Destination Dreamworld - Thomas Dähler - E-Book

Destination Dreamworld E-Book

Thomas Dähler

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Beschreibung

Valerie Bischof ist siebzehn Jahre alt und, so denkt sie, ein 'ganz normales Zürimäitli'. Mit Humor, Cleverness und scharfen Krallen mogelt sie sich durch ihr kunterbuntes Leben: Wohlmeinende Eltern im linksgrünen Milieu, Freund Drimmel mit Machoallüren, Berufslehre in einer männerdominierten Branche. Am Familientreffen bei der reichen Verwandtschaft am Genfersee kippt ihre heile Welt: Cousine Zoé beweist ihr ohne zu fackeln, was 'Female Power' bedeutet. Dreamworld? Sexualität, Beziehungen, Politik, Lebensentwürfe... der Traum der einen ist der Albtraum anderer. Valerie und ihre Cousinen sind nicht naiv: Sie packen an, flirten ungeniert, benutzen, sofern vorhanden, eifrig die Kreditkarte und knallen Türen. Sie bewundern die Eltern, oder streiten sich mit ihnen bis aufs Blut. Trotzdem bleiben sie optimistisch - mit einer Prise Leichtsinn - und verwechseln manchmal Träume mit Phantasmen. Bis sie der Gedanke an den Ernst des Lebens einholt – bang, verlockend. Generation Z. Z, wie Zukunft. ‘Last Generation’? Welch abscheulicher Gedanke…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Thomas Dähler

Destination Dreamworld

Thomas Dähler, Jahrgang 1958, geboren in Thun, lebt heute in der Romandie (Kanton Freiburg). Die berufliche Laufbahn führte ihn vom Lehramt ins IT-Management und zur Eisenbahn. ‘Destination Dreamworld’ ist seine erste Publikation.

‘Ich bin kein Literat. Die Schreibwut hat mich immer wieder gepackt, aber erst die Pensionierung schenkte mir Zeit und Musse, mich an grössere Texte zu wagen. Hat die Welt auf meinen Roman gewartet? Nein. Die Vorstellung, dass Leserinnen und Leser meine Personen und ihre Geschichten entdecken, sie gut finden oder auch nicht, ist trotzdem verlockend.’

Neugierig? Willkommen auf www.gedankenzug.ch

Thomas Dähler

Destination Dreamworld

Roman

© Thomas Dähler

tredition GmbH

Abteilung "Impressumservice"

Heinz-Beusen-Stieg 5

22926 Ahrensburg

Umschlag: Thomas Dähler

Druck und Distribution: tredition GmbH, D-Arensburg

ISBN 978-3-384-43946-8

Erstausgabe 2025

Homepage des Autors: www.gedankenzug.ch

Destination Dreamworld?

Ich träume von…

mehr Engagement für Freiheit und Verantwortung, weniger Regeln und Verboten…

mehr selbstbewussten Täterinnen, weniger deprimierten Opfern…

mehr Brücken, weniger Röstigräben.

Thomas Dähler

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

I. Wochenendstress

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II. Tendres Cousines

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III. Vendanges

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IV. Versteckspiel

V. Unheilige Zeit

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VI. Coming out

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VII. Problemwolf

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VIII. Vertrauenssachen

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Vorwort

Einen Roman schreiben? Das kann doch der Chat-Bot erledigen!

Mitnichten. Schreiben ist nicht verlorene Zeit, sondern Quality Time. Freiwilliger Hirnsport – ein Ringen um das richtige Wort, die logische Abfolge von Gedanken, den träfe platzierten Seitenhieb. Das Wichtigste: Ich darf dabei ungehemmt in die Virtual Reality meiner Einbildungskraft eintauchen.

Künstliche Intelligenz mag ihren Reiz haben – aber irgendwie traut man der Sache nicht recht über den Weg. Wie funktioniert der Bot? Gegenfrage: Wie funktioniert die natürliche Intelligenz des Bücherschreibers? Eben. Schaffen wir Transparenz.

Mein Virtual-Reality-Modul ist Vintage und kaum dokumentiert. Es wurde während Jahrzehnten mit Informationen aller Art trainiert. Quellenangaben sind nur lückenhaft verfügbar, und was es nicht weiss, ergänzt es so, dass es grosso modo stimmt. So, wie es sein könnte. Halluzinieren würde ich das nicht nennen…

Dreamworld steht drauf, aber Alltag ist drin. Alltag 4.0, weder traumhaft noch politisch korrekt: Die Schweiz der Zwanzigerjahre. Mein Virtual-Reality-Modul mag intelligente Menschen, Liebe, Lust und Frust der Jugend und den Kitzel des Banalen. Oder darf ich sagen: Die erotische Dynamik des Lebens?

«Wasss? Ein alt… nicht mehr ganz junger, weisser Mann schreibt über die Generation Z? Über Sex? Welsche SVP Parteimitglieder und Zürcher Bobos?» Tut mir leid, wenn sich nun jemand unwohl fühlt. Seid gewarnt, liebe postmoderne Moralisten und Moralistinnen: Mein VR-Modul kennt den Zeitgeist, aber es lässt sich von ihm nicht gängeln. Lieber hält es sich an Terenz’ humanistisches Bekenntnis: ‘Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, denk ich, ist mir fremd.’

Blüemli und Biendli sind passé, wegpixeln ist verklemmt, zehnfach heranzoomen Porno. ‘Biendli? Z’Bärn seit me de Beyeli, gäu!’ – ’N’importe quoi.’ Die Schweiz hat viele Röstigräben. Auch als Dreamworld.

So viel zur Funktionsweise eines bestimmten Bücherschreibers.

Einen Roman anfangen ist easy – ihn abschliessen ‘mega schwierig’: Irgendwo zwischen Kapitel eins und dem fatalen Wort ‘Ende’, Zürich HB und der La Côte, miefigen Wohnblocks und dem trendigen Smarthôtel hat man nämlich Valerie, Zoé und Konsorten liebgewonnen und möchte wissen, wie… ob… wann…

Aber die Bischof Gilliérons schaffen es auch ohne mich, glücklich zu werden. Alle nach ihrer Fasson. So glücklich, wie man eben sein kann, wenn man mit dem Träumen aufhört und das Leben anpackt.

Generation Z, wie Zukunft: Apokalyptiker sind besonders unsympathische Moralisten.

I. Wochenendstress

1

Ein unerwartet hereingebrochener Gewitterregen prasselte heftig gegen das Küchenfenster. Unerfreuliches Wetter, dazu die Alltagsroutine – aber immerhin Freitagmorgen.

Valerie hatte entscheidende zwei Minuten Vorsprung: Ihre Mutter war noch mit Brot schneiden beschäftigt, aber die Riesentasse mit kitschigen Katzenbildchen stand schon auf der Spüle bereit. Bestimmt hätte Mama gleich wieder – Macht der Gewohnheit – Caotina hineingelöffelt, heisse Milch aus der Kaffeemaschine aufgefüllt und guten Appetit gewünscht.

‘Tee!’ hätte sie Mama angeblafft. ‘Merke dir das endlich – ich bin kein Baby mehr. Ich trinke jetzt Grüntee zum Frühstück!’ Mit Schwung wäre der Kakao im Ausguss und der frühmorgendliche Frieden wieder einmal im Eimer gelandet. Einer der zahlreichen Gründe, sich sinnlos zu streiten. Ob ihre beste Freundin Jasmin magersüchtig sei oder vielmehr Valerie selbst ein paar Pfunde abspecken sollte, war ein anderes leidiges Thema.

Hätte. Wäre. Heute schwiegen sie beide friedlich im Halbdunkel, während der Vater sich seinen Espresso aufbrühte. «Noch im Reich der Träume, Riri?» meinte er mit spöttischem Lächeln und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

«Bestimmt nicht. Hör endlich auf mit diesem doofen Kosenamen. Ich bin nicht mehr im Kindergarten», zischte sie ärgerlich. Auch dieser Punkt gehörte zum rituellen Familiengezänk. Der Vater nahm es diesmal gelassen.

«Jaja, im zweiten Lehrjahr… mit erwachsenem Freund.»

Es sollte versöhnlich klingen, aber die Mutter fuhr dazwischen: «Pfff! Kuno Liebig und erwachsen! Ein oberflächlicher Herzensbrecher. Was findest du bloss an ihm?»

Valerie schob sich das letzte Stück Nussbrot in den Mund, ohne hineinzubeissen, und stand auf. «Och muosch losch», mümmelte sie und griff nach ihrer Schultertasche.

Drimmel war Mamas Lieblingsgezänk. Schlimmer als Body Shaming und verschmähter Kakao! Darauf wollte sie sich nicht einlassen, nicht jetzt. Die Mutter hatte sich bei den falschen Leuten über ihren Freund informiert, bei solchen, die ihn nur vom Hörensagen kannten. ‘Das ist eben ein Ou-Tschiii’, hatte Valerie den Ruf erklärt, der ihm vorauseilte. Es schien Mama nicht sonderlich zu beruhigen. ‘Original Gangster’!

Crazy, dass sie sich überhaupt begegnet waren. Mit Jasmin und Kollegen aus der Gewerbeschule war sie an einem Samstag kurz vor Mitternacht im ‘Samurai’ gelandet – einem Schuppen mit zweifelhafter Reputation, aber immer proppenvoll. Es ging das Gerücht um, schon ab halb eins tanzten die Frauen oben ohne und die Männer schütteten heimlich K.O.-Pulver in die Drinks der Hübschesten.

Valerie war weder auf das eine noch das andere erpicht. ‘Ach was! Wir wissen, was wir wollen, Jas. Wir haben Prinzipien’, hatte sie ihrer zögernden Freundin erklärt. ‘Siehst du, alles halb so wild.’ Angetrunkene, Kiffer, Kokser und primitive Anmache muss man in einer Grossstadt eben in Kauf nehmen – überall, wo Samstagabend der Bär los ist. Das schreckt doch eine bald Siebzehnjährige nicht davon ab, das Leben zu geniessen! Clean bleiben, hiess ihre Devise. No drugs! No Sex? Mal sehen. Schmusen, Fummeln und etwas mehr… das war easy. Alles andere wollte sie auch bald erfahren, aber es eilte nicht.

Bis an diesem Abend im ‘Samurai’ Drimmel mit seinem Clan auftauchte und den Stein ins Rollen brachte. Drimmel? Der seltsame Übername passte zur Aura als OG. Ein Quartierheld. Oder Quartierschreck – Ansichtssache. Er war zwanzig Jahre alt, muskulös und schlagfertig: ‘Sexy Chadface’, brüllte ihr Jasmin mit Kennerinnenblick ins Ohr. Einer, der Frauen zum Kreischen bringt. Oder seine Geschlechtsgenossen zum Parieren; er musste nur andeutungsweise die Faust ballen. Ein attraktiver Maulheld, laut und harmlos.

Der Zufall half der Neugierde. Valerie tanzte sich nach und nach in die Nähe des auffälligen Hünen und beobachtete ihn frech. Tätowierte Brust mit knappem Athletikleibchen, geile Haartracht – unten rundum rasiert, oben getrimmter Urwald! Vielleicht wäre sie vorher doch besser bei Cola Zero geblieben, statt sich vom Kollegen zu einem Gin Tonic überreden zu lassen. Schluss damit! hämmerte sie sich in Erinnerung.

Vielleicht lag es weniger an ihrem Alkoholkonsum als an Drimmel selbst; vielleicht hatte der gerade seine Tage, kicherte Jasmin auf dem Nachhauseweg. Doch, er machte den ersten Schritt, da gab es nichts zu deuteln. Als er sich vor ihr aufbaute, lächelte sie zurück. Klar doch, pure Höflichkeit. Ausgerechnet in diesem heiklen Moment dämpfte der DJ die hämmernden Bässe und liess sphärischen Sound durch die Halle wimmern. Drimmel legte seine Arme um ihre Taille, und Valerie den Kopf an seine Schulter. Klassische Verkettung unglücklicher Umstände, hätte Valeries Chef gesagt, aber an den dachte sie gerade nicht.

Überhaupt dachte sie gerade nicht viel. Drimmel roch gut, typisches Männerparfum – gepflegter als erwartet. Er griff kräftig zu, ohne übergriffig zu werden. Sein Dreitagebart kitzelte vielversprechend ihre Wange. Später sassen sie in einer Chill-Ecke und küssten. Wenn die Verkettung einmal angefangen hat…

So begann das mit Drimmel und Valerie. Als sich in ihrem Hirn der Nebel aus Alkohol und Hormonen nach und nach zu lichten begann, schalt sie sich eine naive Pute, stand etwas unsicher auf und dachte, das sei es wohl gewesen. Drimmel, nebst einem Maul- auch ein Frauenheld und über drei Jahre älter: Es konnte sich nur um einen ärgerlichen Irrtum handeln. Sicher erlaubte er sich gern einen Spass mit einer, wie er dachte, naiven Lehrtochter. Vali, du bist clean und vernünftig! Du beginnst nichts mit einem Kerl, der sich eine Weile mit dir und über dich amüsiert, bevor er dich wegen einer dummen Kuh mit künstlich blondierter Mähne und silikonverdächtigem Busen versetzt! Von so einer liess er sich nämlich nun auf die Tanzfläche zurückschleppen. Fast war sie ihr dankbar für den Liebesdienst. Fast.

Ja, sie hatte Drimmel zunächst genauso eingeschätzt, wie es jetzt ihre Mutter irrtümlicherweise tat. Mütter sind unbelehrbar, Lernende logischerweise lernfähig. Meistens.

2

Valeries Freitag hatte ordentlich gut begonnen, aber besser als andere Freitage war er auch nicht. Von einer angehenden Zeichnerin EFZ Architektur in einer mittelgrossen Firma wurden Motivation und Qualität erwartet, selbstverständlich auch kurz vor dem Wochenende.

‘Du wagst dich als Mädchen an eine Bauzeichnerstifti? Alle Achtung!’ Die alte Bezeichnung klebte ihr an den Sohlen wie alle übrigen Vorurteile. Die Lehrfirma war tatsächlich eine männlich dominierte Welt. Unterdessen im zweiten Lehrjahr, bemerkte sie es kaum noch. Nur auf den Baustellen, wenn sie ab und zu eine besuchen durfte, fühlte sie sich etwas fehl am Platz.

Sie hatte gewusst, worauf sie sich einliess. Das Gymi kam nicht in Frage; als gute Sekundarschülerin hätte sie die Aufnahme zwar problemlos geschafft. ‘Da bin ich bis fünfundzwanzig noch immer von den Eltern abhängig’, hatte sie dem Berufsberater geklagt. Architektur könne sie auch später an einer Fachhochschule studieren, meinte er, und schlug die Lehre mit Berufsmittelschule vor. Bingo! Fünfzehn Bewerbungen später konnte sie sogar die Stelle auswählen.

Jasmin besuchte eine Hotelfachschule, eine zwanzigjährige Nachbarin steckte in der Ausbildung zur Krankenschwester, und eine Cousine mütterlicherseits arbeitete als Kleinkinderbetreuerin. Valerie war mächtig stolz, sich von diesen typischen Frauenberufen zu emanzipieren. Locker nehmen! Sich durchbeissen! hiess die Devise.

Heute war einer der Tage, sich daran zu erinnern. Kaum hatte sie sich hingesetzt, stand ausgerechnet Bernhard Oberli neben ihr und wedelte mit einer Planskizze. Oberli war der unsympathischste im Team. Als einziger machte er in ihrer Gegenwart absichtlich sexistische Witze und berührte sie immer wieder ‘ganz zufällig’. Vielleicht sollte sie es einmal dem Chef melden, aber Valerie war keine Snitch und hatte eigene Krallen. Dass sie sich nicht auf der Nase herumtanzen liess, hatte sich in der Firma rasch herumgesprochen.

Auch heute Morgen stellte er sich dichter als nötig hinter ihren Bürostuhl, um wortreich zu dozieren, was sie eigentlich schon wusste. Immer wieder zeigte er mit dem Finger auf den Bildschirm und streifte dabei ihr Haar. «Das ist kein Touch-Screen, Bärni!» sagte sie seelenruhig. «Ich auch nicht. Also: Pfoten weg!»

Er rückte knappe zehn Zentimeter ab und beendete rascher als erhofft seine Einführung. «Dann schau eben selbst, wie du damit zurechtkommst, Prinzessin!» meinte er pikiert. «Bevor das fertig ist, gehst du heute nicht nach Hause, verstanden?» Valerie hätte ihm am liebsten eine geklebt, aber sie blieb Frau der Lage und lächelte ihn so entwaffnend an, dass er brummelnd nachschob: «Schon gut, das schaffst du locker, du Ass!»

«Bärni!» rief sie ihm nach. Alle im Grossraumbüro konnten es mitbekommen. «Du solltest mal ein neues Rasierwasser ausprobieren! Mein Grossvater hat es auch gewagt und ist begeistert.» Er sollte sich auch die morgendliche Dusche angewöhnen, aber das behielt sie für sich. Richtig dosieren, hiess das Erfolgsrezept. Hinter einigen Bildschirmen erschallte verhaltenes Gelächter.

In der Mittagspause holte sie sich nur rasch ein Sandwich und chattete im Pausenraum eine Weile mit Jasmin. Dann meldete sich Drimmel, und sie verabredeten sich für den Abend.

Ein paar Tage nach der ersten Begegnung im ‘Samurai’ – sie hatte den kurzen Flirt schon beinahe vergessen – sprach sie im Korridor der Gewerbeschule eine Unbekannte an. Auffälliges Girl. Ein bisschen Gothic, aber sorgfältig gestylt. Modelmasse. ‘Du bist Valerie, stimmt’s? Ich bin eine Verflossene von Drimmel’, ging sie ohne Umschweife auf das Thema los und lächelte vielsagend.

Sie lasse sich nicht für blöd verkaufen, blaffte Valerie zurück und wollte sie stehen lassen. Aber die Grosse lief ihr hinterher wie ein Hündchen. ‘Hör doch zu!’ Drimmel habe sich verliebt, Ehrenwort! Er sei völlig durch den Wind.

Valerie spielte die Spröde, aber ihre Neugierde war geweckt. Schliesslich notierte sie sich seine Handynummer. Sie überlege es sich, wiegelte sie die Kupplerin ab. Ihre eigene Nummer rückte sie wohlweislich nicht heraus.

Eigentlich hatte sie Drimmel nur aus Jux eine Nachricht geschickt. Nach zwei Tagen Bedenkzeit, das schien ihr schicklich. ‘Beweise mir, dass du nicht nur ein egoistischer Macho bist. Vali.’ Jasmin hatte Tränen gelacht, und sie waren beide baff, als er sofort zurückschrieb. ‘Ok. ILU, gib mir eine Chance!’ Ein Herz setzte er auch noch hinzu, wie ein Softie…

Er meinte es ernst. Küssen! Schmusen! Im Haar wühlen! Händchen halten! Er akzeptierte das Softprogramm als Laune, wenn auch mit leisem Murren. Er sei sich nicht gewohnt, um Sex zu betteln… Exakt deshalb verhielt sich Valerie zickiger, als ihr selbst lieb war. Drimmel war umschwärmt, verwöhnt. Da musste frau auf die Bremse treten, um nicht gleich wie ein Poulet samt Haut und Knochen verspeist zu werden.

Immerhin prahlte er nicht mit früheren Sexgeschichten. ‘Ach was, du hast sicher auch schon eine Menge Erfahrung’, provozierte er, bis sie kleinlaut beichten musste: ‘Nein… Ich meine… nicht richtig.’ Sie kniff vor Scham die Augen zusammen.

Was sollte Drimmel an ihr interessant finden? Sie sei ein hübsches Mädchen mit viel Charme, hörte sie zwar immer wieder, aber neben Jasmin fühlte sie sich bestenfalls Durchschnitt. Mit eins siebzig war sie gerade gross genug, um Drimmel ohne extreme Verrenkungen zu küssen. Ihre Figur: normal… Mama nannte es schlank. Busen: Gross genug, um einen normalen BH zu rechtfertigen. Po: Geschmackssache, ein Tick zu wenig Knack. Haar: Irgendwas zwischen brünett und dunkelblond, mittellang, leicht gewellt. Mit ihrem Lehrlingslohn konnte sie sich weder Coiffeursalon noch Visagistin leisten. Jasmin hatte versucht, ihr das ABC des Make-ups beizubringen, aber sie war keine gelehrige Schülerin. Summa summarum: Warum verliebte sich einer wie Drimmel ausgerechnet in Miss Durchschnitt mit dürftigem Erotikquotienten?

Wenn es um Liebe geht, ist ‘warum’ die falsche Frage. Nun waren sie also ein Paar. Dieser Status hatte ihren Bekanntheitsgrad auf wundersame Weise gesteigert. Immer wieder wurde sie auch von Leuten angesprochen, die sie kaum kannte: ‘Was, du bist jetzt die Freundin von Drimmel?’ Oder: ‘Du bist doch Vali, die Freundin von…’ Ehrfürchtig die einen, verwundert die anderen. Zürich ist nicht gerade ein Dorf, wie einige behaupten. Aber ein lautstarkes Alphamännchen ist bei Gleichaltrigen im Handumdrehen weit herum bekannt.

3

Halb fünf! Valerie lehnte sich, Arme hinter dem Nacken verschränkt, auf ihrem Bürostuhl zurück. Die Dokumente hatte sie soeben auf den Server verschoben und Oberli eine knappe E-Mail mit dem Link geschickt. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe – wollte sie, besser gesagt. Sie hatte die dumme Gewohnheit, sich im Sitzen die Treter abzustreifen und achtlos mit den Füssen damit herumzuspielen, bis sie ausser Reichweite landeten. So endete auch der heutige Arbeitstag mit dem erniedrigenden Schauspiel, sich unter das Pult zu quetschen und nach ihren Sneakern zu suchen.

Das Tram war wie üblich proppenvoll. Freitag spätnachmittags gebärdeten sich die Oberstufenschüler noch aufgeregter, Männer starrten nach dem Feierabendbier noch unverschämter auf ihr T-Shirt, und die Grossmütter versperrten nicht bloss mit den Buggys ihrer Enkel die guten Stehplätze, sondern belegten mit prallen Einkaufstüten auch rare Sitze. Ihre frühere Schulfreundin Iris, nun mässig motivierte Gymnasiastin, hatte sich nach einem knappen ‘Hi, Vale’ neben ihr mit dem Handy mental eingeigelt und blieb wortkarg. Valerie erzählte Belangloses – ahnend, dass sie sich geradesogut mit dem hechelnden Schäferhund hätte unterhalten können, der sich seit dem Bellevue zwischen ihre Beine quetschte. ‘…ühüss’, antwortete Iris, ohne aufzublicken, als Valerie ihr ‘schönes Weekend’ wünschte und am Bahnhof Enge umstieg.

Die Eltern waren noch nicht von der Arbeit zurück. Sie genoss es, die Wohnung für sich allein zu haben, duschte und paradierte eine Weile splitternackt vor dem grossen Spiegel. So also sah eine aus, die Männer wie Drimmel attraktiv finden… Es war angenehm, begehrt zu werden, aber, ehrlicherweise sei es gesagt: Männer wie Drimmel treiben eine aufgeweckte Frau wie Valerie immer wieder an den Rand des Wahnsinns. Angeblich aus Liebe… was bekanntlich auf ‘Triebe’ reimt.

Einen herben Vorgeschmack darauf erhielt sie bei jenem frühen Date, als sie ihre Sexerfahrung – Nichterfahrung! – beichten musste. ‘Jungfrau’, hatte er ehrfürchtig gestammelt und sie so sanft an den Schultern angefasst, als wäre sie aus Porzellan. ‘Das hatte ich noch nie!’

Jungfrau… Für Drimmel war es ein Ehrentitel – Ehre für den Mann, allerdings. Was für ein Unsinn! Seine Begeisterung passte ausgezeichnet zum übrigen Sammelsurium an Machofantasien, das er in intimen Momenten ausführlich vor ihr ausbreitete. Dreamworld, nannte es Valerie mit spöttischem Unterton. Nun hatte er eine Mission, die kurzfristig alles andere in den Schatten stellte: Sie ‘zur Frau zu machen’!

‘Du bist ein sexistisches Arsch!’ hatte sie ihn entsetzt unterbrochen und ihm spontan eine geklebt. Die Frau als Erzeugnis der männlichen Penetration: Wie abscheulich! Eine Frau ist eine Frau, dazu braucht sie keinen Penis, der sich einredet, ihr einen Gefallen zu tun… und dabei vor allem sich selbst verwöhnen will.

Er war zu Tode erschrocken über ihre wütende Gardinenpredigt. ‘Ich freue mich doch bloss, dein erster richtiger Partner zu werden. Wieso ist das patriarchisch?’ gab er in beleidigtem Tonfall zurück.

So töne es schon besser, hatte sie huldvoll eingelenkt und darauf verzichtet, ihn auf das fehlende ‘al’ hinzuweisen. Es komme eben nicht nur darauf an, was man meine, sondern auch, wie man es sage… Übrigens freue er sich zu früh – noch seien sie nicht so weit.

Er hatte geduldig genickt und sich sogar entschuldigt. Wahrscheinlich sind sexistische Männer meistens nicht böse, sondern dumm. Das war leider keine erfreuliche Erkenntnis. Denn: ‘Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen’, pflegte Grossmutter zu sagen.

Gegen Überreagieren offenbar auch nicht, und das war Valeries Markenzeichen. Auch damals, als er sie zum ersten Mal zu sich nach Hause und in sein Zimmer lotste, seine Hände ohne Vorwarnung unter den kurzen Sommerrock gleiten liess und das Höschen nach unten zog. ‘Übergriff! Ich habe dir nichts erlaubt!’ bellte sie in an und haute ihm den Slip um die Ohren.

Auch da reagierte er reumütig, aber diesmal liess sie ihn mit seiner Frustration allein auf der Bettkante sitzen. Die anschliessende Flut flehender WhatsApp Botschaften bestätigten, was sie schon längst ahnte: Sie hatte ihn in der Hand. So machte die Liaison mit einem Vorstadtcasanova richtig Spass.

Sie wollte trotzdem kein böses Mädchen sein. Freitag und Samstag blieb sie meistens bei ihm über Nacht, aber sie schliefen nebeneinander, nicht miteinander. Vorher erlaubte sie ihm jedes Mal eine neue, kleine Freiheit – all die Dinge, die sie auch schon bei früheren Bekanntschaften ausprobiert hatte: Brüste auspacken, Nippel küssen, Po massieren. Über kurz oder lang durfte er überall fummeln, aber: ‘Der Slip bleibt an!’ Eiserne Regel.

Der ihre, relativierte sie in einer nächsten Nacht, denn, wie sie kichernd nachprüfte, drohten bei seinem die Nähte zu platzen. Also liess sie Gnade walten und nahm die Sache in die Hand, zwei Wochen später auch in den Mund. Dabei stellte sie sich absichtlich unbedarft und linkisch an, damit Drimmel glauben musste, er sei der Erste, dem sie solche Extras gönne. Sie war richtig stolz auf ihre schauspielerischen Qualitäten.

‘Geil, wie rasch du das alles lernst!’ Gut für sein Ego. Gut für ihre Verzögerungstaktik.

Doch, es machte Spass mit Drimmel. Mehr allerdings auch nicht. Die letzten Geheimnisse, die frau über den Sex mit Männern erfahren und spätestens mit dreizehn dank Internet in passabler Auflösung mitangesehen hat, würden sie über kurz oder lang zusammen in die Praxis umsetzen. Sie hatte es längst entschieden, aber liess sich nichts anmerken. Noch nicht.

Denn auch das würde sie im entscheidenden Punkt nicht weiterbringen: Bei drei oder vier der Jungs, mit denen sie jeweils ein paar zauberhafte Wochen lang Hand in Hand gegangen war und mehr, hatte sie Verliebtheit gespürt. Hinreichend, um ein paar Tränchen zu verdrücken, sobald sie ihr den Laufpass gaben. Oder sie ihm, wegen einem idiotischen Streit. Einmal ertappte sie den Ex schon drei Tage später dabei, wie er eine Neue küsste. Da gönnte sie sich sogar ein bisschen Eifersucht.

Mit Drimmel vermisste sie dieses Pochen in der Brust. Dass er eines baldigen Tages wieder mit einer gepiercten Rachegöttin wie seiner Verflossenen herumturteln könnte, bescherte ihr keine Albträume. Trotzdem: Den ersten Sex mit einem erfahrenen Mann zu wagen, konnte nichts schaden. So wäre sie, beruhigte sie ihr Gewissen, bereit für die grosse Liebe, sofern sie je bei ihr anklopfen sollte.

Unterdessen spielte sie weiterhin die Unentschlossene. Wenn er einmal sein Ziel erreicht hatte, würde er rasch das Interesse verlieren. Es wäre die einfachste Lösung für beide. Dass er mit einem Ring hinkniete und anschliessend aus Kummer von einer Klippe sprang, weil sie ihn zurückweisen musste, war die tragischste und unwahrscheinlichste. Dazwischen blieben zahlreiche zeitverschleissende und nervtötende Varianten, die sie sich auszumalen die Mühe nicht machte.

Drimmel zu ‘drimmeln’, wie es ihr gerade passte, war ein hübscher Zeitvertreib, aber kein zukunftsfähiger Plan. Zukunftsfähig! Ein Lieblingswort ihres Chefs. Sie merkte sich solche Phrasen. Es tönte erwachsen, wenn man sie benutzte. Nur Papa schmunzelte dann so unverschämt, dass sie trotz allem lachen musste.

4

Sie angelte sich im Kühlschrank eine Packung Mortadella, ein Weichselkirschen-Joghurt und die Magermilch. Noch immer trug sie bloss den Slip. Drimmel wollte sie in zwei Stunden abholen, da blieb ihr noch viel Zeit, um über die passende Garderobe nachzudenken. Die knallenge Jeans? Ein Mini? Oder die weite Schlabberhose aus bequemem Baumwollstoff mit den blauen Streifen? Der schwarze BH, der zum Höschen passte, war gesetzt: Bloss ein billiges Produkt aus dem H&M… Keine Sorge, Drimmel bemerkte so etwas nicht. Er sah nur den sexy Spitzenbesatz.

«Was ist das für ein Tenue? So warm ist es doch heute gar nicht!» weckte sie der Vater aus ihren Gedanken und schnappte sich die letzte Scheibe Mortadella. «Da willst du dich kalorienbewusst ernähren, und dann solche Naschorgien vor dem Abendessen! Vom Klima nicht zu reden.» Er gab ihr einen freundschaftlichen Klaps.

«Ich bleibe nicht zum Essen», stellte sie klar und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Dabei drückte sie absichtlich ihren Busen gegen seinen Oberarm. Er tat sich in letzter Zeit etwas schwer mit ihrer Nacktheit. Wenn er dann verlegen wurde, amüsierte sie sich köstlich. An Mama störte er sich auch nicht, wenn sie mal im Slip herumlief! Überkorrekt, ihr Vater. Immer freundlich und verständnisvoll, aber auch so seriös und pingelig! Er dürfte ihr ab und zu ein Kompliment machen.

«Dann haue aber nicht zu sehr auf den Putz im Ausgang!» Er nahm sie beim Kinn und schaute ihr streng in die Augen. Dabei ging er unauffällig auf Distanz.

«Wieso? Das tue ich doch nie!» Sie sah scheinheilig zu ihm auf.

«Weil wir morgen um halb zehn an den Genfersee fahren. Bloss als Warnung, falls du wieder bei deinem Freund übernachtest.»

«Shit! Ich dachte, dieses Family Weekend sei erst in einer Woche? Wir wollten doch Samstagabend ans Quartierfest!»

Eigentlich war es ein Grund zur Freude. Ihre Tante hatte einen reichen Waadtländer Winzer geheiratet und lud einmal jährlich die ganze Familie zu einem gemeinsamen Wochenende ein. Das ehemalige Gutshaus hatten sie in ein schickes Boutique-Hotel verwandelt. Die Cousinen dürften sich diesmal die luxuriöse Suite mit eigenem Whirlpool teilen, hatte in der Einladung gestanden!

Zu dumm, das Datum zu verwechseln; Drimmel war in solchen Dingen kleinlich. Vor allem würde er ihr, dessen war sie sicher, für den erzwungenen Verzicht auf den gemeinsamen Samstagabend und die anschliessende Nacht Schadenersatz abtrotzen.

Er maulte wie erwartet, als sie ihm kleinlaut die Programmänderung beichtete. Kleinlauter als beabsichtigt. Vielleicht war es das, was ihn verhältnismässig gnädig stimmte. «Diese Nacht bleibst du aber bei mir? Das bist du mir schuldig!»

Valerie hatte nichts anderes vorgehabt, zierte sich jedoch aus taktischen Gründen noch ein wenig, bis sie huldvoll einwilligte.

Erst gingen sie ins Kino. Den Film fand sie unterirdisch – ein uninspirierter Action-Fetzen mit nervöser Szenenfolge, als würde jemand durch das Programm zappen. Drimmel fand ihn Spitze und grölte vor Lachen. Die Stimmung war aufgeräumt – die halbe Clique war mit von der Partie. Die Pause nutzten die jungen Leute für ihre Lieblingsbeschäftigung: Auffallen. Die Männer legten vor, und ihre Freundinnen zogen bewundernd und kreischend nach. Valerie schluckte den Ärger über den öden Abend und kuschelte sich zärtlich an Drimmel. Das machte ihn stolz, und sie konnte kritisch beobachten, statt das lächerliche Theater mitzumachen.

Die meisten Männer der Gruppe waren ungehobelte Kumpels. Sie passten glücklicherweise, wie Drimmel, ins Schema ‘Hunde, die bellen, beissen nicht’. Die idiotischen Sprüche waren selten gegen sie gemünzt, und keiner würde es wagen, sie zu belästigen. Die häufig wechselnden Begleiterinnen aber fand Valerie fast durchs Band unausstehlich – ordinär, eitel, einfältig, eifersüchtig. Wenn es ging, hielt sie Abstand.

So auch heute. Bis der falschen Blonde mit den künstlichen Wimpern nichts Besseres einfiel, als sie zu provozieren. Mit anzüglichem Grinsen zeigte sie auf Valeries hautenge Jeans: «Kompliment, dass du in diese Grösse gerade noch reinpasst. Ich an deiner Stelle würde aufhören mit dem Popcorn, sonst platzt gleich eine Naht.»

Valerie hielt den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen. «Noch erstaunlicher finde ich, dass eine Ziege wie du eine gut gepolsterte Kamelklaue zur Schau trägt.» Wer nicht ganz durchtrainiert ist und Leggins im Body-Shaping-Stil trägt, sollte aufpassen, wen er verspottet…

Die Männer grölten, Drimmel regte sich auf – unnötigerweise, fand sie – und machte die Blonde mit seinen Sprüchen zur Schnecke.

5

An Abenden wie diesem überkam sie die Lust, den Stinkefinger zu zeigen, nach Hause zu gehen und Drimmels Chat in WhatsApp zu blockieren. Wie immer ebbte der Frust rasch wieder ab, und sie langweilte sich standhaft durch den zweiten Teil des Films.

«Spiel dich doch nicht immer so auf», sagte sie im Tram und kraulte Drimmel dabei die behaarte Brust. Eine Warnung war angebracht. «Mit einer wie Eliza werde ich allein fertig. Wer hat diese aufgeblasene Kuh aufgegabelt: Raschi? Richte ihm aus, er verdiene Besseres!»

«Du hast recht, Vali. Du bist eben ein Glücksfall.» Er küsste und drückte sie kraftvoll an seine Brust; es fühlte sich gut an. So wenig, wie er ein Macho, war sie ein anlehnungsbedürftiges Schätzchen. Aber genauso sahen sie aus! Er wollte es so, und sie spielte mit. Welche Schande.

Valeries Nerven wurden schon wieder auf eine harte Probe gestellt: Drimmels Mutter wollte ihnen unbedingt den neuen Freund vorstellen. Sie nötigte die beiden jungen Leute ins Wohnzimmer und füllte zwei Gläser. Dabei wusste sie doch, dass Valerie Wein nicht mochte.

Wanda war neunzehn, als sie Kuno zur Welt brachte. Ihre Eltern, spanische Arbeitsmigranten, waren kurz vorher wieder in die Heimat zurückgekehrt. Drimmel kannte sie genauso wenig wie seinen Erzeuger, der die junge Büroassistentin geschwängert hatte. Sie sei damals eben ein blauäugiges Flittchen gewesen, hatte sie schon bei der ersten Begegnung freimütig geplappert. Daran hatte sich auch mit Neununddreissig nicht viel geändert; ihre neuste Eroberung war mindestens Nummer drei, die Valerie kennenlernen durfte. Dass Kuno ein Einzelkind geblieben war, lag eindeutig an der Pille und kaum an Wandas Zurückhaltung.

Drimmel verehrte seine Mutter, aber misstraute ihren Liebhabern. Letzteres durfte er, wegen ersterem, nur zugeben, wenn sie nicht zuhörte. ‘Wanda ist eine wunderbare Frau, bloss viel zu gutherzig’, nahm er sie in Schutz. Nun, da er soeben mit Ach und Krach die Lehre als Automatiker abgeschlossen hatte, war endlich das letzte Band weggefallen, das ihn mit ‘dem alten Liebig’ verband: Die Alimente. Den Nachnamen würde er auch noch loswerden, prahlte er: Per Heirat! ‘Eine Miss’, schlug Valerie vor, und grinste wie der Breitmaulfrosch, ob Drimmels Begriffsstutzigkeit: ‘Miss-Liebig!’

Mama Bischof hatte Drimmel umgehend zum Brunch eingeladen, als Valeries neue Beziehung ruchbar wurde. Weniger aus Gastfreundschaft, denn aus Neugierde. Und Misstrauen. Er gab sich grossspurig, die Eltern blieben übertrieben freundlich, und Valerie spielte die rettungslos Verliebte. Papa lobte anschliessend seine Tochter halbherzig für ihre Vorurteilslosigkeit, während Mama den Albtraum aller Schwiegermütter in der Luft zerriss.

Überraschungsgäste zum Frühstück lehnte Mama Bischof kategorisch ab. Das wusste Valerie, seit sie vierzehn war. Damals fand sie das okay. Nach Drimmels unseligem Besuch hatte sie aber aufbegehrt: ‘Du findest es normal, dass ich mit Jungs zusammen bin. Wo denn, bitte, soll das passieren?’ – ‘Schick ihn spätestens um Mitternacht nach Hause, so gehört sich das in deinem Alter!’ – ‘Spinnst du? Da sind wir doch noch in der Disco!’

Der Vater war pragmatischer. ‘Na dann eben bei Kuno. Aber nur am Wochenende. Sonst flippt deine Mutter aus.’ Das war akzeptabel. Zweimal ‘drimmeln’ pro Woche reichte ihr vollkommen, und dass Samstagnacht diesmal ausfallen sollte, machte sie auch nicht traurig.

«Gehen wir heute einen Schritt weiter?» Drimmel wiederholte die Frage, die er ihr schon im Kino zugeflüstert hatte. Actionfilme haben auch ihr Gutes – das Getöse war gerade so gross, dass er ihre Antwort ohnehin nicht verstanden hätte. Nun aber musste sie sich entscheiden. «Nein, nicht heute. Nicht an einem Freitagabend. Nicht nach dem Ärger im Kino.»

Er witterte trotz der Zurückweisung Morgenluft. «Du bist also endlich einverstanden? Ich darf dein Erster sein?»

Shit, sie hatte sich verplappert. «Habe ich etwas Derartiges gesagt? Na gut, wenn du es so verstehst… vielleicht. Irgendwann. Ich entscheide!»

Drimmel gab sich zufrieden. Fast. «Den Slip könnten wir doch heute schon mal weglassen!» bettelte er. «Kein Sex, Ehrenwort!» Er hatte sich schon vorsichtig beklagt, sie kriege beim Fummeln nie einen Orgasmus – was stimmte, sie aber nicht weiter beunruhigte. ‘Sehr geschickt stellst du dich mit deinen fahrigen Fingern nicht an!’ hatte sie ihm letzten Samstag an den Kopf geworfen. Ehrlichkeit in einer Beziehung sei unerlässlich, hatte ihr Mama mehrmals eingeschärft.

Ach so, das war nun das Resultat. «Wenn du mich richtig verwöhnen möchtest…» Es sollte gelangweilt klingen. Insgeheim fühlte sie ein anregendes Prickeln, denn was sie erwartete, war Neuland. «…dann zeig es mir eben», lockte sie schliesslich und griff sanft dorthin, wo Drimmel es besonders mochte. «Gefühlvoll, ja?»

«Bestimmt will ich das, es macht mich geil!» erklärte er mit verdrehten Augen und rauer Stimme.

‘Männer sind Egoisten’, war Freundin Jasmin überzeugt. Drimmel war selbstverständlich keine Ausnahme.

6

Valerie hatte es noch rechtzeitig geschafft, den kleinen Rollkoffer für das Wochenende zu packen. Die Wolken begannen sich zu verziehen, noch bevor Familie Bischof in die Abgründe des Zürcher Hauptbahnhofs eintauchte. Die Wetterprognose für die Westschweiz liess hoffen.

«Du freust dich eben doch!» sagte der Vater zufrieden und genoss, dass sich sein grosses Mädchen, wie er sie gerne nannte, fast zärtlich an ihn schmiegte.

«Bestimmt mehr als ihr beiden», gab sie zurück.

Mama lächelte maliziös. Sie vermied offenen Zank, drehte aber jeweils ihre Schwägerinnen, Schwäger und Valeries Cousinen auf der Rückfahrt umso schonungsloser durch die Mangel. Unter den Geschwistern Bischof war der Frieden brüchig. Die Familientreffen waren trotzdem, aus Respekt vor den Grosseltern, bisher nie aus dem Ruder gelaufen.

«Fall nicht auf diese Zärtlichkeiten rein, Stefan, du bist nur der Platzhalter für Kuno», spielte sie auf Valeries Charmeoffensive an. Die zog eine beleidigte Schnute, verkroch sich in die Fensterecke des Viererabteils, blockierte den gegenüberliegenden Sitz mit ihren nackten Füssen und widmete sich dem Smartphone.

Die erwartete Reaktion liess nicht lange auf sich warten. «Wenn du doch nicht die Landschaft betrachtest, könntest du vielleicht deinen Fensterplatz tauschen?» Sie wies auf ihre Kopfhörer: Keine Sprechstunde.

Isabelle holte sie am Bahnhof ab. Mit gut zwanzig Jahren war Isa die älteste der Cousinen – Eleganz wie aus dem schicksten Modekatalog, heute im Hosendress und mit Perlencollier, das nicht nur aussah, als wäre es echt.

«Wow! Tu es canon!» begrüsste der Vater seine Nichte mit gemütlichem Limmatakzent. Valerie verkniff ein Grinsen. Ihr Französisch war zwar auch nicht das Beste, aber bestimmt hatte er das Sätzchen vorher gegoogelt! Während er Isabelle die drei ortsüblichen Küsschen auf die Wangen drückte, blinzelte er seiner Frau vielsagend zu.

Valerie fühlte sich gleich einen Tick normaler als sonst: Stinknormal. Isa hatte sie noch als lautstarke Anführerin des Cousinen Clans in Erinnerung; nun war die vornehme Dame mit nonchalant in die Stirn geschobener Sonnenbrille kaum wiederzuerkennen. Studentin der Betriebswirtschaft: Das passte zum grossen schwarzen Mercedes, mit dem sie die ‘drei Zürcher’, wie sie von der Familie genannt wurden, zum Anwesen am See chauffierte… Und es kam noch dicker: Kaum hatten sie knirschend auf der kiesbedeckten Vorfahrt der modernen Villa angehalten, stellte sie ihren neuen Freund vor. «Christophe, doctorand à l’EPFL.» Sieht aus wie dreissig und Kronprinz, dachte Valerie halb ehrfürchtig, halb abschätzig, und wagte kaum, seine Küsschen zu erwidern.

Die anderen angereisten Familien - Onkel Lorenz, seine Frau Maud, Tante Daniela mit Jürg und die Grosseltern – waren schon auf der Terrasse beim Apéro. Zoé, die jüngere ‘Genfersee Cousine’, winkte von der Türe, begrüsste Valerie mit herzlicher Freude und punktete mit leidlichem Deutsch. Sie wirkte nicht so blasiert, aber genauso souverän wie ihre Schwester. Dabei war sie sogar ein paar Wochen jünger als Valerie! Ihr modisches Strandkleid verriet auf den ersten Blick die Liga, in der sie spielte. Das war schon immer so gewesen und hatte sie nie besonders gestört. Warum bloss fühlte sie sich diesmal wie eine streunende Katze, die sich in eine Aufzuchtstation für reinrassige Maine Coon verirrt hat? Wo war ein Schlupfwinkel zum Verkriechen?

Zoé schien ihre Verlegenheit nicht zu bemerken. «Bist du sehr hübsch heute, ma Cousine!» Mit strahlendem Lächeln hängte sich bei ihr ein.

«Puh, wenn ich euch zwei anschaue… Isa sieht ja aus wie eine Direktorin!»

«Ist sie schon fast. Sie wird später übernehmen das Weingut», plauderte Zoé aus dem Nähkästchen. «Ihr Freund kommt von französischer Domaine. Riesiges Château an der Côte d’Or, mit Fontänen im Park und Pfauen! Wir hier haben eine demeure modeste, im Vergleich…»

Also doch: Erbprinz! Valerie wurde schwindlig. Sollte sie von der muffigen Dreizimmerwohnung erzählen, wo Drimmel wohnte?

«Hey, Vali! Lange nicht mehr gesehen!» Die beiden Berner Cousinen erlösten sie. Umarmung, Küsschen. Laura war erst vierzehn, gab sich betont erwachsen und kokettierte unverschämt mit weiblichen Formen. Lieblingscousine Lia war die Alte geblieben. «Kommt schon», drängte sie. «Wir gehen wieder an den Strand, der See ist ganz warm!» Valerie angelte sich Bikini und Badetuch aus dem Köfferchen und liess sich noch so gern entführen.

Im Vorbeigehen erhaschte sie einen kurzen Blick auf das ehrwürdige Manoir, das behäbige Herrschaftshaus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert – ein imposanter dreistöckiger Bau mit zwei wuchtigen Portalen aus Sandstein, ebensolchen Fenstereinfassungen und je einem bulligen Eckturm zur Strassen- und Seeseite. Nur vom Park her einsehbar war der topmoderne, langegezogene Erweiterungstrakt im Westen: Über eine gläserne Passage verbunden und doch optisch getrennt, erinnerte er an ein elegantes Schiff, das mit dem Heck am Gutshaus angelegt hatte.

Ihre avantgardistische Privatvilla mit den grosszügigen Fensterfronten hatten Onkel und Tante Gilliéron vor fünfzehn Jahren auf der Ostseite des grossen Grundstücks bauen lassen. Entlang der Zufahrt, die durch ein majestätisches Gittertor von aussen knapp einsehbar war, standen hohe Bäume, dafür bot sich auf der Südseite ein atemberaubender Blick auf den Léman und die Küste von Hochsavoyen. Nach Osten begrenzte das geräumige Bootshaus den Privatstrand, gegenüber trennte eine hohe Hecke den Garten vom Park des Manoir. Weiter westlich reichte ein Maschendrahtzaun mindestens ein Dutzend Meter in den See. ‘Privé’, warnten zahlreiche Tafeln.

Grösse und noble Anmutung des Orts wirkten faszinierend und zugleich befremdend. «Crazy, das hier…» Valerie deutete vage in die Runde und legte den Arm um Cousine Lia. «Seestrände sollten eigentlich nie privat sein…» Noch nie hatte sie so widersprüchlich empfunden, obschon sie weit über ein Dutzend Mal hier gewesen war.

Die Bernerin gab sich unbeeindruckt. «Die sind eben steinreich. Schau nur die Brötchen, die Zoé gebracht hat!» Sie mampfte und leckte sich die Lippen. «Schweineteuer, das Zeugs.»

«Du meinst die Parfait-Schnittchen?» Valerie probierte eins. «Die macht Mama auch, wenn wir Besuch haben.»

«Parfait! Du bist vielleicht gut! Foie Gras, das kennt ihr Öko-Fundis natürlich nicht. Zu wenig tierfreundlich, die Entenleber. Aber mhmm!»

Valerie gab ihr recht, hielt sich dann aber doch lieber an Rohschinken und Trüffelmousse. War die wohlbekannte, unbeschwerte Vali heute in Zürich geblieben? Lag es an ihrer Ausbildung, dass sie schicke Bauten mit anderen Augen sah als früher? Oder an Drimmel, der so gar nicht hierher gepasst hätte?

‘Jaja, die Gilliérons… reiche Leute.’ hatte sie Vaters Stimme im Ohr. ‘Aber wir haben es besser’: Mama. Hatten sie recht? Ein Wochenende im Märchenreich durfte man sich doch leisten. Steckte in der Foie Gras womöglich eine Substanz, die süchtig machte nach mehr?

7

Die Wetterprognose hielt Wort: Das Waadtland freute sich über einen angenehm warmen, sonnigen Tag ohne Hitze. Die vier Mädchen faulenzten schon eine Weile im Halbschatten einer riesigen Kastanie. Simon, der einzige Cousin und wie Valerie ein Einzelkind, plünderte die Reste im Picknickkorb. Isa blieb zum späten Lunch bei den Erwachsenen auf der Terrasse. Valerie hatte sich dort nur kurz für die obligate Begrüssungsrunde gezeigt. Die Grosseltern versuchten vergeblich, sie eine Weile zurückzuhalten.

«Gehen wir? Ist es lustiger an der Plage publique, kommen sicher Kollegen vom Gymnase», schlug Zoé vor. Die öffentliche Badi kannten sie schon von früheren Besuchen; sie grenzte direkt ans weitläufige Grundstück mit dem Manoir und war, trotz nahem Saisonende, sehr gut besucht. Schon nach wenigen Minuten umringte eine laute Gruppe Altersgenossinnen und Altersgenossen die drei ‘Grossen’. «Kann sie jetzt plötzlich ganz gut Französisch, avec les mecs», amüsierte sich Zoé über Lia und zog Valerie beiseite.

Zu behaupten, die beiden fast gleichaltrigen Cousinen Bischof und Gilliéron seien Freundinnen, wäre eine dicke Übertreibung gewesen. Sie sahen sich zu selten und hatten nie einen direkten Draht gefunden. Heute aber war Zoé überraschend mitteilsam. Unversehens herrschte eine vertrauliche Stimmung. Angeregt plauderten sie über Schule, Berufslehre und die vergangenen Sommerferien. Dass sie viel besser deutsch spreche als früher, liege nicht nur am Gymnasium, sondern auch an den ‘deutschen Frauenkränzchen’ mit ihrer Mutter, erklärte Zoé. Valerie musste lachen, wie die welsche Cousine das sperrige Wort silbenweise zusammenschusterte.

«Für deine Schwester sind wir Cousinen offenbar nicht mehr standesgemäss, die spielt sich lieber bei den Erwachsenen auf», machte Valerie ihrem Unmut Luft.

Zoé lachte und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. «Sei nicht so streng mit Isa! Wir sind ein Team. Ist sie gute Schwester, und haben wir es so abgemacht, dass ich bin mit euch und sie lernt mit Christophe die Familie besser kennen. Papa und Maman können nicht am Nachmittag nur mit den Gästen herumsitzen.»

Lia winkte sie herbei, und sie gingen mit der Gruppe zum See. Zoé war eine ausgezeichnete Schwimmerin und Längen vor den Jungs beim Floss, das ziemlich weit draussen in den Wellen dümpelte. Lachend schubste sie die anlandenden Kollegen und Freundinnen weg, nur Valerie reichte sie durch das Gespritze und Gekreische hindurch lächelnd die Hand und zog sie herauf. Eine kurze Weile spürte sie die sonnenwarme, nasse Haut der Cousine, die ihr zuraunte: «Du siehst wunderbar aus im Bikini.» Valerie lachte verlegen.

«Wo steckt bloss Laura?» Lia trocknete sich mit dem Badetuch die Haare und sah sich suchend um. Sie waren zurück an Land. Die Romands hatten sich zum Kiosk verzogen.

«Da drüben. Mit Simon.» Valerie zeigte zum Strand.

«Jetzt bezirzt sie tatsächlich den Cousin!» Lia war auf hundertzwanzig.

«Du siehst Gespenster, die spielen bloss Federball», lachte Valerie und knuffte sie in die Seite.

«Federball… Purer Vorwand! Sie leidet an Hormonschüben höchster Alarmstufe. Besser gesagt: Sie geniesst, und ich leide. Schau, wie herausfordernd sie Simon den Hintern entgegenstreckt und an ihrem Bikini herummacht! Dabei hat sie in Bern einen Freund.»

Zoé zuckte die Achseln. Nicht schlimm, fand sie. Mit vierzehn hätten sie doch alle drei auch längst schon geküsst und herumgefummelt. Simon sei ausserdem nur ein ‘Cousin par Alliance’. US-Import wie Tante Maud. Man müsste ihn ‘Saimen’ nennen.

«Saimen!» winkte Lia müde ab. «Ihr kennt Laura nicht! Die fummelt nicht bloss.»

Valerie machte grosse Augen. «Habe ich das gerade richtig verstanden? Ich bin jetzt die Einzige von uns, die noch nie richtig… ich meine…» Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Und hätte sich am liebsten gleich die Zunge abgebissen: Der Satz war ihr einfach so herausgerutscht.

«Sex, meinst du?» Lia lachte schallend. Was sie denn mit dem Typen auf den Selfies treibe? Der sehe nicht nach Händchenhalten aus, versuchten die Cousinen, sie auszuquetschen.

Ihr wurde unbehaglich. Drimmel! Natürlich, die Fotos auf Instagram. Lia, das wusste sie aus erster Hand, zierte sich schon lange nicht mehr. Auch Zoé hatte vor einem Jahr so freimütig über Männer und Verhütung geredet, dass sie sich wie ein unbedarftes Mädchen vorkam. Wie sollte sie sich bloss rauswinden? Sie wechselte das Thema. «Nous n’avons pas fini avec toi!» neckte Zoé und legte ihr vertraulich den Arm um die Schultern.

Erst beim Abendessen im Wintergarten schlossen sich die jungen Leute der übrigen Familie an. Valerie hatte wohlweislich das elegante schwarze Kleid eingepackt; es stand ihr gut, und Lia half ihr beim Make-up. Die silbernen Riemchenpumps stammten aus dem Sonderangebot, aber das musste sie ja nicht hinausposaunen. Laura – Stil Western Girlie mit Rüschenblüschen – und Lia in edel wirkendem Similileder konnte sie die Stange halten.

Als hingegen Zoé antanzte, hätte sie am liebsten geheult: Bombenmässiges Outfit! Sogar Jasmin wäre blass geworden vor Neid. Im Gegensatz zu Isas klassischem Chic wirkte an ihr alles jugendlich frech und supersexy. Make-up perfekt, Haare fantasievoll aufgesteckt, Anhänger mit Brillanten im tiefen Dekolleté, exklusive rote Lackschuhe – da kam bestimmt nichts aus dem Sonderangebot! Der Clou war das Trägerkleid, ein Designerstück, das ihre tadellos schlanke Figur umschmeichelte, als wäre es nur für sie entworfen worden.

«Von meiner letzten Shoppingtour in Paris!» Sie hob neckisch den Rocksaum und zeigte die halterlosen Strümpfe. «Comment tu trouves?» Welche Frage…

«Krass! Ich meine… tu es magnifique!»

Zoés Augen blitzten vor Freude über das Kompliment. Wenn Jasmin sich erkundigte, ob sie gut aussehe, war es eine rhetorische Frage, die keiner Antwort bedurfte. Die Cousine war mindestens so schön, aber nicht so selbstverliebt. «Bist du auch ravissante, Val… Ich freue mich, dass wir sind zusammen heute. Seid ihr alle sehr hübsch!»

«Lia, findest du auch, dass Zoé viel netter ist als früher?» flüsterte sie der Cousine ins Ohr.

«Die war doch immer so», gab sie zurück. «Aufgestellt, herzlich, aber mega selbstbewusst. Sie ist es halt gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und merkt gar nicht, dass sie uns alle aussticht. Man weiss nie recht, woran man ist. Das eben war eine typisch welsche Schmeichelei!»

Nun aber klopfte Tante Luzia - seit der Heirat nannte sie sich Lucie – ans Glas und hielt eine kurze, humorvolle Ansprache; dann bedankte sich Grossvater im Namen der ganzen Familie für die Einladung. Das Buffet wurde eröffnet und Onkel Frédéric machte mit dem Wein die Runde: Ein grossgewachsener, sportlich wirkender Mann, obschon er deutlich älter war als Valeries Vater. Kein Wunder, hatte sich Luzia in ihn verliebt.

Isa zeigte mit Nachdruck, dass sie nun zu den Erwachsenen gehörte. Rasch wurden sie und Christophe Mittelpunkt einer Englisch sprechenden Gruppe mit Lias Mutter, Onkel Lorenz und Tante Maud. Die Schwester sei Ende Jahr in ihre eigene kleine Wohnung über dem Bootshaus eingezogen, verriet Zoé und lächelte vielsagend. «Son nid d’amour!»

Die Sonne war hinter einer Wolkenbank über dem Jura untergegangen, und eine rasch einbrechende kühle Dämmerung liess sie frösteln. Alle verzogen sich zum Dessert gerne wieder in den Wintergarten.

«Nous sortons en boîte. Qui vient avec nous?» Isa, an ihren französischen Weinprinzen geschmiegt, blickte erwartungsvoll in die Runde. Die Eltern lachten. «Hier haben wir es gemütlicher!» Valerie wollte schon erfreut ‘ich bin dabei’ antworten, aber Zoé kam ihr mit «non, pas cette fois!» zuvor.

Lia war enttäuscht; sie hatte sich ganz besonders auf den Ausgang gefreut. Zoé erklärte, Isas Lieblingsdisco würde ihnen bestimmt nicht zusagen: Lauter Expats und ausländische Studenten, alle redeten Englisch. Teuer sei es auch. Zusammen den Jacuzzi zu probieren und ein wenig zu quatschen sei lustiger, da könne Laura auch mitmachen. Warum hatte Valerie den Eindruck, Zoé schaue dauernd nur sie an, während sie redete? Ein seltsam intensiver Blick…

Simon zog eine Grimasse. «Und ich? Bleibe ich wieder allein mit den Alten?» fragte er enttäuscht und gab sich Mühe, den Stimmbruch zu verstecken. Laura flüsterte ihm etwas ins Ohr und gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, er kriegte rote Backen und nickte zögernd.

8

Die vier Cousinen verabschiedeten sich von der Gesellschaft im Wintergarten und gingen rasch die paar Schritte bis zum Manoir. «Machen wir erst ein paar Spiele, so kann Simon doch auch noch kommen», schlug Zoé vor, aber Laura wehrte ab. «Nein, ich bin mit ihm verabredet. Allein.» Sie schaute kurz auf ihr Smartphone. «Er wartet darauf, dass ich ihn herbestelle.»

«Was?» fuhr Lia auf. «Du willst nicht etwa…?»

Doch, Laura wollte. Simon sei jetzt reif für weiblichen Nachhilfeunterricht, erklärte sie mit vielsagendem Grinsen. «Eigentlich dachte ich, ihr verschwindet in der Disco…» Aber bei geschlossener Türe gehe es auch so. Sie wies auf das Ausziehsofa im Wohnzimmer der Suite. Sie sprühte vor Aufregung.

«Okay, wir drei Grossen haben im Schlafzimmer genug Platz, Frau Lehrerin», brach Valerie das betretene Schweigen und blickte aufmunternd in die Runde. «Wir lassen euch in Ruhe – aber das Bad gehört zu unserem Territorium.»

«Pass auf, dass du mir nicht schwanger wirst!» Lia strich sich mit gespielter Verzweiflung über die Stirn, durchsuchte ihre Handtasche und fischte ein Päckchen heraus. «Du ziehst ihn eigenhändig über – gleich am Anfang – und vergewisserst dich, dass er gut sitzt. Simon weiss bestimmt noch nicht, wie das geht. Und denk dran: Auch Männer haben das Recht, nein zu sagen.» Laura maulte Unverständliches und steckte sich die Kondome in den Bund. Lia gab ihr schmollend einen Kuss.

«He, Moment mal!» fiel ihr noch ein. «Um eins ist Schluss für euch! Ich will morgen beim Frühstück keinen Familienskandal erleben! Und… sollte irgendwer fragen, wo Simon gewesen sei: Wir haben bis ein Uhr Monopoly gespielt. Abgemacht?» Sie blickte, Zustimmung heischend, in die Runde.

«Nun habt ihr gesehen, wie das läuft!» schimpfte Lia weiter, kaum hatte Laura die Türe hinter sich geschlossen. «Unsere Eltern kümmern sich keinen Deut. Die sind mit sich selbst beschäftigt – Vater interessiert sich nur für seine Freundin, und Mama ist dauernd im Ausland.» Sie zog die beiden Cousinen zu sich heran und fuhr in verschwörerischem Ton weiter: «Stellt euch vor: Kürzlich liess sie sich in ihrem Badminton Klub von einem Fünfundzwanzigjährigen abschleppen. Sie hätten den ganzen Sonntag lang das Kamasutra durchprobiert, hat sie dann geprahlt. Und jetzt bandelt sie mit einem Bubi wie Simon an! Wenn ihr Freund das wüsste… Nik. Mal wirft sie sich ihm an den Hals, dann schickt sie ihn wieder in die Wüste.»

Valerie zuckte die Achseln: «Sei nicht so streng, Simon hat Rizz.»

«Was?»

«Ach so, das verstehen Bernerinnen natürlich nicht. Charmanter Junge. Alles klar?»

Nun lachten sie beide, Lia ein wenig dünn. Zoé blieb eigenartig still und unbeteiligt, als wäre sie in Gedanken anderswo.

«Vergessen wir es und testen den Jacuzzi!» Lia hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Eine halbhohe Mauer aus echtem Granit trennte den geräumigen Pool vom Schlafzimmer, durch eine verglaste Loggia blickte man direkt auf den See. Zoé sorgte für geheimnisvoll gedimmtes Licht, zudem grüsste der Vollmond vom Nachthimmel und liess das Gekräusel im Wasser wie flüssiges Silber aufglitzern.

Valerie spürte eine wohlige Wärme hochsteigen, beruhigend und die Sinne schärfend zugleich. Vertrauliches Halbdunkel, drei nackte Frauen, die sich nahestanden, ohne sich wirklich zu kennen… Crazy, dachte sie. So intim müsste es sich anfühlen, wenn sie mit Drimmel den grossen Schritt wagte. Das Kitzeln an ihren Oberschenkeln… das smaragdfarbene Leuchten im Pool… der Zauber des Augenblicks…. sphärische Musik im Hintergrund…

«Et alors, Val: Ton copain…»

Es war, als ob Zoés leise Aufforderung in Valeries Kopf ein Ventil geöffnet hätte. Plötzlich war sie froh, über sich und Drimmel zu reden. Was sie sogar Jasmin nur andeutungsweise anvertraut hatte, musste endlich heraus. Schonungslos. Lia spürte, wie es ihr erging, suchte ihre Hand, nahm Anteil.