Deutsche Gebärdensprache - Claudia Becker - E-Book

Deutsche Gebärdensprache E-Book

Claudia Becker

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Beschreibung

Wie kann das gemeinsame Lernen von hörgeschädigten und hörenden Kindern gelingen? Das Buch bietet Impulse für den Unterricht in Laut- und Gebärdensprache. Die Autorinnen erläutern linguistisch den Aufbau der Deutschen Gebärdensprache, beschreiben, wie Kinder Gebärdensprache lernen und zeigen, wie sich eine Hörschädigung auf den Erwerb der Laut- und Schriftsprache auswirkt. Das Buch richtet sich vor allem an Lehrkräfte und Pädagog*innen, die z. B. in der inklusiven Regelschule, Förderschule oder Frühförderung mit hörgeschädigten Kindern arbeiten, sowie an Sprachdidaktiker*innen und Lehramtsstudierende.

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Claudia Becker / Hanna Jäger

Deutsche Gebärdensprache

Mehrsprachigkeit mit Laut- und Gebärdensprache

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8175-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0146-2 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Gehörlose Menschen – eine Sprach- und Kulturgemeinschaft1.1 Gehörlosigkeit: drei Perspektiven1.2 Terminologie: Welche Bezeichnung ist richtig?1.3 Aufgaben1.4 Weiterführende Literatur2 Die Deutsche Gebärdensprache – Sprache im Raum2.1 Was ist DGS nicht?2.2 Was ist DGS?2.2.1 Komplexe Struktur: Bewegung mit System2.2.2 Variation in Gebärdensprachen2.3 Etwas Besonderes: Internationale Kommunikation2.4 Gebärdensprachen schreiben2.5 Aufgaben2.6 Weiterführende Literatur3 Bimodale Mehrsprachigkeit3.1 Mehrsprachigkeit mit Laut- und Gebärdensprachen3.2 Jede Sprachbiographie ist anders3.3 Auf den frühen Erstspracherwerb kommt es an3.4 Aufgaben3.5 Weiterführende Literatur4 Wie wird Deutsche Gebärdensprache erworben?4.1 Gebärdenspracherwerb4.1.1 Phasen des Gebärdenspracherwerbs4.1.2 Erwerbsstrategien: Hilft Ikonizität beim Gebärdenspracherwerb?4.2 Verschiedene Wege zum Gebärdenspracherwerb4.3 Deutsche Gebärdensprache in der Schule fördern4.4 Aufgaben4.5 Weiterführende Literatur5 Wie wird Deutsch von hörgeschädigten Kindern erworben?Ziele5.1 Verstehen von gesprochener Sprache bei einer Hörschädigung5.2 Wie wirkt sich eine Hörschädigung auf den Erwerb des Deutschen aus?5.3 Lesen und Schreiben lernen mit einer Hörschädigung5.4 Deutsch in der Schule fördern5.5 Aufgaben5.6 Weiterführende Literatur6 Bimodal-bilinguale Bildung in der inklusiven Schule6.1 Ziele der bimodal-bilingualen Erziehung und Bildung6.2 Bausteine der bimodal-bilingualen Erziehung und Bildung6.3 Tipps für die Gestaltung des bimodal-bilingualen Unterrichts und des Schullebens6.4 Aufgaben6.5 Weiterführende LiteraturLiteraturverzeichnisLösungsvorschläge zu den Aufgaben

Vorwort

Das Leben ist vielfältig. Dazu gehört auch, dass Menschen unterschiedliche Sprachen verwenden. Menschen benutzen nicht nur verschiedene gesprochene Sprachen, sondern auch Gebärdensprachen. Der Blick auf die vielfältigen Sprachen eröffnet uns unterschiedliche Perspektiven, Kulturen und Formen des Zusammenlebens von Menschen.

Durch die zunehmende Implementierung inklusiver Bildungsangebote in Deutschland besuchen heute immer mehr hörende und hörgeschädigte Kinder gemeinsam eine Schule. Neben unterschiedlichen Lautsprachen bringen die Kinder in diesen Kontexten zusätzlich die Deutsche Gebärdensprache (DGS) mit bzw. lernen diese in der Schule. Diese sprachliche Vielfalt bereichert den Unterricht und den Schulalltag, führt aber auch zu vielen Fragen: Was ist die Deutsche Gebärdensprache? Was bedeutet „Gehörlosenkultur“? Wie können Gebärdensprache, Laut- und Schriftsprache gewinnbringend für alle im Unterricht eingesetzt werden? Wie wirkt sich eine Hörschädigung auf den Spracherwerb aus und wie kann die Sprachbildung bei einer Hörschädigung gestaltet werden?

Mit diesen Fragen sind vor allem Lehrerinnen und Lehrer im Regelschulbetrieb konfrontiert, die mit der inklusiven Bildung von hörenden und hörgeschädigten Kindern Neuland betreten. Ziel dieses Buches ist deshalb, insbesondere Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinbildenden Schulen, aber auch allen Interessierten eine Handreichung zu geben, die über die Mehrsprachigkeit mit Gebärdensprache und Lautsprache aufklärt und praktische Tipps und didaktische Anregungen für die Sprachbildung und Förderung von Sprachbewusstheit hörgeschädigter Kinder in inklusiven Settings bietet.

Das Buch ist in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil (Kap. 1-3) geben wir einige Hintergrundinformationen. Wir erläutern unterschiedliche Sichtweisen auf Gehörlosigkeit und erklären, was es mit der Kultur der Gebärdensprachgemeinschaft auf sich hat. Wir stellen außerdem dar, was die Deutsche Gebärdensprache als natürliche Sprache auszeichnet und was „bimodale Mehrsprachigkeit“ bedeutet. Im zweiten Teil (Kap. 4-6) geht es um didaktische und unterrichtspraktische Chancen und Herausforderungen, die sich durch die Mehrsprachigkeit mit Laut- und Gebärdensprachen ergeben. Dabei gehen wir der Frage nach, wie die Deutsche Gebärdensprache und die deutsche Laut- und Schriftsprache im Kontext einer Hörschädigung erworben und gefördert werden kann und wie sich bimodale Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext gewinnbringend gestalten lässt.

Für die bessere Lesbarkeit haben wir uns für das generische Maskulinum entschieden. Diese Formulierungen umfassen selbstverständlich gleichermaßen weibliche und männliche Personen. Außerdem haben wir, ebenfalls im Sinne einer besseren Lesbarkeit, im Text weitgehend auf Literaturangaben verzichtet. Am Ende jedes Kapitels empfehlen wir Ihnen aber gerne Literatur, die Ihnen weitere Hintergrundinformationen, den Stand der Forschung und Tipps für die Sprachbildung mit Laut- und Gebärdensprache bietet.

Lassen Sie sich von der Welt der Gebärdensprachen faszinieren. Vielleicht haben Sie ja nach der Lektüre Lust, selbst die Deutsche Gebärdensprache zu lernen?

 

Berlin und Leipzig, im September 2018 Claudia Becker und Hanna Jaeger

1 Gehörlose Menschen – eine Sprach- und Kulturgemeinschaft

Ziele

Wer sind die gehörlosen bzw. hörgeschädigten Kinder und Erwachsenen eigentlich, zu deren Leben Mehrsprachigkeit mit Gebärdensprache und Lautsprache gehört? In den folgenden Abschnitten werden wir erklären, dass Gehörlosigkeit aus unterschiedlichen Gesichtspunkten wahrgenommen und erlebt wird. Ziel dieses Kapitels ist es, eigene Sichtweisen kritisch zu hinterfragen und den Blick dafür zu weiten, dass das, was für manche Menschen vielleicht ein ernsthaftes Problem darstellt, von anderen als eine wertvolle Facette des Lebens betrachtet wird, die es fröhlich zu gestalten gilt.

1.1Gehörlosigkeit: drei Perspektiven

Auf den ersten Blick ist Gehörlosigkeit eine physische Erscheinung, die auf Einschränkungen des Hörvermögens basiert. Viele hörende Menschen betrachten eine Hörschädigung als einen Zustand, der das Leben des Individuums negativ beeinträchtigen und somit ein Problem darstellen muss, das es möglichst zu beheben gilt. Menschen, die selbst einmal gut hören konnten und erst im Laufe ihres Lebens von einem Hörverlust betroffen sind, erleben eine Hörschädigung vermutlich ebenfalls als Verlust.

Aber nicht alle Menschen mit einer Hörschädigung teilen diese eher defizitorientierte Sichtweise. Für viele Menschen, insbesondere diejenigen, die von Geburt oder früher Kindheit an mit einer Gehörlosigkeit aufgewachsen sind, ist die physische Kondition der Gehörlosigkeit zwar ein reales Phänomen, sie empfinden diese jedoch nicht unbedingt als Verlust. Sie haben nicht das Gefühl, dass ihnen etwas Wichtiges fehlt. Im Gegenteil – sie identifizieren sich mit der Gebärdensprache und der Gebärdensprachgemeinschaft, die sich nicht über Hör(un)vermögen definiert, sondern sich als eine auf Zusammenhalt ausgerichtete Wertegemeinschaft versteht.

Aufgrund dieser Komplexität, die sich nicht nur durch eine Sicht von außen, sondern tatsächlich auch durch konträre Selbstverständnisse unterschiedlicher Menschen mit einer Hörschädigung ergibt, macht es Sinn, sich ein wenig näher mit einzelnen Positionen zu beschäftigen und zu überlegen, inwiefern diese für den Schulalltag relevant sein können.

Gehörlosigkeit: ein medizinisches Problem?

Aus medizinischer Perspektive wird ein Hörverlust als eine Abweichung vom „Normalzustand“ betrachtet, den es möglichst zu heilen oder zu kompensieren gilt. Um hörgeschädigten Menschen das Hören zu ermöglichen, ist die medizinisch-technische Forschung bemüht, durch Hörtechnologie und medizinische Eingriffe den bestmöglichen „Normalzustand“ (wieder) herzustellen. Mittlerweile sind sehr gute Hörgeräte auf dem Markt, die auch hochgradig hörgeschädigten und zum Teil auch gehörlosen Menschen ein gutes, wenn auch weiterhin eingeschränktes Hören ermöglichen. Diese technischen Errungenschaften werden von vielen hörgeschädigten Menschen als sehr wertvoll erlebt, da sie ihnen die Kommunikation in gesprochener Sprache mit hörenden Menschen ermöglichen.

Die ausschließlich medizinische Sichtweise auf Gehörlosigkeit wird allerdings von vielen, insbesondere auch hörgeschädigten Menschen kritisiert, da es sich um eine oft ausschließlich defizitorientierte Sichtweise handelt, die das vermeintliche Problem des Nicht-Hören-Könnens in den Fokus rückt. Diese Sichtweise lässt allerdings wenig Raum für die Idee, dass es Menschen gibt, die Gehörlosigkeit als eine besondere Facette ihres Lebens und Gebärdensprachen als eine Bereicherung der Gesellschaft betrachten. Häufig geht der ausschließlich medizinische Ansatz Hand in Hand mit der Ablehnung von Gebärdensprachen. Ausgehend von einem phonozentrischen, das heißt lautsprachorientierten Weltbild wird aus dieser Perspektive gebärdensprachliche Interaktion als Kommunikation zweiter Klasse wahrgenommen, frei nach dem Motto: „Auf die Gebärdensprache muss zurückgegriffen werden, weil der behinderte Mensch leider nicht hören und häufig nur eingeschränkt sprechen kann.“

In früheren Zeiten wurden Gebärdensprachen tatsächlich als „Affensprachen“ betrachtet, die den Lautsprachen nicht das Wasser reichen könnten und auch für die Bildung der Menschen nur wenig taugten. Es ist zwar heute zunehmend anerkannt, dass es sich bei Gebärdensprachen um vollwertige, natürliche menschliche Sprachen handelt (s. Kap. 2), aber dennoch führt die medizinische Sichtweise auch heute oft noch dazu, dass die Versorgung mit Hörtechnologie und die Förderung der Lautsprache an erste Stelle gesetzt wird. Die Förderung der Gebärdensprache dient lediglich als Notnagel, auf den zurückgegriffen wird, wenn die lautsprachliche Entwicklung ins Stocken gerät. Der Gewinn, den eine bimodale Mehrsprachigkeit von Anfang an für die gesamte Entwicklung eines Kindes haben kann, wird bei dieser Sichtweise häufig außen vor gelassen (s. Kap. 3).

Gehörlosigkeit: eine soziale Behinderung?

Eine etwas anders gelagerte Perspektive sieht in Gehörlosigkeit in erster Linie nicht ein individuelles, sondern ein soziales Problem. Die Behinderung ist keine Eigenschaft des Individuums, sondern Behinderung entsteht dann, wenn Menschen aufgrund von Barrieren nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch Menschen mit einer Hörschädigung stoßen in unserer Gesellschaft immer wieder auf Barrieren, da sie vornehmlich auf Hören und Lautsprache ausgerichtet ist. Viele Fernsehsendungen sind zum Beispiel nicht barrierefrei, da sie ausschließlich in gesprochener Sprache präsentiert werden und Untertitel oder Gebärdenspracheinblendungen fehlen. Die Behinderung kann aufgehoben werden, wenn die Gesellschaft Strukturen und Bedingungen schafft, in denen Menschen mit und ohne funktionelle körperliche Beeinträchtigungen ungehindert teilhaben können. Aus dieser Perspektive liegt es deshalb in gesellschaftlicher Hand, entsprechende Nachteilsausgleiche zu schaffen, um Barrieren, die Menschen mit einer Hörschädigung erleben, auszugleichen oder am besten ganz abzubauen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Bereitstellung und Finanzierung von Dolmetschern auch in der Schule relevant.

In der Tat empfinden viele gehörlose Personen ihre Hörschädigung gar nicht als Behinderung per se. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie sich in Kontexten bewegen, in denen beispielsweise alle Beteiligten in der Lage sind, gebärdensprachlich zu kommunizieren. In dem Moment, wo ungehinderte Kommunikation möglich ist, spielt die An- oder Abwesenheit des Hörvermögens schlichtweg keine Rolle.

Gehörlosigkeit: ein kulturell-sprachliches Phänomen?

Obwohl Gehörlosigkeit in gewisser Hinsicht immer etwas mit einer physischen Kondition zu tun hat, die konkrete Implikationen für das soziale Miteinander von hörenden und gehörlosen Menschen hat, gibt es darüber hinaus aber auch noch andere Aspekte, die für viele gehörlose Personen den Kern ihrer sozialen Identität ausmachen. Sie sehen sich als Mitglied einer sprachlich-kulturellen Minderheit. Im Mittelpunkt steht hier die gelebte Erfahrung einer Gemeinschaft, die sich über eigene kulturelle Normen und Formen definiert. Obwohl der Begriff „Gehörlosenkultur“ erst in den 1980ern aufkam, reicht die Erfahrung einer gemeinschaftlich entstandenen Kultur weit zurück. Dies lässt sich beispielsweise an dem im 19. Jahrhundert entstandenen Vereinswesen ablesen, in dem sich gehörlose Menschen zusammengetan haben, um gemeinsam sportlichen Aktivitäten nachzugehen oder andere geteilte Interessen zu pflegen und zu vertreten.

Die Gebärdensprachgemeinschaft ermöglicht es gehörlosen Menschen, sich mit anderen auszutauschen, deren Alltagsrealität der eigenen in vielerlei Hinsicht oft sehr ähnlich ist. Dazu gehören zum Beispiel Erfahrungen, die häufig von kommunikativen Barrieren bis hin zu Diskriminierungen in der hörenden Mehrheitsgesellschaft geprägt sind. Die Gehörlosen- bzw. Gebärdensprachgemeinschaft spielt für viele gehörlose Personen auch heute noch eine wichtige Rolle, was sich nach wie vor u.a. im organisierten Sport zeigt. Hier wird in besonderer Weise der soziale Austausch auf regionaler und überregionaler Ebene ge- und erlebt. Darüber hinaus versteht sich die Gehörlosengemeinschaft aber auch als Interessensgemeinschaft. So setzt sich der Deutsche Gehörlosenbund aktiv auf politischer Ebene dafür ein, Behinderungen in der Gesellschaft abzubauen.

Zur Gehörlosenkultur selbst werden verschiedene Umgangsformen und ‑normen gezählt. Wenn man das Gegenüber auf sich aufmerksam machen möchte, ist es üblich, gezielt zu winken oder dies mit einem sanften Antippen der Schultern zu signalisieren. Dem Begriff Gehörlosenkultur werden außerdem auch eigene Kunstformen und Textsorten zugeschrieben, die einen stark visuellen und gebärdensprachlichen Charakter haben. An visuell-räumlich ausgerichteten Reimen in der Gebärdensprachpoesie zeigt sich, dass sich literarische Finessen keineswegs auf Laute beschränken. Geschichten haben in dem DGS-Kulturkanon ebenso ihren Platz wie Witze, deren Pointen häufig schlichtweg nur versteht, wer mit der Lebenswelt gehörloser Menschen vertraut ist.

Viele gehörlose Personen beschreiben ihr Leben als ein Leben in zwei Welten. Auf einer Seite ist dies nachvollziehbar, zumal sich der Alltag in einer hörenden Umgebung, allein schon aufgrund sprachlich-kommunikativer Gegebenheiten, anders gestaltet, als wenn gehörlose Personen unter sich sind. Da jedoch in der Regel beide „Welten“ Teil der Lebensrealität gehörloser Menschen sind, würden wir hier eher das Bild von zwei Seiten einer Medaille ins Feld führen.

In der Gebärdensprachpoesie werden Körper und Raum bewusst eingesetzt, um künstlerische Texte zu kreieren. Dabei gibt es eine Reihe unterschiedlicher Stilmittel: Mit der gezielten Häufung und/oder Wiederholung von Handformen lassen sich visuelle Reime gestalten, je nach Mimik, Tempo und räumlicher Ausdehnung einzelner Zeichen lassen sich unterschiedliche Stimmungen und Spannungen erzeugen. Handformen und Ausführungen einzelner Gebärdenzeichen werden dabei häufig für künstlerische Zwecke verfremdet.

Selbst gehörlos, hat der britische Deaf Studies Forscher Paddy Ladd (2003) vor einigen Jahren den Begriff Deafhood, zu deutsch: Taubsein oder Gehörlos-Sein, geprägt. Er drückt damit aus, dass Gehörlosigkeit wesentlich mehr ist – oder sein kann – als ein physisches, sprachliches oder soziales Konstrukt. Vielmehr steht hier ein holistisches Selbstverständnis im Vordergrund, das sich durch eine positive und bejahende Einstellung zum Taubsein mit all seinen Facetten und Werten auszeichnet. Ganz gut passt in diese Sichtweise auch die Beschreibung gehörloser Menschen als „people of the eye“ oder „sign language people“. Im Zentrum beider Konzepte steht das, was hörgeschädigte, gebärdensprachkompetente Menschen in besonderem Maße auszeichnet und was viele von ihnen tatsächlich als besonderes Kapital schätzen: die Welt vor allem mit den Augen zu sehen und sie sich durch visuell-räumliche Mittel sprachlich zu erschließen.

 

Die gelebte Realität „Gehörlosigkeit“ wird also von verschiedenen Personen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Wichtig ist ganz besonders für die hörende Mehrheit, eine Sensibilität für die Unterschiedlichkeit der Perspektiven zu entwickeln und das Bewusstsein darüber, dass die eigene Sichtweise eine unter anderen ist und nicht zwangsläufig vom Gegenüber in gleicher Weise geteilt wird. Auch wenn vieles auf den ersten Blick unverständlich sein mag, die Welt ist bunt – und das ist auch gut so.

1.2Terminologie: Welche Bezeichnung ist richtig?

Es gibt viele Begriffe, die im Zusammenhang mit Menschen mit Hörschädigungen verwendet werden. Hier ist eine (unvollständige) Auflistung von Begriffen, die in diesem Kontext immer wieder auftauchen:

taub

hörgeschädigt

hörbehindert

gehörlos

Gebärdensprachnutzer

Deafie

Gerade in einer Zeit, in der politische Korrektheit großgeschrieben wird, existieren große Unsicherheiten darüber, welche Begriffe überhaupt verwendet werden dürfen, gerade angesagt sind oder auch tunlichst vermieden werden sollten. Manch einen mag das Gefühl beschleichen, dass die Wahl der richtigen Terminologie in etwa den Charme von „Topfschlagen im Minenfeld“ hat. Egal für welchen Begriff man sich entscheidet – die Sorge, ausgerechnet den falschen zu verwenden, ist gar nicht mal so unbegründet.

Das Dilemma im deutschsprachigen Raum ist, dass es zurzeit keine Bezeichnung gibt, die zufriedenstellend ist bzw. von allen Menschen in gleicher Weise akzeptiert wird. Vor allem fehlt es an einem passenden Oberbegriff, der die Gruppe von Menschen mit einer Hörschädigung beschreibt. Das Wort „hörbehindert“ ist problematisch, da es wie eine Charakterzuschreibung wirkt und den Aspekt außen vor lässt, dass eine Behinderung erst im gesellschaftlichen Miteinander entsteht. Das Wort „hörgeschädigt“ ist defizitorientiert und eher der medizinischen Sichtweise zuzuschreiben.

Die Bezeichnungen, die Menschen für sich selbst wählen, drücken häufig ihre Haltung zu ihrer Hörschädigung sowie ihre sprachlich-kulturelle Orientierung und damit einen Teil ihrer Identität, ihres Selbstverständnisses, aus. So bezeichnen sich Menschen in der Regel dann als „schwerhörig“, wenn sie über Hörreste verfügen und vor allem lautsprachlich kommunizieren. Personen, die Gebärdensprache als ihre bevorzugte Sprache betrachten, bezeichnen sich als „gehörlos“, „taub“ oder als „Gebärdensprachnutzer“, einige auch als „Deafie“. Diese Bezeichnungen werden auch verwendet, um die Zugehörigkeit zur Gehörlosenkultur bzw. der Gebärdensprachgemeinschaft zu betonen. Aus medizinischer Sichtweise gibt es wiederum weitere Unterscheidungen, die die unterschiedlichen Formen und Grade von Hörschädigungen bezeichnen (zum Beispiel „leichtgradig/mittelgradig/hochgradig hörgeschädigt, an Taubheit grenzend, gehörlos“).

Für die Pädagogik ist es wichtig, eine sprachliche Sensibilität zu entwickeln und nachzufragen, welche Termini von den betroffenen Personen präferiert werden. Wird zum Beispiel in der Schule das Thema „Hörschädigung“ aufgegriffen oder die Verwendung von Gebärdensprache thematisiert, bietet es sich an, gemeinsam mit den Schülern auszuarbeiten, welche Assoziationen mit welchen Begriffen verknüpft werden, und eine für den konkreten schulischen Kontext verbindliche Sprachregelung zu verabreden. Auf diese Weise wird nicht zuletzt auch den Schülern das Recht zugesprochen, bestimmte Bezeichnungen und damit ggf. auch Teilidentitäten für sich zu reklamieren.

Last but not least: Ein Begriff, der heutzutage absolut nicht mehr verwendet werden darf und kategorisch aus jedem Sprachgebrauch eliminiert werden sollte, ist das Wort: „taubstumm“. Dieser Begriff wird in mehrfacher Hinsicht als diskriminierend empfunden. Zum einen können gehörlose Menschen mit entsprechendem Training durchaus (akustisch) sprechen lernen. Zum anderen können sie sich in Gebärdensprache sehr wohl eloquent ausdrücken.

Im Sinne eines pragmatischen Vorgehens verwenden wir in diesem Buch eine Reihe von Begriffen, die in der Literatur gängig sind. Gleichzeitig sind wir uns natürlich des normativen Potentials der hier verwendeten Termini bewusst.

Um die gesamte Gruppe von Menschen zu beschreiben – unabhängig von der Ausprägung der Hörschädigung, der sprachlichen oder kulturellen Orientierung –, verwenden wir in diesem Buch den Begriff hörgeschädigt – wohl wissend, dass es sich hier um einen faulen Kompromiss handelt. Wenn wir Menschen bezeichnen, die einen hohen Hörverlust haben und Gebärdensprache als wichtiges Kommunikationsmittel im Alltag verwenden, benutzen wir den Terminus „gehörlos“.

1.3Aufgaben

Was bedeutet „Gehörlosigkeit“ für Sie? Welche Aspekte würden Sie nach dem Lesen des obigen Kapitels für sich neu überdenken?

Fragen Sie die hörgeschädigten Schüler in Ihrer Klasse, welche Bezeichnungen sie für sich selbst reklamieren.

1.4 Weiterführende Literatur