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Der Zirkus Asombroso ist in der Stadt! Die aufstrebende Journalistin Nika Gruen freut sich darauf, endlich ihren Bruder Ferenc wiederzusehen und von der exklusiven Generalprobe berichten zu dürfen. Doch alles verändert sich, als Ferenc bei seinem Auftritt in die Tiefe stürzt und tödlich verunglückt. Nika ist fassungslos, und während die Polizei von einem Unfall ausgeht, ist sie fest davon überzeugt, dass hinter Ferencs Sturz mehr stecken muss. Warum musste ihr Bruder sterben? Fest entschlossen macht sie sich mit ihrem Papagei Pearl auf die Suche nach der Wahrheit, die sie geradewegs zurück in den Zirkus Asombroso führt. Denn Abseits der Manege spielt sich Unerklärliches ab...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Alina Hesse
c/o easy-shop
K. Mothes
Schloßstraße 20
06869 Coswig (Anhalt).
Lektorat & Korrektorat: Christine Dreyer
Cover- und Innendesign: Annika Schüttler, Woodlice Designs, www.woodlice.de (@woodlice.designs)
Kapitel 1
Die Lichter werden gedimmt, und das Stimmgewirr um mich herum verstummt. Alle Blicke richten sich auf die Manege. Der schwere, rote Vorhang ist noch zugezogen, doch nicht mehr lange.
Der Geruch von Popcorn kitzelt in meiner Nase. Ich fische in der Tüte nach der süßen Leckerei und schiebe mir eine Handvoll in den Mund. Das zuckrige Etwas klebt augenblicklich an meinen Zähnen fest. Die Auswahl der Sorten war überwältigend. Neben den Standardsorten wird sowohl herzhaftes Käsepopcorn als auch süßes Karamellpopcorn verkauft. Meine Wahl fiel schließlich auf die süße Sorte.
Mit mir warten zahlreiche andere Journalisten und Pressevertreter auf den Beginn der Vorstellung – die erste Show des sagenumwobenen Asombroso, der zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder hier gastiert. Trommelwirbel erklingt; erst leise, dann immer lauter. Der rote Vorhang bewegt und öffnet sich. Staubpartikel tanzen durch die Luft und glitzern im Licht des Scheinwerfers. Eine Gruppe von Menschen tritt in die Manege. Ein paar fahren auf Einrädern, andere gehen auf ihren Händen. Ein weiterer jongliert fünf Bälle gleichzeitig. Theaterschminke ziert ihre Gesichter. Die Menge teilt sich in zwei und stellt sich kreisförmig am Rand der Manege auf. Die Musik wird lauter, die Trommeln kraftvoller – dann verstummt alles schlagartig. Eine Person löst sich aus der Masse und stellt sich in die Mitte des Personenkreises. Sie trägt einen roten Mantel, der bei jeder Bewegung mitschwingt. Scheinwerferkegel tanzen durchs Zirkuszelt und richten sich schließlich auf die Direktorin. Ihre langen blonden Haare sind zu einem Zopf geflochten, der fast bis auf den Boden reicht. Durch den schwarzen Zylinder wirkt sie noch größer als ohnehin schon. Ich bin mir sicher, dass sie mich um einige Zentimeter überragen würde, wenn sie neben mir stünde. Die Artisten verschwinden rückwärts hinter dem Vorhang. Lautstark applaudiert das Publikum. Auch ich klatsche voller Vorfreude auf die kommende Darbietung.
„Meine Damen und Herren, liebe Zirkusfreunde, es freut mich, euch alle hier zur ersten Show von Asombroso begrüßen zu dürfen.“ Mit einer ausladenden Geste unterstreicht sie ihre Worte. „Ihr alle seid heute hier, um einen unvergesslichen Abend zu erleben – voller Kunst, Täuschungen, atemberaubender Stunts und natürlich ein wenig Magie.“ Ihr Fingerschnipsen wird von Boxen laut wiedergegeben. Plötzlich erscheint eine Rose in ihrer freien Hand. Neugierig lehne ich mich ein Stück nach vorne. Woher ist diese Blume auf einmal gekommen? Das Mikrofon in der anderen bewegt sie wieder zu ihrem Mund. „Diesmal darf ich euch bitten: Macht so viele Fotos, wie ihr möchtet. Aber vergesst nicht, die Vorführung zu genießen!“ Mit einem Augenzwinkern wirft sie die Rose ins Publikum und verschwindet hinter dem schweren Stoff. Die Trommeln heben erneut an, steigern sich rasant, bis sie ohrenbetäubend laut sind … und dann ist es abrupt totenstill. Das Licht erlischt, und das Innere des Zirkuszelts ist nun in Dunkelheit gehüllt. Leise hört man, wie der Vorhang beiseitegeschoben wird.
„Hallooo, hallooo könnt ihr mich hööören?“
Ein lautes Ja tönt aus dem Publikum.
„Könnt ihr mich auch sehen?“
„Nein“
„Ohhhh.“ Die Stimme klingt niedergeschlagen. Ein Rumpeln folgt. „Und jetzt?“
„Nein.“
„Ohh, was mache ich denn jetzt? Sie können mich nicht sehen.“ Leise Schluchzer dringen aus den Lautsprechern. „Wie soll ein Clown denn lustig sein, wenn man ihn nicht sehen kann? Keiner wird lachen. Keiner lacht mit dem lustigen Clown Timba.“ Das Schluchzen wandelt sich in Heulen.
Obwohl ich weiß, dass alles nur eine Show ist, werde ich von Mitgefühl ergriffen. Der arme Clown. Mit einem kurzen Blick zu meinen Sitznachbarn stelle ich fest, dass es ihnen ähnlich zu ergehen scheint. Irgendwann geht das Licht tatsächlich an und die Show von Timba sorgt, wie versprochen, für viele Lacher.
Ich nutze den Moment, in dem die Manege für die nächste Show umgebaut wird, und tippe rasch einige meiner Gedanken ins Handy. Für den Artikel, den ich später schreiben werde, ist das vonnöten. Das Licht flammt wieder auf und die Manege ist komplett verwandelt. Auf dem Boden liegt eine riesige sternförmige Plane. Einige Meter darüber ist ein Sicherheitsnetz gespannt. Noch weiter oben, aber gut sichtbar, ist ein Hochseil angebracht. Voller Neugier auf die nächste Nummer lehne ich mich zurück und packe das Handy wieder ein. Für neue Notizen ist später noch Zeit. Der Vorhang geht abermals auf, und mein Atem stockt. Die Person, die heraustritt, kommt mir sehr bekannt vor.
Was? Jetzt schon?
Mir ist zwar bewusst, dass er irgendwann an diesem Abend auftreten würde, aber doch nicht so früh, oder? Ich kneife meine Augen zusammen, um den Menschen besser erkennen zu können, der in der Manege aufgetaucht ist. Meine Finger zittern. Trotz des hellen Lichts gelingt es mir nicht, den Mann eindeutig zu identifizieren. Na ja, früher oder später werde ich es herausfinden. Obwohl ich noch ein wenig angespannt bin, kontrolliere ich meinen Atem und übe mich in Geduld. Irgendwann wird der Name genannt.
Wenig später ist es so weit. Die Stimme der Zirkusdirektorin dringt aus den Lautsprechern, die überall im Zelt verteilt sind: „Hier kommt die nächste atemberaubende Show für euch. Seht zu, wie der höhenwahnsinnige Ferenc das Hochseil erklimmt und hoffentlich nicht herunterfällt.“ Das Publikum applaudiert. Ich hingegen schaffe es nicht, mich zu rühren. Getäuscht habe ich mich nicht. Da in der Manege steht mein Bruder. Ich fixiere ihn mit meinem Blick, aber er nimmt mich nicht wahr. Wie auch? Es sitzen viel zu viele Menschen um mich herum. Professionell verbeugt er sich, schlägt einen Salto und klettert die Strickleiter zum Hochseil hinauf. Kaum steht er auf der Plattform, wird von oben ein Fahrrad herabgelassen. Es sieht so aus, als würde es einfach durch die Luft schweben. Ferenc nimmt das Rad entgegen und präsentiert es triumphierend. Dann stellt er es vor sich ab. Es vergehen einige spannungsgeladene Momente, in denen er mit dem Rad Tricks auf dem Seil vorführt. Immer wieder, wenn es so aussieht, als würde er in die Tiefe stürzen, hält das Publikum den Atem an, nur um anschließend die Stille mit einem ohrenbetäubenden Applaus zu durchbrechen. Beim Klatschen halte ich mich nicht zurück. Das, was er da auf dem Seil zur Schau stellt, ist wahnsinnig beeindruckend. Einige seiner Kunststücke sehen fast so aus, als hätte die Schwerkraft hier im Zirkuszelt keine Gültigkeit. Er setzt zu einem Rückwärtssalto an und man sieht die Anspannung in seinem Körper. Das Seil wackelt, als er abspringt. Wider Erwarten landet er jedoch nicht einige Sekunden später mit den Reifen des Fahrrads auf dem Seil, sondern fällt daran vorbei. Ein Raunen geht durch das Publikum.
Ich halte den Atem an. Wie gut, dass es Sicherheitsnetze gibt. Der Fall kommt mir vor wie in Zeitlupe. Ferenc landet mit dem Rücken voraus in dem Netz, das kurz mitfedert und dann nachgibt. Genau an der Stelle, an der er gelandet ist, reißt es, und sein Sturz geht weiter. Ein knapper, erstickter Schrei entweicht ihm, während er mit einem lauten Krachen auf dem Zirkusboden landet. Es ist still. Totenstill. Ich springe auf. Schock hat Besitz von meinem Körper ergriffen und es dauert, bis ich einen rationalen Gedanken fassen kann.
Gehört das etwa zur Show? Dann ist das auf jeden Fall nicht besonders kinderfreundlich. Gedanklich mache ich mir eine Notiz für meinen Artikel. Die Stille dauert bereits einige Sekunden an, als es anfängt, mir komisch vorzukommen. Irritiert wende ich den Kopf meinen Sitznachbarn zu. Auch sie blicken sich ruhelos um. Ferenc regt sich nicht. Weitere Sekunden vergehen, bevor das erste Flüstern losgeht. Der Vorhang bauscht sich auf. Eine mir fremde Frau stürmt in die Manege und beugt sich über meinen Bruder. Das Licht geht aus und ich kann nur erahnen, wie sie nach seinem Handgelenk greift. Langsam breitet sich Angst in mir aus. Das kann nicht mehr zur Show gehören … oder? Das hier soll schließlich die Aufführung eines Zirkus sein und keine Horrorshow. Auch wenn ich Ferenc schon seit einigen Jahren nicht mehr besonders nahestehe, will ich nicht, dass ihm etwas passiert ist. Hilflosigkeit lähmt mich, doch nach einigen Sekunden schaffe ich es, mich zu regen. Vorsichtig neige ich mich zu meiner Sitznachbarin.
„Hey, kurze Frage, denkst du, dass das gewollt ist? Irgendwie dauert diese Pause schon ganz schön lange und besonders kinderfreundlich ist das auch nicht.“ Sie dreht sich zu mir.
„Keine Ahnung, das habe ich mich auch schon gefragt. Nicht dass dem Artisten wirklich etwas passiert ist. Der Sturz sah schmerzhaft aus.“ Ich nicke.
„Hoffentlich gehört das alles zur Aufführung.“ Nervös bewege ich meine Finger. Einige um mich herum haben aufgehört, in die Manege zu schauen, und widmen sich ihren Notizen. Wie gebannt starre ich auf den roten Stoff. Die Zeit vergeht quälend langsam, bis endlich ein Knacken durch die Lautsprecher dringt.
„Es tut mir leid. Die Show muss an dieser Stelle vorzeitig abgebrochen werden. Wir können den Abend nicht wie geplant fortsetzen. Ich muss euch bitten, Ruhe zu bewahren und auf euren Plätzen zu bleiben. Leider dürft ihr noch nicht gehen.“ Sie stockt. „Es wird noch ein Statement von meiner Schwester geben. Sie kann euch bis dahin hoffentlich mehr sagen. Bitte nicht erschrecken, gleich werden Rettungskräfte und die Polizei im Zirkuszelt auftauchen. Bewahrt bitte Ruhe.“ Erste Rufe aus dem Publikum werden laut.
Was ist passiert?
Wieso dürfen wir nicht gehen?
Ein Räuspern dringt aus den Lautsprechern.
„Es tut mir wirklich leid. Ich kann euch nicht mehr sagen. Wir werden euch sobald wie möglich über das weitere Vorgehen informieren.“ Das Licht geht wieder an, der Vorhang bleibt zu. Ich sehe mich um. Auch um mich herum scheinen die Leute begriffen zu haben, dass das nicht mehr zur Show gehört. Hoffentlich geht es meinem Bruder gut. So glimpflich kann es nicht ausgegangen sein, wenn Rettungskräfte und die Polizei hier eintreffen. Mühsam versuche ich, ruhig zu atmen und meine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Es bringt nichts, sich jetzt Horrorszenarien auszumalen. Nichtsdestotrotz drehen sie Kreise. Es dauert einige Sekunden, bis es mir gelingt, klare Gedanken zu fassen. Mit etwas Glück gelingt es mir, mich mit meiner Arbeit abzulenken. Immerhin gibt es da noch einen Artikel, den ich schreiben muss. So makaber es auch ist, eine unvorhergesehene Wendung lässt die Auflagenzahlen in die Höhe schießen. Mein Journalistensinn übernimmt vollständig. Wird es vielleicht einen Nachholtermin für die Presse geben? Muss ich eine dramatische Unfallstory schreiben? All diese Fragen notiere ich mir geschwind in meiner Notiz-App. Die wichtigste jedoch, wie es Ferenc geht, behalte ich im Kopf. Wir waren gerade erst dabei, uns anzunähern. Drei Jahre haben wir nicht miteinander gesprochen. Und kaum sind wir auf dem Weg, wieder ein geschwisterliches Verhältnis aufzubauen, stürzt er. Meine Hand zittert, während ich tippe. Spurlos geht das, was eben geschehen ist, nicht an mir vorbei.
Ich puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als ich dabei bin, mir einen besseren Rundumblick über das Zirkusinnere zu verschaffen. Der Vorhang in der Manege ist noch immer zugezogen. Von meinem erhöhten Standort aus kann ich jetzt aber erkennen, dass Rettungskräfte und zwei Polizisten zwischen dem Stoff hindurchtreten. Leider sitze ich zu weit oben, um das Gespräch mitzuhören. Es kann nicht sein, dass uns nicht gesagt wird, was passiert ist. Wir alle haben den Sturz von Ferenc mitangesehen. Und er muss verletzt sein, sonst wären nicht so viele Sanitäter hier, oder? Jedenfalls gibt es in einem Zirkus in der Regel einen Arzt, der eine leichte Verletzung behandeln könnte. Auch wenn wir erst vor kurzem angefangen haben, uns wieder anzunähern, schlägt mein Herz schneller. Diese Ungewissheit quält mich.
„Alles okay? Geht es dir gut?“ Meine Sitznachbarin hat sich mir zugewandt. Ich lächele gezwungen.
„Danke, ja, es geht. Es ist nur–“ Meine Stimme wird leiser. „Ferenc ist mein Bruder.“
„Oh, tut mir leid, dass du den Sturz mit ansehen musstest. Diese Ungewissheit, wie es ihm geht, muss dich wahnsinnig machen.“ Ich nicke, dem Gesagten ist nichts mehr hinzuzufügen. „Hoffentlich gibt es bald Entwarnung. Kann ich so lange irgendetwas für dich tun?“ Es rührt mich, dass diese fremde Frau so aufmerksam ist und sich um mich sorgt. Das ist heutzutage nicht selbstverständlich.
„Danke, aber ich wüsste wirklich nicht, was.“
„Schon okay. Sag einfach Bescheid.“ Ein freundliches Lächeln ziert ihr Gesicht.
Um mich weiter abzulenken, hole ich Stift und Zettel aus der Jackentasche. Obwohl ich fast alles an Notizen digital festhalte, ist es immer ratsam, noch eine Ausweichmöglichkeit zu haben. Mit meiner Hand beginne ich Kreise und Linien auf das Papier zu bringen. Und damit Ruhe in meinen Kopf, die genauso lange anhält, bis einer der Polizisten durch das Publikum läuft. Sofort schrillen sämtliche Alarmglocken. Warum kommt er genau auf mich zu? „Frau Gruen?“ Er bleibt im Gang stehen und sieht mich an, spricht mich an. Ich nicke. „Würden Sie bitte mitkommen?“
„Natürlich.“ Was sollte ich auch sonst tun? Als ich an der aufmerksamen Sitznachbarin vorbeigehe, höre ich ein Flüstern. „Viel Glück.“ Dankbar werfe ich ihr einen letzten Blick zu, bevor ich dem Polizisten folge. Wir steigen die Tribüne hinab. Ich merke, wie sich die Leute zu mir umdrehen. Neugierig lasse ich meinen Blick schweifen. Werden noch weitere Menschen von Polizisten angesprochen? Nirgendwo im Publikum kann ich weitere Beamte entdecken. Für einen Moment frage ich mich, woher der Polizist überhaupt wusste wer ich bin und wo ich sitze – bis mir die Sitzordnung wieder einfällt.
Als wir die letzten Stufen hinuntergestiegen sind, gehen wir um die Manege herum. Auch von hier aus kann man nicht hinter den Vorhang schauen. Der schweigsame Polizist führt mich in Richtung Ausgang. Gemeinsam verlassen wir das Zelt. Die Luft ist vergleichsweise kühl und riecht angenehm frisch. Eine willkommene Abwechslung zur stickigen Zirkuszeltluft. Ich hebe den Kopf und betrachte die Schäfchenwolken. Hier draußen sieht es friedlich aus. Mit den Gedanken woanders bemerke ich nicht, wie der Polizist stehen bleibt. Dadurch stoppe ich zu spät und laufe voll in ihn rein. Er räuspert sich, als er sich zu mir umdreht.
„Entschuldigen Sie bitte.“
„Schon okay. Sind Sie alleine hier?“
„Ja, ich bin Journalistin. Ich wurde zu dieser Pressevorführung eingeladen.“ Er mustert mich und ich meine, so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen erkennen zu können. „Gut, dann folgen Sie mir bitte.“ Der Polizist läuft wieder vor mir her. Wir gehen an dem geschlossenen Ticketschalter vorbei und lassen auch die Fotobox hinter uns. Der Weg führt uns aus dem Publikumsbereich zu dem durch einen Bauzaun abgetrennten Gebiet für die Artisten. Hier reiht sich Wohnwagen an Wohnmobil. Allerdings brennt nur in einem davon Licht. Genau darauf steuern wir jetzt zu. Ich bleibe neben dem Mann stehen als er die Hand hebt, um an der Tür zu klopfen. Ein breiter Silberring steckt an seinem kleinen Finger. Das Wappen, das in das edle Metall eingraviert ist, kann ich in dem schummrigen Licht der Dämmerung nicht erkennen. Dumpf klingt ein Herein durch die geschlossene Tür zu uns. Wenige Sekunden später trete ich hinter dem Polizisten in das Wohnmobil, das größer wirkt als gedacht. Ein weiterer Ermittler sowie die Zirkusdirektorin und eine mir unbekannte Frau sitzen um einen Tisch. Tränen glitzern in den Augen der Fremden und ihre bunte Schminke ist verschmiert. Irritiert sehe ich mich in dem Wagen um. Was soll ich hier? Warum kann ich nicht wie die anderen im Zirkuszelt warten? Ein Gedanke keimt tief in meinem Bewusstsein auf. Hektisch beginne ich zu blinzeln, um ihn wieder zu vertreiben. Das, was mir gerade durch den Kopf geschossen ist, wäre viel zu schrecklich. Ich brauche Antworten! Mein Blick heftet sich auf den Mann, der mich die gesamte Zeit über begleitet hat. Er wird wissen, warum er mich herführen sollte. „Warum bin ich hier?“, spreche ich endlich die Frage aus, die mir seit dem ersten Schritt auf der Seele brennt.
„Setzen Sie sich.“ Er deutet auf den einzigen freien Sitz direkt neben der Zirkusdirektorin. Zögerlich lasse ich mich nieder. Das Ausweichen auf eine Frage bedeutet nie etwas Gutes. Um Ruhe zu bewahren, lege ich meine Hände auf die Tischfläche vor mir. So können sie nicht anfangen, unkontrolliert zu zittern. Der andere Polizist ergreift das Wort. „Frau Gruen, danke, dass Sie mit meinem Kollegen mitgegangen sind. Mein Name ist Malik Brenner. Wir haben eine wichtige Frage an Sie: Sind Sie mit Ferenc Gruen verwandt?“ Ich nicke, mein Hals ist wie zugeschnürt. Nach dem, was sich heute Abend im Zirkuszelt abgespielt hat, war es klar, dass es jetzt um ihn gehen würde. „Was ist mit meinem Bruder?“ Alarmiert sehe ich dem Polizisten fest in die braunen Augen.
„Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Bruder den Sturz vom Hochseil nicht überlebt hat.“ Mein Atem stockt und mein Herz stolpert. Was hat er gerade gesagt? Ich höre meinen Herzschlag deutlich in meiner Brust pochen. Ein leises Was? Verlässt meine Lippen. Die beiden Frauen sehen mich mitfühlend an. Die Miene des Polizisten wird sanfter. „Ihr Bruder, Ferenc Gruen, hat den Sturz nicht überlebt.“ Nur langsam dringen seine Worte in mein Bewusstsein. Noch bevor ich sie ganz verstanden habe, fließen meine Tränen. Ein Schluchzen entweicht mir, und ich beginne, um meinen Bruder zu weinen. Es vergehen einige Momente, bis die Zirkusdirektorin mir ein Taschentuch reicht.
„Hier, nehmen Sie eins.“ Ihre Stimme klingt sanft und einnehmend. Ganz anders als im Zirkuszelt. Dem Ort, an dem ich Ferenc beim Sterben zugesehen habe. Mein Blickfeld ist getrübt von den Tränen, und ich halte mich krampfhaft an dem dünnen Papier fest.
Atmen und Ruhe bewahren.
Weinen hilft mir jetzt nicht. Dafür ist später noch Zeit. Ich räuspere mich. Trotz der schockierenden Offenbarung ist irgendwo in mir auch noch meine journalistische Neugierde verborgen. Und die will wissen, wieso er gestorben ist. Langsam wird meine Sicht wieder scharf, und ich lasse mit dem Taschentuch die Spuren der Tränen aus meinem Gesicht verschwinden. Nachdem ich auch meine Nase geschnäuzt habe, sehe ich den Polizisten auffordernd an. Überrascht drehen sich alle Köpfe zu mir und beobachten mich argwöhnisch. Sekunden vergehen.
Kapitel 2
„Frau Gruen, geht es Ihnen gut?“ Ich nicke, auch wenn das nicht unbedingt den Tatsachen entspricht. Doch ich möchte Informationen, also wahre ich den Schein.
„Wie ist mein Bruder gestorben?“
„So genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Die Untersuchungen sind nicht abgeschlossen. Aber bei einem Sturz aus großer Höhe ist ein Schädelhirntrauma oder eine Wirbelsäulenverletzung nicht unwahrscheinlich.“ Schon klar, eine Autopsie wird in dieser kurzen Zeit noch nicht gemacht worden sein. Wie lange ist mein Bruder schon tot? Um die Frage zu beantworten, werfe ich einen schnellen Blick auf die rote Armbanduhr an meinem linken Handgelenk. Etwa eine halbe Stunde ist seit der Unterbrechung vergangen. Ob er sofort tot war? Ich muss das später unbedingt recherchieren. „Versuchen Sie nicht, sich das vorzustellen, glauben Sie mir. Behalten Sie Ihren Bruder lieber lebendig in Erinnerung.“
„Ich brauche mir das nicht vorstellen. Ich habe gesehen, wie er gestorben ist. Haben Sie vergessen, dass ich im Publikum gesessen habe?“ Der letzte Satz klingt verzweifelt. Vielleicht bin ich das auch … verzweifelt.
„Brauchen Sie einen Moment, bevor wir fortfahren?“ Hastig schüttele ich meinen Kopf.
„Sie haben meine Frage falsch verstanden. Mir geht es nicht um die Todesursache, sondern um den Grund, wie das passieren konnte. Mein Bruder ist seit acht Jahren beim Zirkus, seit drei Jahren hier. Wie konnte er vom Hochseil fallen und durch das Sicherheitsnetz?“ Empört lasse ich meine Hände auf die Tischplatte sinken. Es ergibt einfach keinen Sinn. Fernec war ein guter Artist.
„Unfälle passieren.“ Die Zirkusdirektorin schaut mich an. Als würde sie meinen Blick mit ihren braunen Augen festhalten wollen, starrt sie mir unnachgiebig in meine. „Jeder Artist, möge er noch so gut sein, macht mal einen Fehler.“ Malik Brenner räuspert sich.
„Frau Mendez, bitte überlassen Sie mir das Gespräch.“ „Aber natürlich“, entschuldigend lehnt sie sich im Stuhl zurück und gibt meine Sicht frei. Der Blick des Polizisten ist freundlich. Anders als die der Zirkusdirektorin sind seine Augen blau und warm. Irgendetwas an ihrem Ton kommt mir seltsam vor. Greifen kann ich das Gefühl allerdings nicht.
„Frau Gruen, es ist absolut verständlich, dass Sie diese Fragen quälen. Allerdings kann ich Ihnen beim besten Willen keine Antwort geben. Aus dem einfachen Grund, weil wir selbst noch keine Antwort haben. Ihr Bruder ist tot, das ist eine Tatsache. Wie es dazu gekommen ist, das müssen die Ermittlungen in den nächsten Tagen zeigen. Deshalb muss ich Sie bitten, dass Sie in den nächsten Tagen bereit sind, uns einige Fragen zu beantworten.“
„Okay, das ist kein Problem. Ich möchte Ihnen nur bereits vorab sagen, dass der Kontakt zu meinem Bruder in den letzten Jahren etwas eingeschlafen ist. Wir waren gerade erst dabei, uns wieder anzunähern.“ Der zweite Polizist macht sich eilig Notizen.
„Lassen Sie uns darüber noch einmal an einem anderen Tag reden. Für heute haben Sie genug zu verarbeiten.“
„Glauben Sie, dass der Tod meines Bruders kein Unfall war?“
„Wie gesagt, Frau Gruen, wir wissen es nicht. Wir werden seinem Tod nachgehen und alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir werden herausfinden, ob es ein Unfall war. Frau Mendez hat es bereits angesprochen: Egal wie gut ein Artist ist und wie lange er schon dabei ist, es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren.“
„Dafür gibt es Sicherheitsvorkehrungen. Das Netz hätte nicht reißen dürfen!“ Wut flammt in mir auf. Langsam fange ich an, die Situation zu verstehen. Es hätte überhaupt nicht zu Ferencs Tod kommen dürfen.
„Bitte beruhigen Sie sich wieder. Ich kann nachvollziehen, dass es Sie ärgert, keine Antworten auf Ihre berechtigten Fragen zu bekommen. Vertrauen Sie uns. Wir klären das auf. Für Sie und für Ihren Bruder.“ Missmutig schaue ich die beiden Polizisten abwechselnd an. Die Antwort genügt mir nicht; sie stellt meine Neugierde nicht zufrieden. Hoffentlich klärt sich das in den nächsten Tagen.
„Was passiert mit dem Leichnam?“
Verdammt, ich muss jetzt eine Beerdigung organisieren. Tränen schießen mir in die Augen. Je mehr mit seinem Tod zusammenhängt, desto bewusster wird mir die Endgültigkeit.
„Erst mal muss er obduziert werden. Dann müssen wir unsere Ermittlungen abschließen, bevor wir ihn freigeben können. Sie können sich gerne mit einer Person von der Trauerbegleitung in Verbindung setzen. Die kann Sie beraten und steht Ihnen unterstützend zur Seite.“ Er reicht mir eine Karte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, stecke ich sie in meine Pullovertasche. Für Trauerbegleitung fehlen mir die Kapazitäten. Die Fragen lasten zu schwer auf meiner Seele. Für Gefühle ist Zeit, wenn alles geklärt ist. „Kann ich irgendetwas tun außer abzuwarten?“ Sehnsüchtig sehe ich den Polizisten an. Ich hasse es, wenn ich nichts zu tun habe. Ich hasse das Gefühl der Machtlosigkeit. Deshalb bin ich Journalistin geworden. Da gibt es immer Fragen, die der Klärung bedürfen und deren Antworten ich für andere Menschen herausfinden kann.
„Ruhen Sie sich aus und versuchen Sie, den heutigen Tag zu verarbeiten. Uns ist klar, dass das nicht leicht wird. Wir werden Sie in den nächsten Tagen bezüglich eines Gesprächstermins kontaktieren. Sobald Sie uns helfen können, sagen wir Ihnen Bescheid.“
„Was passiert mit den Sachen meines Bruders? Wie geht es jetzt weiter?“ Mein Blick wandert zur Zirkusdirektorin. „Ferenc gehört ein Wohnmobil. Der Großteil seiner Besitztümer sollte sich darin befinden. Gerne können Sie die Sachen durchsehen und mitnehmen. Am besten treffen wir uns die Tage und besprechen alles genauer. Hier,“ sie kramt in der Tasche ihres Sakkos, „haben Sie meine Nummer. Wenn Sie bereit sind, können Sie sich bei mir melden.“ Dankbar nehme ich die Karte entgegen. Es ist gut, wenn ich eine Ansprechpartnerin im Zirkus habe. Denn was meinem Bruder alles gehört oder nicht gehört hat, weiß ich durch die lange Kontaktpause nicht. „Ach, und wir würden gerne eine Trauerfeier hier im Zirkus abhalten. Für unsere Artistenfamilie. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind. Und selbstverständlich sind Sie herzlich eingeladen. Auch Ferencs Eltern und weitere Geschwister.“
„Es gibt keine anderen Geschwister oder Eltern. Sie dürfen die Feier ausrichten und ich komme gerne.“ Ein feines Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. So eine Artistenfeier ist bestimmt wunderschön, obwohl der Anlass traurig ist.
„Das tut mir leid. Umso mehr freut es uns, dass Sie kommen werden. Wir werden Ihnen eine offizielle Einladung zukommen lassen.“ Nachdem ich die Kontakte der Polizisten bekommen habe, verlasse ich das Wohnmobil. Mit einem Kopf voller Gedanken und offenen Fragen mache ich mich auf den Heimweg.
Mein E-Mail-Postfach quillt über, als ich mich am nächsten Morgen einlogge. Meiner Chefin habe ich gestern Abend bereits von dem unvorhergesehenen Ereignis berichtet. Sie scheint sich nicht zurückgehalten zu haben, was den Tod meines Bruders angeht, denn einige Kollegen haben mir Beileidsmails geschrieben. Auch von ihr finde ich eine solche Mail, allerdings mit mehr Inhalt als den gewöhnlichen lieb gemeinten, aber leeren Worten.
Hey Nika, es tut mir wahnsinnig leid, dass du das gestern miterleben musstest. Grausam, dass dein Bruder aus dem Leben gerissen wurde. Von Herzen mein Beileid! Ich nehme dich natürlich erst mal für einige Tage aus der weiteren Planung raus, damit du dich sammeln kannst. Melde dich jederzeit, wenn du Unterstützung benötigst. Den geplanten Artikel zur Zirkusvorführung werden wir so nicht umsetzen. Stattdessen schreiben wir über den Unfall. Natürlich musst du das nicht selbst erledigen. Ich werde jemand anderen damit beauftragen. Super wäre es allerdings, wenn du mir deine Notizen von gestern Abend übermitteln würdest. Alles Liebe, deine Alicia Runge
Ich überfliege den Text ein zweites Mal. Jemand anderes soll den Artikel schreiben? Den Text, in dem es um den Tod meines Bruders geht? Dabei bin ich die Einzige, die an dem Abend dabei gewesen ist. Die Einzige, die die Emotionen gefühlt hat. Oder ist es genau das, was meine Chefin vermeiden möchte? Dass mein Text zu emotionsgeladen wird? Schließlich soll die Zeitung informieren und keine großen Gefühle bei den Lesenden hervorrufen. Nichtsdestotrotz fühlt es sich nicht richtig an, wenn jemand anderes diesen Artikel schreibt.
Einatmen, dann lege ich das Handy vor mich auf den Tisch. Bevor ich Alicia das schreibe, muss ich mir erst sicher sein, dass ich das wirklich kann. Mein Blick schweift in Richtung Fenster.
Pearl, mein Amazonenpapagei, sitzt auf der selbstgebauten Papageienschaukel und schaut interessiert durch das Glas. Sie liebt es, dort zu sitzen und die frei fliegenden Vögel zu beobachten. Ab und zu krächzt sie Vogel