Desperados Kinder – Coming of Age: Ein Kriminalroman - Fred Breinersdorfer - E-Book

Desperados Kinder – Coming of Age: Ein Kriminalroman E-Book

Fred Breinersdorfer

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Beschreibung

Jonny Desperado, der sein eigenes Geheimnis über seine Herkunft wie einen Schatz hütet, zieht mit seinem »Zirkus für kleine Leute« seit geraumer Zeit von Rummelplatz zu Rummelplatz. Eines Tages taucht bei ihm das Mädchen Gloria auf, das von zu Hause fortgelaufen ist, jedoch niemand als vermisst gemeldet hat. Jonny kennt einige Kinder, die oft nichts mehr außer ihre Träume haben, und beschließt ihr zu helfen, auch wenn oder gerade, weil Gloria hartnäckig über ihre Herkunft und die Gründe für ihre Flucht schweigt. Doch mit einem Mal interessieren sich auch ganz offensichtlich andere recht dubiose Leute für sie – und plötzlich überstürzen sich die Ereignisse …

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Fred Breinersdorfer

 

 

Desperados Kinder

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Christian Dörge mit Bärenklau Exklusiv, 2023

Korrektorat: Bärenklau Exklusiv

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Desperados Kinder 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

26. Kapitel 

27. Kapitel 

28. Kapitel 

29. Kapitel 

30. Kapitel 

31. Kapitel 

32. Kapitel 

33. Kapitel 

34. Kapitel 

35. Kapitel 

36. Kapitel 

37. Kapitel 

38. Kapitel 

39. Kapitel 

40. Kapitel 

41. Kapitel 

42. Kapitel 

43. Kapitel 

44. Kapitel 

45. Kapitel 

46. Kapitel 

Der Autor Fred Breinersdorfer 

Folgende Romane des Autors Fred Breinersdorfer sind ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

Jonny Desperado, der sein eigenes Geheimnis über seine Herkunft wie einen Schatz hütet, zieht mit seinem »Zirkus für kleine Leute« seit geraumer Zeit von Rummelplatz zu Rummelplatz. Eines Tages taucht bei ihm das Mädchen Gloria auf, das von zu Hause fortgelaufen ist, jedoch niemand als vermisst gemeldet hat. Jonny kennt einige Kinder, die oft nichts mehr außer ihre Träume haben, und beschließt ihr zu helfen, auch wenn oder gerade, weil Gloria hartnäckig über ihre Herkunft und die Gründe für ihre Flucht schweigt. Doch mit einem Mal interessieren sich auch ganz offensichtlich andere recht dubiose Leute für sie – und plötzlich überstürzen sich die Ereignisse …

 

 

***

 

 

Für Lona und Julio, sie wissen, wer gemeint ist. 

 

 

***

 

 

Desperados Kinder

 

 

1. Kapitel

 

 

1988 auf einem Rummelplatz

Feierabend auf dem Volksfest. Die Buden und Bahnen hatten geschlossen. Ein glanzvoller letzter Tag war vorbei. Die Besucher waren schon lange zurück in die Stadt gefahren. Sturmböen sprangen über den Rummelplatz und rüttelten an den Wohnwagen, den Kulissen der Karussells und an den Zelten. Über die Gleise der Achterbahn klapperte der letzte Wagen. Der Sturm fegte Staub und Papierfetzen durch die Gassen zwischen den Schaustellerständen vor sich her. Unter dem schwarzen Himmel flackerten Blitze.

Jonny Desperado stand breitbeinig vor seinem Zirkus, griff nach den Seilen, mit denen die Zeltbahnen vertäut waren, und zurrte sie nach. »Sauwetter, miserables«, brummte er. Die Lichter um ihn herum erloschen langsam. Im Bauch der Geisterbahn erstarben die dumpfen Geräusche. Der Sturm heulte dafür umso lauter und zerrte an den Planen. Jonny Desperado hatte breite, starke Hände, mit denen er gegen die Windböen ankämpfen konnte. Sein fester Rücken krümmte sich beim Ziehen, und die Muskeln traten rund und hart wie Äpfel unter seinem verschwitzten Hemd hervor. Das Zelt, dessen Flanken nun im Wind knatterten wie Segel, war mit seinem hinteren Teil an einen alten, großen Autobus angebaut. Der Bus hatte noch eine Kühlerschnauze. Er war gelb lackiert mit rotem Rand und trug die Aufschrift:

 

CIRCUS DESPERADO

 

in grünen Buchstaben. Darunter stand in blau:

 

Circus für kleine Leute

 

Und das hatte seinen guten Sinn; denn Jonny Desperado war ein Zwerg. Liliputaner nennt man seinesgleichen, die Menschen also, die immer klein bleiben, auch wenn sie noch so alt werden.

Jonny war kaum so groß wie ein fünf oder sechsjähriger Junge, aber sein Kopf glich dem eines ausgewachsenen Mannes, allerdings mit einer steilen, nach vorne strebenden Stirn. Sein Gesicht war voller Falten, besonders um die blauen Augen. Desperado, der Zwerg, der Gnom, der Liliput. Er hatte einen Zirkus, in dem alles für kleine Leute hergerichtet war: Auf jeder Bank konnten die Kinder bequem sitzen, die Stufen zu den Rängen hinauf waren winzig, die Eingänge so, dass Erwachsene sich tief bücken mussten, die Manege reichte gerade für einen wie Jonny Desperado aus, und auch die mechanische Orgel, die an der Buswand lehnte, war kaum höher als einen Meter, und der Engel, der mit starrer Hand die vielen Instrumente dirigierte, war nicht größer als eine Puppe. Leider funktionierte die alte Orgel nicht mehr, weil es keinen Handwerker gab, der sich in ihrem Mechanismus auskannte und Ersatzteile fehlten. Deshalb trug die Orgel nun ein normales Tonbandgerät in ihrem Innern und Lautsprecher in den Flügeln.

Jonny war der Direktor dieses seltsamen Zirkus, aber nicht nur das, er war Akrobat, Clown, Jongleur, Hundedompteur, Manegenarbeiter, Ausrufer, Kassierer, alles in einer Person. Also musste er sich auch ganz allein darum kümmern, dass das Zelt dem Gewittersturm standhalten würde.

Jonny watschelte mit seinem breiten Gang noch einmal am Eingang zu seinem Zelt entlang und kontrollierte zum letzten Mal alles. »Nacht, Desperado«, sagte eine dicke Frau im Vorbeieilen.

»Nacht, Hilde«, antwortete Desperado mit seiner brüchigen und ältlich klingenden Stimme hinter der Frau her, die tagsüber an der Kasse im Panoptikum schräg gegenübersaß.

Ein Hund bellte. Desperado schlüpfte durch einen schmalen Schlitz zwischen den Zeltwänden ins Innere. Wieder bellte der Hund.

»Ruhig, Quitte«, rief Jonny.

Das Tier knurrte. Das klang bedrohlich und wild. Jonny Desperado rannte die Stufen zur Manege hinunter, setzte über deren Rand, durchquerte sie und schob einen glitzernden Vorhang zur Seite. Das Knurren wurde lauter. Mit zwei Sätzen schwang er sich die Stufen zur Tür des Busses hinauf, öffnete und sah im fahlen Licht, wie sein Hund Quitte mit offenem Maul neben einem Kind stand, die Zähne entblößt und knurrend, jederzeit bereit zu beißen, wenn es dem Kind einfiele, sich zu rühren.

Jonny Desperado pfiff kurz und scharf zwischen den Zähnen und der Hund wich zurück, ließ aber kein Auge von dem Kind. Der Liliputaner knipste an einem Schalter, und gelbliches Licht glomm auf. Draußen rollte und polterte ein Donner.

»Sieh an, mein Fräulein, wen haben wir denn da?«, fragte Jonny. Er stand neben dem Fahrersitz, der hoch auf einer stählernen Stange montiert war, und betrachtete den Eindringling, ein Mädchen, kaum einen Kopf größer als er selbst, wie es die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und leise weinte. Jonny ging die drei Schritte zu dem Kind, nahm es behutsam in den Arm und führte es zu einem Stuhl, so groß wie einer, der unter eine Schulbank passt. Der Hund begann wieder zu knurren, doch ein kurzer Seitenblick seines Herrn hieß ihn schweigen. Er rollte sich am Fuße des Fahrersitzes zusammen und beobachtete Jonny und das Kind.

Das Mädchen schluchzte und hielt immer noch die Hände vors Gesicht. Desperado lief zu seinem Kühlschrank hinüber, der außen bunt mit Zirkusfiguren und Tieren bemalt war, holte eine Bierflasche heraus und goss sich einen Schluck in ein kleines Glas.

»Wie heißt du?«, fragte er, nachdem er getrunken hatte.

»Gloria.«

»Und weiter?«

Das Kind zuckte mit den Schultern, sah Jonny aber nicht an.

Desperado schwieg für ein paar Augenblicke und beobachtete das Mädchen. Es hatte blonde Haare und ein herzförmiges Gesicht mit blasser Haut. Die Augen waren im trüben Licht schwer zu erkennen, sie wirkten schwarz und zeigten einen Ausdruck von Furcht und Neugier. Angezogen war es mit Jeans und einem Polohemd, das teuer aussah, nun aber zerknautscht und fleckig wirkte, so, als habe das Kind es schon seit Tagen getragen. Auch die Sandalen an den Füßen waren staubig und abgelaufen.

»Und du hast Angst vor dem Gewitter?«, fragte Jonny.

»Ja.«

Draußen fegte ein Blitz über den Himmel und tauchte alles, was man vorher im Dunkeln nicht gesehen hatte, in grelles Blau und Weiß. Gloria zuckte zusammen, als der Donner krachte. Die ersten breiten Regentropfen prasselten gegen die Scheiben des Autobusses.

»Wem gehörst du?«, fragte Jonny wieder, dabei erhob er sich und wackelte hinüber zum bunten Kühlschrank.

»Wem soll man gehören, wenn man ein Kind ist?«, entgegnete Gloria.

»Den Eltern natürlich, oder irgendwem, der gerade das Sagen hat.«

»Ich hab keinen«, sagte das Kind, allerdings ohne den Zwerg anzusehen. »Jedenfalls nicht richtig«, setzte es hinzu.

»Aber Hunger hast du?«, fragte Desperado, und das Kind nickte.

Er bereitete schweigend auf dem kleinen Tisch ein Nachtmahl zu. Gewöhnlich aß Desperado allein, denn von den langen Menschen, die er auf den Rummelplätzen kennenlernte, passte kaum einer auf die winzigen Möbel in seinem Bus. Nur selten, wenn er andere Liliputaner traf, gab es ein fröhliches Festessen und die Stühle reichten dann nicht für den Andrang. Aber dass der Zirkusdirektor trotz seiner Gastfreundschaft nie lachte und selbst ausgelassen war, war schon vielen aufgefallen. Sicher, er war freundlich und nett zu allen, man konnte ihn gut leiden – keiner mochte ihn jedoch herzlich gern, denn dazu war Jonny zu verschlossen. »Ein sonderbarer Kauz«, sagten die Menschen. Allenfalls einige wenige Kollegen auf den Festplätzen, Außenseiter wie Jonny Desperado selbst, besuchten ihn gelegentlich, weil er eben dazugehörte.

Ja, der kleine Jonny war schon immer beim fahrenden Volk. Sogar die Ältesten erzählten davon, dass ihre Eltern schon mit ihm von Platz zu Platz gezogen seien – ein Witz, wie viele glaubten. So viel ist sicher: Desperado, der Zwerg, war da und gehörte dazu.

Jonny Desperado richtete schweigend und selbstverständlich das Essen für zwei Personen. Honig und Marmelade, Himbeer- und Vierfrucht-, Schokoladenpaste und Wiener Würstchen, aufgebackene Wecken, Butter und warme Milch stellte er auf den Tisch. Er selbst aß nur wenig und sah nachdenklich zu, wie Gloria ausgehungert Bissen um Bissen in sich hineinschlang, zugriff, wenn er ihr ein Brötchen schmierte und dazwischen Milch trank und Honig naschte und sich endlich die Lippen schleckte, als sie fertig gegessen hatte und satt war.

»Du gehörst also niemandem?«, wiederholte Jonny.

»Nein«, antwortete Gloria.

»Bist abgehauen?«

»Nicht richtig.«

»Wie denn?«

»Ich bin nur dageblieben. Dageblieben nach der Vorstellung, als der Rest gegangen ist.«

»Und wer ist der Rest?«

»Das Kinderheim.«

»Äääääääää«, machte Desperado.

»Warum ekelst du dich?«, fragte das Mädchen.

»Weil sie mich immer im Eintrittspreis herunterhandeln, und ich lasse mich wegen der kleinen Würmer herunterhandeln, die fortgelaufen sind oder keine Eltern haben.«

»Wegen uns?«

»Kann man so sagen.«

Sie schwiegen eine Weile und hörten dem Regen zu, der auf dem Autobusdach einen wilden, blechernen Tanz vollführte. Quitte, der Hund, gähnte und rollte seine Zunge ein.

»Du gehörst also in den Kinderhort.«

Gloria nickte. Sie gähnte auch.

»Bloß, heute war kein Kinderheim in der Vorstellung«, brummte Desperado.

»Es waren viele Kinder da, wir gehören zusammen, eine ganze Gruppe.« Man sah ihr an, dass sie sich ertappt fühlte.

»Aber du gehörst nicht dazu«, sagte Jonny.

»Nein«, gab Gloria kleinlaut zu. Was hätte sie auch machen sollen? Weiterlügen?

»Was soll ich mit dir machen?«

»Dabehalten«, sagte das Kind mit großen Augen, als sei das ganz einfach möglich. »Ich könnte für dich Karten verkaufen und saubermachen, weißt du, die Sachen, die du brauchst, herrichten und so.«

»Herrichten und so …«, wiederholte Desperado. Er lächelte ein wenig. »Brauchen sie bei dir zu Hause niemanden, der Sachen herrichtet?«, fragte Jonny.

»Dort ist ein Mann da, der hilft«, sagte Gloria.

»Auf den Rummelplätzen muss jeder für sich selbst sorgen.«

»Klar.« Gloria setzte sich aufrecht hin, so, als wollte sie zeigen, wie tüchtig sie sein konnte.

»Und was macht die Schule?«

»Ich brauche keine«, sagte das Kind mit fester Stimme.

Desperado schüttelte den Kopf und sagte: »Du nicht, aber die Schule braucht dich. Was machen die vielen Lehrer ohne Schüler? Du wirst sehen, sie würden dich holen, damit die Lehrer wieder etwas zum Arbeiten haben. In diesem Punkt ist man unnachsichtig. Deshalb ist es besser, du gehst gleich zurück nach Hause und zu den Erziehern und den Lehrern und denen, die es berufsmäßig gut mit dir meinen.«

»Übermorgen vielleicht, lass mich wenigstens einen Tag dableiben und lass mich bei dir in deinem Zirkus helfen.«

»Den Hund fürchtest du nicht?«

»Nein, er hört auf dich.«

»Es geht nicht, dass du dableibst«, sagte Jonny Desperado entschlossen und begann abzuräumen. Gloria sprang auf und half ihm.

Draußen über dem verlassenen Festplatz loderten die Blitze, schmetterten die Donnerschläge, peitschten die Regenfahnen über die niedergetretenen Gräser. In den Wohnwagen brannten gelbe Lichter hinter den Gardinen. Gloria ging verlegen hinüber zu einer Kommode, auf der ein Käfig stand. Neugierig sah sie hinein. Eine dicke weiße Ratte schlief auf dem Boden.

»Das ist Schneewittchen, sie arbeitet bei mir«, erklärte Jonny.

»Probier es aus mit mir, ich kann auch im Zirkus arbeiten«, sagte das Mädchen mit leiser Stimme.

Jonny sah sie von der Seite an und spürte die bleierne Müdigkeit, die in dem Kind hockte. Ob es stimmte, was sie sagte? Oder war sie schon länger herumgezogen? Die schmutzigen Kleider und die abgelaufenen Schuhe sprachen dafür. Das Kind zuckte inzwischen nicht einmal mehr unter den fürchterlichen Donnerschlägen zusammen, seine Wimpern flimmerten.

»Komm, ich mach dir ein Bett«, sagte Jonny zu dem Mädchen. Er zog einen Vorhang zurück, hinter dem die Scheiben des Busses mit Silberpapier verklebt waren, sodass man auch bei Tag nicht hätte hereinschauen können. Dort standen sein Bett, ein Schrank und eine Truhe. Jonny öffnete die kleine Truhe und kramte Bettzeug hervor, gerade richtig in der Größe für ein Kind oder einen Liliputaner.

»Dort auf der Couch, neben dem Hund«, sagte er und deutete auf ein breites weiches Kanapee, einem Sofa, im Kleinformat, das hinter dem Esstisch stand. Gloria nahm das Bettzeug und richtete ihr Lager. Der Hund hatte sich auf seiner Decke eingerollt und ruhte mit geöffneten Augen. Seit Desperado das Mädchen bewirtet hatte, war Quittes Misstrauen begraben.

»Wenn du dich noch waschen willst, da ist das Bad.« Jonny zeigte auf eine Tür im hinteren Ende des Busses, an der Seite seines Bettes. Gloria trat durch die Tür in ein helles, freundliches Badezimmer mit blauen Kacheln und gelbem Fußboden. Es gab ein Waschbecken, eine Dusche, ein Klo und einen Ventilator.

»Brauch nicht so viel Wasser«, rief Jonny von draußen, »das ist hier teuer.«

»Ja«, antwortete Gloria laut. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, ihre Nase, die großen, weißen Zähne, die Haarfransen und die müden dunklen Augen, dann drehte sie den Wasserhahn leicht auf, bis ein kleines Rinnsal floss und fuhr sich mit den nassen Händen durch das Gesicht.

»Ich werde es ihm beweisen«, flüsterte Gloria und sah sich im Spiegel in die Augen, »morgen wird er es merken, dass er mich brauchen kann. Und er wird mich nicht wegschicken. Bestimmt nicht.« Sie hob ihre kleinen Fäuste an den Mund und presste die Daumen ganz fest. »Morgen wird er es merken«, wiederholte sie, während sich draußen rumpelnd ein Donner verlief. »Dann zieh ich mit seinem Zirkus weiter. Für die bin ich dann verschollen – und sie finden mich niemals wieder.« Sie bekam Mut und zwinkerte ihrem Spiegelbild zu, und es schien ihr so, als zwinkerte das Spiegelbild zurück, ohne dass sie selbst das Gesicht noch einmal verzogen hatte. Gloria schaute verblüfft. Sie versuchte es noch einmal; doch jetzt war alles wieder normal.

Dann ging sie aus dem Bad und zu ihrer Couch, kuschelte sich bis zu den Ohren zugedeckt in die Kissen und träumte von der Freiheit, die der Zirkus versprach.

Jonny Desperado löschte behutsam das Licht. Der Regen prasselte immer noch herunter. Wetterleuchten zuckte hie und da über Jonnys Gesicht. Er trat ans Fenster und sah hinaus auf die nächtliche Rummelplatzwelt. Er grübelte, überlegte, was dieses Kind dazu getrieben haben mochte, ausgerechnet bei ihm, dem alten Rummelplatzzwerg Desperado, Unterschlupf zu suchen.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

Ein düsterer, verregneter Morgen folgte auf die Gewitternacht. Kühler Wind streifte über den Platz. Von der Ponyreitschule her hörte man die Pferde wiehern. Doch es waren nicht die gewohnten Geräusche des Rummelplatzes, die Jonny weckten. Er rieb sich verwundert die Augen, weil es verlockend nach Kaffee duftete. Von nebenan, aus der kleinen Küche, drang gedämpft das Klappern von Geschirr. Jonny sprang aus dem Bett. Er besaß einen prächtigen, bunt bestickten Brokatmorgenmantel mit einer Gardinenkordel, die man um den Bauch binden konnte. Er warf sich den Morgenrock über die Schultern, fuhr mit den Füßen in seine Pantoffeln und lief hinüber. Da sah er Gloria, die den Tisch deckte. Neben ihr stand Quitte und wedelte mit dem Schwanz. Er wartete auf einen Morgenhappen. Auf dem Tisch stand dampfend die Kaffeekanne. Marmelade und Butter waren hergerichtet und ein Brett mit Wurst und Käse. Gloria verteilte wie selbstverständlich zwei Tassen und zwei Teller, so, als gehöre sie einfach dazu.

»Oho«, sagte Jonny, »eine fleißige Hausfrau.« Das Kind strahlte. Er trat an den Tisch heran. »Kaffee, gut«, stellte er fest, ohne den Mund zu einem Lächeln zu verziehen. »Wo hast du ihn gefunden?«

»Dort«, antwortete Gloria und zeigte auf den Küchenschrank.

»Aha, und was trinkst du zum Frühstück?«

Gloria zuckte mit den Schultern. »Egal.« Sie legte zwei Messer auf den Tisch. Da sah Desperado die große Blase auf der linken Hand. »Das, und was ist das?«, fragte er.

Wieder Achselzucken.

»Du hast dich beim Kaffeekochen verbrannt, nicht wahr?«

Gloria nickte. Sie wurde rot, als hätte man sie bei etwas Schlimmem ertappt. »Und wenn der Bus dabei abgebrannt wäre?«, brummte Jonny. Er steckte die Hände in die Taschen. Dabei studierte er ihr Gesicht. Es war trotz einer angenehmen ruhigen Nacht merkwürdig müde, und das Kind schien bei Tageslicht sogar älter als am vergangenen Abend, immer noch angestrengt und ausgelaugt.

Da fing Gloria zu heulen an: Weil die Brandblase schmerzte und dann, weil sie das kochende Wasser doch nicht absichtlich verschüttet hatte, und außerdem, weil sie der Zwerg so anstarrte. Sie sagte: »Ich habe doch bloß …«

Jonny ging hinüber zum Bad. »So fangen alle Ausreden an«, knurrte er. Er konnte das Mädchen nicht weinen sehen. Deshalb schloss er sich auch jetzt schnell im Bad ein und setzte sich aufs Klo, um abzuwarten, bis Gloria nicht mehr heulte und um nachzudenken. Ihm fiel aber nichts ein. Vor allem wusste er nicht, was er mit diesem kleinen Mädchen mit dem traurigen Gesicht machen sollte. Was wäre, wenn er richtig böse und grob zu der Kleinen würde, sodass sie froh wäre, noch einmal davongekommen zu sein und an alles dachte, bloß nicht daran, bei ihm in seinem kleinen Zirkus zu bleiben? Aber das würde Jonny nicht übers Herz bringen, fürchtete er selbst. Es reichte schon, dass er sich eben wie jeder Erwachsene verhalten und das Mädchen noch nicht einmal gelobt hatte, wo sie sich doch so viel Mühe gegeben und sich sogar verletzt hatte. Desperado stand auf, unentschlossen fuhr er sich durch die Haare, die von der Nacht struppig in alle Himmelsrichtungen zeigten. Nein, Gloria konnte nicht bleiben. Das war unmöglich. Irgendwo gehört so ein Kind hin, wird vermisst. Es wird schon wieder gesünder aussehen, wenn es erst zu Hause ist, sagte er sich. Er beschloss, sie beim Frühstück wie eine kleine Prinzessin zu behandeln, bevor sie gehen musste.

Nun roch es auch noch nach Kakao. Jonny ging hinaus und war zu dem Mädchen tatsächlich wie zu einer echten Prinzessin, und die Welt sah für Gloria neu und bunt aus – bis Jonny ihr erklärte, dass sie zurück müsse, zurück dorthin, wo sie hingehöre, weil es sonst Scherereien mit der Polizei gäbe und weil man Jonny sonst vielleicht nicht mehr erlauben würde, mit seinem Zirkus auf den Festplätzen zu gastieren. Sie solle doch ein vernünftiges Kind sein.

Das hatte sie schon so oft hören müssen, dass man vernünftig sein und etwas einsehen muss, und sie hatte schon so viel eingesehen, wenn ihre Traumbilder wieder einmal zerschellt waren.

 

 

 

3. Kapitel

 

 

»Jupitter!«, schrie die Frau. Der Ruf hallte durch den leeren Raum und brach sich hinter der offenen Tür im Flur. Das »u« zog die Frau lang hin, am Wortende gurgelte ein langgezogenes »r«. Wieder schrie sie.

Keine Antwort. Die Frau saß in einem Rollstuhl, dessen Lehne steil aufgerichtet war. Ihr dürrer Körper war unter einem Haufen brauner Decken kaum noch zu erkennen. Nur die mageren Arme sahen heraus und hoben sich bei jedem dieser Rufe kurz und zitternd von den Lehnen. Ihr Gesicht war schmal und farblos, wie die Haare, die unmerklich von blond ins Grau hinüberwechselten. Eine große Sonnenbrille, schwarz und kurios geschwungen, verdeckte die Augen.

Die Frau schrie heiser wie ein Esel. Man hätte ihrem kleinen, ausgemergelten Körper kaum eine solche Stimmgewalt zugetraut.

»Jupitter!« Als wieder keine Antwort zu vernehmen war, begannen die dünnen Beine unter der Decke zu strampeln, befreiten sich schließlich und man sah nun Wollhosen und Turnschuhe. Die Frau rappelte sich mühsam hoch und schlurfte mit tastenden Schritten zur offenen Tür. Im Flur lag eine gefleckte Dogge mit gespitzten Ohren und hechelte leise. Das Tier besah die Frau aufmerksam, ohne ein Zeichen von Freude oder Angriffslust. Es beobachtete die kleinen Füße in den ausgetretenen Turnschuhen.

»Jupitter! Jupitter!«

Das Tier, das Gezeter scheinbar schon gewohnt, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und reagierte erst, als die Frau sich zu ihm wendete und es ansprach. Dabei nahm ihre Stimme einen seltsam sanften Klang an, nicht zärtlich, aber doch einfühlsam, als sie fragte: »Wotan, sag, wo ist dein Herr? Versteckt wird er sich haben, weil er nicht zugeben kann, dass ihm das Kind entkommen ist. Er weiß, er bringt mich damit um, wenn ich das Kind nicht habe, trotzdem lässt er es entwischen. So ist er, der feine Herr von Jupitter.« So redete sie weiter auf die Dogge ein, die dazwischen den Kopf auf die Seite legte und damit den Eindruck vermittelte, als verstehe sie, was gemeint war.

»Das Kind, das Kind, das Kind!«, seufzte die Frau und hustete heiser.

Ohne Hilfe eines Stocks, leidlich aufrecht, stand sie in dem kahlen feuchten Flur. Durch ein vergittertes Fenster in der Eingangstür sickerte das graue Licht des frühen Morgens. Die Frau horchte, doch außer dem Hundeatem und regelmäßig fallenden Wassertropfen war nichts zu vernehmen. Wieder schrie sie den Namen »Jupitter«, drehte dann den Kopf seitlich, um eine Antwort besser zu hören.

Endlich rasselte ein Schlüssel in der Tür und der Gerufene erschien. Er machte für einen kurzen Augenblick das Licht an. Eine Neonröhre flackerte. Doch er reagierte sofort auf den Schrei »Licht aus!«, knipste den Schalter wieder aus, trat ein und schloss die Tür. Er lächelte fade, wobei er seine Lippen, die wie Wiener Würstchen aussahen, breit auseinanderzog. Die Brille, die kurz im Licht gefunkelt hatte, wirkte nun matt, wie beschlagen. Der Mann trug einen korrekten Anzug in Grau und eine gestreifte Krawatte. Er rieb sich die Hände, als fröstle es ihn. Sein Wurstlippenlächeln verschwand.

Die Stimme der Frau hatte sich erneut gewandelt. Sie war nun dunkel, voller Trauer.

»Ist es wahr, dass das Kind verschwunden ist?« Und als Jupitter wieder das Grinsen über sein Gesicht zog und seine Hände zu reiben begann, schrie sie ihn wieder mit überschlagender Stimme an: »Jupitter, sag endlich, dass es stimmt!« Nun begann er zu sprechen, vorher schnaufte er mit wippenden Ellenbogen durch, so wie ein Maikäfer, bevor er abfliegt, sagte mit erstaunlich heller Stimme, dass das Kind nicht fort sei, sondern nur noch nicht aus der Schule zurückgekehrt.

»Seit wann?«

Jupitter zögerte, bevor er zugab: »Gestern.« Die seltsame Frau schlug die Hände vor ihr mageres Gesicht.

Jupitter kniete neben dem Hund nieder und streichelte dessen Nacken. Dabei beobachtete er ungerührt, wie die Frau sich nun ganz offensichtlich mühselig umdrehte und gebeugt in den anschließenden Raum hinkte, um in ihren Rollstuhl zu fallen. Er half ihr nicht. Dort begann sie, leise zu weinen. Es war ein pfeifender Ton zu hören und ein Schluchzen, das keinen guten Klang hatte. Jupitter stand auf und ging ihr in das Zimmer nach, wo er sich an die Wand lehnte, die Arme verschränkte und auf die Frau hinuntersah.

»Natürlich weiß ich, dass das Kind dein Leben ist, buchstäblich ist es so. Keiner zweifelt daran, Lucia. Auch das Kind weiß, wie du es brauchst. Ihm fehlte nichts bei uns, ich weiß nicht, weshalb es fortgelaufen ist.« Er stieß sich mit dem Rücken von der Wand ab, pfiff zwischen den Zähnen und rief »Wotan« und »Hagen« und lief mit einem seltsam hüpfenden Gang zurück auf den Flur. Dort hörte man Hundepfoten auf dem Beton kratzen. Eine zweite Dogge, gefleckt wie die erste und mit Schaum im Winkel des Mauls, kam aus einem dunklen Raum. Beide Tiere standen nun regungslos neben dem grauen Herrn von Jupitter, der einen Schlüssel in das Schloss schob und über die Schulter rief, er werde sich um die Sache kümmern.

 

 

 

4. Kapitel

 

 

»Uns ist kein Kind abgängig gemeldet worden«, sagte gerade der Polizist hinter der Barriere und beugte sich vor, um den kleinen Jonny besser sehen zu können, »obwohl, täglich kommen so viele Kinder weg.«

Jonny nickte. Er drehte sich nach Gloria um, die unentwegt heulte. »Hast du gehört, dass man kein Mädchen in deinem Alter vermisst?«, fragte er. Gloria hörte auf zu weinen. »Hast du Eltern? Sag jetzt!«

»Ja.«

»Was denn sonst?«, sagte der Polizist dazwischen.

»Eine Mutter«, antwortete das Kind.

»Und wie heißt deine Mutter?«

»Wie ich.«

»Und wie heißt du?«

»Gloria.«

»Und weiter?«

Das Kind zuckte verstockt mit den Schultern und antwortete nicht. Man sah, dass nichts zu machen war. Jonny zog eine Grimasse und der Polizist schaute verlegen. Endlich fragte er weiter:

»Wann haben Sie die Kleine gefunden?«

»Gestern Abend.«

Die beiden Männer sahen das Kind an. Der Polizist deutete auf Glorias Kleider. »Die ist schon länger unterwegs.«

»Nein«, sagte Gloria.

»Seit wann genau?«, fragte Jonny.

Er bekam als Antwort wieder dieses bockige Achselzucken.

»Nur komisch, dass sich die Mutter nicht an die Polizei gewendet hat«, sagte der Polizist, »das Kind ist immerhin über Nacht abgängig.«

»Und jetzt?«, fragte Desperado unsicher.

»Jetzt bleibt das Kind erst einmal da. So lange, bis wir wissen, wo es hingehört.«

»Macht das die Polizei?«, fragte Jonny, der immer noch auf den Zehenspitzen stand, um über die Barriere sehen zu können.

»Nein«, sagte der Beamte, »dafür haben wir Sozialarbeiter.«

Nun heulte Gloria wieder laut heraus.

»Das hält man doch nicht aus«, sagte Desperado und griff nach Glorias Hand, »ich nehme das Mädchen so lange mit, bis man die Mutter hat oder den zuständigen Sozialarbeiter.«

»Stopp«, rief der Polizist, »halt, Sie haben selbst gesagt, dass die Kleine nicht zu Ihnen gehört. Sie muss zurück zu ihrer Mutter. Sie können das Kind nicht mitnehmen, wie irgendwas, was man findet.«

»Willst du zu deiner Mutter, Gloria?«, fragte Jonny.

»Nein.«

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die vom Weinen roten Augen.

»Warum nicht?«

Gloria zuckte wieder mit ihren Schultern. Jonny stand vor dem Mädchen. Er kniff ihr leicht in die Wange und streichelte ihr mit ernstem Gesicht über die Nase. »Hast du eigentlich keine Puppe?«, fragte er.

Das Kind schüttelte den Kopf. »Keine.«

»Lassen Sie es da, sonst gibt’s Ärger«, sagte der Polizist dazwischen.

»Ärger, Ärger, Ärger«, äffte Jonny nach.

»Ich mein’s nicht so, es ist nur meine Pflicht«, antwortete der Mann in der Uniform, »und ich würde sie Ihnen auch wieder mitgeben, wenn’s nach mir ginge, aber es geht eben nicht nach mir.« Damit griff er nach dem Arm des Mädchens und zog Gloria durch eine Schnapptür hinter die Barriere.

»Tschau, Gloria, ich besuch dich mal«, rief Desperado. Er tat so, als ob er ginge. Tatsächlich aber schlich er sich behände unter der Holzbarriere zurück, ohne dass ihn der Polizist hörte oder sah. Der Beamte wählte eine Nummer auf dem Telefon, dann besprach er mit jemandem, dass man Gloria vorerst in ein Heim bringen solle.

---ENDE DER LESEPROBE---