würde. Im Dienst, auf Schicht, war sie die Polizeikommissaranwärterin Johanna Böhm.

So wie in den vergangenen fünf Wochen. Zug zwei, Gruppe vier, Trupp eins – da hatte sie hingehört, in die Bereitschaftspolizeiabteilung 1 in Berlin-Mitte. Johanna war bei Demonstrationen im Einsatz gewesen, hatte bei Konvois für Staatsgäste die Verkehrsumleitungen unterstützt, einen zweitägigen Besuch des US-Präsidenten miterlebt, in Schulen und Kindergärten als Vorzeige-Azubi Werbung für die Polizei gemacht. Nur Razzien hatte sie nicht miterlebt. Nicht dass es keine gegeben hätte. Immerhin war das hier Berlin. Aber Johanna war anderweitig eingesetzt worden.

Am meisten bei Fußballspielen. In ihrem ersten Jahr hatte sie noch als Kellnerin im Stadion an der Alten Försterei gearbeitet. Nun war sie erstmals vor und nach Spielen bei der Hundertschaft mitgelaufen. Vor allem mit den Drohnenführern, die die Fanmärsche mit ihren hochauflösenden Kameras aus der Luft ferngesteuert überwachten. So auch letzte Nacht. Samstagabend, Derbyzeit in Berlin, Hertha gegen Union im Olympiastadion. Einen Steinwurf von Ruhleben entfernt. Und Steine flogen tatsächlich. Erst ein Spiel ohne Tore. Dann ein Nachspiel mit dritter Halbzeit und Ausschreitungen zwischen Blau und Rot. Eine Nacht ohne Schlaf.

Das Praktikum in ihrem ersten Ausbildungsjahr hatte Johanna im Abschnitt 53 auf Streife verbracht. Kottbusser Tor, Görlitzer Park, Wrangelkiez. Als bürgernahes Arbeiten hatte man es ihr beschrieben. Nicht so dieses Mal. In der EHu war sie in einer geschlossenen Einheit unterwegs gewesen. Immer mit mehr als nur ein oder zwei Kollegen, mit einer jungen Truppe, in der ein lockerer Umgang herrschte und ein noch derberer Humor als auf Streife. Wo aber auch niemand ein Problem damit hatte, spontan zum Einsatz gerufen zu werden.

Die Welt der EHu hatte Johanna Spaß gemacht. Wenn sie davon absah, dass sie bei den Einsätzen fast zwanzig Kilo mit sich herumgeschleppt hatte. Als sie das erste Mal einen Blick auf die Ausrüstung geworfen hatte, hatte sie sich wegen des Gewichts noch keine Sorgen gemacht. Die ersten sechzehn Stunden im Einsatz hatten sie eines Besseren belehrt. Allein der ballistische Helm aus einer Titanlegierung und mit Splitterschutzvisier wog zweieinhalb Kilo. Dazu der Körperschutz aus Weste, Protektoren an Armen und Beinen, Handschuhe, Tonfa, Pfefferspray, Handfesseln, Taschenlampe und Funkgerät. Nur eine Pistole hatte sie nicht tragen dürfen. Wäre sie in eine Gefahrensituation geraten, hätte sie sich lediglich mit Schlagstock und zu Reizgas verarbeiteten Chili-Schoten verteidigen können.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie die Einsatzhundertschaft für den Ort der klassischen Haudrauf-Polizisten gehalten. Und wenn sie einigen Geschichten in den letzten Wochen gelauscht hatte, lag die Wahrheit mitunter nicht weit entfernt. Aggression erzeugte Gegenaggression, nur war nicht immer klar, von wem die Aggression ausging.

Johanna erhob sich müde, zog ihren dunkelblauen Stricktroyer über den Kopf und warf den kratzigen Rollkragenpulli in die Ecke. Darunter trug sie ein hellblaues Dienstshirt. Es roch, wie sie sich fühlte. Sekunden später landete es im hohen Bogen im Wäschekorb. Sie brauchte dringend eine Dusche.

Noch viel dringender brauchte sie drei Tage Schlaf. Die würde sie aber nicht bekommen. Sie war zum sonntäglichen Frühstück verabredet. Zum feierlichen Abschluss ihres Praktikums.

Zumindest würde es viel Kaffee geben. Sehr guten Kaffee.

KAPITEL 3

SONNTAG, 13. MÄRZ

Berlin

Fluchend hüpfte sie auf einem Bein zum Bett. Das Handtuch, das sie sich um ihren Körper geschlungen hatte, rutschte zu Boden. Beinahe wäre Johanna gestolpert. Sie fing sich gerade noch rechtzeitig, setzte sich und hielt sich mit beiden Händen den linken Fuß.

Nach der Dusche hatte sie sich eigentlich wieder lebendig gefühlt, zu den Klängen von Alice Coltrane vor dem Spiegel getanzt und dem Treffen mit ihren Freunden fast genauso entgegengefiebert wie dem Ristretto doppio im Café. Dann hatte sie es beim Tanzen übertrieben und auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer mit dem Fuß eine Kiste mitgenommen.

Die eigenen vier Wände – der gefährlichste Ort der Welt!

Dabei hatte sie gerade deshalb darauf verzichtet, ein Bad zu nehmen. Sie wäre glatt eingeschlafen und ertrunken. Die armen Kollegen, dachte Johanna, die ihr Dahinscheiden hätten untersuchen müssen.

Todesursache unbekannt: Polizeischülerin (30) ertrinkt in eigener Badewanne

Welch ein Fest für die Medien! Wilde Spekulationen über Drogen und Alkohol würden sich um ihren Tod ranken. Dabei hatte Johanna seit fast zehn Jahren keinen Joint mehr angerührt. Na gut, der Alkohol war eine andere Geschichte, aber hier ein Bierchen und da ein Weinchen waren ja wohl gestattet. Und solange Boris nicht den Wodka aufmachte, blieb in der Regel alles im Rahmen.

Sie blickte sich in ihrer Wohnung um. Was die Polizei wohl entdecken würde, wenn man sie in der Badewanne fände? Die Ernennungsurkunde zur Polizeikommissaranwärterin war kaum zu übersehen, wie sie da im Bilderrahmen auf der Fensterbank stand. Auf dem Tisch vor dem Fenster lag ihr Laptop. Viel Glück beim Versuch, sich Zugang zu verschaffen, dachte Johanna. Ein guter Freund hatte ihn mit Programmen verschlüsselt, die sonst nur vom Militärischen Abschirmdienst genutzt wurden. Daran würden sich die Forensiker der Berliner Kripo die Zähne ausbeißen. Das war auch besser so, schließlich war ihr ganzes Leben auf diesem Ding gespeichert. Auch mit dem Smartphone hätten die Ermittler keine Freude: MAD-Software, die Zweite. Johanna hatte von IT-Sicherheit so viel Ahnung wie von Raumfahrt, aber sie vertraute ihrem Freund und dessen Urteil, dass nur findige Hacker oder die Rechenzentren von Geheimdiensten in der Lage sein würden, Johannas Firewalls zu durchbrechen.

Die Spurensuche würde also analog Antworten liefern müssen. Die Ordner und Bücher in dem schmalen Regal neben dem Tisch würden ihre Geschichte als Kadettin bestätigen. In ihrem Rucksack würde man Portemonnaie und Ausweise finden, zusammen mit dem üblichen Krams, den jemand wie sie so dabeihatte, also Pfefferspray statt Lippenstift. Handtaschen besaß sie keine, sie war der Rucksack- und Stoffbeutel-Typ.

Mit den Augen einer Ermittlerin sah Johanna sich in ihrer Wohnung um. Ihr Blick blieb an mehreren Fotos auf einer Pinnwand hängen. Positive Erinnerungen, schöne Momente. Boris mit seinem Liebsten Tomasz und Johanna in der Mitte, ein Selfie in deren gemeinsamer Wohnung in Schöneberg. Johanna mit ihrer ältesten Freundin Alice auf einem Spielplatz auf Poel – zwei Erwachsene, die sich glucksend schaukelnd in die Höhe schwangen. Der, der das Foto gemacht hatte, hing direkt darunter. Rasmus Falk, ernster Gesichtsausdruck, wie er daheim an seinem Herd, eine Kochschürze über seinem geschniegelten Anzug, an einem Löffel schlürfte und die Soße probierte, die er für ihr Silvestermahl zubereitet hatte. Daneben ein Foto von ihnen allen zusammen mit einer Frau mit kupferroter Kurzhaarfrisur. Ob die Ermittler in Kerstin de Jong ihre Kollegin erkennen würden? Die Oberkommissarin gehörte der Berliner Kripo an. Johanna und Kerstin hatten sich in den ersten Wochen ihrer Ausbildung kennengelernt und waren seitdem gut befreundet.

Kerstin, Boris und Tomasz würden gleich im Café Annelies in Kreuzberg auf sie warten. Falk hatte sich mit seiner Arbeit rausgeredet. Alice brauchte keine Ausrede, sie lebte in Hamburg.

Johannas kleiner Zeh tat noch immer höllisch weh. Albernes Getanze! Verärgert blickte sie zu der Kiste, an der sie sich gestoßen hatte. Okay, darin würden die Beamten natürlich brisantes Material finden. Ein vorzeitiges unerwartetes Ableben war vielleicht doch keine so gute Idee. Andernfalls würden die Spürnasen ungehindert in Johannas Familiengeschichte herumschnüffeln. Und womöglich würde jemand aus der Ermittlungsgruppe auf die Idee kommen, einem befreundeten Reporter einen Gefallen zu tun.

»Du glaubst nicht, was wir bei der Böhm gefunden haben. Eine ganze Kiste mit Zeitungsartikeln. Fein säuberlich ausgeschnitten.«

»Ach, und worum geht’s?«

»Um den Prozess gegen ihren Vater. Kaputte Familie, wenn du mich fragst. Würde mich nicht wundern, wenn die Böhm genauso kaputt war.«

»Hat die sich deshalb umgebracht?«

»Wer weiß? Vielleicht hat ja sogar jemand nachgeholfen. Wenn man die Tochter von Carl Bellmann war, ist ja alles möglich.«

»Verarsch mich nicht! Der Bellmann?«

»Genau der. Üble Sippe, sag ich dir.«

»Das klingt nach einer echten Schlagzeile.«

»Sag ich doch!«

Johanna erhob sich und humpelte langsam zu der Box. Sie wusste nur zu gut, was sich darin befand. Monatelang hatte sie alle Zeitungsartikel ausgeschnitten, derer sie habhaft werden konnte. Nicht dass sie eine Zeitung abonniert hatte. Sie hatte sich einen News Alert bei Google eingerichtet und immer dann das Altpapier der Nachbarn durchwühlt, wenn die Suchmaschine ihr einen Treffer gemeldet hatte. Mittlerweile kannte sie die Blaue Tonne von innen so gut wie Oskar aus der Sesamstraße.

Jetzt ergriff sie den obersten Artikel. Er war einen knappen Monat alt. Sie hatte ihn schon mehrfach gelesen, und wie von selbst sprangen ihre Augen zu den entscheidenden Passagen.

Carl Bellmann gibt nicht auf. Der ehemalige Politiker hat nach dem Urteil des Kammergerichts verkündet, vor den Bundesgerichtshof zu ziehen.

Der wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Bellmann …

Der Richter lehnte einen erneuten Antrag auf Freilassung gegen Kaution wegen Fluchtgefahr ab. Bellmann bleibt damit in Haft.

Die Staatsanwaltschaft warnte, Bellmann verfüge noch immer über ein intaktes Netzwerk, mithilfe dessen er jederzeit untertauchen könne.

Worauf du einen lassen kannst, dachte Johanna. Der Mann, den sie ihr ganzes Leben für ihren Vater gehalten hatte, hatte schon immer gewusst, wie er Menschen für sich gewinnen und ausnutzen konnte. Beinahe hätte er mit diesem Netzwerk sogar Johannas Polizeikarriere beendet, noch ehe sie begonnen hatte. Glücklicherweise hatte Johanna es ihm heimzahlen können, indem sie mitgeholfen hatte, ihn hinter Gitter zu bringen.

Seitdem fühlte sie sich endlich frei. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Carl Bellmann würde sich nie wieder in ihre Belange einmischen. Nun wusste jeder in Deutschland, was für ein gefährlicher Krimineller er war. Und solange andererseits nur wenige Menschen wussten, dass Johanna als Teil seiner Familie und unter seiner Fuchtel aufgewachsen war, musste sie auch keine unangenehmen Fragen beantworten. Den Rest erledigte der Nachname ihrer Mutter, den sie schon vor langer Zeit angenommen hatte, um sich von den Bellmanns frei zu machen.

Sie legte den Artikel zurück in die Box und verpasste der Schachtel einen diesmal gezielten Tritt, sodass der Deckel zuklappte. In der Küche stellte sie ihren kleinen Espressokocher auf den Herd und zog sich an. In Jeans und Hoodie trat sie Minuten später mit der Tasse dampfenden Koffeins auf den Balkon.

Sie freute sich auf den Frühling. Die Ausläufer des März lüfteten den grauen Schleier über Berlin. Da traf es sich gut, dass Johanna endlich zwei Wochen Urlaub hatte. Jetzt, da das Praktikum bei der Einsatzhundertschaft vorbei war, konnte sie durchatmen. Ihre Tasche stand schon abreisefertig in der Diele. Sie hatte eine Idee, wohin es gehen sollte. Doch erst einmal würde sie sich mit ihren Freunden treffen. Die besten Freunde, die sie sich vorstellen konnte.

Wer brauchte schon eine Familie, wenn man sich die liebsten Menschen aussuchen und um sich versammeln konnte?

KAPITEL 4

SONNTAG, 13. MÄRZ

Berlin

»Wer ist der bekannteste Mensch der Welt, der nie gelebt hat?«

Für einen Moment sahen sie Boris nachdenklich an. Dann sprachen alle gleichzeitig.

»Sherlock Holmes«, sagte Kerstin.

»James Bond«, sagte Tomasz.

»Harry Potter«, sagte Boris.

»Jesus von Nazareth«, sagte Johanna.

Kerstin, Tomasz und Boris blickten zu Johanna. Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Dann brachen alle in Gelächter aus.

»Unverbesserliche Atheistin«, neckte Boris sie.

»Nie klang Kritik süßer«, erwiderte Johanna.

Sie saßen im Café Annelies. Johanna blickte sich am Tisch zu ihren Freunden um.

Kerstin de Jong saß ihr gegenüber, vor sich eine Tasse Ingwertee und Müsli. Immer die Beherrschte, die Überlegte, die Modellbeamtin, supersmart, supertough, superrelaxed, immer alles im Griff. Die harte Oberkommissarin. Johannas Mentorin. Wenn Johanna mit ihrer Ausbildung so weitermachte, würde sie als Schutzpolizistin auf einer Wache landen. Doch Kerstin wollte, dass sie zur Kripo wechselte. Das war leichter gesagt als getan, und Johanna wünschte sich nichts mehr, als dass der Tausch klappte. Doch erst einmal ging sie ihren Weg weiter. Zumindest bis zum Sommer. Dann würde sie schauen, ob vor dem dritten und letzten Jahr an der Akademie eine Tür zum Ausbildungszweig der Kripo aufging.

Neben Kerstin hockte Boris Malkin, Johannas bester Freund, die Beanie auf den schwarzen Locken, den Dreitagebart sauber getrimmt, die Lederjacke, ohne die er nie aus dem Haus ging, hinter sich über die Rückenlehne gehängt. Vor sich Eggs Benedict, daneben ein Glas Bloody Mary mit Worcestersoße, Pfeffer und Salz. Der kleine Rebell, der Grafikdesigner, der am Abend zuvor mit Tomasz einen über den Durst getrunken hatte und jetzt dafür bezahlte. An diesem Tisch kannte niemand Johanna besser als er.

Boris’ Mann Tomasz saß neben Johanna. Der beste Hobbykoch, dem sie je begegnet war, eine Mimosa vor sich. Möglichst viel Champagner, möglichst wenig Orangensaft. Die Pancakes auf seinem Teller in Ahornsirup ertränkt, genüsslich gabelte er sich ein großes, tropfendes Stück. Boris und er hatten vor Weihnachten geheiratet, nur die Hochzeitsreise musste noch immer warten. Tomasz arbeitete für eine Heizungsfirma, und die hatte bis zum Sommer Urlaubssperre.

Johanna selbst hatte ihren Ristretto doppio vor sich. Maximales Koffein, dazu eine Fritz-Cola und Rührei mit Speck. Einer ihrer Lehrer hatte früher die Bibel zitiert, wenn sie in der ersten Stunde des Tages verschlafen in der letzten Reihe gesessen und die Augen nicht aufbekommen hatte: Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude. Dabei war es jetzt schon nach zehn.

»Wie war dein Praktikum?«, fragte Tomasz.

Noch bevor Johanna antworten konnte, brach Boris in eine theatralische Tirade aus.

»Wisst ihr, was ich nicht verstehe?« Niemand reagierte. »Die Ausbildung unserer Kinder sollte doch das Teuerste sein, was sich unsere Regierung leistet. Zugleich sollte sie kostenlos sein für alle Menschen. Wisst ihr, was das Einzige ist, worauf das zutrifft? Das Militär. Die Bundeswehr. Die Polizei.«

»Alles gut zu Ende gegangen. Danke, Tom!« Johanna ignorierte Boris. »Letzte Nacht noch ein bisschen Randale zwischen Hertha und Union, aber nichts Wildes. Hab die meiste Zeit in der Videoüberwachung gesessen. By the way, weiß dein Mann, wofür wir Steuern zahlen?«

»Steuern und Menschenleben, meine Liebe«, hakte Boris ein und folgte wieder seinen eigenen Gedanken. »Wir haben Feuer gemacht und unsere Höhlen verlassen. Wir haben Metropolen erschaffen und Formel-1-Autos gebaut. Wir haben Menschen zum Mond geschickt und das Klima auf unserem Planeten zerstört. Nur das mit dem Frieden kriegen wir nicht hin.«

»Dafür schickt ihr ja mich jetzt zur Polizei. Den Weltfrieden kriege ich schon noch hin«, sagte Johanna. »Jetzt, da ich weiß, wie eine Hundertschaft befehligt wird, habe ich die Macht eigentlich schon in den Händen.«

»Spricht von Weltfrieden und sagt, sie werde ihn mit Gewalt herbeiführen«, erwiderte Boris trocken. »Wir sind alle verloren.« Demonstrativ griff er sich die Wochenendausgabe der Jungen Welt und schlug sie auf. »Letztens hatten sie einen Fehler beim Kreuzworträtsel. Habe angerufen und mich beschwert.«

»Natürlich hast du das.« Kerstin schüttelte grinsend den Kopf.

»Sie wollten mir nicht glauben.« Boris blätterte ungerührt in den Seiten. »Irgendwann habe ich sie angeschrien. Da haben sie einfach aufgelegt.«

»Wie unsensibel.«

»Von wem?« Boris blickte auf und sah Johanna an.

»Wo wir schon bei Rätseln und Sherlock Holmes sind: Warum ist eigentlich Dr. Watson schon wieder nicht hier?«, wollte Kerstin wissen. »Rasmus kann doch unmöglich an einem Sonntagmorgen im Büro hocken und Prüfungen korrigieren.«

»Du kennst Falk doch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er genau das gerade macht«, entgegnete Johanna. »Die Tage, die er nicht in der HSB verbringt, kannst du an einer Hand abzählen.«

Rasmus Falk arbeitete an der Hochschule des Bundes als Lehrbeauftragter für Cyber Security und Cyber Defense. Die Geheimdienste hatten tatsächlich einen eigenen Masterstudiengang mit dem hochtrabenden Titel Intelligence and Security Studies. Niemand passte besser dorthin als Falk, befand Johanna. Schließlich hatte er in seinem früheren Leben für den Militärischen Abschirmdienst spioniert. Leider nahm er seine Pflichten etwas zu ernst, wie sie alle fanden. Insbesondere Tomasz, der sich vom ersten Tag an bestens mit Falk verstanden hatte. Beide hatten ihre größten Talente in der Küche. Beide trieben die anderen mit endlosen Diskussionen über britische Mode und die Herkunft unterschiedlicher Tweed-Arten in den Wahnsinn.

Johanna hatte gehofft, Falk heute zu sehen. Doch der Dickkopf hatte sich nicht überzeugen lassen, sie mit einem Brunch in den Urlaub zu entsenden. Johanna glaubte zu wissen, was ihn in seine selbst gewählte Einsamkeit drängte. Vor anderthalb Jahren hatte er dabei geholfen, ihren Vater zu überführen. Dabei hatte Falk auch erfahren, wer ihn vor über fünf Jahren überfallen, seine Frau ermordet und ihn an einer Hand verstümmelt hatte. Zunächst hatte ihn die Gewissheit aus einer dunklen Phase seines Lebens befreit. Doch inzwischen stürzte sich Falk derart in seinen Job an der HSB, dass er für nichts anderes mehr zu leben schien.

»Wir haben ihn zum Dinner eingeladen«, kehrte Boris in die Realität zurück. »Er kommt nächste Woche zu uns.«

»Du Glücklicher«, erwiderte Kerstin.

Boris grinste und prostete seinem Mann zu. »Beim Menü habe ich kein Mitspracherecht, aber essen kann ich wie ein Boss.«

»Zum Glück sieht man dir das nicht an, Boss!« Tomasz grinste zurück und hob seine Mimosa.

Boris war kleiner und schmächtiger als Tomasz, vermittelte stets einen verwegenen, frechen Eindruck. Tomasz hingegen war größer und muskulöser gebaut, dafür mit braven, zarten Gesichtszügen, die so gar nicht zu seinen rauen, prankenartigen Handwerkerhänden passten. Der einerseits zähe und herbe, andererseits immer akkurate und eitel gepflegte Falk passte perfekt zu den beiden, dachte Johanna.

»Ich habe ihn letzte Woche noch im Büro besucht. Da war er putzmunter«, berichtete sie.

»Hat er erzählt.« Tomasz nippte an seinem Glas. »Er meinte etwas kryptisch, er hätte mit dir deinen Urlaub geplant. Fährst du in sein Haus auf Poel?«

Falk besaß auf der kleinen Ostseeinsel ein Bauernhaus. Er hatte sie alle schon einmal dorthin eingeladen. Inzwischen stand es die meiste Zeit leer, wurde auch nicht nebenbei als Ferienhaus vermietet. Doch Falk war eben Falk. Erstens brauchte er alles, nur kein Geld. Noch viel wichtiger, heilig fast schon, war ihm seine Privatsphäre. Er würde das Haus lieber abreißen, als es Fremden zu überlassen. Johanna schüttelte den Kopf bei dem Gedanken. Sollte er sie doch als Verwalterin einsetzen. Die Kohle konnte sie wahrlich gut gebrauchen.

»Nein, er hat mir nur ein paar Tipps gegeben, wohin ich fahren könnte«, blieb sie vage.

»Und wohin geht’s?« Kerstin blickte Johanna über ihre Teetasse hinweg an.

»Nach Trier.«

»Interessante Wahl.«

Kerstin hatte offenbar verstanden. Schließlich hatte sie der Task Force angehört, die nach der Gefangennahme von Carl Bellmann nach den weiteren Strippenziehern der Verschwörung gefahndet hatte. Alle waren geschnappt worden. Nur ein Mann nicht. Der Mann, der der Kopf der gesamten Operation gewesen war. Und derjenige, der Johanna und Falk das Leben gerettet hatte.

»Albert Krahl kommt aus Trier. Warum also nicht dort mit der Suche beginnen?« Johanna versuchte, nicht allzu trotzig zu klingen. »Ich will mehr über ihn herausfinden.«

Genauer gesagt wollte sie den Mann aufspüren, von dem sie durch die Ermittlungen erfahren hatte, dass er und nicht Carl Bellmann ihr leiblicher Vater war. Johanna wollte es sein, die Krahl ausfindig machte, ihn stellte. Sie hatte Fragen. Viele Fragen. Und sie würde Antworten einfordern. Erst dann würde sie entscheiden, ob sie ihn an Kerstin und die Behörden ausliefern würde.

»Und wie willst du das anfangen?« Boris schien nur mit Mühe nicht mit den Augen zu rollen.

»Falk hat ein bisschen gegraben. Er hat ein paar Adressen aufgetan, die ich mal abklopfen will.«

»Irgendwelche Kontakte, mit denen wir noch nicht gesprochen haben? Von denen die Ermittlungsgruppe vielleicht auch wissen sollte?«

Johanna überhörte den leicht bitteren Unterton in Kerstins Stimme.

»Was ist denn der letzte Stand der Ermittlungen?«

»Ist dir eine Frage unangenehm, antworte mit einer Gegenfrage«, sagte Kerstin. Jetzt schmunzelte sie. »Du hast im Kurs für Vernehmungen gut aufgepasst.«

»Meine Mentorin bringt mir nur das Beste bei.«

»Deine Mentorin zerrt dich gleich in den Zeugenstand, wenn du nicht antwortest.«

In dem Moment klingelte Johannas Smartphone.

»Scheiß Timing«, fluchte Kerstin.

Johanna blickte auf das Display. »Man muss Alice einfach lieben.«

Schnell holte sie ihre Kopfhörer hervor, setzte sie auf und nahm das Gespräch an. Es war ein Videoanruf. Das Gesicht ihrer ältesten Freundin erschien. Doch noch ehe Alice Okeke etwas gesagt hatte, wusste Johanna, dass etwas nicht stimmte.

KAPITEL 5

SONNTAG, 13. MÄRZ

Berlin

Normalerweise strahlte Alice Okeke wie poliertes Gold. Johanna hatte ihr einmal ein Kompliment machen wollen und sie mit einer Sonnenblume in einem Meer aus Brennnesseln verglichen. Alice war wenig beeindruckt gewesen.

Jetzt, dachte Johanna, hing der Kopf der Sonnenblume welk herab. Die schwarze Lockenmähne unordentlich hochgesteckt. Doch was ihr wirklich Sorge bereitete, waren Alice’ Augen. Ihnen fehlte jene Abenteuerlust, die ihre Freundin an jedem anderen Tag leuchten ließ.

»Was ist los?«, fragte sie sofort.

»Kann dir nix vormachen, was?« Alice’ Brauen verengten sich, ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. »Wo bist du?«

Johanna drehte ihr Smartphone einmal im Kreis, sodass Alice die Gesichter der anderen sehen konnte. Dann richtete sie den kleinen Bildschirm wieder auf sich.

»Heute ist mein Praktikum-vorbei-Brunch, Boris und Tomasz betreiben Wiederbelebungsmaßnahmen nach einem nächtlichen Exzess, und unsere Kerstin nuckelt brav an ihrem Wellness-Tee.« Johanna neigte sich vor. »Du siehst aus, als bräuchtest du eine Mischung aus allem.«

»Ich sehe Gespenster, Jo. Ehrlich. Ich brauchte eine vertraute Stimme, die mich zur Vernunft bringt.«

»Und da denkst du natürlich an niemand anderen als an mich.« Johanna schluckte ihren Sarkasmus runter. »Ernsthaft, worum geht’s?«

»Ich war heute früh nach der Nachtschicht mit einer Kollegin auf dem Fischmarkt«, begann Alice. Sie arbeitete als Krankenschwester im Hamburger Universitätsklinikum. »Sie wohnt um die Ecke, und manchmal fahren wir sonntags nach der Arbeit noch gemeinsam zum Hafen, laufen ein bisschen herum, essen was. Aber als wir heute aus der Auktionshalle gekommen sind, habe ich sie gesehen. Ich bin mir sicher, dass sie es war.«

»Wer?«

»Faith. Meine Cousine Faith.«

Johanna zögerte. Sie kannte Alice’ Familie gut. Trotzdem hatte sie nicht sämtliche Namen parat. Wie auch? Alice’ Mutter hatte vier, ihr Vater fünf Geschwister. Insgesamt neun Onkel und Tanten. Alle hatten zahlreiche Kinder. Da kam selbst Alice manchmal durcheinander. Zumal der Großteil der Familie in Nigeria lebte. Alice war in Deutschland geboren, nachdem ihre Eltern nach der Hochzeit zum Studium nach Deutschland gekommen und hier geblieben waren. Sie reisten selten häufiger als einmal im Jahr über Weihnachten nach Lagos, um ihre Verwandten zu besuchen. Faith, erinnerte sich Johanna, war ein junges Mädchen. Die Jüngste der Cousinen. Eine Teenagerin, die auf die Welt gekommen war, als Johanna und Alice sich gerade in der Schule kennengelernt und angefreundet hatten.

»Sie ist in ein Auto gestiegen«, fuhr Alice fort. »Dann war sie weg.«

»Was für ein Auto?«

»Keine Ahnung. Irgend so eine schwarze Luxus-Limousine. Sie ist hinten eingestiegen, und weg war sie. Ich habe sie nur kurz gesehen und war viel zu perplex, als dass ich nach ihr gerufen hätte. Aber ich bin mir sicher. Sie war es.«

»Ich dachte, außer dir, deinen Eltern, deinem Bruder und Tante Bea leben all eure Verwandten in Nigeria.«

»Stimmt ja auch. Deswegen kapier ich es nicht, Johanna.«

»Und dass sie hier jemanden besucht?«

»Ohne es mir vorher zu sagen? Faith ist fünfzehn. Auf keinen Fall. Aber da ist noch was.«

Johanna signalisierte ihrer Freundin, innezuhalten. Kurz sah sie sich im Café um. Das Annelies war klein, rustikal, gemütlich. Die Tische standen so, dass man das Gefühl hatte, für sich zu sein und niemanden zu stören, selbst wenn man mal etwas lauter sprach. Sie saßen in einer Ecke neben dem Fenster zur Straße. Kurzerhand nahm sie die Kopfhörer ab, aktivierte die Lautsprecher und lehnte das Telefon am entfernten Ende des Tisches gegen das Mauerwerk. Jetzt konnten alle den Bildschirm sehen. Und vor allem: Alle konnten Alice hören.

Johanna fasste für Kerstin, Boris und Tomasz kurz zusammen, worum es ging. Dann nickte sie Alice auffordernd zu. »Jetzt wieder du!«

Alice erzählte, dass sie Faith per WhatsApp und Instagram angeschrieben hatte. »Bislang ohne Erfolg. Sie hat die Nachrichten weder gelesen noch beantwortet.« Auf ihrem Gesicht zeigten sich Sorgenfalten. »Das ist so gar nicht ihr Stil. Die klebt normalerweise an ihrem Smartphone. Und auf ihrem Instagram-Profil hat sie seit Wochen nichts mehr gepostet. Normalerweise kannst du sie dort praktisch live verfolgen.«

»Hast du schon ihre Eltern gefragt?«, schaltete sich Kerstin ein.

»Ich habe meinem Onkel eine Nachricht geschickt«, antwortete Alice. »Er meinte, ihr gehe es gut. Sie sei natürlich nicht in Deutschland, wie ich überhaupt auf solchen Unfug käme. Er war ziemlich pampig, wenn ich ehrlich bin. Ich bat ihn, ihr zu sagen, sie solle sich melden. Seitdem habe ich nichts mehr gehört. Deswegen bin ich so verunsichert.«

»Weil du dir sicher bist, sie erkannt zu haben«, sagte Kerstin.

»Ganz sicher.«

Für einen Moment herrschte Stille am Tisch. Johanna blickte zur Oberkommissarin. Sie war die erfahrene Ermittlerin. Langsam kreiste die Tasse Tee in Kerstins Händen. Dann stellte sie sie ab.

»Lass mich mal Advocatus Diaboli spielen«, sagte sie. »Du hast ein Mädchen gesehen, von dem du glaubst, dass es deine Cousine Faith gewesen sein könnte. Für wie lange? Drei Sekunden?«

Alice nickte.

»Hattet ihr Augenkontakt?«

Kopfschütteln.

»Du hast ihr geschrieben. Das ist jetzt wie lange her?« Kerstin blickte auf die Uhr. Es war kurz nach elf. »Drei Stunden?«

Diesmal ein Wackeln des Kopfes, das vage Zustimmung signalisierte.

»Und du hast ihrem Vater geschrieben, und er sagt, ihr gehe es gut, sie sei zu Hause, alles primaballerina. Richtig?«

»Ja, aber …«

»Ich weiß, Alice.« Kerstins Stimme klang ganz ruhig. »Dein Bauchgefühl sagt dir, dass sie nicht mehr in Nigeria ist, sondern hier in Deutschland. Das Problem ist, dass nichts dafürspricht, außer deiner flüchtigen Begegnung mit einem Mädchen, welches Faith ähnlich gesehen hat. Du hast sie drei Sekunden lang gesehen, aus einer gewissen Distanz und nach einer für dich langen Nachtschicht. Du bist müde, deine Augen sind müde. Versteh mich nicht falsch, aber ich glaube, dass auch dein Kopf müde ist und dir einen Streich gespielt hat.«

Johanna betrachtete ihre Mentorin und hatte das Gefühl, dass da noch etwas anderes mitschwang. Sorge aus Erfahrung? Sie wollte nicht nachfragen. Stattdessen blickte sie wieder zu Alice.

»Hast du noch andere Möglichkeiten, sie zu erreichen?« Boris lehnte sich vor, damit die Kamera von Johannas Handy ihn erfasste.

»Sie hat auch noch einen TikTok-Kanal. Ich nur leider nicht«, sagte Alice. Sie klang verärgert. Offenbar konnte sie mit Kerstins teuflischer Anwaltsnummer nichts anfangen.

»Ich aber«, sagte Tomasz und zückte sein Smartphone.

»Du bist auf TikTok?«, fragte Johanna ungläubig.

»Klar. Ich folge den ganzen Kochkanälen. Absurd und manchmal echt ekelhaft, aber gute Unterhaltung.«

Alice nannte Tomasz den Namen, unter dem er Faith finden konnte. Auch auf TikTok, stellte Tomasz Sekunden später fest, hatte sie wochenlang nichts Neues mehr gepostet. Schnell formulierten sie eine Nachricht, und Tomasz schickte sie ab.

»Danke, Tom!« Alice klang erschöpft.

Johanna griff nach ihrem Telefon, verband es wieder mit ihren Kopfhörern und setzte sie wieder auf.

»Bist du okay?«

»Ich muss mich erst einmal hinlegen. Dann denke ich vielleicht wieder klarer.« Sie verzog das Gesicht. »Wenn mein Kopf nicht mehr so müde ist und mir keine Streiche mehr spielt.«

Sie verabschiedeten sich. Johanna versprach, ihre Freundin am Nachmittag noch einmal anzurufen. Nachdenklich nahm sie die Kopfhörer wieder ab, legte sie zusammen mit dem Handy auf die Tischplatte. Die anderen blickten sie an, doch Johanna sagte nichts. Weniger die Frage nach Faith beschäftigte sie. Vielmehr war es die Sorge um ihre Freundin. Alice war die Schwester, die sie nie gehabt hatte. Alice’ Familie war die Familie, die sie nie gehabt hatte.

Johanna schuldete es ihrer Freundin, dass sie ihre Sorgen ernst nahm. Sie hatte diesem Menschen, sie hatte dieser Familie so viel zu verdanken, dass sie es nie in ihrem Leben würde zurückzahlen können. Aber sie konnte es versuchen, indem sie für sie da war.

Johanna blickte auf. Boris beobachtete sie. Lange sah er sie an. Dann sprach er aus, was sie gerade für sich entschieden hatte.

»Trier muss warten?«

»Trier muss warten.«

KAPITEL 6

SONNTAG, 13. MÄRZ

Hamburg

Ich fordere Sie auf, binnen zwei Wochen bei folgender Stelle vorzusprechen.

Der Brief nannte eine Anschrift in der Hammer Straße unweit des Jacobiparks. Sophia kannte die Adresse. Sie war selbst schon oft dort gewesen.

Sie werden eingeladen, damit Sie erkennungsdienstlich behandelt werden können. Dabei werden biometrische Lichtbilder von Ihnen erstellt und gespeichert. Zudem werden Ihre Fingerabdrücke aufgenommen und abgespeichert. Die Teilnahme an der erkennungsdienstlichen Behandlung ist verpflichtend.

Absender war das Hamburger Ausländeramt, Abteilung Kommunales Rückkehrmanagement.

Sophia überflog den Brief noch einmal. Dann sah sie auf. Sie hockte auf einem von drei einfachen Betten mit zu weichen Matratzen in einem karg eingerichteten Zimmer. Ihr gegenüber saß eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Eine kleine Familie, verunsichert, verängstigt, verloren. Die Tochter, noch nicht ganz volljährig, ließ zumindest einen Schimmer der Hoffnung in ihrem Blick erkennen. Der Sohn, gerade zwölf geworden, war noch zu sehr Kind und zu wenig Teenager. Er kuschelte sich in den Sicherheit spendenden Arm der Mama.

»Werden wir jetzt abgeschoben?«, fragte die Mutter in gebrochenem Englisch.

»Ich bin mir sicher, das hat nichts zu bedeuten«, entgegnete Sophia in derselben Sprache.

Das wusste sie sogar sehr genau. Mutter Anastasia, ihre Tochter Kateryna und ihr Sohn Roman hatten nichts zu befürchten. Deutschland schob keine ukrainischen Flüchtlinge ab. Zumindest noch nicht. Auch nicht jene, die wie Anastasia und ihre Kids zunächst in Polen untergekommen waren, ehe sie nach Deutschland weitergereist waren. Doch der Kommandoton im Schreiben des Ausländeramtes klang nach der Wiederauferstehung der Stasi. Auch wenn sich dahinter nur ein ganz normaler Vorgang verbarg. Ein Akt unermüdlicher Bürokratie.

Doch das musste die Mutter ja nicht sofort erfahren.

Schon gar nicht jetzt.

Kommunales Rückkehrmanagement. Sophia musste schmunzeln. Ein Begriff, den sich nur deutsche Behörden ausdenken konnten. Worte, die hier, in der Flüchtlingsunterkunft Fischbek, ständig für Unruhe sorgten. Wer auch immer sie hörte, zuckte unweigerlich zusammen. Sie klangen nach nichts anderem, als dass Deutschland die Geflüchteten unter allen Umständen so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat überführen wollte. Egal, ob sie dort sicher waren oder nicht.

Sophia wusste nur zu gut von den Ängsten der Menschen hier in Fischbek. Seit Jahren arbeitete sie nun schon ehrenamtlich als Flüchtlingshelferin. Sie wusste gar nicht mehr so genau, wann sie damit begonnen hatte. Sie wusste nur, warum. Hier konnte sie behaupten, etwas für die Gesellschaft zu tun, etwas zurückzugeben. Wer auch immer glaubte, ausgerechnet Sophia würde der Gesellschaft irgendetwas schulden.

In Wahrheit verband sie hier den äußeren Schein mit ihrer eigentlichen Arbeit. Denn eines hatte sie längst verstanden: Menschen hatten mit noch so korrupten Geschäften Erfolg, wenn sie vordergründig der Gesellschaft etwas zurückgaben. Tue Gutes und rede darüber – und niemand wird bei deinen Sünden genauer hinschauen.

Sophia war jetzt achtunddreißig. Eine Frau, die von sich behaupten konnte, alles gesehen und erlebt zu haben. Die tiefsten Abgründe aus Armut, Hunger, Ausbeutung, Verachtung und Tod. Die höchsten Sphären aus Reichtum, Überfluss, Macht, Ausbeutung, Verachtung und Tod.

Hier in Fischbek fand man nur die Abgründe. Alles hatte mit der Flüchtlingsbewegung aus Vorderasien begonnen, als der Irre aus Syrien endgültig durchgedreht war und über zwei Millionen Menschen in der Europäischen Union Schutz gesucht, aber häufig nur Misstrauen und Hass vorgefunden hatten. Dann war der Irre im Kreml endgültig durchgedreht, und diesmal waren es die Ukrainer gewesen, die geflüchtet waren. Und natürlich die Russen, die Angst hatten vor der eigenen Kriegsmaschinerie. Ob Zaren, Kaiser, Könige oder Präsidenten – wenn Männer ihre Allmachtsfantasien in die Tat umsetzten, starben erst die Träume der einfachen Menschen und dann die Menschen selbst.

Sophia blickte aus dem Fenster der Containerstadt. Die halbwegs isolierten Wellblechwände ließen den Hamburger Regen abperlen wie die deutschen Behörden die Nöte der Geflüchteten. Wer in einem dieser Lagerpaläste wohnte, bekam von den Ehrenamtlichen Hilfe und Zuneigung. Nicht zwingend jedoch auch von den unmittelbaren Nachbarn vor Ort, die auf der belegten Fläche eigentlich lieber Einheimische gesehen hätten. Flüchtlingshilfe endete eben dann doch oft am eigenen Gartenzaun.

Anastasia und ihre Kinder waren nun seit fast einem halben Jahr hier in Hamburg. Zunächst waren sie in Polen gestrandet, nachdem sie ihre Heimatstadt Sumy im Osten der Ukraine verlassen hatten. Doch in Sumy gab es nichts mehr, wohin sie hätten zurückkehren können. Auch nicht den Ehemann und Vater. Ein einfacher Brief zerstörte das Familienglück, nachdem ein Luftangriff das Leben des Mannes beendet hatte. Plötzlich Witwe, wollte Anastasia in Polen nicht mehr bleiben. Erst über die Grenze nach Berlin, dann weiter nach Hamburg. Jetzt saßen sie hier, die Heimat ein ferner Ort, eine düstere Erinnerung, die Zukunft eine nebulöse Fata Morgana.

Zumindest in Sophia hatten Anastasia, Kateryna und Roman eine Freundin gefunden. Einen Menschen, der ihnen half. Sie hatte Roman einen Schulplatz organisiert und Kateryna einen Job. Als sie der Mutter erzählt hatte, ihre Tochter könne als Kindermädchen bei einer wohlhabenden Familie auf Sylt arbeiten, mit einem eigenen kleinen Apartment auf dem Grundstück, mit einem Gehalt, von dem auch für Anastasia und Roman etwas abfallen würde, war sie aus Dankbarkeit in Tränen ausgebrochen.

Heute war der Tag der Trennung.

»Freust du dich schon?« Sophia blickte Kateryna aufmunternd an.

Das schüchterne Ding nickte. Sie würde ihre Sache gut machen, da war sich Sophia sicher. Zurückhaltend, gut erzogen, aufmerksam, folgsam, dazu eine natürliche Schönheit – sie brachte alles mit.

Die Verabschiedung fiel tränenreich aus. Besonders Roman wollte seine Schwester kaum ziehen lassen. Sophia versprach ihm, er werde Kateryna bald besuchen können. Vielleicht ja schon in den nächsten Schulferien. Dann könne er mit ihr am Strand spielen, ins Meer springen. Im Nu verwandelten sich die Tränen in Vorfreude. Auch Anastasia lachte schluchzend.

Dann machten sie sich auf den Weg. Sophia forderte Kateryna auf, sich bei ihr einzuhaken. Und so schlenderten sie quatschend vom Hof der Flüchtlingsunterkunft.

Madame Sophia war zufrieden mit sich. Der Transfer war abgeschlossen.

Es war so einfach geworden. Früher hatte sie Mädchen unter großem finanziellen und personellen Aufwand nach Deutschland bringen müssen. Heute kamen sie selbst. Flüchtlingslager waren eine nie versiegende Quelle, wenn man wusste, wie man sie nutzte. Das Auffangbecken der Verlorenen. Das Auffangbecken der Opfer eines Spiels, das diese Menschen nicht gewinnen konnten. Ein Spiel, das Sophia jedoch beherrschte.

Sie beherrschte es, weil sie es selbst einmal beinahe verloren hätte. Sie hatte lernen müssen, es zu beherrschen. Es war ein Spiel, das nach einer ganz einfachen Regel gespielt wurde.

Entweder du entkommst.

Oder du stirbst.

Wer dieses Spiel spielte, kannte die Gleichung. Entkommen oder sterben – Unentschieden gab es nicht. Wer gewann, gewann alles. Wer verlor, verlor alles. Es gab keine Auszeichnungen für Tapferkeit. Es gab keine ehrenhaften Verlierer.

Die Verlierer waren tot.

KAPITEL 7

SONNTAG, 13. MÄRZ

Hamburg

Den Rucksack auf dem Rücken, die Tasche über der Schulter, rollte Johanna Böhm die Treppe von Gleis 5 nach oben. Ungeduldige Reisende rempelten sich den Weg auf der linken Spur frei. Wie auf der Autobahn gab es auch auf Rolltreppen die Mittelspurschleicher, denen man mit einem sachten Hinweis zu verstehen geben musste, dass ihnen nicht die Welt gehörte – und schon gar keine Rolltreppe am Hamburger Hauptbahnhof.

Mary Lou Williams’ letzte Töne von They Can’t Take That Away From Me