4,99 €
Der erfahrenen Detective Lina Fowler kann niemand mehr etwas vormachen. Glaubt sie zumindest, bis eine tödliche Explosion in einem Industriegebiet die verschlafene Kleinstadt Kilney in Aufruhr versetzt. Lina und ihr Team sind fest entschlossen, den Täter zu finden und hinter Gitter zu bringen, bevor er weitere Opfer fordern kann. Doch schon bald wird klar, dass dieser alles andere als gewöhnlich ist: Je tiefer sie graben, desto mysteriöser und unlösbarer scheint dieser Fall zu werden – sogar Linas Privatleben wird Teil der Ermittlungen. Erzählt in vier Perspektiven: Der Auftakt der spannenden Fantasy-Krimi-Reihe von Alina Hesse! Perfekt für Jugendliche und Erwachsene, die Fantasy-Bücher mit Hexen und großem Krimianteil lesen. Detective & Magic ist ein packender, unvergleichbarer Fantasy-Krimi mit sympathischen Charakteren und nichts für schwache Nerven! ~ Buchkuchen, Buchbloggerin
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
ALINA HESSE
Detective & Magic 1
Explosiv
ALINA HESSE
c/o easy-shop
K. Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt).
Korrektorat: Maximilian Schmidt Cover- und Innendesign: Annika Schüttler, Woodlice Designs, www.woodlice.de (@woodlice.designs)
Dieses Buch enthält Krimi-Elemente und dreht sich um das Lösen eines Mordfalls. Am Ende des Buches findest du eine detaillierte Auflistung mit Krimi-Elementen die möglicherweise Spoiler für die Geschichte beinhaltet.
Ich wünsche mir für alle das bestmögliche Leseerlebnis und warne deshalb vor.
Für Euch,
damit der Büchereirauswurf
nicht umsonst gewesen ist.
Die Nacht ist bis auf das leise, entfernte Zirpen der Grillen totenstill. Lärmen und Leuchten der Stadt werden von den Bergen vor dem Industriegebiet verschluckt. Hier ist alles friedlich und verlassen. Doch wie es meist ist, hält dieser Zustand nicht lange an. Es ist vielmehr die täuschende Ruhe, bevor der eigentliche Sturm losbricht.
Hinter der Lagerhalle, die am nächsten an die Stadt grenzt, regt sich etwas. Ein leises Rascheln, das sich eindeutig von dem der Grillen unterscheidet, ist zu hören. Dann ein kurzes Aufblitzen wie bei einem Feuerzeug. Der Geruch von Benzin verbreitet sich. Auch am weiter entfernten Hafen sind nun hastige, sich entfernende Schritte zu hören. Von irgendwo hinter den Lagerhallen steigt eine kleine, noch schwache Rauchsäule in den nachtschwarzen Himmel hinauf. Jäh ertönt ein Klicken. Leise, beinahe so als würde eine Eieruhr laufen, dringt es durch die Stille. Ein lauter Knall gefolgt von einem Auflodern vertreibt jetzt vollends den Rest der Nacht, weckt die schlafenden Vögel und löst eine Welle der Alarmsirenen aus. Der Schrei, losgelassen von der Person, die der in Flammen aufgehenden Lagerhalle gegenübersteht, geht vollständig im Knistern und Ächzen des Gebäudes unter. Von der ursprünglichen Ruhe der Nacht ist nichts mehr zu spüren.
»Plötzlich, dann«, die Atmung von Helen Stevens beschleunigt sich. Ihr steht wahrhaftig der Schock ins Gesicht geschrieben. Einige Momente vergehen stillschweigend. Das Ticken des Sekundenzeigers klingt unnatürlich laut und macht mir umso bewusster, wie die Zeit vergeht, ohne dass wir an hilfreiche Informationen durch unsere Zeugin kommen. Bereits seit ungefähr einer Viertelstunde sitzen wir hier und beobachten Helen Stevens beim Schluchzen, Heulen und immer wieder Luftholen. Bis jetzt hat sie uns nicht viel mehr erzählt, außer dass sie am Industriegelände angekommen ist. Nicht einmal das Wie hat sie in ihrer Aussage erwähnt. Von Belang ist das zwar nicht, da wir einen am Industriegelände geparkten Wagen mit Hilfe des Autokennzeichens eindeutig ihr zuordnen konnten. Schön gewesen wäre es aber dennoch. So hätten wir wenigstens etwas mehr von ihr gehört als nur ihr eintöniges Schluchzen.
Helen Stevens‘ Blick ist immer noch auf die kahle, weiße Wand zwischen uns gerichtet. Bereits die ganze Zeit über hat sie keinem von uns in die Augen geschaut, nicht einmal als Victora, meine weitaus geduldigere Kollegin, ihr das gewünschte Glas Wasser direkt vor die Nase gestellt hat. Sie ist immer noch so schreckhaft wie ein verängstigtes Kaninchen. Dabei liegt die Tat, deren Zeugin sie ist, schon einige Stunden zurück und es besteht keinerlei Gefahr mehr. Mir fehlt das Verständnis, wie sie immer noch so aufgelöst sein kann und es nicht einmal schafft, den Tathergang zu schildern. Wie kann sie noch immer so viele Tränen weinen?
Als ich mich räuspere, um die junge, zerzaust aussehende Frau mit langen, blonden Haaren und blauen Augen zum Weitersprechen zu animieren, zuckt sie zusammen und fällt vom Stuhl, mit dem sie vor einiger Zeit zu kippeln begonnen hat. Das reicht! Meine Nerven, die durch die ewig dauernde ereignislose Befragung und den Tag der viel zu früh begonnen hat, schon die ganze Zeit strapaziert waren, reißen zeitgleich mit dem Sturz. Mir ist fast so, als könnte ich es hören. Nicht das Fallen, sondern das Zerreißen meiner Nerven. Während Victora aufspringt und sofort der Zeugin zu Hilfe eilt, schlage ich die Hände vor meinem Kopf zusammen. Ich kann nicht mehr. Langsam stehe ich auf, das Knarzen des Stuhls begleitet meine Bewegung. Victora hört es. Sie schaut zwischen mir und der Zeugin hin und her. Ihr Blick durchdringt mich. Doch es ändert nichts. Ich muss schnellstens den Raum verlassen, damit ich nicht vollständig die Kontrolle verliere. Schnell nicke ich in Richtung Tür, signalisiere mit einer knappen Handbewegung, dass sie mir folgen soll und verlasse dann den Raum. Allerdings drehe ich mich nicht nochmal um, um zu überprüfen, ob sie mir wirklich folgt, sondern vertraue darauf. Victora kennt mich lang genug und weiß, wie ernst mir meine Arbeit ist. Dass ich niemals ohne Grund eine Befragung unterbrechen würde. Vor allem nicht ohne ein Wort der Erklärung. Doch dieser Tag hat mir schon einiges abverlangt und ich kann so nicht weitermachen. Kurz nachdem ich den Raum verlassen habe, höre ich das Schließen der Tür. Nicht jenes Zuknallen, welches ich gehört hätte, wenn sie mir nicht gefolgt wäre. Victoras, mir unheimlich vertraute, leise Stimme ertönt hinter mir.
»Was ist los, Lina?«
Ich schlucke und hauche dann mühsam:
»Ich kann nicht mehr. Frag nicht wieso. Es geht gerade nicht, noch nicht. Wenn wir wieder in den Konferenzraum hineingehen, habe ich mich wieder unter Kontrolle. Dann ist alles beim Alten. Nur mach ir-gendwas. Bring sie zum Reden. Setz sie unter Druck, nur sorge dafür, dass sie endlich redet. Bitte Victora. Wir sitzen schon seit einer Ewigkeit mit ihr dort drin und bis jetzt wissen wir noch immer nicht mehr als das, was wir ohne sie auch schon wussten. Bitte.«
Fast flehentlich blicke ich zu ihr und versuche, die in mir aufkeimende Wut zu unterdrücken und sie aus meiner Stimme herauszuhal-ten. Victora blickt mich unergründlich aus ihren blau – grünen Augen an. Ich meine, für einen Sekundenbruchteil einen Ausdruck der Überraschung über ihr Gesicht huschen zu sehen. Bin mir aber nicht sicher, wieso. Ist es, weil ich kurz meine Maske abgesetzt habe und sie, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment an meinen Gefühlen habe teilhaben lassen? Oder hat ihr der Tag auch einfach so zugesetzt und sie ist überrascht, weil ich ausnahmsweise die Erste von uns beiden bin, die das ausspricht? Schnell wird ihr Blick wieder so unergründlich wie zuvor. Sie schaut nach oben rechts ins Nichts und ihre Stirn kräuselt sich leicht. Schließlich nickt sie geschlagen.
»Okay. Ich werde da jetzt wieder hineingehen. Ich denke, sie braucht die Zeit, nachdem, was gerade passiert ist. Du darfst nicht vergessen, das Unglück ist erst wenige Stunden her. Versuch doch wenigstens ein bisschen mehr Verständnis für sie aufzubringen.«
Genau das ist es eben, das mir fehlt: Verständnis. Vielleicht bin ich deswegen so genervt, obwohl Victora, die genauso lange auf den Beinen ist wie ich, so aussieht, als könnte sie noch Stunden länger mit Helen Stevens sprechen. Oder viel mehr ihr beim Schluchzen zuhören. Ihre blonden, fast braunen Haare locken sich noch immer lässig über ihre Schulter und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine braunen, ebenfalls schulterlangen Haare ziemlich zerzaust aussehen. Gerade als ich etwas erwidern will, schüttelt sie den Kopf. Wieder einmal weiß sie direkt, was ich sagen möchte.
»Nichts da, du bleibst vorerst hier und siehst zu, dass du dich wieder einkriegst. Wenn du dich beruhigt hast, dann können wir reden.«
Der Ton, in dem sie spricht, lässt keinen Widerspruch zu und wenn sie nicht auch meine beste Freundin wäre, würde ich das als ziemlich unangemessen erachten. Doch so höre ich auf das, was sie sagt und drehe mich in Richtung meines Büros. Gerade als ich mich von ihr und dem Konferenzraum entfernen möchte, fällt mir ein, woran ich Victora unbedingt noch erinnern möchte. Schnell wende ich meinen Kopf:
»Denkst du dran, Mrs Stevens zu fragen, ob sie bereit wäre, den Toten zu identifizieren? Um absolut sicherzugehen?« Sie nickt und ich laufe diesmal wirklich in Richtung meines Büros.
Bereits als ich einige Schritte von der Tür entfernt bin und noch nicht einmal die Türklinke berühre, höre ich von drinnen das aufgeregte Kratzen der Hundepfoten. Ich kann mir nur zu gut das wilde Schwanzwedeln vorstellen. Lächelnd öffne ich die Tür. Die Wut und die Kraftlosigkeit, die mich eben noch fest im Griff hatten, sind wie weggeweht. Meine Hündin Mary, schafft es einfach immer wieder alle schlechten Gefühle davonzutreiben, als wären sie nie da gewesen. Als hätte ich das, diese Wut auf die aufgelöste, nicht wirklich hilfsbereite Zeugin, eben nicht gefühlt. Gleichzeitig gibt sie mir Kraft und ich fühle mich sofort um einiges besser. Ich streiche einige Male über das kurze, hellbraune Fell der aufdringlichen Redbone-Coonhound Hündin, die zum Spürhund ausgebildet ist. Wieder einmal wird mir bewusst, wie viel lieber mir Tiere, insbesondere Hunde, sind als Menschen. Ein paar Atemzüge später habe ich mich wieder so weit unter Kontrolle, dass ich mich dazu entschließe, zurückzugehen und der Befragung weiter beizuwohnen.
Hoffentlich ist es Victora in der Zeit meiner Abwesenheit gelungen, etwas aus unserer Zeugin herauszubekommen. Schnell krame ich in meiner Jackentasche nach einem der Leckerlis, die ich in der Regel immer dabei habe, und reiche es Mary, die es sofort aus meiner Hand frisst. Ihre nasse Zunge leckt noch ein paar Mal über meine Handfläche, um zu kontrollieren, dass sie wirklich nicht den kleinsten Krümel übrig gelassen hat. Anschließend verlasse ich den Raum. Vor der Tür des Zimmers, in dem gerade die Befragung von der bislang nicht sehr nützlichen Zeugin Helen Stevens stattfindet, halte ich inne. Atme tief ein und wieder aus. Erst dann öffne ich, ohne anzuklopfen, die Tür, setze wieder eine professionelle Miene, die es hoffentlich schafft meinen Kontrollverlust zu kaschieren, auf und lasse mich auf dem verwaisten Stuhl nieder. Das Kaninchen zuckt zusammen und auch Victora sieht nicht erfreut aus, dass ich einfach in den Raum platze.
Ist es ihr vielleicht gerade gelungen, zu Helen Stevens durchzudringen? Ich runzele die Stirn und drehe den Kopf zu meiner Kollegin. Fragend ziehe ich die Augenbrauen hoch, doch sie schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie hatte also noch keinen Erfolg. Schade, das vorübergehende Gefühl der Vorfreude wandelt sich in Enttäuschung. Victora hat, während ich mich draußen abreagiert habe, die Befragung übernommen. Eigentlich weiß ich, dass ich sie sie auch beenden lassen sollte. Doch ich kann nicht anders. Viel zu sehr verspüre ich das Bedürfnis, endlich Antworten zu bekommen. Allerdings melden sich Zweifel, ob die auf diesem Wege erlangten zufriedenstellend sein würden. Kurz zögere ich, dann ergreife ich das Wort: »Also Mrs Stevens, Sie sind hier in Sicherheit. Hier kann Ihnen nichts mehr passieren. Versuchen Sie, sich zu erinnern und schildern Sie das Erlebte so genau wie möglich. Der Mörder ihres Arbeitgebers muss gefasst werden. Dazu beitragen können Sie allerdings nur, wenn Sie sich jetzt dazu durchringen, endlich zu erzählen, was passiert ist.«
Ich schaue sie durchdringend an, den brennenden Blick von Victora ignorierend. Mir ist egal, dass sie es nicht gutheißt, dass ich die Zeugin weiter dränge, endlich zu antworten. Helen sackt bei meinen deutlichen Worten noch weiter in sich zusammen. Fast so, als würde sie sich verstecken wollen. Auch dieses Verhalten erinnert mich stark an das eines Kaninchens. Doch dann fängt sie sich auf einmal, richtet sich gerade auf, ihren Blick nun nicht mehr auf die Wand gerichtet und beginnt langsam zu sprechen.
»Also, da war dieses Klicken. Ich weiß nicht, es hat sich irgendwie angehört wie bei einem Kugelschreiber. Und dann …«
Mit jedem Wort, das sie spricht, wird sie blasser, bis sie erneut innehält. Als ich sie wieder dazu drängen möchte, weiterzusprechen, bemerke ich, dass Victora mich noch immer warnend ansieht. Ungeduldig lehne ich mich zurück. Gerade als ich genervt aufstöhnen möchte, spricht sie endlich weiter. »Es, es war so schrecklich. Auf einmal, da ist alles in die Luft geflogen. Es hat gebrannt und da war dieser Geruch.
Ich weiß nicht. Es ging alles so schnell. Ich glaube, ich habe geschrien. Irgendwie habe ich es geschafft, den Notruf zu wählen und dann waren auch schon die ersten Einsatzkräfte da. Was dazwischen passiert ist, weiß ich nicht mehr.« Ihre Stimme gleicht jetzt einem geflüsterten Hauch, bis sie vollständig verstummt. Victora ergreift das Wort: »Es ist okay, lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie ruhig noch einmal, ob Sie ein Detail vergessen haben. Vielleicht, wie es gerochen hat? Den Rest können sie sich sparen. Wir wissen ja, wie es ausgeht. Wir wissen, dass die Rettungskräfte Sie nach dem Notruf untersucht haben. Wir wissen auch, wie Sie hierhergekommen sind. Wichtig ist für uns das, was davor geschehen ist.«
»Es ist wirklich wichtig, dass Sie sich erinnern«, versuche ich noch einmal zu verdeutlichen. Sie scheint zu überlegen, denn ihr Blick gleitet wieder abwesend zur einzigen kahlen Wand des Raumes. Konkrete Hinweise und Fakten sind mir bei weitem lieber als Zeugen, die emotional so mitgenommen sind, dass ihre Aussagen uns nicht viel weiterbringen. Und dennoch ist eine Befragung Pflicht. Der Blick von Mrs Stevens wandert von der kahlen Wand erst zu mir und dann zu Victora. »Nein, nichts«, nimmt sie zögernd das Gespräch wieder auf. »Es ging doch alles so schnell. Ich hatte doch nicht damit gerechnet und konnte ihm nicht helfen. Nicht bei diesem Feuer. Es war doch nur ein Treffen. Für die Arbeit. Nichts weiter als ein Treffen. Es sollte doch nicht–, Niemals hätte ich …« Die letzten Worte gehen unter in einem Schluchzen. Die ersten Tränen rinnen über ihr Gesicht und verschmieren ihr Make-up.
Jetzt ist es Victora, die mir einen leicht verzweifelten Blick zuwirft. Mit weinenden Menschen kommt keine von uns so wirklich klar, vor allem dann nicht, wenn sie unsere Zeugen sind. Victora aber immer noch weitaus besser als ich. Der Tod oder die anderen Grausamkeiten, die Menschen anrichten, machen uns keine Probleme und sind unser tägliches Brot. Doch weinende Menschen, das sind meine Endgegner. Und Zeugen sind da noch einmal eine ganz eigene Kategorie. Ein schiefes Lächeln, über meine eigene soziale Inkompetenz, ziert mein Gesicht und ich schiebe das Wasserglas ein Stückchen näher zu Helen Stevens hinüber. Sie greift danach, leert es in einem Zug und angelt dann in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, mit dem sie sich hastig die Tränen aus dem Gesicht wischt. Jetzt sieht das Make-up noch grauenvoller aus als zuvor, sie ist aber durch die schwarzen Streifen nicht mehr so blass wie zu Beginn der Befragung. Es sieht ziemlich komisch aus. Fast wäre mir ein Lachen über die Lippen gekommen, doch ich kann es gerade noch zurückhalten. Auch Victora hat sich nun wieder im Griff. Sie blickt Helen aufmunternd an und greift zu ihrer Hand. Ein Stück weit bewundere ich sie für ihre Empathie. »Beruhigen Sie sich. Sie hätten nichts tun können. Er war zu dem Zeitpunkt bereits tot. Wichtiger ist jetzt, den Mörder zu fassen, damit sowas keinem weiteren Menschen passiert.«
»Hören Sie Helen, wie meine Kollegin bereits gesagt hat. Es war wichtig, dass Sie das Erlebte geschildert haben. Allerdings gibt es noch einige weitere Fragen, die wir Ihnen stellen müssen. Allen voran, ob sie bereit wären, das Opfer zu identifizieren?« Sie schluckt und schüttelt hastig den Kopf. »Nein, nein das kann ich nicht. Ich bringe es nicht über mich, meinen Chef so zu sehen. Sie müssen sich dafür jemand anderen suchen.« Jetzt verschränkt sie die Arme vor der Brust. Ich will gerade anfangen, etwas zu erwidern, um sie doch überzeugen zu können, da beginnt Victora zu sprechen: »Okay, Sie müssen das nicht machen, es hätte uns nur Vieles einfacher gemacht. Wären Sie dennoch bereit, bald noch einmal aufs Präsidium zu kommen, damit wir Ihnen unsere restlichen Fragen stellen können? Dann könnten Sie vorher nachhause gehen und sich sammeln.« Helen Stevens nickt. Ihrem Gesichtsausdruck nach schon wieder den Tränen nahe.
»Soll ein Beamter Sie nachhause fahren?« Sie schüttelt bestimmt den Kopf. Ich unterdrücke ein Seufzen. Sie ist sicher nicht mehr in der Lage, alleine nachhause zu finden. Dafür macht sie einen viel zu aufgewühlten Eindruck. »Kann Sie vielleicht jemand abholen? In diesem aufgelösten Zustand sollten Sie besser nicht mehr fahren. Nicht, dass ich Sie dann nochmal wegen eines Verkehrsdeliktes befragen muss.«
Der letzte Satz sollte humorvoll klingen, doch selbst mir ist klar, dass er eher bissig klingt. Sie nickt wieder, diesmal zögerlich und schnieft noch einmal laut in ihr Taschentuch. »Mein Bruder.«
»Ja? Das ist gut. Möchten Sie vielleicht noch die Nummer der Seelsorge?« Skeptisch murmelt sie: »Ja, kann schließlich nicht schaden.«
Victora reicht ihr eine der Karten und wir stehen alle auf, um Helen Stevens zu verabschieden. »Kommen Sie, eine Kollegin bringt Sie nach draußen.« Als sich die Tür hinter ihr schließt, hat die Anspannung mit ihr den Raum verlassen.
Victora und ich seufzen erleichtert auf. »Endlich.« Sie nickt knapp, schaut jedoch sogleich wieder ernst. »Was ist los, Lina? Sonst bist du doch nicht so.« Automatisch zucke ich mit den Schultern, brumme etwas Unverständliches und versuche, das Thema wieder auf den Fall zu lenken. Auf einmal ist es mir unangenehm, dass sie mich so gut kennt. Ich möchte ihr Bild nicht stören, indem ich zugebe, dass ich selbst keinerlei Ahnung habe, was aktuell mit mir los ist. »Wir sollten uns auf die Ermittlungen konzentrieren. Mit der Befragung dürften wir genug kostbare Zeit verloren haben. Es ist nicht so, dass ich Zeugenbefragungen prinzipiell schwachsinnig finde, doch bei solch einer aufgelösten Zeugin, die ständig am Schluchzen ist und kaum einen anständigen Satz hervorbringt, vergeht viel zu viel Zeit. Zeit, die wir anders hätten nutzen können. Etwas Neues, das uns wirklich weiterbringt, ist nicht dabei herausgekommen. Geschweige denn haben wir jemanden, der bereit ist, unsere Leiche eindeutig zu identifizieren. Wir sollten uns jetzt darum kümmern eine DNA-Probe aufzutreiben, für einen Abgleich. Ach ja und die Suche nach den Angehörigen dürfen wir auch nicht vernachlässigen.«
Sie nickt, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Victora es darauf nicht beruhen lassen wird. »Klar, ich denke, die Wohnung des Verstorbenen sollten wir uns persönlich anschauen. Meist verrät sie ja auch einiges über ihren Bewohner, wenn wir nicht durch andere Menschen an diese Informationen kommen. Das Material der Überwachungsanlage wird noch sichergestellt, die Brandstoffermittler werden uns im Laufe des Tages ihren Bericht zukommen lassen. Aus der Autopsie haben wir noch nichts gehört, ich rechne aber, auch in diesem Fall damit, dass wir noch im Laufe des Tages näheres erfahren.«
»Womit fangen wir an? Mit Helen Stevens müssen wir auch noch einen neuen Termin finden.«
»Ich würde sagen, dass wir Helen Stevens für den heutigen Tag in Ruhe lassen. Bis morgen sollte sie sich hoffentlich beruhigt haben.«
Ich unterbreche sie und stelle eine ziemlich naheliegende Frage.
»Was, wenn sie etwas weiß, das wir zwingend wissen sollten? Informationen hat, die wir dringend benötigen?«
»Glaubst du das wirklich? Dass diese total eingeschüchterte und traumatisierte Person noch etwas weiß, das uns wirklich weiterhilft?«
Ich schüttele den Kopf.
»Gut, dass wir auch da einer Meinung sind. Also wie gehen wir weiter vor?«
»Auf die Suche nach Angehörigen können wir ein paar Beamte ansetzen. Genauso sollte Helen Stevens überprüft werden. Ich würde vorschlagen, wir kümmern uns zuerst um die Wohnung, während wir auf die Berichte der Anderen warten.«
Klingt sinnvoll. Also nicke ich, um Victoras Vorschlag zu bestätigen. George Birds letzte eingetragene Adresse ist uns bekannt und glücklicherweise nicht allzu weit von dem Präsidium entfernt. Spontan kommt mir eine Idee. »Sag mal Victora, wäre es möglich, dass du alleine fährst?« Überrascht und irritiert schaut sie mich an.
Schnell beeile ich mich, den Irrtum aufzuklären. »Ich würde gerne mit Mary hinlaufen. Durch die Explosion heute Nacht bin ich noch nicht dazu gekommen, wirklich mit ihr spazieren zu gehen. Und so könnte ich die Zeit gleich nutzen. Wenn ich mich recht erinnere, sind es von hier ja nur etwa zehn Minuten.« Victora beginnt zu lachen. »Dachte schon, du willst aus irgendwelchen Gründen, die du mir nicht verraten möchtest, auch dahin nicht mitkommen.«
Wir verlassen den Konferenzraum. Während ich vor Victora in Richtung meines Büros abbiege, spüre ich noch immer ihren besorgten Blick auf mir ruhen. Der Besuch der Wohnung sollte ihre Aufmerksamkeit aber hoffentlich so in Beschlag nehmen, dass ich dieses unangenehme Gespräch nicht mehr heute führen muss. Am besten überhaupt nicht bevor ich nicht selbst weiß, was aktuell mit mir los ist.
Kapitel 3
Hendrick
»Schönen Tag noch. Richte deiner Frau freundliche Grüße aus!« Das Klingeln der Türglocke kennzeichnet einen weiteren abgeschlossen Verkauf. Hendrick kann sein Grinsen, das durch das neu erworbene Geld aufkommt, nicht verstecken. Ein Schein nach dem anderen wandert durch seine Hände in die Kasse und mit jedem weiteren wird das Lächeln breiter. Seine Freude über das neue Geld verschwindet abrupt, sobald er bei dem letzten Schein an Ihm ist nichts Besonderes, doch trotzdem zittert die Hand, in der er ihn hält. Und das versaut Hendricks Laune für diesen Tag. »Scheiß Tremor, warum musste es unbedingt mich treffen? Ich bin doch noch nicht so alt. Noch bin ich lange kein Greis«, murmelt er launisch vor sich hin. Zwar musste er schon einige Zeit mit dieser Zitterkrankheit leben, akzeptieren wollte er sie aber nicht. Plötzlich erinnert er sich daran, dass er nicht alleine ist. Sein Gesichtsausdruck wandelt sich von privat zu professionell. Die andere Person im Laden ist Jonny, sein Neffe, der anscheinend seine Augen nicht von der Tür, durch die der letzte Kunde gegangen ist, abwenden kann. »Was ist denn los, mein Junge? Worüber denkst du nach?«
Die Frage scheint ihn aus seiner Trance zu holen, denn er schreckt auf und stößt dabei fast ein Glas Wasser von der Theke. Zum Glück kann er es auffangen, bevor es auf den Boden kracht.
Tollpatschig, aber dafür besitzt er schnelle Reflexe, denkt Hendrick.
»Der Mann, der eben gegangen ist … Ich glaube, ich kenne ihn«, fängt Jonny an.
Glaubst du etwa, das interessiert mich? Geh zurück in den Hinterraum, Kästen stapeln! Natürlich sagt Hendrick das nicht. Das ist Jonnys erster Tag und Hendrick kann es sich nicht leisten eine günstige Arbeitskraft abzuschrecken. Außerdem pumpt dasselbe Blut in den Adern des Jungen wie in seinen. Wenigstens das sollte ihm etwas bedeuten. Deshalb verbirgt Hendrick seine wahren Gedanken hinter einem väterlichen Lächeln und fragt:
»Wirklich? Woher denn?« Jonny schluckt.
»Ich könnte falsch liegen, aber ich glaube, sein Gesicht war in den Nachrichten. Er wird gesucht wegen Mordes.« Hendricks Lächeln wirkt besorgt.
»Das ist ja schrecklich. Was würdest du denn jetzt machen?« Jetzt beginnt Jonny zu stottern. »Al-also, ich würde wahrscheinlich die Polizei anrufen und … und hätte ihm nichts verkauft.« Jonny ist stolz auf seine Antwort. Für ihn ergibt sie Sinn. Sein Stolz ist jedoch wie weggeblasen, als er den Gesichtsausdruck seines Onkels sieht. Dieser schüttelt traurig den Kopf und schnalzt mit seiner Zunge. »Mein Junge, du musst noch vieles lernen. Willst du dich wirklich mit jemandem anlegen, von dem du denkst, dass er ein Mörder ist? Willst du dich so einer Person in den Weg stellen?«
Jonny schüttelt reflexartig den Kopf. »Aber wir sollten etwas tun! Solch ein böser Mensch sollte nicht einfach so frei herumlaufen!«
Hendrick lächelt, doch innerlich ist er enttäuscht. Solche Gedanken über Moral werden den Jungen im Leben nicht weit bringen. Die Idee, dass eine Person besser ist, nur weil sie gesellschaftlich gerecht handelt, ist irrsinnig. Es ist egal, ob jemand gut oder böse ist, solange Geld zur Verfügung steht. Diese Erfahrung hat Hendrick in seinem Leben oft genug gesammelt. Noch ist sein Neffe allerdings zu jung, reicht gerade an die Volljährigkeit heran, als dass er das versteht. Aber es ist langsam Zeit, dass es ihm jemand beibringt. Und wer sonst wäre dafür besser geeignet als er? »Das ist ein sehr ehrenwertes Ziel, mein Junge.« Jonny lächelt über das Lob. »Aber leider ist es auch falsch. Sag mir, Jonny, wie viele böse Menschen gibt es auf der Welt? Tausende? Millionen? Was ich damit sagen will ist, dass es keinen Sinn ergibt, sich um gute oder böse Menschen zu sorgen. Gehen wir davon aus, ich hätte die Polizei gerufen und diese hätte den Kunden verhaftet. Was für einen Unterschied hätte das gemacht? Ich sag’s dir, keinen! Wir sind nicht in der Lage das Böse in Menschen zu stoppen, warum also sollten wir das probieren?« Während der ganzen Tirade schrumpfte Jonnys Zuversicht. Trotzdem versucht er, noch ein Gegenargument hervorzubringen. Mehrfach öffnet und schließt sich sein Mund.
»Du profitierst aber von diesen Menschen und hilfst ihnen sogar, indem du ihnen Sachen verkaufst. Macht dich das nicht … traurig?«, bringt er mit schwacher Stimme hervor. Hendrick kämpft damit, seine Geduld nicht zu verlieren und antwortet in einem betont ruhigen Ton. »Warum sollte ich traurig sein? Es gibt Millionen von Menschen, die das machen, was ich mache und die meisten sind noch schlimmer. Würde ich aufhören, mit diesen Kriminellen Geschäfte zu machen, wäre das Einzige, das sich ändern würde, dass ich weniger Geld hätte, um meine Rente zu bezahlen. Ich bin einfach nur ein unwichtiges Zahnrad in einer großen Maschine.«
Jonny nickt zaghaft, doch es ist klar, dass er nicht vollkommen überzeugt ist. Noch nicht. Hendrick legt eine Hand beruhigend auf die Schulter seines Neffen. »Ich weiß, das ist kein leichtes Thema, aber vielleicht irrst du dich und der Mann ist gar kein Mörder.«
Das ist eine Lüge. Der Kunde von dem die Rede ist, hat vor drei Tagen ein Messer bei ihm gekauft, mit dem er vermutlich seine Frau erstach. Die Tageszeitung brachte eine kurze Schlagzeile dazu. Interessiert Hendrick das? Nein. Es ist egal, ob seine Kunden Mörder, Brandstifter oder Psychopathen sind, solange sie genug Geld haben und ihre Taten weit weg von seinem Geschäft begehen, sind sie willkommen.
Lina
Zurück auf dem Präsidium bringe ich zuerst Mary in mein Büro und versorge sie mit Futter, bevor ich mich mit Victora in ihrem treffe. Es liegt glücklicherweise nur ein paar Türen entfernt. Ich trete ein und schließe schnell die Tür hinter mir, als ich feststelle, dass Victora am Telefonieren ist. Nach einem kurzen Blickwechsel, der mir sagt, dass das Telefonat noch etwas dauern kann, lasse ich mich auf einen Stuhl sinken, der ihrem Tisch gegenübersteht. Schnell sind ein paar Nachrichten gelesen und beantwortet, bis Victora sich verabschiedet. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank, dass Sie bereit sind, uns zu helfen.« Irritiert runzele ich die Stirn und warte gespannt auf ihre Erklärung. »Das war der Vermieter der Lagerhallen. Er hat angeboten, die notwendigen Unterlagen rauszusuchen und persönlich vorbeizubringen. So kann er uns eventuelle Fragen direkt beantworten, ohne Verzögerung. Aktuell ist er noch außerhalb der Stadt, kommt aber vermutlich am frühen Nachmittag zurück und gleich hier her. Hast du auch was?«
»Nicht viel. Der Chef möchte, dass wir so bald wie möglich in sein Büro kommen um ihn zu updaten. Außerdem möchte er uns wegen des Interviews in drei Tagen noch einmal sprechen. Die Überprüfungsergebnisse von Helen Stevens können wir ebenfalls abholen.«
»Gut, dann auf zum Chef.«
Zachary Parsons ist ein meist schlecht gelaunter Chef, der das gerne auch mal seine Mitarbeitenden spüren lässt. Bereits als wir den Raum betreten, ist seine Miene finster. »Detectives Jarvis und Fowler, setzen Sie sich.« Stumm leisten wir seinem Befehl Folge. »Dann berichten Sie bitte.« Nach einem kurzen Blickwechsel mit Victora beginne ich zu erzählen. Ich schildere ihm die Befragung der Zeugin Helen Stevens, den Anruf des Rechtsmediziners sowie des Vermieters der Lagerhallen und das Gespräch mit dem Nachbarn von George Bird. Nachdem ich geendet habe, schaue ich, ob Victora noch etwas ergänzen möchte, doch sie zuckt nur knapp mit den Schultern. »Also ist unser Opfer wieder unidentifiziert?« Ich nicke. »Hat der Rechtsmediziner sonst noch weitere Erkenntnisse? Oder irgendeinen Anhaltspunkt, der uns die Identität des Opfers verrät? Liegt Ihnen der Autopsie-Bericht schon vor?« Als ich alle Fragen verneine, runzelt er die Stirn. Mir kommt es vor, als würde er noch eine Spur finsterer schauen. »Sie haben also im Grunde gar nichts? Überhaupt nichts in der Hand?« Wieder schüttele ich den Kopf. »Noch nicht, Sir. Unsere Zeugin wird aktuell überprüft. Den Bericht davon werden wir uns gleich im Anschluss nach diesem Gespräch hier holen. Und durch den Nachbarn von George Bird wissen wir von einer Freundin, die uns vielleicht verraten kann, wo er sich aufhält. Dieses Wissen kann uns dann wiederum neues verschaffen.« Böse funkelt er mich an.
»Glauben Sie eigentlich, ich selbst verfüge über keinerlei Wissen?
Sie mögen daran zweifeln, aber auch ich weiß, wie Ermittlungsarbeit abläuft.« Schweigen. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, dabei wackelt der schwarze Fedora-Hut an der Stuhllehne bedenklich. Schließlich spricht er ruhiger weiter. »Hm, das sieht nicht sonderlich gut aus. Wie gedenken Sie weiter vorzugehen, Detectives?«
Forschend sieht er zwischen uns beiden hin und her. Diesmal übernimmt Victora die weitere Schilderung.
»Wir nehmen uns gleich einmal die sozialen Medien von George Bird vor, um eventuelle Anhaltspunkte zu seinem Aufenthaltsort oder der Identität seiner Freundin zu finden. Die Pressesprecherin ist bereits informiert, leitet die Informationen weiter und bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe.«
»Apropos Presse –«,
»Ja, Detective Fowler?«
»Wegen des Interviews, das in drei Tagen stattfinden soll. Das mit dem Kinder- und Jugendmagazin. Wird es verschoben oder von jemand anderem übernommen?«
»Stimmt, dafür waren Sie und Detective Jarvis eingeteilt. Ich nehme an, Sie haben Sorge, dass Sie zu diesem Zeitpunkt noch immer vollständig in die Ermittlungen eingebunden sein werden?« Wir beide nicken synchron.
»Dann werde ich die Reporterin informieren und sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir um eine Verschiebung des Termins bitten. Würde einer von Ihnen beiden dann den weiteren Kontakt übernehmen? Sie vielleicht, Detective Fowler?« Erwartungsvoll sieht er mich an.
Schnell schaue ich zu Victora. Auch wenn sie versucht ernst zu schauen, weiß ich, dass sie sich schwer damit tut ein Lachen zu unterdrücken.
Ihre Augen sind leicht geweitet und ihre Mundwinkel zucken verdächtig. An ihrer Stelle würde ich dasselbe tun. Die Presse mag sinnvoll sein, doch die Kommunikation mit ihnen überlassen wir beide lieber der Pressevertretung. Zu oft haben wir schon die Worte im Mund verdreht bekommen.
»Natürlich Sir, Sie können der Reporterin meine Diensthandynummer geben.«
»Gut, das war es dann. Gehen Sie weiter ihrer Arbeit nach.« Mit einer knappen Handbewegung entlässt er uns und wir beide verlassen sein Büro. Draußen auf dem Flur entferne ich mich sogleich von dem Büro unseres Chefs. Wieder einmal hat es mich überrascht, wie sehr es sich doch von den unseren unterscheidet. Zwar sind sie gleich geschnitten, doch das unseres Chefs ist viel moderner eingerichtet. Auch die Außenwand ist komplett durch eine Fensterfront ersetzt. Schon länger wollte ich auch mein Büro umgestalten, es etwas anpassen. Doch dann kam die Mail, die diese Idee erst einmal aus der Welt geschafft hat.
Ich erinnere mich noch genau an den Wortlaut. »Ihr Büro wird mit dem von Detective Victora Jarvis und Detective Jane Bates zusammengelegt. In einiger Zeit erhalten Sie dazu genauere Informationen.« An sich ist dies keine schlechte Nachricht. Ehrlich gesagt freue ich mich sogar darauf. Nur lohnt es sich nicht, vorher mein eigenes Büro umzugestalten. Ich bin so in Gedanken versunken, dass es einige Schritte dauert, bis ich bemerke das Victora mir nicht folgt.
»Victora?«
»Hm?«
»Warum bleibst du stehen?«
»Sollten wir nicht vielleicht zuerst klären, was genau wir jetzt machen, bevor wir sinnlos in irgendeine Richtung laufen?«
»Na klar. Bin aber dafür, dass wir zuerst in mein Büro gehen und uns eine Pizza liefern lassen. Schließlich beginnt die Mittagspause bald und so können wir sie wenigstens teilweise nutzen. Wenn du magst, lade ich dich ein.« Ihr Lächeln wird breiter: »Das ist ein Argument. Du hast mich überzeugt.« Ich steige mit in ihr Lachen ein. Zusammen gehen wir in mein Büro.
Die Tür ist noch nicht richtig offen, geschweige denn steht eine von uns mit beiden Füßen im Raum, da springt Mary schon an mir hoch. Lachend versuche ich sie durch streicheln zu beruhigen, was nur solange funktioniert, bis sie Victora hinter mir entdeckt hat. Sofort lässt die Hündin von mir ab und springt stattdessen an ihr hoch. Irgendwie schafft sie es dennoch, ein paar Schritte in den Raum zu machen. Ich nutze die Gelegenheit und mache vorsichtig die Tür hinter uns zu. Wenig später habe ich auch gleich schon den Flyer unserer Lieblingspizzeria rausgekramt und die Nummer in mein Handy getippt. Ich will schon auf Anrufen klicken, da fällt mir ein, dass wir uns vorher entscheiden sollten, was wir essen.
»Weißt du schon, was du nimmst, Lina?«
»Keine Ahnung. Du isst doch immer vegetarisch, kannst du mir da was empfehlen? Möchte mal etwas Neues ausprobieren.«
»Habe noch nicht alles probiert, aber die Nummer fünf ist richtig lecker.«
»Die mit den fünf verschiedenen Käsesorten?«, sie nickt. »Das Bild sieht gut aus. Richtig schmackhaft. Nimmst du die gleiche?«
»Nein, ich tendiere zu Pizza Caprese. Das ist Nummer vierzehn.«
»Noch was anderes? Sonst bestelle ich jetzt.« Victora schüttelt den Kopf und ich beginne den Anruf. Fast sofort erklingt eine helle Stimme. »Pizza Corner by Mary Woolston, Lizzy McGregor am Telefon. Was kann ich für Sie tun?«
Ich gebe unsere Essensbestellung durch. Dann heißt es, eine gute Stunde warten, bis es geliefert wird. Ich sehe zu Victora: »Verdammt, ich freue mich sehr auf die Pizza. Ich glaube meine letzte ist schon eine Ewigkeit her.« Ihre Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln.
»Meine letzte Pizza ist etwa«, sie schaut auf die Uhr über der Tür,
»17 Stunden her.« Spaßeshalber schaue ich sie halb fassungslos, halb verärgert an und stemme meine Hände in die Seite, bevor ich zu einer sarkastischen Tirade ansetzte. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Detective Jarvis. Wie können Sie es wagen, einfach so alleine eine–«, weiter komme ich nicht, denn Victora prustet los. Mühsam versuche ich, meine ernste Miene aufrecht zu halten, was für einige Sekunden funktioniert. Plötzlich allerdings schaut Victora mich direkt an und ich kann nicht mehr. Zu ansteckend ist ihr erheitertes Lachen. Es vergeht ein Moment, bis wir uns wieder unter Kontrolle haben. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, die während dem Lachen hinter meinem Ohr hervorgerutscht sind. Ein-, zweimal durchatmen, dann schaffe ich es wieder zu sprechen.
»Gut, was machen wir als Nächstes?«
»Eine von uns könnte mit dem Kollegen sprechen, der die Überprüfung von Helen Stevens übernommen hat. Die andere könnte schon einmal, wie von dir vorgeschlagen, die sozialen Medien von George Bird durchsehen. Vielleicht finden wir so auch ohne ein weiteres Gespräch mit Helen Stevens eine Person, die ihn gekannt hat. Vielleicht jemanden, der mit ihm gearbeitet hat. Was davon möchtest du lieber machen?«
Bevor ich ihr antworte, blicke ich kurz auf mein Handy, um zu überprüfen, ob sonst noch neue Informationen eingegangen sind. Doch dem ist nicht so.
»Ich übernehme den Kollegen. Officer Miles hat das gemacht, richtig?« Sie nickt: »Gut, dann bleiben für mich ja nur die sozialen Medien. Ich bleibe einfach in deinem Büro, wenn du nichts dagegen hast? Dann ist Mary nicht schon wieder alleine.« Victora streichelt Marys Kopf, den meine Hündin auf ihrem Oberschenkel abgelegt hat.
»Klar, kein Problem. Du weißt, wo alles ist. Dann bis gleich, ihr beiden.« Ich beuge mich, um Mary zu kraulen, noch einmal zu ihr hinunter. Anschließend verlasse ich mein Büro auf dem Weg in das Großraumbüro, in dem Officer Miles arbeitet. Auf dem Flur begegnen mir nur wenige andere Menschen, was für die Mittagspause allerdings völlig normal ist. Ich will gerade die Tür zum Großraumbüro aufstoßen, da höre ich hinter mir jemanden meinen Namen rufen. Hastig fahre ich herum. Nur wenige Schritte von mir entfernt steht Jane.
»Oh–«
»Ja hey, wie kommt ihr voran bei eurem neuen Fall? Ihr seid doch für die Explosion aus dieser Nacht zuständig?« Sie verringert den Abstand zwischen uns, sodass wir uns besser unterhalten können.
»Bis jetzt noch schleppend.« Ich erzähle ihr, auf was wir alles warten und was wir bereits unternommen haben.
»Du sagst, eure Zeugin heißt Helen Stevens?«
»Ja, wieso?«
»Der Name sagt mir etwas. Ich weiß nur leider nicht, was.«
»Kennst du sie vielleicht irgendwoher?«
»Hm, ich weiß nicht. Kann sein, kann aber auch sein, dass ich einfach nur mal etwas über sie in der Zeitung gelesen habe oder so. Verdammt, ich weiß nicht genau. Kennst du dieses Gefühl, wenn dir etwas quasi auf der Zunge liegt, es dir aber einfach nicht einfällt?«
»Nur zu gut, leider. Aber ich denke, das kennt jeder irgendwie. Wir haben Helen Stevens überprüfen lassen. Wenn du magst, komm mit, wir müssten auch ein Bild von ihr haben. Vielleicht fällt dir dann ein, was der Name dir sagt.« Ich öffne die Tür zum Großraumbüro und warte darauf, dass Jane vor mir hineingeht. Anschließend folge ich ihr. Kaum einer der Schreibtische ist besetzt, doch die, die da sind, sind alle beschäftigt. Keiner schaut auf , als wir den Raum betreten und ich brauche einen kurzen Moment, um Officer Miles zu entdecken. Er arbeitet noch nicht lange hier im Präsidium von Kilney, weswegen wir noch nicht sonderlich bekannt miteinander sind. Erst als wir uns seinem Schreibtisch, der aus hellem Holz gefertigt ist, nähern, bemerkt er uns. Hastig springt er auf.
»Detective Fowler, Detective Jarvis, Sie sind sicher hier, um die Informationen zu ihrer Zeugin abzuholen?«
»Ja genau. Nur ist das hier nicht Detective Jarvis, sondern Detective Bates, sie begleitet mich vorübergehend.«
»Entschuldigen Sie bitte, Detective Bates. Ich dachte nur–. Also ich meine, man hört hier sehr viel davon, dass Sie nur mit Detective Jarvis zusammenarbeiten. Deshalb kam ich automatisch zu der Annahme, dass Sie–«, nervös stoppt er. Ich schaue zwischen ihm und Jane hin und her, wodurch ich das freundliche Lächeln bemerke, das sich auf Janes Gesicht abzeichnet.
»Das macht doch nichts, Officer Miles. Haben Sie vielleicht ein Bild der Zeugin?«
»Selbstverständlich. Warten Sie hier.« Er geht zu einem der großen Whiteboards im Raum und nimmt eines der vielen Fotos ab, die dort hängen. Es zeigt eindeutig unsere Zeugin Helen Stevens. Erst jetzt erkenne ich die anderen Bilder als Tatortfotos. Neben den Bildern, die unser verbranntes Opfer zeigen, ist ein fettes rotes Fragezeichen. Doch auch der Name von George Bird und der des Lagerhallenvermieters stehen dort. Officer Miles kommt zurück und reicht Jane das Bild.
Während sie es aufmerksam betrachtet, stelle ich dem Officer die Frage, was er alles herausgefunden hat. In dem Moment, in dem er anfangen möchte zu reden, schreit Jane auf. »Verdammt, ich weiß wieder, woher ich sie kenne. Wie konnte ich das nur vergessen?« Beinahe rutscht ihr das Foto aus der Hand. Alle Augenpaare hier im Raum richten sich auf Jane. Auch ich starre sie überrascht an.
»Was Jane, was? Woher kennst du sie?«
Kapitel 4
Helen
Nach dem Essen fährt Lewis mich zu sich nachhause. Auch wenn mir eigentlich nach Durchatmen zu Mute ist, bin ich dankbar, dass mein Bruder mich jetzt nicht alleine lässt. Zu viel Angst habe ich davor, dass alles wieder zurückkommt. All die Erinnerungen, die ich über Jahre hinweg verdrängt und irgendwo in den Tiefen meines Unterbewusstseins eingeschlossen habe. Bilder der Nacht schleichen sich vor mein inneres Auge und ich zwinkere hastig, um sie irgendwie zu vertreiben. Warum muss das alles ausgerechnet mir passieren? Schon beim ersten Mal konnte ich nicht glauben, dass das alles Realität ist. Auch jetzt geht es mir keineswegs anders. Ich sehne mich danach aufzuwachen und festzustellen, dass die letzten Stunden nur ein Albtraum waren.
Ein dumpfes Pochen in meinem Kopf reißt mich aus meinen Gedanken und ich stelle fest, dass das Auto stehen geblieben ist. Ohne dass ich es zur Kenntnis genommen habe, sind wir in der Einfahrt meines Bruders angekommen. Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen und drehe meinen Kopf in seine Richtung. Die Besorgnis in seinen Augen ist nicht zu übersehen.
»Helen, geht es dir nicht gut?«, flüstert er sanft. Ich schüttele den Kopf, überlege, wie ich ihm erklären kann, wie es mir geht, entscheide mich aber dann für ein schlichtes: »Nein.«
»Bist du sicher, dass ich dich nicht vielleicht doch ins Krankenhaus bringen soll?«
»Nein, Lewis, mir geht es gut. Die Sanitäter, die am–« ich stocke,
»Tatort waren, haben das auch gesagt.« Meine Stimme bricht, doch während ich das sage, schaue ich ihm in die Augen. Bemühe mich möglichst aufrichtig zu wirken.
»Wenn du das sagst.« er wendet sich von mir ab und öffnet die Autotür. Schmerz durchzuckt mich. Es tut mir weh, dass ich ihm nicht die Wahrheit sagen kann. Aber ich möchte ihn davor bewahren, die gleichen Bilder zu sehen wie ich. Mittlerweile kenne ich diese Qual gut genug und wünsche sie niemand anderem. Nach zwei tiefen Atemzügen steige auch ich aus.
Sofort fällt mir auf , wie frisch die Luft riecht. Ganz anders als im Industriegebiet. Dort roch es nach Fisch, Öl und irgendwas, das ich nicht benennen kann. Doch jetzt hier meine ich, sogar den Regen der letzten zwei Tage riechen zu können. Mein Blick fällt auf Lewis, der bereits die Haustür aufschließt. Ich beeile mich, ihm hinterher zu kommen. Das Treppenhaus ist glücklicherweise leer, als wir die Treppen zu Lewis´ Wohnung erklimmen. Schweigend gehen wir nebeneinander her. Erst als wir durch die Tür sind, breche ich das Schweigen.
»Danke, danke für alles.«
»Selbstverständlich, du bist doch schließlich meine Schwester.« Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel und ich erwidere es. Dann gehe ich zu der grauen Couch in seinem Wohnzimmer und lasse mich darauf sinken. Die Kissen sind weich und die Couch selbst hat die perfekte Härte. Mein Bruder folgt mir.
»Helen?«
»Hm?«
»Wir sollten darüber reden, wie es jetzt weitergeht.« Er klingt ernst.
Sehr ernst. Langsam setzt er sich neben mich. Meine Gedanken beginnen sich zu überschlagen. Was möchte er mir mit dieser Frage sagen?
»Wieso?«, spreche ich aus, was mir durch den Kopf geht. Für einen kurzen Moment lächelt er. Doch schon im nächsten Augenblick ist das Lächeln aus seinen Gesichtszügen verschwunden.
»Helen, du weißt, dass du mir die Welt bedeutest. Und ich weiß sehr wohl, dass dieses–«, er verstummt. Lewis sieht aus, als würde er sich andere Worte zurechtlegen: »Ereignis der Nacht dich wieder sehr mitnimmt, aber wir können nicht–. Du kannst nicht schon wieder davor weglaufen.« Die plötzliche Stille ist bedrückend. Wind pfeift durch das gekippte Wohnzimmerfenster. Mich beginnt es zu frösteln.
»Ich–«, setze ich an, doch mir fällt keine Erwiderung ein. Mein Bruder hat verdammt nochmal recht. Dennoch schreit alles in mir danach, wieder meinen Koffer zu packen und zu verschwinden. Irgendwohin, wo ich neu anfangen kann. Wo niemand meine Vergangenheit kennt. Wo mich niemand kennt.
»Helen.« Lewis greift nach meiner Hand: »Du kannst nicht wieder verschwinden. Bitte hör auf, daran zu denken.« Seine Stimme ist flehend. Der verletzte Ausdruck in seinen Augen entgeht mir nicht.